Читать книгу Das Mysterium der Wölfe - Anna Brocks - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеIrrwege
Die Tage verschwimmen ineinander. Ich habe jegliche Verbindung zu meinen Freunden verloren. Nun ist es mir endlich möglich, über mich und all die Geschehnisse der letzten Wochen nachzudenken. Leider bin ich dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass ich so gut wie nichts weiß. Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon allein umherstreife, geschweige denn, wo ich bin. Das Portal hat mich in ein Waldgebiet transportiert. Je weiter ich nach Norden gehe, desto düsterer wird es, aber irgendeine Richtung muss ich einschlagen, nicht wahr?
Die Tatsache, dass ich nicht einmal weiß, wer genau ich bin, macht mir jedoch noch viel mehr zu schaffen. Es ist zwar leichter, Entscheidungen zu treffen, da ich nun allein bin, aber mir ist noch immer nicht klar, wo mein Platz ist. An manchen Tagen vermisse ich meine Freunde so sehr, dass ich kurz davor bin, umzukehren und sie zu suchen. Das ist jedoch ohnehin unmöglich. Ich könnte am anderen Ende der Welt gelandet sein und meine Freunde vielleicht nie wieder sehen.
Diese Ungewissheit plagt mich. All die Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Wie geht es meinen Freunden? Sind sie noch am Leben? Gab es eine Auseinandersetzung mit den Schattenwölfen? Ich werde wohl damit leben müssen, nichts davon zu wissen.
Vor drei Tagen habe ich mir ein neues Ziel gesetzt. Ich muss einen Anhaltspunkt finden. Irgendwo in dieser gottverlassenen Gegend muss es doch eine Stadt oder zumindest ein kleines Örtchen geben. Bisher waren die einzigen Lebewesen, denen ich begegnet bin, wilde Tiere und diese haben nicht lange in meiner Gegenwart überlebt. Seitdem ich mich den Schatten zugewandt habe, bin ich um einiges stärker. Es fällt mir nicht schwer, allein zu jagen, im Gegenteil. Sobald ich mein Ziel fixiert habe, hat es keine Chance mehr.
Diese Fähigkeiten sind von Vorteil, doch die schwarze Aura, die mich umhüllt, könnte andere abschrecken, besonders die Menschen. Dazu kommen noch die roten Augen. Über all das habe ich mir zwar bereits Gedanken gemacht, aber bisher konnte ich noch keine Lösung für das Problem finden. Aber eigentlich spielt das keine Rolle. Ich gehe einfach in die nächste Stadt hinein und falls sich mir irgendjemand in den Weg stellt, werde ich ihm die Leviten lesen. Angst zu haben, ist schlecht, aber Angst zu verursachen? Diese Eigenschaft kann durchaus nützlich sein.
Apropos nützlich, es wäre gut, wenn ich wüsste, wie spät es ist. Seit drei Tagen verdeckt eine dicke Wolkendecke den Himmel und ich habe die Sonne seitdem nicht mehr gesehen. Ich vermute mal, dass es später Nachmittag ist. Wird wohl Zeit, eine Pause zu machen. Heute bin ich schon mehrere Stunden gelaufen. Ich werde mich auf die Jagd begeben und mir dann ein schönes Plätzchen zum Schlafen suchen.
Wie erwartet war die Jagd ein Leichtes für mich. Ehrlich gesagt fehlt mir manchmal die Herausforderung. Das große Wildschwein, das ich erlegt habe, war kein angemessener Gegner. Die Überreste des ausgewachsenen Keilers liegen wenige Meter entfernt von mir, während ich mich neben einem Baum niedergelassen habe und meine Schnauze in das schwarze Fell kuschele.
Seitdem ich hier angekommen bin, habe ich mich nicht mehr in einen Menschen verwandelt. Warum auch? Ich fühle mich als Wölfin viel wohler. Der Menschenkörper ist nur eine Lüge, genauso wie die Lichtwölfin, die sich angeblich noch in mir befinden soll. Alle haben mir nur Lügen aufgetischt. Kyrion, meine Eltern und vor allem Jake. In meinen Augen ist er nichts weiter als ein Lichtwolf, der mich auf seine Seite ziehen wollte. Meine Gedanken werden immer finsterer. Wenn er mich so sehen könnte. Er würde mich nicht wiedererkennen.
Um mich ist alles still. Alle Tiere sind geflohen, als sie meine Nähe gespürt haben. Sogar die Vögel sind verschwunden und haben ihre Nester in den Baumkronen zurückgelassen. Wölfe sind Rudeltiere, wie? Dass ich nicht lache.
Das viele Nachdenken macht mich müde. Ein starker Wind kommt auf. Sieht nach Regen aus. Was ist das? Der Wind trägt diesen Geruch mit sich. Einen Geruch, den ich jederzeit erkennen würde. Eine Stadt. Ich muss näher an der Zivilisation sein, als ich geglaubt habe. Vielleicht habe ich nun doch endlich Glück.
Also ziehe ich weiter. Während dem Gehen verwandle ich mich in meine menschliche Gestalt. Es ist merkwürdig, wieder auf zwei Beinen zu laufen. Ich fühle mich alles andere als wohl in dieser Form, aber es muss leider sein. Trotz allem vermute ich, dass ich auch als Mensch nicht gerade unauffällig bin. Dunkle Aura, zerrissene Klamotten, von den roten Augen mal ganz abgesehen. Ich werde mir wohl neue Sachen besorgen müssen. Eine Sonnenbrille wäre nicht schlecht. Außerdem freue ich mich auf eine Dusche. Ich wische mir die frischen Blutspritzer aus dem Gesicht, streife mir meine Haare vor die Augen und lege einen Zahn zu.
Es ist ruhig hier, zu ruhig. Keine Menschenseele ist mir auf dem Weg hierher begegnet und auch jetzt erkenne ich niemanden. Die Stadt scheint verlassen zu sein. Die Straße, auf der ich mich bewege, ist völlig zerstört, nahezu unbefahrbar. Nun stehe ich noch ein paar hundert Meter von der kleinen Stadt entfernt. Die Gegend ist trostlos. Einzelne Wolkenfetzen verdecken die Sonne. Die Luft ist trocken und der Wind peitscht mir ins Gesicht. Das Gras ist gelblich bis braun. Man sieht kaum Bäume. Kein Vergleich also zu dem Wald, in dem ich mich zuvor noch befunden habe.
Nun gut, ich sollte mich davon nicht irritieren lassen. Vielleicht lebt in der Stadt noch jemand. Mal sehen. Was ist das? Dieses Gefühl. Es ist lange her, dass ich so etwas gerochen habe. Ganz eindeutig, in dieser Stadt lebt tatsächlich jemand, nur bin ich mir nicht mehr sicher, ob es Menschen sind.
Egal, nun bin ich schon fast da. Nur noch wenige Schritte und ich gehe am ersten Gebäude vorbei. Der Geruch wird markanter. Wenn ich mich nicht irre, müssen es ziemlich viele sein, mindestens zehn. Ich kann nur nicht genau wahrnehmen, ob sie noch hier, oder bereits verschwunden sind. Eines steht zumindest fest, es muss ein ganzes Rudel gewesen sein, sonst würde ich deren Duft nicht so stark wahrnehmen. Aber was zum Teufel macht ein Wolfsrudel in einer verlassenen Stadt wie dieser? Haben sie einen Unterschlupf gesucht?
Ich würde mich hier jedenfalls nicht niederlassen. Je weiter ich in das Innere der Stadt vordringe, desto schäbiger wird sie. Die meisten Türen sind mit Holzbrettern zugenagelt, viele Fenster zerbrochen und die Straßen aufgerissen. Man sieht keinerlei Lebewesen. Nur die eine oder andere Krähe fliegt krächzend über die Gebäude hinweg.
Je mehr ich in das Zentrum der Stadt komme, desto stärker rieche ich meine Artgenossen, dennoch bleibe ich ganz ruhig. Ich denke gar nicht daran, meine Gestalt zu verändern. Wieso denn auch? Sollten sie tatsächlich dumm genug sein, mich anzugreifen, werde ich auch so mit ihnen fertig. Ob sie bereits gespürt haben, dass ich ihre Stadt betreten habe? Vermutlich haben sie eine Wölfin wahrgenommen, aber sie können nicht mal ansatzweise erahnen, mit wem sie es hier zu tun haben.
Da ist es, das Stadtzentrum. Ich betrete einen alten Platz, in dessen Mitte sich eine Statue befindet, zumindest das, was von ihr übrig ist. Der Kopf und die Arme des ca. zwei Meter großen Mannes im Anzug fehlen. Was hier wohl geschehen ist? Neugierig gehe ich näher an die Figur heran und erkenne etwas Interessantes. Überall sind Kratzer. Mächtige Klauen haben ihre Spuren im Gestein hinterlassen. Nun besteht absolut kein Zweifel mehr. Ich bin nicht allein.
„Wen haben wir denn da?“ Ich drehe mich sofort um. „Es kommt selten vor, dass uns jemand besucht.“ Wenige Meter vor mir steht ein junger Mann und mustert mich genau. Nachdenklich fährt er sich durch den dichten, blonden Vollbart. Er ist eindeutig kein Mensch.
Ich bleibe gelassen: „Keine Sorge, ich bin nur auf der Durchreise. Eigentlich hatte ich gehofft, hier auf ein paar Menschen zu treffen, aber vielleicht kannst du mir auch weiterhelfen.“ Meine Haare verdecken meine Augen. Noch scheint er nicht bemerkt zu haben, dass ich keine gewöhnliche Wölfin bin. Und auch seine kleinen Freunde ahnen wohl nichts. Obwohl mein Blick nur auf mein Gegenüber gerichtet ist, kann ich genau spüren, wie sich hinter den alten Fassaden der Gebäude, die um den Platz stehen, eine Menge tut. Hier sind überall Wölfe.
Der blonde Kerl verschränkt die Arme: „So, so, du bist also nur kurzfristig hier? Suchst du nach etwas?“
Schulterzuckend antworte ich ihm: „Kann man so sagen. Ich habe die Orientierung verloren und bräuchte eine Karte oder Informationen, wie ich weiterkomme.“
Nun hat er ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht: „Eine junge Wölfin ohne Orientierung, so etwas sieht man auch selten.“ Ich möchte mal sehen, wie er seinen Weg wieder findet, wenn er mit einem Portal quer durch die Welt reist. „Wie auch immer, eine Karte wirst du hier nicht finden. Die Menschen haben damals alles mitgenommen, was sie im Eifer des Gefechts noch fassen konnten. Der Rest ist über die Jahre verrottet.“ Ich muss zugeben, dass ich immer neugieriger werde. Mich würde brennend interessieren, was hier geschehen ist.
