Читать книгу Berg - Ann Quin - Страница 5

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Die Trennwand schwankte: Ein Boot ohne Segel, verankert an einem Felsen, und doch drehte es sich außerhalb seines eigenen Umfangs. Ich ein Albatros, werde niemals in eine Richtung fliegen, die bereits millionenfach zuvor gewählten worden ist. Berg schaute auf den Riss an der Zimmerdecke. Folge dem Traum, der Anfang in einer einzigen Sekunde heraufbeschworen, ein isolierter Gedanke herausgefischt aus dem Mainstream der Gelegenheiten. Obwohl jetzt im kühlen Licht des Tages, das sich selbst so vehement breit machte, die Herangehensweise, die Tat, die Folgewirkungen mit jedem nur denkbaren Risiko verbunden schienen. Welche bessere Gelegenheit als gestern Nacht konnte es geben, doch er hatte sie weggeworfen – ein gebrauchtes Kleidungsstück. Aber ich muss sicher sein, absolut sicher, dass ich alles im Griff habe, dass nichts dazwischenkommt. Wie sein Kopf heute morgen schmerzte, als stocherten viele Finger ins Gewebe, das Blut und die Knochen. Ich muss mich an die genauen Gefühle erinnern, die den gegenwärtigen Umständen Vorschub geleistet haben, als gar nichts von außen dazwischenkam, nicht einmal Gedanken an vergangene Zeiten, gegenwärtige oder zukünftige, und die Zweifel meiner eigenen Realität schwanden. Gibt es keinen Augenblick zwischen zwei Stimmungen, den Raum dazwischen, losgelöst vom Leben, ebenso wie vom Tod, wenn man in die Sonne schaut, ohne zu blinzeln, wenn die Ewigkeit hier im Inneren liegt; keine Trennung jedweder Art, nur eine Reihe zyklischer Motivationen? Aber diese Hände mit Venen wie geäderte Blätter, es gibt keine Trennung, nur eine geschmacklose Ähnlichkeit. Aber warum dann nach Beweisen suchen? Sicher, ich bin kein Philosoph, um den Wert der Realität im Gegensatz zur Vorstellung zu analysieren, und was ist damit gewonnen, wenn man sich in solch linguistische Labyrinthe begibt? Auf jeden Fall besteht die vorrangige Tat darin, den Geist abzuschaffen, die Realität in etwas Lebendiges, Gefühltes, Gesehenes, sogar Gerochenes zu überführen. Ein Mann der Tat geht über alles. Erneut zuckte die Trennwand. Berg zog sich rasch an. Kaum draußen, kühlte ihn die erfrischende Meeresbrise ab. Er sah das Wasser an die Wellenbrecher schlagen, die Kiesel malmten an den stählernen Pfählen des Piers. Es war zu früh, noch waren nicht viele auf den Beinen – genug Raum zum Atmen, klarer denken, ruhig.

Er würde Judith anrufen, sie überreden herauszukommen, eine schicksalhafte heimliche Affäre als Vorwand vorschieben. Ja, mehr war nicht nötig, da war er sich sicher, mit ihrer Vermessenheit spielen, ihrem emotionalen Ehrgeiz. Für ihn wäre sie die perfekte Rache. Was um Himmels Willen fand sie überhaupt an dem Alten, es könnte sich fast lohnen, herauszufinden, was genau sie für eine Beziehung hatten, wie die Situation zwischen ihnen wirklich aussah, bevor er weitermachte.

In der Telefonzelle fingerte er an dem Apparat, spähte dabei in den Spiegel. Fast hätte er wegen der großen Ähnlichkeit mit dem Alten den Hörer fallen lassen; die Form der Augen, des Mundes, zweifellos die gleichen. Nur dreißig Jahre jünger, er steckte Pennys in den Schlitz, lauschte einer schnurrenden Katze über ein Dutzend Straßenecken hinweg. Schon bald erkannte er die krächzende Stimme der Vermieterin am anderen Ende, vermutlich befestigte sie die unvermeidliche Sicherheitsnadel oben an ihrem blau-weißen Kimono. Goldstein? Nein, die ist ausgegangen, ganz bestimmt nicht da, ich hab sie beide gerade eben rausgehen sehen. Er zog eine Grimasse im Spiegel, als es wieder schnurrte.