Dennoch weigere ich mich, Interesse zu zeigen: „Das ist schade. Ich hatte gehofft, hier einen Anhaltspunkt zu finden. Kannst du mir zumindest sagen, wie ich zur nächsten Stadt komme?“ Er wirkt überrascht über meine gespielte Teilnahmslosigkeit.
Doch dann wandern seine Mundwinkel nach oben: „Kannst du mir sagen, warum ich das tun sollte? Du bist immerhin in dieses Gebiet eingedrungen. Das zeugt von gewisser Respektlosigkeit. Du musst dir die Informationen schon verdienen.“
Genervt verdrehe ich die Augen: „Gut, ich sehe schon, wo das hinführt. Können wir die Sache verkürzen? Ich habe ehrlich gesagt keine Lust, noch länger in diesem Drecksloch zu bleiben.“ Wieder trifft mich sein überraschter Blick. „Damit meine ich, dass du deinen kleinen Freunden sagen kannst, dass sie aus ihren Verstecken rauskommen sollen. Ich weiß sowieso schon längst, dass wir nicht allein sind. Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“ Ich merke, wie die leisen Geräusche hinter den alten Fassaden der Häuser augenblicklich verstummen.
Die Überraschung meines Gegenübers geht erneut in ein Lächeln über: „Eines muss man dir lassen, Kleine. Du bist schlau. Deine Instinkte scheinen sehr ausgeprägt zu sein. Sag, wie heißt du?“
„Was geht dich das an?“ Ich drehe mein Gesicht weg von ihm. „Du kannst mir ohnehin nicht helfen. Wieso soll ich also meine Zeit noch länger mit dir vergeuden?“ Mit diesen Worten gehe ich an ihm vorbei und schlage denselben Weg ein, über den ich auch hergekommen bin. Wie es scheint, muss ich mir selbst helfen. Vielleicht befindet sich in der Nähe eine andere Stadt.
„Nicht so schnell.“ Plötzlich stellt er sich vor mich. Ich habe seine Bewegungen gar nicht gehört. Er ist geschickt, das muss man ihm lassen. „Glaubst du wirklich, dass ich dich einfach so gehen lasse?“ Mit leicht gesenktem Kopf bemühe ich mich, meine Augen nicht zu zeigen.
Ich seufze: „Sieht aus, als würde das Ganze hier doch noch länger dauern, wie? Na gut, sag mir, was du von mir willst.“ Es ist nicht so, dass ich nicht einfach verschwinden wollte, aber langsam bereiten mir die Wölfe in der Umgebung Sorgen. Es werden immer mehr. Mittlerweile sollte ich mich bemühen, einen Kampf zu vermeiden. Ich bin zwar gerne für ein wenig Abwechslung offen, aber ich bin nicht dumm. Allein gegen so viele Wölfe? Das könnte sogar für mich schlecht ausgehen. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich vorerst mit dem blonden Unbekannten zu unterhalten.
Dieser scheint sich über meine Nachgiebigkeit zu freuen: „Na also, es geht doch. Fangen wir nochmal von vorne an. Du willst mir deinen Namen zwar nicht sagen, ich nenne dir meinen trotzdem. Ich heiße Leader.“ Leader? Ist das sein Ernst? Er bezeichnet sich tatsächlich selbst als Anführer.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch: „Ist das dein richtiger Name? Deine Eltern werden dich wohl kaum so genannt haben.“ Es fällt mir nicht leicht, den respektlosen Unterton in meiner Stimme abzustellen. Dennoch funktioniert es mittlerweile schon besser.
Er schüttelt den Kopf: „Nein, das haben sie natürlich nicht. Dennoch ist es mein Name. Du musst wissen, dass alle in diesem Rudel einen neuen Namen bekommen, sobald sie sich uns anschließen. Dieser entspricht dann der Position, die sie im Rudel einnehmen oder bezieht sich auf besondere Fähigkeiten eines jeden.“
Wieder bemühe ich mich, freundlich zu klingen: „Interessant. Kann ich nun gehen? Meine Zeit ist mir ehrlich gesagt zu wertvoll, um noch viel länger hierzubleiben und mit dir zu plaudern.“
Nun setzt er sich in Bewegung und beginnt, Kreise um mich zu ziehen: „Meiner Meinung nach ist es nur höflich, jemandem vorher ein paar Dinge über das Rudel zu sagen, bevor sich die Person uns anschließt.“ Ich merke, wie er mich von Kopf bis Fuß mustert.
„Wie war das?“ Ich habe mich wohl verhört. „Habe ich dich richtig verstanden? Du willst, dass ich hierbleibe?“ Er nickt nur. „Okay, wie soll ich das jetzt verstehen? Machst du das bei jedem Artgenossen, der dir über den Weg läuft? Das ist doch absurd!“ Normal scheint dieser Kerl auf jeden Fall nicht zu sein und das trifft dann vermutlich auch auf sein Rudel zu. Ich sollte auf der Hut sein.
Plötzlich lacht er laut auf: „Nein, natürlich nicht! Wärst du eine gewöhnliche Wölfin, hätten wir dich schon längst umgebracht.“ Augenblicklich wird seine Miene ernst. Er weiß, dass ich nicht normal bin. Kann es sein, dass er schon vermutet, was ich bin? Aber wie ist er dahintergekommen? Er sieht nicht so aus, als würde er sich für alte Sagen und Legenden interessieren. Normalerweise dürfte er gar nicht wissen, dass es so etwas wie Schattenwölfe überhaupt gibt.
Etwas zögernd frage ich nach: „Wie meinst du das? Woher willst du wissen, dass ich nicht bin, wie jede andere Wölfin auch?“
Noch immer umkreist er mich und wendet seinen Blick nicht von mir ab: „Dazu brauche ich dich doch nur anzusehen. Du bist kräftig, strahlst Stärke aus, von deinem selbstbewussten Charakter mal abgesehen. Außerdem bist du ein wahrer Blickfang. Nein, du bist alles andere als gewöhnlich und so jemanden kann ich gut in meinem Rudel gebrauchen.“ So ist das also. Ich bin erleichtert, dass er nicht meine außergewöhnliche Abstammung gemeint hat. Er hat keine Ahnung, wer oder was ich wirklich bin. Hätte ich mir eigentlich schon denken können. Sonst hätte er vermutlich anders auf meine Ankunft reagiert.
Nichtsdestotrotz gefällt mir nicht, was er da sagt: „Ich enttäusche dich ja nur ungern, aber deine Schmeicheleien nützen bei mir nichts. An einem Beitritt in deinem Rudel bin ich genauso wenig interessiert, wie an dir selbst. Ich reise allein.“ Mit diesen Worten kehre ich ihm den Rücken zu und will wieder gehen.
Erneut stellt er sich vor mich: „Du hast mich da falsch verstanden.“ Sein Unterton gefällt mir gar nicht. „Das war keine Frage. Es war ein Befehl.“ Augenblicklich tut sich in den Gebäuden rundum den Platz wieder etwas. Die Wölfe sind in Bewegung. Hier komme ich anscheinend friedlich nicht mehr raus.
Wird wohl Zeit, Klartext zu reden: „Gut, ich sehe schon, dass das nichts bringt. Ich habe mich von Anfang an bemüht, einigermaßen freundlich zu sein, um keinen unnötigen Streit zu provozieren, aber das ist nun sowieso hinfällig.“ Er bleibt noch immer starr vor mir stehen. Mein Kopf bleibt gesenkt. „Lass mich vorbei. Wir können die ganze Sache noch friedlich beenden. Jeder geht seines Weges und wir sehen uns nie wieder.“
„Und was wäre die andere Option?“ Er verhält sich immer selbstgefälliger. Langsam macht mich der Kerl wütend.
Also gebe ich ihm eine eindeutige Antwort: „Die andere Option wäre, dass ihr dumm genug seid, euch mit mir anzulegen. Bei dieser Variante würdet ihr mit Sicherheit nicht gut davonkommen, also würde ich mir diese Entscheidung zweimal überlegen, wenn ich du wäre.“ Es folgt eine Reaktion, mit der ich fast schon hätte rechnen können. Er lacht. Wütend balle ich meine Hände zu Fäusten. Nun heißt es ruhig bleiben. Nicht die Kontrolle verlieren.
„Du unterschätzt wohl die Größe und Kraft meines Rudels.“ Plötzlich deutet er auf die umliegenden Häuser. „Darf ich dir ein paar gute Freunde vorstellen?“ Unauffällig blicke ich unter meinen Haaren hervor. Endlich zeigen sie sich alle. Der Reihe nach kommen immer mehr von ihnen hinter den alten Fassaden hervor. Aus Fenstern, alten Türen und Löchern in den Wänden strömen sie in meine Richtung. Noch sind sie in Menschengestalt, aber wie lange noch?
Dennoch bleibe ich vorerst gelassen: „Eine nette kleine Familie hast du dir da zusammengesucht. Hat sicher lange gedauert, bis du so viele Wölfe beisammenhattest.“
Stolz blickt er auf die umliegenden Personen: „Habe ich zu viel versprochen?“ Nun scheinen endlich alle versammelt zu sein und sie nehmen nach und nach Wolfsgestalt an. Sie haben einen Kreis um mich und Leader gebildet. Noch halten sie Abstand. Es sind in der Tat verdammt viele. Mindestens dreißig.
Ich zucke mit den Schultern: „Kein schöner Anblick, wenn du mich fragst. Die Wölfe, die ich kenne, sind größer, stärker und vor allem anmutiger. Dein Rudel macht unserer Rasse keine Ehre, im Gegenteil.“ Die meisten von ihnen sind dünn, fast abgemagert. Ihr Fell ist räudig und hat jeglichen Glanz verloren. Nur ein paar erscheinen mir als muskulös, mit dem Rest dürfte ich leichtes Spiel haben. Das beeinflusst meine Einstellung bezüglich eines Kampfes.
Mit meiner Bemerkung scheine ich Leader verärgert zu haben: „Hüte deine Zunge! Du vergisst wohl, dass du allein bist! Bei einem Kampf hättest du keine Chance!“
Nun bin ich diejenige, die lächelt: „Sei dir da mal nicht so sicher. Ich wiederhole meine Drohung von vorhin nur noch ein einziges Mal. Lass mich gehen, oder ich werde keinen von euch verschonen!“ Leader starrt mich gebannt an.
Dann beginnt er erneut zu lachen: „Du willst uns herausfordern? Das ist Wahnsinn! Für wen hältst du dich eigentlich?“
In diesem Moment hebe ich meinen Kopf, streife mir die Haare aus dem Gesicht und blicke ihm tief in die Augen: „Schon mal etwas von Schattenwölfen gehört?“ Ich spüre, wie die dunkle Aura um mich stärker wird.
Leader springt augenblicklich zurück: „Was zum Teufel bist du?“ Er verwandelt sich in einen großen braunen Wolf. „Macht euch bereit!“ Die letzte Bemerkung galt wohl seinem Rudel, das sich nun in drohende Position begibt.
Ich hingegen bleibe ruhig und drehe in meiner menschlichen Gestalt kleine Kreise, während ich mir die verunsicherten Gesichter der Reihe nach ansehe: „Du fragst, was ich bin? Nun, du hast zuvor schon sehr richtig gelegen, als du gesagt hast, dass ich keine gewöhnliche Wölfin bin. Wie außergewöhnlich meine Rasse tatsächlich ist, hast du aber anscheinend noch nicht vermutet.“ Die schwarze Aura umspielt mich sanft und streicht über meinen Körper. „Ich bin das absolute Gegenteil alles Guten. Ich bin ein Schatten, ein Wesen höherer Ordnung. Und was am allerwichtigsten ist…“ Ich bleibe stehen und fixiere Leader. „Ich bin euer schlimmster Albtraum.“
„Los, greift sie an!“ Seine verzweifelten Worte lassen das Gefecht beginnen. Ohne zu zögern, stürzt sich der erste Wolf auf mich, dem ich einen heftigen Schlag mit der Faust direkt auf die Schnauze verpasse. Er wird zurückgeschleudert, während man seine Knochen brechen hört. Eine weitere Wölfin versucht einen Angriff von hinten. Ich springe schnell zur Seite und packe ihre Hinterläufe. Dann drehe ich mich um die eigene Achse und schleudere sie gegen die Fassade eines Gebäudes. Man sieht nur noch eine Staubwolke, als sie zu Boden fällt.
Als mich keiner mehr angreift und mich jeder nur noch verängstigt anstarrt, brülle ich sie an: „Was ist los mit euch? Kommt her! Zeigt mir, was ihr könnt!“ Plötzlich spüre ich einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Sofort drehe ich mich um und will meinem Angreifer die Leviten lesen, aber in diesem Moment kommt schon eine andere Wölfin auf mich zugelaufen, der ich mich zuerst widme. „Zwei gegen einen? Na schön!“
Ohne große Mühe fange ich die Wölfin ab und packe sie am Hals. Ich klemme den großen Wolfskopf unter meinem Arm ein und lasse nicht los. Die Wölfin knurrt und zappelt, aber ich bin stark genug, um sie zu halten. Leider bleibt der andere Wolf nicht tatenlos und verbeißt sich in meinem Unterschenkel. Der Schmerz ist enorm, aber ich weigere mich zu schreien. Mit einem einzigen Ruck breche ich der Wölfin das Genick und ihr lebloser Körper sinkt zu Boden. Voller Wut beißt der andere Wolf noch fester zu, reißt mein Bein in die Luft und schleudert mich in hohem Bogen über die übrigen Gegner hinweg.
Ich lande unsanft im Staub und bleibe vorerst am Bauch liegen. Scheint wohl so, als hätte ich das Rudel etwas unterschätzt. In einem fairen Zweikampf könnte ich jeden von ihnen mit Leichtigkeit fertigmachen. Dazu müsste ich mich nicht einmal verwandeln. Aber was ist schon fair? Sie sind in der Überzahl und das ist ein enormer Nachteil für mich. Zum Glück habe ich meine ganze Stärke noch nicht gezeigt. Diese wird wohl jetzt zum Einsatz kommen müssen.
Langsam richte ich mich wieder auf und blicke zu meinen Gegnern, die allesamt knurrend vor mir stehen. Leader kann ich nicht erkennen. Er dürfte sich versteckt haben. Was für ein Feigling. Na schön, erledige ich eben zuerst seine Anhänger und dann ihn selbst. Ihm wird es noch leidtun, dass er mir das eingebrockt hat.
Aus dem Rudel hallt eine Frauenstimme hervor: „Hast du jetzt endlich genug? Gib auf!“
Stolz und siegessicher stelle ich mich auf beide Beine und mache mich groß: „Aufgeben? Wieso denn? Es fängt gerade erst an, lustig zu werden.“ Den Schmerz in meinem Unterschenkel ignoriere ich. Die schwarze Aura hat sich an der Verletzung gesammelt und beschleunigt den Heilungsprozess. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich meine Gestalt ändern muss, um hier eine Chance zu haben.
Somit sammle ich meine Kräfte. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Meine Muskeln sind angespannt und meine Kampfeslust stärker denn je. Ich atme noch einmal tief durch. Dann geht alles blitzschnell. Mit einem Mal drücke ich mich vom Boden ab und verwandle mich im Bruchteil einer Sekunde in meine wahre Gestalt, in die schwarze Schattenwölfin. Ohne zu zögern laufe ich auf das Rudel zu. Sie haben mir kaum etwas entgegenzusetzen.
Dem ersten Wolf, den ich am rechten Vorderlauf zu packen bekomme, beiße ich sofort den Knochen durch und schleudere ihn gegen den nächsten. Dann ramme ich zwei weitere, sodass auch sie den Boden unter den Füßen verlieren. Es sind aber noch immer viel zu viele. Ich muss mir Platz verschaffen, um sie der Reihe nach einzeln zu erwischen. Mit diesem Gedanken widme ich mich also weiteren Gegnern, die sich in meiner unmittelbaren Nähe befinden. Ich stoße einen nach dem anderen weg. Dabei verletze ich sie kaum, aber ich verschaffe mir Platz und vor allem Zeit.
Als die Gruppe um mich kleiner wird, gehe ich einem Wolf an die Kehle. Seine Versuche, sich zu wehren, sind jämmerlich. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie ihm ein anderer helfen will. Sofort drehe ich mich nach rechts und reiße ihm eine tiefe Wunde in den Hals. Er fällt hustend zu Boden und spuckt Blut. Dieser wird sich nicht mehr wehren.
Plötzlich spüre ich erneut einen Schmerz im linken Hinterbein, das sogleich nachgibt. Ein Blick hinter mich genügt, um mich zu vergewissern. Eine kleine Wölfin hat die Chance genutzt und im Eifer des Gefechts meine Schwachstelle erwischt. Sie hat ihre Zähne tief in mein Fleisch vergraben und denkt wohl nicht daran, wieder loszulassen. Instinktiv reiße ich meinen Kopf nach hinten und will mich wehren, als mich ein weiterer Wolf am Nacken packt. Mit großer Wucht reißt er mich zu Boden und verbeißt sich dabei in meinem Genick. Dann kommt noch ein dritter und rammt seine Klauen in meine beiden Vorderpfoten. Sie haben mich festgenagelt.
Ich bin völlig wehrlos. Es bringt nichts, jetzt noch großartig zu zappeln oder zu knurren. Sie haben mich in ihrer Gewalt und das wissen sie auch. Nach und nach kommen die Wölfe, die ich zuvor bekämpft habe, näher und umzingeln mich. Die Blicke, mit denen sie mich ansehen, könnten verachtender nicht sein. Einige sind verletzt, manche schwerer als andere. Sie haben viele Tote zu beklagen. Ich rechne also nicht damit, dass ihr Urteil milde ausfallen wird.
Würde mein linkes Bein nicht so sehr schmerzen, könnte ich mich eventuell nochmal aus der Sache rauskämpfen, aber leider kann ich es kaum belasten. Die Tatsache, dass die kleine Wölfin ihre Zähne noch immer in der Wunde hat, macht die Situation keineswegs angenehmer.
„Jetzt ist sie wohl doch nicht mehr so stark, wie? War klar, dass sie keine Chance gegen uns hat. Leader wird stolz auf uns sein.“ Was bilden sie sich nur ein? Sind die tatsächlich stolz auf ihren Sieg über mich?
Wütend zische ich sie an: „Wärt ihr nicht so dermaßen in der Überzahl, hätte ich euch allesamt mit Leichtigkeit erledigt! Es ist eine Schande, wie feige ihr seid!“ Die Wölfin zuckt zusammen, als ich das sage. „Da siehst du es! Selbst jetzt, wo ich doch schon am Boden liege, habt ihr noch Angst vor mir! Ihr braucht drei Wölfe eures erbärmlichen Rudels, um mich unten zu halten!“ Mir ist bewusst, dass ich mich nicht gerade in der Position befinde, um beleidigend zu werden, aber das ist mir momentan völlig egal. Es regt mich so dermaßen auf, dass sie sich auch noch damit brüsten, unfair gekämpft zu haben.
Eine weitere Stimme hallt von weiter hinten hervor: „Ist doch egal, wie wir es angestellt haben! Ein Sieg ist ein Sieg! Das Ergebnis bleibt gleich!“
Ich lache bitter: „Eigentlich amüsant, wie wenig ihr von Ehre versteht. Selbst ich besitze mehr davon und ich bin immerhin eine Schattenwölfin. Hat euch euer Anführer noch nie etwas von wahrem Stolz erzählt?“ Sie schweigen. „Wo ist Leader eigentlich? Hat sich der Feigling im Eifer des Gefechts verkrochen?“
Ein großer Wolf wendet sich an die Gruppe: „Hört nicht auf sie. Wir warten hier, bis Leader zurück ist. Er wird erfreut sein zu sehen, dass die anderen nicht mehr benötigt werden.“ Die anderen? Scheint so, als wäre er losgelaufen, um Verstärkung zu holen. Das ändert die Lage erneut. Eigentlich habe ich darauf gehofft, mich noch einmal losreißen zu können, aber das wird nun schwierig. Allein komme ich da nicht mehr raus, so viel steht fest.
Nun muss ich wohl verhandeln: „Könntet ihr nicht wenigstens eurer kleinen Freundin sagen, dass sie aufhören soll, ihre Zähne in meine Wunde zu drücken? Die Schmerzen stören mich zwar wenig, aber je länger sie das tut, desto schlechter wird die Verletzung heilen.“
Der große Wolf wirkt überrascht: „Und warum sollten wir das tun? Es kann uns doch wohl egal sein, wenn du dein Bein verlierst! Im Gegenteil, das ist sogar besser für uns!“ Diese Antwort habe ich schon erwartet. Eine Schwachstelle des Rudels habe ich nun entdeckt. Sie sind berechenbar.
Also nutze ich das zu meinem Vorteil: „Glaubst du wirklich, dass euer Anführer froh darüber sein wird, wie ihr mich hier behandelt? Ihr habt das Gespräch vorhin doch alle mitverfolgt, oder etwa nicht? Leader will mich in eurem Rudel haben, schon vergessen?“ Er antwortet nicht darauf. Die übrigen Wölfe flüstern untereinander. Hoffentlich fällen sie schnell eine Entscheidung. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu verschwinden. Wer weiß, wie viele Wölfe Leader noch mit sich bringt?