Wieder an der Promenade, ging er an einem angelnden Jungen vorbei. Was gefangen? Mürrische Antwort. Verständlich: Vor zwanzig Jahren war Schuleschwänzen die einzige Befreiung von verplanten Tagen, die Hiebe mit dem Stock hinterher, die man über sich ergehen lassen musste, ein geringer Preis; die Ausflüge in Wälder, zum Forellenfischen, Kaulquappenfangen und später in der Jahreszeit zum Brombeerenpflücken, schüchtern von Edith abgeschrubbt, die einen ständigen Brombeerbusch hatte – einen versteckten. Durch eine Ritze in der Tür spähen, waren andere Frauen genauso? Babys kommen aus den Brüsten raus. Nein, das tun sie nicht, das weiß ich, die werden am Nabel aufgeschnitten, das weiß ich, weil meine Schwester da eine Narbe hat. Sei nicht blöd, die kommen, wenn sie pinkeln. Bestätigt, überzeugt, bis zu einem nützlichen, illustrierten Buch, eingerissen von Deckel zu Deckel, gefolgt von den Prahlereien der Mädchen im Ort, dem Ausprobieren jeder erdenklichen Stellung, bis ihm schlecht und bewusst wurde, dass er den Drang verspürte, etwas zu zerstören.

Bring niemals ein Mädchen in andere Umstände, Aly, bitte, wenn dein Vater noch bei uns wäre, würde er dir schon bald erklären, dass es das nicht wert ist, Aly, ich weiß es.

Was wusste sie, wenn sie so blass wirkte, ihr Blick trüb wurde, du ihr einen Augenblick beinahe zum Feind?

Schatten über die Risse im Gehweg geworfen, ein verzerrtes Doppelgesicht in den Fenstern. Bleibst stehen vor Anschlagtafeln, gekritzelten Nachrichten, fast schon befremdlich feinsinnig, oder nur zu unverfroren für andere? Wurde Gummikleidung ausschließlich persönlich von Gloria angepasst? Konnte Flötenunterricht wirklich eine Guinea pro Stunde wert sein – französische Schule? Wenn er doch nur ein paar Pennys mehr hätte, eine samtene Stimme könnte möglicherweise die Antwort auf große und kleine Probleme sein. Er betrachtete das Naheliegende: Zimmer ideal für Junggesellen, ein Dutzend Zimmer am Gang, voller Seetang – Strumpfhalter aus einem anderen Zeitalter – bereit für zufällig hereinschauende, glatzköpfige Wochenendgäste, die zweimal täglich bedient werden; glatte, eng verschnürte Sirenen schlängeln sich durch Kanäle der Vorahnung. Aber das war hoffnungslos, viel schlimmer war es, der Grenzfall zu sein, über Kleinigkeiten zu brüten, die sich aus den Gegenmitteln gegen die künstliche Beatmung der Vorstellungskraft zusammensetzten; das Überleben jener, die es vorzogen, auf halber Strecke stehen zu bleiben, die nie akzeptierten, oder ablehnten, sich einzig des Bedürfnisses bewusst waren, die Langeweile zu besiegen. Ich nehme, ich sehe, ich unterwerfe mein eigenes mittelmäßiges Ich etwas Großem. Berg entfernte sich von der Reflexion, die das Geschwulst, das sich innerlich gebildet hatte, in ein künstliches Licht stellte.

Schon bald der morgendliche Berufsverkehr, der ihn wie das Meer selbst die Straße hinunter zur Bushaltestelle spülte und ihn, hätte er die Arme nicht ausgebreitet, gut und gerne bis in den Bus getragen hätte. Er fuhr langsam zurück, wich dem herabhängenden Laub aus, beobachtete nur die laternenförmigen Blüten, die über ihm schaukelten.

Um die Ecke: ein Insekt platt an der Wand: sein Vater. Berg tauchte in einen Türeingang, gerade als Judith die Straße entlanggestöckelt kam, ihr Haar flog über einem großen runden Pelzkragen. Hatte sie ihn gesehen? Zuerst dachte er das. Er schlich hinaus, hob die Hand, aber sie nahm seinen Vater am Arm und marschierte davon.

Ein Kater streifte Bergs Beine; runde Augen, die sich verengten, er fing an zu jaulen, braune Tropfen tauchten auf dem Bürgersteig auf, das Tier kauerte sich halb zusammen, der Schwanz bebte. Berg hob den Fuß. Der Kater, der nichts davon mitbekam, kackte jaulend weiter. Berg streckte die Hand aus, die Kreatur fauchte, bleckte die gelben Reißzähne und trat noch in der Hocke den Rückzug an. Plötzlich sprang sie aber hoch, hing wie ein Faultier an Bergs Arm. Er bekam ihn am Schwanz zu fassen und schwang den Kater hin und her, bekam kaum den dumpfen Schlag mit, den es tat, als das Tier gegen die Wand knallte. Erst später hörte er das Schreien, das Jaulen. Ein schlaffer Körper zuckte zu seinen Füßen. Berg sah sich um, fragte sich, ob jemand die Begebenheit beobachtet hatte, die Straße schien ihm glücklicherweise menschenleer. Er hob den toten Körper auf, warf ihn in die Gosse. Während er sich die Hände abwischte, fiel ihm auf, wie rissig sie waren, Blutflecken auf seinen Ärmeln ebenso wie auf seinen Manschetten, Katzenhaare hingen daran. Er ging rasch fort.

Der Wind hatte angehoben, wehte Gischt an Land. Berg zog seinen Hut herunter, stellte den Kragen auf, als er zur Promenade kam. Seine Hände waren taub, eine große Sehnsucht, sie zwischen Judiths Brüste zu pressen – was, und sich dann mit dem dort eingeprägten Bildnis des alten Herrn konfrontiert zu sehen, vielleicht hatte er ja auch einen Fetisch fürs Tätowieren seiner Frauen, woher sollte er wissen, dass Edith nicht irgendwo an ihrem Körper das Brandzeichen des alten Herrn trug?

Am Ufer sah er ein paar Kinder Löcher buddeln. An einem Wellenbrecher rauchte er in die Gischt und den Nebel hinein, der allmählich die gesamte Promenade in Undurchdringlichkeit tauchte, nicht einmal den Pier konnte man mehr sehen. Die Kinderstimmen wurden vom Meer gedämpft und ein paar wenige Möwen – schlaffe Flaggen – schwebten über dem Wellenbrecher. Er musste schon bald zurück, ihr Zimmer betreten, den alten Herrn allein erwischen, ein Schlag, mehr würde nicht nötig sein, oder ein fester Griff um den Hals, dieses zähe, sehnige Fleisch, ihm die Gurgel umdrehen wie einem Huhn, und die Überreste? Eine von Fliegen übersäte Leiche, ausgestreckt im obersten Stockwerk eines Hauses, in dem bereits zu viele Ideale vermoderten. Wenn ich nur einen einzigen Strich unter die Oberfläche meiner Unterstellungen ziehen könnte, würde ich dann an einen Punkt gelangen, wo Klarheit das gewesene Chaos vertreibt? Das tragische Gefühl von Schicksal ist jedem Menschen angeboren; aber ich trotze dem Schicksal, ich alleine bin für alle Taten verantwortlich, für jede Szene; in meiner Nichtswürdigkeit werde ich die Vorstellung erschaffen, ich werde sehen, was ich mir vorgestellt habe und allein daraus werden alle meine Taten entspringen.

Er spürte, wie ihm der Schweiß gemischt mit Gischt unter den Kragen lief. Warum sollte es so weit kommen, ein einzelner Tag, an dem die Gedanken beinahe so schwer sind wie das Gefühl, aber wenn es Erleuchtung im Laub gibt, warum nicht Gewissheit in der Erkenntnis, ohne Beweis, ohne dass Verständlichkeit notwendig wäre? Er presste sich gegen den Wellenbrecher, die Arme ausgebreitet, ein monumentaler Vogel von elementaren Kräften zermürbt. Wenn ich schlicht sage »ich bin« oder »ich liebe«, ist das kaum hinreichend, nicht einmal die gutmütigste aller Taten, »ich werde töten«, kann mich verkünden lassen, »ich bin«, deshalb ist auch Gott. Warum die Macht, die Gnade nur vorübergehend Gott zu sein, sicher kann man dieses Stadium auch für länger erhalten? Er beobachtete eine Möwe, die über ihm kreiste, bis der dichter werdende Nebel sie verschluckte. Ich will – was wollte er, dieses schmächtige, möhrenköpfige Individuum – verrostet, alt und verrostet, deine Mutter hat dir die Haare gewaschen und vergessen, sie zu trocknen – wer hat nie geliebt, oder wurde nie geliebt, außerhalb der eingeschränkten Befriedigung durch Unzucht? Er drehte sich um und lag auf dem Rücken, sah zu, wie sich ein Insekt in einem Riss im Mauerwerk verkroch. Ich will keine Frau umarmen, nichts derart Widersprüchliches, aber alle Werte abwägen, wahre oder falsche, und direkt eintauchen, mich suhlen, wenn nötig, die Verbindung definieren, ein für alle Mal die Traumziele mit der Realität versöhnen.