Wieder übernimmt der Große die Antwort: „Gut, lass sie los, Silent.“ Leader hat das mit der Namensgebung seines Rudels doch tatsächlich ernst gemeint. Was für ein Schwachsinn. Endlich lässt die kleine Wölfin mein Bein los und ich atme erleichtert auf. Der Schmerz ist zwar noch immer heftig, aber besser als zuvor ist es allemal. Gut, nun muss ich noch einmal all meine Kräfte sammeln. Das ist meine letzte Chance, um von hier wegzukommen.
„Ah! Hilfe!“ Was war das? „Wir werden angegriffen!“ Das kam von weiter hinten.
„Was zum Teufel?“ Plötzlich wird der große Wolf, der vor mir steht, in hohem Bogen weggeschleudert. Alles geht rasend schnell. Ich konnte nicht einmal erkennen, wie das Ganze von statten ging. Dann spüre ich, wie der Wolf, der mich am Nacken hält, von mir gerissen wird. Ich reagiere sofort und springe auf, als mein linkes Bein erneut nachgibt.
„Du musst dich in einen Menschen verwandeln, schnell!“ Eine unbekannte Stimme tönt hinter mir hervor. Ehe ich mich umdrehen kann, springt eine weiße Silhouette über mich hinweg und stellt sich schützend vor mich. Das Rudel ist noch völlig gebannt und reagiert nicht. Der weiße Wolf dreht sich noch einmal um. „Tu, was ich dir sage, sonst bist du geliefert!“ Kenne ich ihn? Er sieht so vertraut aus. Seine Größe, seine Statur, all das erinnert mich an jemanden. Nein, das kann gar nicht sein! „Bist du taub?“ In diesem Moment greift ihn der erste Wolf an. Die anderen sehen nur tatenlos zu. Der weiße Wolf wehrt sich und kann ihn geschickt von sich werfen.
Verwirrt rufe ich ihm zu: „Was soll das bringen? Ich verwandle mich doch jetzt nicht wieder in meine menschliche Gestalt! Das wäre Selbstmord!“
„Vertrau mir einfach!“ Einem Fremden einfach so vertrauen? Das klingt nicht sehr klug. „Wenn du leben willst, hör auf mich!“ Es folgt erneut ein Angriff, diesmal sind sie zu zweit. Wieder packt er zuerst den einen und wirft ihn gegen den anderen. Er legt noch ein paar heftige Schläge mit seinen Klauen nach. „Wird’s bald? Na los!“ Der Wolf scheint mir nichts Böses zu wollen. Außerdem habe ich keine andere Wahl. Gut, ich befolge seinen Rat.
Wieder in einen Menschen verwandelt, hocke ich nun am Boden: „Gut, ich habe getan, was du gesagt hast! Was nun?“ Er kann mir nicht antworten, da ihn ein großer Wolf gerade zu Boden geworfen hat und sich auf ihn stürzt. „Komm schon! Sag mir, wie ich dir helfen kann!“ Plötzlich drückt er den Wolf von sich und springt auf. Er dreht sich um und stürmt in meine Richtung. Binnen Sekunden senkt er seinen Kopf, packt mich am rechten Arm, beißt zu und reißt mich in die Luft. Gekonnt fängt er mich auf, sodass ich auf seinem Rücken lande.
„Festhalten!“ Instinktiv folge ich seiner Anweisung und kralle meine Finger in das dichte, weiße Fell. Dann läuft er los und hetzt die Straße runter. Die anderen nehmen die Verfolgung auf, aber der Kerl ist verdammt schnell. Ich mache mich klein und drücke mich fest an seinen Körper. Wenn er das Tempo beibehält, gelingt die Flucht mit Sicherheit.
Was für ein Tag. Ich habe mit so einigem gerechnet, als ich die Stadt betreten habe, aber das überstieg meine kühnsten Vorstellungen. Wäre mir dieser fremde Wolf nicht zur Hilfe geeilt, hätte das Ganze schlecht für mich enden können. Das alles war wohl ein glücklicher Zufall, falls es tatsächlich einer war. Ich habe einige Fragen an den mysteriösen Unbekannten. Sobald er zurück ist, werde ich sie ihm stellen.
Momentan hocke ich auf einem durchgelegenen Bett in einem dunklen Zimmer. Die Fenster sind mit Holzbrettern zugenagelt und es kommen nur wenige Lichtstrahlen in den Raum. Der weiße Wolf hat mir versichert, dass uns die anderen hier nicht finden werden. Hoffentlich irrt er sich da nicht.
Die provisorische Dusche, die ich gerade hatte, tat wirklich gut. Es gibt hier zwar weder fließend Wasser noch Strom, aber es ging trotzdem. Der Unbekannte hat mir das Bad gezeigt, in dem sich ein riesiger Wassertank befindet. Mit Eimer, Schwamm und Bürste konnte ich dann endlich den Dreck der letzten Wochen abwaschen und meine Wunden reinigen. Danach waren meine Klamotten an der Reihe, die nun im Bad zum Trocknen hängen. So sitze ich also frisch gewaschen und in ein großes Tuch gewickelt auf dem Bett und warte auf die Rückkehr des Wolfes, der gesagt hat, dass er noch etwas erledigen müsse.
Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich ihn noch nie gesehen habe. Ich muss zugeben, dass ich im ersten Moment schockiert war. Ein weißer Wolf eilt mir zur Hilfe. Was in dieser Situation mein erster Gedanke war, ist ja wohl ziemlich offensichtlich. Ich habe schon lange nicht mehr an Jake gedacht, aber nun?
Plötzlich geht die Tür auf und ein großer, schlanker Mann tritt in den Raum. Er schließt die Tür hinter sich. Ich bleibe starr auf dem Bett sitzen und warte auf eine Reaktion. Als er mich überrascht ansieht, erschrecke ich. Ist das vielleicht jemand anderes?
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du nichts anhast.“ Er wendet sich ab. Na schön, es ist doch der weiße Wolf von vorhin. Ich erkenne ihn an seiner Stimme. So sieht er also als Mensch aus. Groß und schlank, hellbraune Haare, grüne Augen. Mit den zerrissenen Jeans, dem schwarzen Hemd und den ebenso schwarzen Lederstiefeln hat er etwas von einem Helden aus einem Wildwestfilm. Dieses Bild muss ich mir merken, um zukünftigen Missverständnissen aus dem Weg zu gehen.
Ich ziehe das Tuch etwas fester um meinen Körper: „Keine Sorge, ich bin ja nicht völlig nackt. Du kannst die Augen ruhig wieder aufmachen.“ Etwas zögerlich folgt er meiner Anweisung. Dann bemerke ich den Rucksack, den er in der rechten Hand hält und deute darauf. „Was ist das?“
Er kommt zu mir und stellt ihn aufs Bett: „Ich war unterwegs, um meine Spuren zu verwischen und ein paar neue zu machen, die das Rudel in die Irre führen sollen. Dabei habe ich etwas zum Versorgen deiner Wunden geholt.“ Schnell entfernt er sich von mir und setzt sich auf einen Stuhl an der Wand. Er wirkt noch etwas unsicher mir gegenüber. Kein Wunder, schließlich hat er mich vermutlich eine Zeit lang beobachtet, bevor er mir geholfen hat.
„Danke.“ Ich öffne den Rucksack und schaue mir dessen Inhalt an. Darin befinden sich Verbandszeug, Desinfektionssalben und mehrere Pflaster. „Wo hast du all das her? Diese Stadt sieht nicht gerade so aus, als könnte man das mal schnell um die Ecke in einem Laden kaufen.“
Lächelnd und offensichtlich amüsiert über meine Worte antwortet er mir: „Da hast du allerdings recht. Ich habe diverse Verstecke für solche Dinge. Man weiß nie, was einem passieren kann. Vorsicht ist besser als Nachsicht, finde ich.“ Da bin ich seiner Meinung. Er scheint nichts dem Zufall zu überlassen. So fühle ich mich zumindest ein wenig sicherer bei ihm. Inwiefern ich ihm vertrauen kann, weiß ich jedoch noch nicht. Eigentlich wirkt er nett. Außerdem hätte er mir schon längst etwas getan, wäre das seine Absicht. Von ihm geht also keine Gefahr aus.
Dennoch stelle ich weitere Fragen: „Du lebst also schon länger hier?“
Nickend stimmt er zu: „Kann man so sagen. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange es her ist, dass ich hier bin. Vielleicht ein Jahr oder zwei.“ Ein sesshafter Wolf, der in einer Stadt lebt. Erneut kommen Erinnerungen hoch.
Trotzdem verstehe ich eines noch nicht ganz: „Warum lebst du genau in dieser Stadt? Es gibt viel schönere Orte auf dieser Welt, glaub mir. Außerdem kann man die Nachbarschaft nicht gerade als freundlich bezeichnen.“ Er schweigt und meidet meinen Blick. Da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt. Dieser Wolf hat eine Geschichte zu erzählen, das sieht man ihm an. Und ich bezweifle, dass es eine gute ist. „Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst.“
Bedrückt schaut er zu Boden: „Tut mir leid, aber das ist keine Geschichte, die man jedem einfach so erzählt. Schließlich kenne ich dich nicht.“
Das bringt mich gleich zu meiner nächsten Frage: „Und genau das verstehe ich nicht ganz. Du hast keine Ahnung, wer ich bin oder wo ich herkomme. Warum also hast du vorhin dein Leben riskiert, um mir zu helfen?“
Er legt seine Füße auf den kleinen Hocker vor ihm und schlägt die Beine übereinander: „Es gibt ein Sprichwort, das mein Handeln bestens beschreibt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Das dachte ich mir. Dieser Wolf hegt einen Groll gegen Leader und dessen Rudel. „Und gute Freunde findet man in dieser Gegend eher selten.“
Ich frage weiter: „Lebst du allein hier?“ Er nickt. „Und du kommst mit dem Rudel nicht klar?“
Es folgt ein kurzes Lachen: „Das kann man wohl sagen!“ Leider bringt mich diese Information nicht weiter. Dieser Wolf macht mich neugierig. Hinter seinem Handeln steckt sicher mehr.
Also beschließe ich, die Sache zu verkürzen: „Okay, reden wir Klartext. Du hast dich vorhin selbst in Gefahr gebracht, um eine wildfremde Wölfin zu retten. Ich glaube kaum, dass du das einfach getan hast, um eine gute Tat zu vollbringen. Außerdem bist du im Streit mit dem Rudel, das mich zuvor angegriffen hat. Ich sehe ein Muster hinter all dem, du nicht auch?“ Es liegt doch wohl auf der Hand. Der Feind seines Feindes ist sein Freund und somit auch sein Verbündeter. Er erhofft sich eine Gegenleistung, ganz klar.
Seine Miene ist nun ernst: „Gut, ich hatte zwar gehofft, dass ich das Ganze etwas ausschmücken und netter formulieren kann, aber du hast völlig recht. Bei meiner Rettungsaktion habe ich durchaus nicht nur an dein Wohl gedacht. Ich habe dich kämpfen sehen. Du bist unglaublich.“
Bevor er weitersprechen kann, unterbreche ich ihn: „Du brauchst also meine Hilfe, sehe ich das richtig? Tja, wenn das so ist, will ich aber zuvor deine Geschichte hören. Versteh mich nicht falsch, ich werde diese Feiglinge keinesfalls ungestraft davonkommen lassen, aber dennoch interessieren mich deine Beweggründe. Erst wenn du mir alles gesagt hast, werde ich darüber nachdenken, dir zu helfen.“
Verständnisvoll blickt er mir in die Augen und beginnt anschließend zu erzählen: „Gut, es ist natürlich dein gutes Recht, alles zu erfahren. Wie gesagt, es ist keine Geschichte, die man jedem so einfach erzählt. Sie beginnt vor drei Jahren, als ich noch ein glückliches Mitglied in meinem eigenen Rudel war. Ich lebte weit nördlich in einem Gebiet, in dem es selbst im Sommer oft schneite. Die Kälte machte mir nie etwas aus, da ich dort geboren wurde. Mein Leben war nahezu perfekt, auch wenn ich keine Eltern mehr hatte.“
Ich falle ihm ins Wort: „Wie sind sie gestorben?“
Er zuckt mit den Schultern: „Ein Jagdunfall. Nichts Besonderes eigentlich, aber das ist eine andere Geschichte.“ Ich nicke nur und bin wieder still. „Dennoch war ich nicht allein. Das Rudel war immer für mich da. Außerdem gab es da noch meine kleine Schwester. Sie war noch ein Welpe, als meine Eltern gestorben sind und von da an habe ich geschworen, sie immer zu beschützen. Ich hätte mein Leben für sie gegeben, wenn es denn sein müsste. Eines Tages aber wurde diese Idylle innerhalb kürzester Zeit zerstört. Der Angriff eines anderen Rudels traf uns hart. Wir waren völlig unvorbereitet, immerhin hat uns dieses Gebiet schon seit Jahrhunderten gehört. Leader und seine Schergen haben keine Rücksicht genommen und wollten unsere Heimat um jeden Preis für sich beanspruchen. Zum Glück hatten wir einige gute Kämpfer, mich eingeschlossen. Ich habe mich ins Gefecht gestürzt und gemeinsam konnten wir das feindliche Rudel verjagen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich leider noch nicht, welche Verluste wir erlitten hatten.“
Seinen letzten Gedanken ausführend blicke ich zu Boden: „Ihr habt sie also ziehen lassen, ohne sie zu verfolgen.“
„Genau so war es.“ Er atmet tief durch, bevor er weiterspricht. „Wir konnten nicht ahnen, dass das Rudel so groß war. Während sich die Frauen und Kinder im hinteren Teil des Waldes versteckt hatten, kam ein weiterer Teil von Leaders Anhängern zu ihnen. Als wir glaubten, dass das Gefecht bereits vorbei gewesen sei, hörten wir plötzlich die Kampfgeräusche. Wir ließen keinen von ihnen entkommen, nachdem wir gesehen hatten, wie viele Welpen sie auf dem Gewissen hatten. Meine Schwester hatte tapfer gekämpft, um alle zu schützen und konnte sie lange genug zurückhalten, damit ihnen nicht noch mehr Jungtiere zum Opfer fielen. Leider bezahlte sie dafür mit dem Leben.“ Er spricht nicht mehr weiter. Man braucht ihn nicht zu kennen, um zu sehen, wie sehr ihn das mitnimmt.
Auch ich habe meinen Kopf noch gesenkt: „Das tut mir leid. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht. Du darfst aber nicht vergessen, dass deine Schwester einen ehrenvollen Tod gestorben ist, den Tod einer Wölfin.“ Ich selbst weiß nur zu gut, wie wenig diese Worte bringen, aber etwas anderes kann man dazu nicht sagen. Das Wissen, dass sie für eine gute Sache gestorben ist, macht ihren Tod vielleicht ein wenig erträglicher.
Das sieht mein Gegenüber wohl genauso wie ich: „Du glaubst gar nicht, wie sehr es mich mit Stolz erfüllt hat, als mir die übrigen Mitglieder meines Rudels erzählt haben, wie tapfer sie gekämpft hat. Leider blieb immer mein schlechtes Gewissen. Ich hätte für sie da sein sollen, war es aber nicht. Mein Versprechen, sie zu schützen, habe ich nicht eingehalten. Das veranlasste mich dazu, einen neuen Schwur zu leisten.“ Er hebt seinen Kopf und in seinen Augen erkenne ich ein Gefühl, das ich mir durchaus bekannt ist. Hass. Ganz klar, er will Rache.
Ich sehe ihn lange und eindringlich an: „Du willst denjenigen zur Rechenschaft ziehen, der den Angriff angeordnet hat, nicht wahr? Du willst Leader.“
Er ballt seine Hände zu Fäusten: „Genau genommen will ich seinen Kopf. Der Rest ist mir egal. Seit fast drei Jahren bin ich ihm nun schon auf den Fersen, bis er sich schließlich in dieser Stadt niedergelassen hat. Leider hatte ich bisher noch keine Chance, ihn zu erwischen. Er ist extrem vorsichtig und bleibt stets bei seinem Rudel, dieser Feigling.“
Überrascht frage ich nach: „Weiß er etwa, wer du bist und was du vorhast?“ Das würde die Sache verkomplizieren.
Doch der Wolf antwortet mir kopfschüttelnd: „Nein, er hat keine Ahnung. Ich habe im Geheimen agiert. Keiner wusste, dass ich sie verfolge. Die heutige Begegnung mit dem Rudel war die erste direkte Auseinandersetzung seit Jahren.“
Das verstehe ich nun nicht ganz: „Warum ist er dann nie allein unterwegs? Verfolgt ihn noch jemand anderer?“
Er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe: „So viel ich weiß, wird er von mehreren Wölfen gesucht. Ein Kopfgeld ist auf ihn ausgeschrieben, da er immer mehr Wölfe zwingt, sich seinem Rudel anzuschließen, ähnlich wie er es bei dir getan hat. Dabei macht er nur keinen Unterschied, ob die Wölfe allein unterwegs sind oder in einem Rudel leben. Wenn es sein muss, reißt er sie den Eltern aus den Armen.“
Ich bin schockiert: „Das ist schrecklich. Wie kann man nur so machtbesessen und wahnsinnig sein?“ Wo bin ich da nur hineingeraten? Hätte ich das gewusst, wäre ich sofort auf ihn losgegangen. Er hätte keine Chance gehabt.
„Das heißt also, du hilfst mir?“ Sein erwartungsvoller Blick spricht mehr als tausend Worte. Er muss jahrelang darauf gewartet haben, einen geeigneten Verbündeten zu finden. Gut, meine Entscheidung steht fest.
Mit einem Lächeln im Gesicht gebe ich ihm eine Antwort: „Ja, ich bin dabei. Wir haben wohl beide noch eine Rechnung mit ihm offen, warum also nicht zusammenarbeiten? So kriegen wir ihn bestimmt.“ Ich bin zwar eine Schattenwölfin, das ändert aber nichts daran, dass ich einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit habe. Außerdem hätte ich den Kerl ohnehin nicht ungestraft davonkommen lassen. Ich werde mich also vorerst mit dem weißen Wolf verbünden.
Dieser ist sichtlich erfreut: „Vielen Dank. Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen.“
Sofort frage ich nach: „Und wie geht es weiter? Wo sollen wir anfangen?“
Der Wolf lacht: „Immer mit der Ruhe, wir haben Zeit. Ich habe mehrere Jahre auf eine Möglichkeit gewartet, da sind ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht schlimm. Ruh dich erst mal aus. Du musst deine Wunden versorgen, ehe wir irgendetwas unternehmen können.“ Er steht auf und geht in Richtung Tür. „Ich werde auf die Jagd gehen. Diese Nacht bleiben wir auf jeden Fall noch hier. Wenn ich zurück bin, halte ich Wache. Du ruhst dich in der Zwischenzeit aus, dunkle Wölfin.“
Freundlich korrigiere ich ihn: „Jessica. Nenn mich einfach Jessica.“
Auch er grinst mich an: „Blake.“ Und so geht er aus dem Zimmer und verschließt die Tür hinter sich.
Der gestrige Tag brachte nicht mehr allzu viele Überraschungen mit sich. Blake hat mir noch zwei große Hasen gebracht, die ich am Abend verspeist habe. Dann hielt er die ganze Nacht Wache. Dieser Umstand und die Tatsache, dass ich schon seit langem nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen habe, bescherten mir eine ruhige und erholsame Nacht. Noch hat er sich nicht bei mir im Zimmer blicken lassen, obwohl die Sonne bereits aufgegangen ist. Also bleibe ich noch ein wenig im Bett liegen und schone mich vorerst noch. Meine Wunden sind schon sehr gut verheilt. Die Salben haben den ohnehin schon schnellen Selbstheilungsprozess noch zusätzlich unterstützt. Jetzt habe ich nur noch ein paar Schrammen, also nicht der Rede wert.
Plötzlich klopft jemand: „Komm rein!“ Die Tür öffnet sich langsam. Blake steckt den Kopf durch den Spalt und schaut vorsichtig in meine Richtung. Ich muss schmunzeln. „Keine Sorge, diesmal bin ich angezogen.“
Nun grinst auch er und betritt das Zimmer: „Hast du gut geschlafen?“ Er setzt sich wieder auf den Stuhl, der an der Wand steht.