Andere Tage am Meer mit »Kiss-me«-Hut auf dem Kopf, Zuckerwattefinger greifen nach Ediths geschrubbten Händen; warum bewegt sich das Meer, wer macht, dass es sich bewegt, ist Jesus wirklich übers Wasser gegangen? Warum kann ich nicht auch auf den Wellen gehen? Rennen, immer wegrennen, aber zurückeilen, sich fragen, ob die Sonne wieder herausgezogen würde; das rauschende Rauschen des grünäugigen Ungeheuers, das sich unter dem Palastboden herumwälzt und die Dämonen, die die Sonne bewachen, schrien aus ihren Festungen, immer wenn du am Meer Urlaub gemacht hast; zugeknöpft in einem Regenmantel mit Kapuze aus Plastik, im Pavillon Tee trinkend, während Männer mit kleinen Köpfen Geige spielten und alte Damen kokett die blau getönten Häupter neigten, ihren Pekinesen Krümel fütterten.

Er ging zurück über den menschenleeren Strand. Das Meer ging in den Nebel über, undeutliche Umrisse auf Landesseite. Er stolperte über ein paar Stufen, ein paar Stränge Seetang um seine Beine gewickelt und etwas wie feuchtes Fell strich über sein Gesicht. Er stieg die Stufen hinauf und folgte den kugelförmigen, vierköpfigen Scheinwerfern der Busse, die sich wie schwere Gewänder durch die Straßen schleppten.

Leicht benommen betrat er ein Café, bestellte Tee, Zigaretten. Er blinzelte die Tischdeckenquadrate an, bemerkte die Flecken, die jene gemacht hatten, denen er glich, die aber dazu bestimmt waren, niemals sein Leben zu teilen. Er leckte die Kratzer an seinen Händen, presste sie fest auf das Tuch, ein Fleck, der sich schon bald von den anderen abhob. Er bestellte drei Stück Kuchen, aß zwei und trank den Tee zur Hälfte aus.

War das Judith, die gerade um die Ecke verschwunden war? Er folgte ihr, bis ihn am Pier das Walknochengesicht einer Fremden misstrauisch beäugte. Mit herablassender Attitüde ging er vorbei, aber sein Magen kullerte irgendwo zwischen den stählernen Gitterstäben und dem Schlabbern rauer Zungen tief unten umher. Er beugte sich hinunter, suchte die Klippen mit Blicken ab, die Küste, die Fassaden der cremefarbenen Pensionen, die Hotels, das ganze ausrangierte Beiwerk, das jetzt zum Vorschein kam, als sich der Nebel hob.

Aber warum ausgerechnet dort, Aly, warum sollte dein Vater dort sein und warum musst du jetzt nach ihm suchen, kannst du nicht wenigstens warten, bis es wärmer wird?

Was durfte er sagen, wie viel konnte er Edith erzählen, ohne sie zu verärgern, ohne ihr Bild der Vergangenheit zu zerstören? Aber sollte sie es nicht wissen, mehr als sonst jemand, sie müsste es doch sicher verstehen? Im Wald das glückliche Familientrio.

Lauf, Aly, sei ein braver Junge und pflück ein paar Blumen für Papa und mich, halte auch Ausschau nach den Nüssen, die du letztes Jahr gefunden hast. Und warum schaust du nicht nach ein paar Vogeleiern, wenn du schon dabei bist?

Während sie dir den Rücken zukehrten, hast du einen silbernen Turm erklommen, kamst auf einem Eichenthron ins Schwanken, hast heimlich die Sperenzchen einer Frau und eines Mannes beobachtet und an Ort und Stelle geschworen, dich von ihnen loszusagen. Ihre Stimme sanft tadelnd, bis sie allmählich immer mehr anhob – eine Kreatur in der Falle – sein Geturtel und die Bewegung hin und her auf dem Gras, fuchtelnde Arme, die Beine geöffnet wie eine Schere. Nicht weit entfernt ließ eine verdutzte Drossel sieben Eier zurück. Du hältst dich fest an den Ästen weiter oben, zerbrichst eins nach dem anderen, wirfst sechs Eier aufs trockene Moos. Durch das Schlüsselloch später, in den langen dunklen Stunden, als du nicht mehr hinzuschauen wagtest – der Saft, der aus dem brennenden Feuerholz dringt. Was darf’s sein, Sir? An einem Kiosk, in ein kreideweißes Gesicht starrend, umgeben von Masken, Ballons, gestreiften Zuckerstangen. Berg verließ den Pier und ging in den Park, schlurfte durch Cornflakes-Laub in dem Versuch, anonym zu sein – sich so zu fühlen. Was tut man am Vormittag eines Werktags, noch dazu außerhalb der Saison? Keine Au-pairs, mit denen man flirten könnte, oder werdende Mütter, die Sonne genießend, die man heimlich anlächeln könnte; keine Schulmädchen, die man zum Schwänzen ermutigen könnte; viel zu kalt, um beim Brunnen zu sitzen und die Nachrichten zu lesen, sich gegenseitig anknurrenden Hunden zuzuschauen und dem Gelächter der Kinder zu lauschen.