Ich stimme nickend zu: „Ja, wie ein Stein. Es ist lange her, dass ich in einem Bett in einem geschlossenen Raum geschlafen habe.“
„Warst du zuvor die ganze Zeit allein in der Wildnis unterwegs?“ Mit der Frage habe ich nun fast schon gerechnet. „Du musst doch auch im Rudel geboren sein, oder etwa nicht?“
Etwas zögernd gebe ich ihm eine Antwort: „Na ja, meine Vergangenheit ist ziemlich kompliziert. Sagen wir mal so, ich habe schon einiges erlebt und vieles gesehen, weshalb ich mich entschieden habe, vorerst Zeit allein zu verbringen.“
Blake verschränkt die Arme: „Das glaube ich gleich. Du hast es bestimmt nicht immer einfach gehabt. Ihr Schattenwölfe habt schließlich keinen allzu guten Ruf.“
Nun bin ich überrascht: „Du weißt, was ich bin? Wie ist das möglich?“
Er zuckt mit den Schultern: „Wieso sollte ich es nicht wissen? Deine Erscheinung ist nicht gerade unauffällig, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe schon viel von diesen Wölfen gehört. Die alten Sagen kennt doch jeder.“ Verwirrt schaue ich ihn an. „Stimmt etwas nicht?“
Ich schüttle den Kopf: „Nein, nicht direkt. Mich irritiert nur, dass du es weißt und mich trotzdem so behandelst. Du hast mich gerettet und auch jetzt bist du nett zu mir. Außerdem hast du keine Angst vor mir.“
Mit spöttischer Stimme fragt er nach: „Sollte ich das etwa haben?“ Dann wird er wieder ernst. „Ich beurteile keinen nach seiner Herkunft. Egal, was du in der Vergangenheit getan hast, mich betrifft es nicht und somit habe ich auch keinen Grund, mich dir gegenüber in irgendeiner Weise anders zu verhalten. Du wirkst sehr freundlich auf mich und kämpfst mit mir für dieselbe Sache. Mehr brauche ich gar nicht zu wissen.“ Ihm ist also völlig gleichgültig, welche Geheimnisse meine Vergangenheit birgt. Das finde ich gut. Es kommt selten vor, dass ich jemandem begegne, der mich nicht nach meiner Herkunft beurteilt.
Also lächle ich: „Vielen Dank. Es ist schön zu wissen, dass es noch Personen gibt, die so denken. Glaub mir, Wölfe von deiner Sorte gibt es heutzutage kaum mehr.“ Ich beginne, Blake zu mögen. Seit längerem habe ich nun wieder das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben. Das lässt mich an die anderen denken. Ich habe es bisher eigentlich vermieden, die Erinnerungen an sie in meine Gedanken zu lassen. Sie sind einfach viel zu schmerzhaft. Ich muss mir wohl oder übel eingestehen, dass ich sie gerade vermisse. Sehr sogar.
„Du wirkst so nachdenklich, Jessica.“ Blake reißt mich aus meinen Gedanken. „Alles in Ordnung mit dir?“
Ihn musternd antworte ich: „Nein, es ist nichts. Du erinnerst mich nur an einen guten Freund. Es gibt vieles, das ihr gemeinsam habt.“ Ich weiß noch genau, was ich gefühlt habe, als ich diesen weißen Wolf sah, der zu meiner Rettung eilte. Im ersten Moment war ich schockiert und dachte, dass es tatsächlich Jake wäre. Als ich ihn aber dann genauer ansah und seine Stimme hörte, war ich enttäuscht. Ein Teil von mir scheint Jake noch so sehr zu mögen, wie ich es immer tat. Dieser Teil ist aber verschwindend klein.
Plötzlich steht Blake auf: „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Die Sonne ist schon seit längerem aufgegangen. Es wird Zeit.“ Zeit? Wofür denn? Wir haben doch noch nicht einmal ansatzweise einen Plan, wie wir Leader erledigen sollen.
Also spreche ich meine Einwände aus: „Moment mal, warte ein wenig. Wo sollen wir denn hingehen? Wir sollten uns zuerst eine Strategie zurechtlegen, findest du nicht?“
„Schon längst passiert.“ Blake ist mir wohl ein paar Schritte voraus. „Ich habe mich gleich nach Sonnenaufgang in der Stadt umgesehen. Es gibt keine Spur mehr von dem Rudel. Sie sind weitergezogen.“
Sofort springe ich auf: „Wie meinst du das? Dann sollten wir die Verfolgung aufnehmen, und zwar schnell!“
Blake bleibt gelassen: „Immer mit der Ruhe. Wie gesagt, ich war zuvor schon unterwegs und habe ihre Fährte sehr schnell gefunden. Es dürfte also nicht allzu schwer sein, sie zu verfolgen.“ Stimmt eigentlich. Ein so großes Rudel ausfindig zu machen, dürfte nicht schwer sein.
Also werde auch ich wieder ein wenig ruhiger: „Gut, aber dennoch sollten wir nicht allzu viel Zeit vergeuden. Wenn es regnet, haben wir ein Problem, denn dann wird die Fährte nur noch schwer zu verfolgen sein.“
In der Hinsicht stimmt er mir zu: „Du hast recht, aber wir müssen vorsichtig sein. Sie sind vermutlich noch wachsamer als sonst, immerhin hast du ihnen große Angst gemacht.“ Meine Mundwinkel gehen nach oben. Ich finde es gut, dass diese Feiglinge Respekt vor mir haben. „Unsere Aktion sollte im Verborgenen geschehen. Erst wenn sie sich sicher sind, dass ihnen niemand folgt, werden sie sich wieder an einem Ort niederlassen.“
„Und dann schlagen wir zu.“ Mir gefällt der Plan, auch wenn er etwas Geduld erfordern wird. „Wir werden vermutlich noch einige Zeit warten müssen, bis wir eine gute Chance bekommen, um Leader zu erwischen.“
Blake nickt: „Da bin ich voll und ganz deiner Meinung. Ich habe lange genug auf so eine Gelegenheit gewartet. Wir dürfen uns nicht durch unüberlegte Handlungen verraten. Wenn wir auffliegen, werden wir einer direkten Auseinandersetzung mit dem gesamten Rudel nicht aus dem Weg gehen können und selbst ich weiß nicht genau, mit wie vielen Wölfen wir es dann zu tun bekommen.“
Ich bewege mich Richtung Tür: „Genug geredet. Lass uns die Verfolgung aufnehmen, Blake!“ Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder im Team zu arbeiten. Die Verantwortung hierbei ist viel größer. Ich könnte es mir vermutlich nicht verzeihen, wenn ich die Aktion vermassle und somit auch Blakes Chance, sein Versprechen einzuhalten. Vorsicht ist geboten. Die nächsten Tage werden eine Geduldsprobe.
Es ist mittlerweile drei Tage her, dass wir die Stadt verlassen haben. Das Rudel hat noch nicht bemerkt, dass wir ihnen folgen. Dennoch sind sie noch jeden Tag in Bewegung und haben sich nirgends niedergelassen, wenn dann nur für die Nacht und selbst dann sind sie überaus vorsichtig. Zusätzlich sind wir noch an keinem Ort vorbeigekommen, der als neue Heimat für sie geeignet sein könnte. Wir bewegen uns in Richtung Westen. Bisher hat es noch nicht geregnet und das Wetter ist sehr mild, selbst in der Nacht. Trotzdem tut das wärmende Lagerfeuer vor mir gut.
Plötzlich höre ich in der Ferne das Knacken eines zerbrechenden Zweiges. Es folgen Schritte. Dann sehe ich Blake, der sich dem Feuer nähert und begrüße ihn: „Wie sieht’s aus? Tut sich was im Rudel?“
Er setzt sich kopfschüttelnd gegenüber von mir ans Feuer: „Nein, nicht wirklich. Sie haben nun endgültig beschlossen, die Nacht hier zu verbringen. Erst im Morgengrauen werden sie weiterziehen.“
Ich lege noch ein paar Äste nach, sodass das Feuer nicht ausgeht: „Besteht irgendein Verdacht, dass wir sie verfolgen?“
„Nein, sie wiegen sich noch in Sicherheit.“ Er blickt in die Flammen. „Das mit dem Feuer hast du gut hinbekommen. Der Ort ist perfekt geeignet. Man sieht das Licht erst, wenn man ganz nahe ist.“
Lächelnd stochere ich mit einem Stock in der Asche herum: „Das war auch meine Absicht. Und es ist nicht viel dabei, ein Feuer zu machen. Zumindest nicht, wenn man das schon so oft gemacht hat wie ich.“
„Du bist tatsächlich schon viel herumgekommen, nicht wahr?“ Es wundert mich, dass er das fragt. Vielleicht wird er nun doch neugierig.
Mit einem Lächeln im Gesicht gebe ich ihm eine Antwort: „Glaub mir, ich war an Orten, von denen du dir nicht einmal vorstellen kannst, dass es sie gibt.“ Warum sollte ich ihm eigentlich nichts von mir und meinem früheren Leben erzählen? Ich vertraue ihm. Anfangs fiel mir das zwar etwas schwer, aber in den letzten Tagen habe ich mich immer besser mit ihm verstanden. Also kann er ruhig wissen, was ich bisher erlebt habe.
Gespannt fragt er nach: „Und welche Orte wären das?“
Ich beginne zu erzählen: „Da wäre zum Beispiel der Kristallwald. Ein Ort, der durch und durch aus schimmernden Kristallen besteht, die in allen Farben leuchten, wenn ein Lichtstrahl auf sie trifft. Dann wäre da noch ein riesiges Labyrinth in einem Berg, unter dessen Gestein ich fast begraben worden wäre. Ich war auf einem der höchsten Gipfel, der als unbezwingbar gilt. Selbst bei einem See, der inmitten einer Wüste liegt und in diversen Wäldern und Städten.“
Blake ist sichtlich erstaunt: „Klingt nach einem ziemlich abenteuerlichen Leben, wenn du mich fragst. Du hast bestimmt viele Leute kennengelernt, nicht wahr?“ Nun ist sein Interesse endgültig geweckt. Aber wer könnte es ihm verübeln? Mein Leben ist ein einziges Abenteuer, seit dem Tag, an dem ich mit Jake meine Heimat verlassen habe.
Das bringt mich auch zu meiner nächsten Antwort: „Ja, sehr viele sogar. Leider sind die Begegnungen nicht immer positiv gewesen. Oftmals habe ich mich in große Gefahr begeben, aber irgendwie bin ich immer rausgekommen.“
„Du kannst verdammt stolz darauf sein, wenn du dich da immer allein durchgeboxt hast. So etwas hätte ich bestimmt nie hinbekommen.“ Blake lächelt mich an.
Ich korrigiere ihn: „Nein, ganz so war es dann auch nicht. Ich hatte meistens Hilfe und nicht gerade wenig. Mein Rudel hat mich immer unterstützt.“
Er wirkt überrascht: „Du warst in einem Rudel? Waren das auch Schattenwölfe, so wie du?“
Kopfschüttelnd starre ich in die Flammen: „Nein, keineswegs. Es sind aber auch keine gewöhnlichen Wölfe, das kannst du mir glauben. Jeder von ihnen ist auf seine eigene Weise besonders. Eines haben sie aber alle gemeinsam. Sie sind die besten Freunde, die man sich nur wünschen kann. Gütig, freundlich, gerecht, loyal, es gäbe so viele Worte, die sie beschreiben. Wobei eines trifft es wohl am besten: unbezahlbar.“
Nun scheint Blake verwirrt zu sein: „Und warum bist du dann nicht mehr mit ihnen zusammen? Was ist geschehen?“ Eine Frage, deren Antwort ich selbst kaum in Worte fassen kann.
Also weiche ich aus: „Das ist kompliziert. Ich habe mich verändert und sie kämpfen für eine Sache, die ich nicht mehr vertreten kann. Es war meine eigene Entscheidung, sie zu verlassen. So ist es am besten.“
Blake sieht mich eindringlich an: „Du vermisst sie, Jessica. Das sieht man dir eindeutig an. Ein gutes Rudel ist wie eine Familie. Wenn du sie aufgibst, wird immer eine Lücke in dir bleiben.“ Ich schweige. „Hast du sie denn im Guten verlassen?“
Es folgt ein bitteres Lachen meinerseits: „Nun ja, wenn du es als gut verstehst, dass ich die wichtigste Person in meinem Leben angeschrien habe und einfach weggerannt bin.“
„Also nicht. Das ist schade.“ Nun ist er derjenige, der noch ein paar Äste nachlegt. „Man merkt sofort, dass du lange mit anderen Wölfen zusammen warst. Sobald man dich näher kennenlernt, merkt man das. Du bist immer wachsam und achtest stets auf deine Begleiter. Außerdem siehst du mich manchmal lange an, wenn ich meine Wolfsgestalt angenommen habe. Ich erinnere dich an jemanden, das hast du doch schon einmal gesagt.“
Ich nicke: „Ja das tust du. An meinen besten Freund, zumindest war er das einmal. Ich habe ihn bitter enttäuscht. Er war immer so gut zu mir. Keiner hat mich je besser verstanden. Egal was ich getan habe, er hat es mir immer verziehen und war zu jeder Zeit für mich da. Keiner könnte ihn je ersetzen. Nun bleibt mir nur noch die Erinnerung an ihn.“
Wieder sieht mir Blake tief in die Augen: „Du hast ihn sehr gemocht, das sieht man dir sofort an. Wenn nicht sogar geliebt.“
Augenblicklich frage ich nach: „Wie kommst du denn darauf? Du kennst ihn doch nicht einmal und auch mich nicht richtig. Was fällt dir also ein, solch eine Vermutung anzustellen?“
Er zuckt mit den Schultern: „Oft liegen Liebe und Freundschaft sehr nahe beieinander. Bei einer Freundschaft, wie du sie gerade beschrieben hast, ist es fast immer der Fall, dass einer mehr empfindet.“ Ich bin völlig sprachlos. „Außerdem zeigt mir deine Reaktion gerade, dass ich gar nicht so falsch liege.“
Ohne noch weiter darauf einzugehen, stehe ich auf: „Ich lege mich schlafen. Morgen müssen wir bald auf den Beinen sein.“ Mit diesen Worten gehe ich in den Wald. Blake folgt mir nicht. Er wird schon wissen, dass er mich heute besser nicht mehr ansprechen sollte.
Heute Nacht werde ich im Wald schlafen. Ich brauche Zeit für mich. Es gibt so einiges, worüber ich nachdenken sollte, aber das will ich eigentlich nicht. Das Einzige, das ich will, ist vergessen. Den Kopf freizukriegen von all den Geschehnissen, wäre mit Abstand das Beste, was mir passieren könnte. Leider ist das gar nicht so einfach.
Hier ist ein geeigneter Platz zum Übernachten. Der Boden scheint trocken zu sein und das viele Laub macht es ein wenig gemütlicher. Also lege ich mich hin und starre durch die Baumkronen in den Sternenhimmel. Warum geht mir das, was Blake gesagt hat, einfach nicht aus dem Kopf? Natürlich hängt das mit meinem schlechten Gewissen zusammen. Obwohl ich es nicht bereue, dass ich meine Freunde verlassen habe, ist es dennoch die Art und Weise wie ich es getan habe, die mich beschäftigt. Sie hätten einen angemesseneren Abschied verdient. Besonders Jake.
Und schon wieder schleicht er sich in meine Gedanken. Er will mir nicht aus dem Kopf. Ich habe Blakes Worte immer noch vor den Augen. Liebe. War es tatsächlich mehr als nur Freundschaft? Leider erinnert mich das, was Blake zuvor sagte, auch an Jakes letzte Worte, die er an mich gerichtet hat, oder besser gesagt richten wollte. Ich habe ihn nicht aussprechen lassen und bin davongelaufen. Dennoch weiß ich eindeutig, was er sagen wollte. Ich liebe dich.
Es ist Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Jake war tatsächlich in mich verliebt. Ich weiß nur nicht, wie lange schon. Wie denn auch? Ich bin mir noch nicht einmal über meine eigenen Gefühle im Klaren. Eigentlich weiß ich es, ich will es nur nicht wahrhaben. Es gab eine Zeit, wo auch ich Jake anders gesehen habe. Ganz am Anfang, als ich ihn gerade erst kennengelernt habe. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich ihn damals nicht überwältigend fand. Dann aber ist er ein so guter und unbezahlbarer Freund für mich geworden. Nur hin und wieder habe ich einen Gedanken daran verschwendet, dass da mehr sein könnte, mehr als nur Freundschaft.
Egal, wie lange ich jetzt noch darüber nachdenke, das Ergebnis bleibt das gleiche. Ich war ebenso in Jake verliebt, wie er in mich. Unsere tiefe Verbundenheit konnten wir leider nur durch unsere Freundschaft zum Ausdruck bringen. Keiner von uns hätte sich getraut, etwas anderes zu behaupten. Blake hat vollkommen recht. Liebe und Freundschaft liegen sehr nahe beisammen. Es ist traurig, dass ich mir erst jetzt darüber im Klaren bin, was ich eigentlich für Jake empfunden habe. Nun tut das aber nichts mehr zur Sache, denn meine Gefühle für ihn sind mit der guten Seite in mir gestorben. Er ist ein Lichtwolf, ich bin eine Schattenwölfin. Wir sind von nun an dafür bestimmt, uns zu bekämpfen.
Ich blicke in die Sterne. Wie schön sie heute sind. Es ist eine klare Nacht. Vielleicht sieht Jake den Himmel gerade genauso wie ich. Er ist weit weg, so viel steht fest. Aber egal wo er ist, ich wünsche ihm alles Glück der Welt. Hoffentlich findet er jemanden, der seiner würdig ist. Jemanden, den er zu lieben und zu schätzen lernt. Dies ist einer meiner größten Wünsche. Genauso groß ist der, ihn nie wieder zu sehen. Ich gebe mir nun selbst ein Versprechen. Heute ist das letzte Mal, dass ich an Jake denke. Mit dem heutigen Tage verbanne ich meine Vergangenheit endgültig aus meinem Gedächtnis und somit auch Jake. Vor mir liegt ein neues Leben, ein Leben ohne ihn.
Die Nacht war nicht allzu gut. Ich bin immer wieder aufgewacht und habe kaum ein Auge zugetan. Viel zu viele Dinge haben mich beschäftigt. Wie soll es nun für mich weitergehen? Leider ist mir in der ganzen Zeit keine Antwort eingefallen. Vermutlich weil es keine gibt. Vorerst habe ich noch ein Ziel, aber was ist, wenn das mit Leader erledigt ist? Ich werde bestimmt nicht bei Blake bleiben. Doch was soll ich sonst tun? Was für einen Sinn hat mein Leben noch? Das gilt es nun so bald wie möglich herauszufinden.
Aber wie gesagt, zuerst muss ich diese Sache hier zu Ende bringen. Blake zählt auf mich und ich habe nicht vor, ihn zu enttäuschen. Genau deshalb mache ich mich gerade wieder auf den Weg zu ihm. Die Sonne ist zwar noch nicht aufgegangen, aber wir müssen dem Rudel ein paar Schritte voraussein. Als ich mich der mittlerweile erloschenen Feuerstelle von gestern nähere, sitzt Blake schon da und wartet. Er scheint gar nicht zu bemerken, dass ich auf ihn zukomme. Da ist wohl jemand in Gedanken versunken.
„Guten Morgen.“ Als ich ihn begrüße, hebt er endlich den Kopf und sieht in meine Richtung. Ich setze mich neben ihn. „Gut geschlafen?“
Schulterzuckend antwortet er mir: „So gut man eben hier schlafen kann, also nicht allzu berauschend.“
Meine Antwort fällt ähnlich aus: „Ich kann mich nur anschließen. Irgendwie mag ich diesen Ort nicht, was die Nacht angeht. Man ist so ungeschützt.“ Das ist zwar wahr, aber nicht der wahre Grund meiner nahezu schlaflosen Nacht. Dennoch beschließe ich, über meine Gefühle zu schweigen und nach den gestrigen Ereignissen vermute ich auch, dass Blake nicht mehr nachfragen wird.
„Tut mir leid.“ Nun bin ich überrascht. Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu. „Ich meine wegen gestern. Es gibt immer eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte und das habe ich wohl in dem Moment vergessen.“ Meine Reaktion scheint ihn wohl doch nicht völlig kaltgelassen zu haben.
Ich lächle: „Ach was, mach dir keinen Kopf. Vergeben und vergessen.“
Jetzt wandern auch Blakes Mundwinkel nach oben: „Gut.“ Dann steht er auf. Plötzlich verschwindet das Lächeln aus seinem Gesicht. Etwas irritiert blickt er sich um. Danach streckt er den Kopf in die Luft. Es erscheint mir so, als hätte er irgendeine Witterung aufgenommen. „Merkst du nichts?“
Etwas verwirrt atme auch ich tief ein und versuche, einen Geruch aufzunehmen: „Warte kurz. Nein, mir fällt nichts auf. Die Luft ist sauber.“ Blake wirkt immer besorgter.
Also warte ich auf seine Antwort, die sogleich folgt: „Das ist das Problem. Es ist viel zu still hier. Die Luft ist klar. Ich spüre die Anwesenheit der anderen Wölfe nicht mehr.“ Tatsächlich. Hier ist nichts und genau das ist es, was Blake so nervös macht.
„Lass uns schnell zu ihrem Schlafplatz gehen!“ Mit diesen Worten laufe ich voraus. Blake folgt mir wortlos. Ich glaube nicht, dass das Rudel einfach so verschwunden ist.
Als wir aber durch den Wald und das Gestrüpp hindurchlaufen und schließlich bei dem Ort ankommen, wo sie sich gestern niedergelassen haben, folgt Ernüchterung. Sie sind tatsächlich weg. Vor uns befindet sich nur eine große, niedergetrampelte Grasfläche.