Er ging einmal unter den Bäumen herum, bis die fahle Sonne noch fahler wurde und ihn das Rauschen des Verkehrs, das wie Atlantikwellen klang, in ein Kino trieb, wo er während der Werbung masturbierte und in der Pause folgte er dem Scheinwerfer, der auf die blonde Platzanweiserin in ihrer weißen Uniform gerichtet war. Er kaufte ein Eis, ein paar Erdnüsse; langsam leckte er die Schokolade vom Eis, zerknüllte das Einwickelpapier und schob es seitlich ins Polster auf dem Sitz vor sich.

Er kam wieder heraus: die Augen, die Nase, die Ohren zerfressen vom Rauch, der komprimierten Heizungsluft, der Gestank nach Fish and Chips, in den sich verdichtenden Lärm einer Stadt, die ganz versessen darauf war, ihn daran zu erinnern, dass dies ein außerordentlich zivilisiertes, hygienisches Jahrhundert war, morgen könntest du sterben, aber heute lebst du und bist lustig dank des Bluts, das mit Hilfe von Robotern, die tägliche Schlagzeilen trivial erscheinen lassen, in dich hineingepumpt wird. Das ist es, Sir, zweimal abends anwenden, lächeln, breit, noch breiteres Lächeln, Flasche zücken, Flüssigkeit auf Finger, auf die Kopfhaut auftragen, du hast das Geschäft in der Tasche.

Haarwasser ist natürlich angesagt, Aly, mein Lieber, bei dem ganzen Ausfall werden sie’s früher oder später brauchen. Ja, ich wage zu behaupten, auch bei kurzem Haar, da kannst du nichts falsch machen, oder?

Eine echte Garantie, das einzige Haarwasser auf dem Markt, das seinen Preis wert ist und auch Ihren. Kaufen Sie Bergs Haarwasser und seien Sie ein Mann, Sie werden es nicht bereuen …

Aber es gibt keine Alterszulage, Aly, und was ist zum Schluss mit der Rente, daran hast du nicht gedacht, wie?

Aber mit einem Lächeln wie deinem, mein Lieber, könntest du ihnen Porno-Taschenbücher verkaufen und sie würden sie für Schneewittchen halten.

Aber waren sich die meisten Menschen ihrer untergeordneten Stellung, Situation, Rolle im Leben nicht bewusst, machten sie sich nicht früher oder später eine negative Einstellung zu eigen, auf der anderen Seite des Grabes – zwei Fuß weit drin, eine Hand noch draußen? Dieses Mal bedeutet es einen Sprung, wenn ich die Idee weiterverfolge, wenn ich es noch sehr viel länger vor mir herschiebe, könnte es so leicht in sich einstürzen. Das bedeutet natürlich, höchste Zeit zu handeln.

Als er sich dem Haus näherte, wirkte alles beinahe wie ohne konkrete Ausgestaltung; das Tanzlokal, die Kirche, die Häuser alle flach. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass jeder Muskel vorwärts strebte, das Blut in jedem Finger kribbelte; er war sich der grauen Haare bewusst, des Schmutzes zwischen den Zehen, der Warze an seinem Nabel, dem Muttermal unter dem linken Arm. Alles ist möglich – dass sich nach einer langen Trockenperiode eine Blüte öffnet, Regen aufnimmt.

Im Flur oben hörte er Judith und den alten Herrn reden. Er schob sich näher an ihre Tür heran, spähte durchs Schlüsselloch. Er sah seinen Vater eine Flasche schwenken, hin und wieder nahm er große Schlucke daraus. Judith, halb nackt, rekelte sich auf der Couch. Er klopfte, trat einen Schritt zurück. Stille. Er spähte erneut, beide waren erstarrt, schauten zur Tür, dann einander an. Er klopfte noch einmal, und noch einmal. Noch immer keine Reaktion. Tritt die Tür ein, der Alte wäre mit zwei Stößen aus dem Fenster. Und Judith? Er hörte den Wellensittich zwitschern. Er pfiff, der Vogel verstummte, fast sah er seinen geneigten Kopf, die perlenartigen Augen zwischen den verrosteten Gitterstäben, die Gesichter erhoben, die Münder offen, die Blicke starr zur Tür gerichtet. Er betrat sein Zimmer, kniete sich aufs Bett. Jetzt hörte er leise ihre Stimmen; was sagten sie, diskutierten sie, planten sie? Wenn er doch nur ein Loch in die Trennwand machen könnte, gerade groß genug für sein Auge. Er fingerte am Holz herum, spürte, wie es nachgab. Er suchte sein Taschenmesser, fing dann an, damit zu schaben, hielt aber alleine aufgrund des Geräuschs inne, außerdem war das Holz viel zu massig, man würde einen Bohrer brauchen. Außerdem interessierte er sich gar nicht so sehr dafür, was zwischen ihnen vor sich ging. Das einzige, was ihn auffraß, würde schon bald vergangen sein. Er zündete eine Zigarette an, inhalierte langsam und lehnte sich zurück. Hinter dem Riss in der Zimmerdecke das berauschte Gesicht des alten Herrn, blau: eine Unterwasserpflanze rankte heraus, die Augen leuchteten, bereit, gepflückt zu werden; eine letzte Geste in Hinblick auf Erbansprüche und Gegenansprüche. Aber ich gehöre zu niemandem, daher sind Bindungen Betrug, Selbstverbannung, eine Absage an den eigenen Fortbestand, die Selbstüberhöhung; das Ego ist nur dazu da, Bedeutung zu verleihen.

Wieder bewegte sich die Trennwand und einmal dachte er, sie würde ganz umkippen. Er vergrub seinen Kopf im Kissen, das nachhaltig nach Mottenkugeln stank, gemischt mit kaltem Tabak. Aber da waren Augen, die ihn umgaben, vom Meer, Schlangen, die ihre Körper in die Iris peitschten, sich das spektralfarbene Licht der Tanzlokalscheinwerfer zu eigen gemacht hatten. Wenn ich die Dinge nur dazu bringen könnte, sich vor der Majestät vollkommener Allmacht zu verneigen, einen Heiligenschein um alle Begierden zeichnen. Warum verschwindet Macht immer, sobald man mit ihr in Berührung kommt? Ist es wirklich nötig, Gefolgsleute zu haben, die Befehle ausführen, die Verantwortung weiter- und abzugeben, indem man sich selbst die eigentliche Tat untersagt? Taten! Auch jetzt noch zupfte er an der Haut, die das Geschwulst bedeckte, ich muss sie aufreißen, es sichtbar machen, warum noch zögern?

Die beste Gelegenheit würde sein, wenn sein Vater eines Abends betrunken war. Ja, warte ab, bis dahin, in der Zwischenzeit solltest du dir vielleicht ein perfektes Alibi ausdenken, für das perfekte Verbrechen? Nein, nein, das wohl kaum, ein winziger Fehler am Rande, es ist so leicht, so was zu versauen, ein kleiner Fehler, irgendwas Übersehenes. Sich an nichts zu erinnern wurde bislang fast bis zur Perfektion ausgeübt. Überlege und überlege im Vorfeld noch einmal, überdenke jeden einzelnen Punkt, bis ins kleinste Detail, markiere alle Punkte.

Er zeichnete ein geometrisches Diagramm an die abblätternde Wand hinter dem Bett. Auf jeden Fall brauchte es eine Strategie, Überlegung vor der Tat; hoffnungslos, irgendwas in der Hitze des Gefechts zu machen. Schlechte Laune fiel ihm in schuppigen Flocken auf den Kopf – Schnee auf einem gepflügten Feld – er schloss die Augen. Warum sollte ich letztlich scheitern, aufsteigen, nur um zu fallen? Spekulationen im Absurden setzen dem Projekt bestimmt schon an sich Grenzen? Geh furchtlos voran. Er kehrte dem Regen den Rücken, der ans Fenster spritzte, vergrub sein Gesicht im Kissen, wandte sich ab von dem verbrannten Geruch, der sich dieses Mal entschlossen hatte, über Nacht zu bleiben, auch für den Tag.

Berg

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