Blake hat seinen Blick ungläubig auf den Boden gerichtet und geht auf und ab: „Ich verstehe das nicht. Wie ist das nur möglich? Wir haben sie doch genau beobachtet und belauscht. Ihr Plan war es, heute Nacht hier zu bleiben.“ Er klingt äußerst aufgebracht.
Ich versuche, ihn zu beruhigen: „Na also, du hast es doch eben gesagt. Sie hatten vor, erst heute bei Sonnenaufgang weiterzuziehen. Die Sonne ist noch nicht einmal zu sehen. Das heißt, dass sie vielleicht noch nicht allzu lange fort sind.“
Kopfschüttelnd bückt er sich hinunter und überprüft das Gras: „Nein, sieh doch. Das Gras ist fast gar nicht niedergedrückt an den meisten Stellen. Falls hier so viele Wölfe die ganze Nacht geschlafen hätten, würde man das sehen.“
„Du meinst also, dass sie schon einen Vorsprung haben?“ Er nickt. „Und von wie viel sprechen wir hier? Können wir das noch aufholen?“
Er muss kurz überlegen, bevor er mir eine Antwort geben kann: „Schwer zu sagen. Sie sind uns bestimmt mehrere Stunden voraus. Und wenn wir davon ausgehen, dass sie von ihren Verfolgern wissen, haben sie bestimmt an Tempo zugelegt.“ Das alles klingt nach einer misslichen Lage für uns.
Dennoch weigere ich mich aufzugeben: „Dann sollten wir uns auf den Weg machen! Schau in den Himmel! Keine Wolke ist zu sehen. Das heißt, dass ihre Fährte leicht aufzunehmen ist. Außerdem haben sie ihre Spuren nicht verwischt.“ Blake wirkt noch immer niedergeschlagen. „Komm schon, das Rudel ist groß. Wir beide kommen zu zweit doch viel schneller voran. Die haben wir in Windeseile eingeholt, du wirst sehen.“
Als ich ihm ein Lächeln zuwerfe, zögert er zuerst noch, dann aber wird es erwidert: „Du hast recht. Lass uns die Verfolgung aufnehmen!“ Endlich klingt er wieder überzeugt. Ohne noch länger zu warten, verwandelt er sich und läuft voraus. Auch ich bin nun wieder voller Tatendrang, ändere meine Gestalt und renne los. Wir holen das Rudel ein, da bin ich mir sicher. Das schaffen wir.
„Nun haben wir ein Problem, ein ziemlich großes sogar.“ Ich würde ihm liebend gerne widersprechen, aber Blake hat vollkommen recht. Hier kommen wir tatsächlich nicht weiter. „Was machen wir jetzt?“ Er setzt sich hin und vergräbt seine Pfoten im Kies.
Ich antworte lediglich mit einem Schulterzucken. Momentan weiß ich auch nicht weiter. Wir stehen vor einem großen See. Hier endet die Spur. Es gibt keine Chance, das Rudel im Wasser weiterzuverfolgen. Immer mehr deutet darauf hin, dass sie von ihren Verfolgern wissen. Anderenfalls würden sie nicht so vorsichtig sein. Ich laufe unruhig auf und ab und suche nach einer Lösung, die mir aber nicht einfallen will. Also setze ich mich neben Blake und starre auf den See. Wir müssen nachdenken.
Dann erkenne ich am Horizont etwas: „Was ist das?“ Ich stehe auf und blicke über den See hinaus. „Siehst du das auch, Blake?“
Er bleibt ruhig sitzen und wirkt wenig beeindruckt: „Eine Rauchsäule, na und? Dort hinten am Ende des Sees ist eine große Stadt. Sie ist als sehr großes Industrie- und Handelszentrum bekannt.“ Ich lausche im gespannt. Blake merkt, dass ich großes Interesse an der Stadt habe. „Dort fahren täglich Schiffe aus und ein. Von diesem Hafen gibt es Verbindungen zu den verschiedensten Orten. Der See ist riesig. Zahlreiche Flüsse gehen von ihm aus. Es ist wie ein enormes Verkehrsnetz, nur eben zu Wasser und nicht zu Lande.“
Noch immer habe ich meinen Blick in die Ferne gerichtet: „Nicht übel. Das heißt, von dort aus kann man fast alle Teile der Welt bereisen.“ In meinem Kopf nimmt gerade ein neuer Gedanke Gestalt an. Wenn das alles hier vorbei ist, weiß ich zumindest, wo ich hingehen werde. Ich habe endlich einen neuen Anhaltspunkt.
„Jessica?“ Blake reißt mich aus meinen Gedanken. „Kannst du das bitte noch einmal wiederholen?“
Etwas verwirrt folge ich seiner Anweisung: „Ich habe nur gesagt, dass man von dort aus fast alle Teile der Welt bereisen kann. Was ist daran jetzt so besonders?“
Plötzlich steht Blake auf und blickt starr über das Wasser: „Es liegt doch auf der Hand. Sie wollen in die Stadt. Von dort aus können sie überall hin, ohne dass sie noch jemand verfolgen könnte.“ Klingt bis zu einem gewissen Punkt sogar plausibel. „Deshalb endet die Spur hier. Sie sind geschwommen. Wir müssen sie schnell verfolgen!“
Nun habe ich aber etwas einzuwenden: „Moment mal, Blake. Immer langsam. Denk mal genau darüber nach. Deine Vermutung ist ein wenig weit hergeholt, findest du nicht?“
Er scheint nicht zu wissen, was ich meine: „Worauf willst du hinaus? Es liegt doch alles auf der Hand. Warum hätten sie sonst ins Wasser gehen sollen?“ Wie gesagt, seine Theorie klingt ganz plausibel, aber ich bin noch skeptisch. Da sind ein paar Dinge, die das Ganze merkwürdig erscheinen lassen.
Und diese erkläre ich nun auch Blake: „Ganz einfach. Das Rudel besteht aus sehr vielen Wölfen unterschiedlichen Alters. Sie waren schon sehr lange nicht mehr unter Menschen und sehen vermutlich auch entsprechend aus. So eine große Gruppe würde unter den Menschen viel zu schnell auffallen. Viele haben bestimmt den Kontakt mit anderen Rassen völlig verlernt. Sie könnten sich unangemessen verhalten, womöglich mit den vielen Leuten nicht klarkommen, oder gar angreifen. Das weiß Leader bestimmt.“
Blake ist noch nicht überzeugt: „Du meinst also, dass Leader das Risiko nicht eingehen würde? Was macht dich so sicher?“
Ich zucke mit den Schultern: „Natürlich kenne ich ihn noch nicht so lange, wie du es tust, aber du hast mir schon einiges von ihm erzählt. Er geht immer auf Nummer sicher, warum sollte er es also hier nicht so machen? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie geschwommen sind. Das ist eine enorme Distanz. Sie haben bestimmt auch alte oder schwache Mitglieder im Rudel. Die Verluste wären groß.“
„Und auch das wäre nicht in Leaders Interesse.“ Endlich versteht er, was ich damit sagen will. „Die Stadt ist also deiner Meinung nach nicht ihr Ziel. Wo sind sie aber dann hingegangen? Und was wollten sie im Wasser?“
Auch darauf habe ich eine Antwort: „Ist doch logisch. Sie haben vermutlich gewusst, dass wir ihnen folgen. Deshalb wollten sie die Spuren verwischen. Ich bin mir sicher, dass sie nur am Ufer entlang durch das Wasser gelaufen sind. Das heißt früher oder später muss ihre Spur wieder vom See wegführen.“
Nun ist Blake sichtlich überrascht: „Wo hast du gelernt, so gute Schlüsse zu ziehen, Jessica? Du bist brillant.“ Lächelnd zucke ich mit den Schultern. Es hat auch seine Vorteile, die Schattenwölfe als Gegenspieler gehabt zu haben. Dadurch habe ich gelernt, lieber noch einmal nachzudenken und erst dann zu handeln.
Aus einem ähnlichen Grund folgt auch der nächste Vorschlag meinerseits: „Wir sollten uns am besten aufteilen. Immerhin wissen wir nicht, ob sie nach rechts oder nach links gegangen sind. Wenn wir gemeinsam die falsche Richtung einschlagen, kostet uns das nur unnötig Zeit.“
Diesmal zögert Blake: „Ich weiß nicht recht. Das mit der Zeit stimmt schon, aber was ist, wenn einer von uns dem Rudel dann allein gegenübersteht? Und außerdem wissen wir nicht, wie wir uns Bescheid sagen sollen, sobald der andere die Fährte wieder gefunden hat. Zurücklaufen würde ähnlich lange dauern und viel zu kraftraubend sein.“
Ich führe seinen Gedanken weiter aus: „Über unser Heulen können wir uns auch nicht verständigen, da es das Rudel hören würde.“
Mit einem freundlichen Gesichtsausdruck fragt er nochmal nach: „Du siehst also ein, dass wir uns besser nicht trennen sollten?“
„Ja, tue ich. Dann müssen wir uns aber umso mehr beeilen, in Ordnung?“ Er stimmt mit einem Kopfnicken zu. Also gehe ich zügig voraus. Ich habe beschlossen, zuerst nach links zu gehen, da der See auf dieser Seite weitläufiger ist. Wenn sie nach rechts gegangen wären, kämen sie schneller zur Stadt und Leader wird versuchen, diese zu vermeiden. Blake folgt mir wortlos.
„Hier ist etwas! Jessica, komm schnell her!“ Blake hat wohl endlich einen Anhaltspunkt gefunden. Wird auch Zeit. Wir sind nun schon lange genug unterwegs. Die Sonne nähert sich bereits dem Horizont.
Also laufe ich nach vorne zu ihm: „Was ist denn? Hast du eine Fährte aufgenommen? Ist ihr Geruch bemerkbar?“
Er deutet auf den Kiesboden: „Viel besser. Schau doch.“ Tatsächlich. Das ist noch um einiges besser, als ich gedacht habe. Überall sind Pfotenabdrücke. Kein Zweifel, sie sind hier aus dem Wasser gegangen. „Du hast tatsächlich recht gehabt. Sie sind zurück in den Wald gelaufen.“
„Dann sollten wir das auch tun.“ Mit diesen Worten gehe ich voraus und folge der Spur. Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern, bis wir sie endlich gefunden haben. Ihr Geruch ist zwar schwächer durch das Wasser, aber dennoch hier. Allzu weit können sie nicht sein.
Als wir den Wald betreten, läuft Blake neben mir her: „Ab jetzt sollten wir auf der Hut sein. Leader ist bestimmt noch immer skeptisch. Er hat viel zu viel Angst vor möglichen Verfolgern, als dass er nur einen Moment unvorsichtig wäre.“ Das glaube ich auch, aber ich habe ohnehin schon länger über etwas nachgedacht, das ich Blake mitteilen will.
Wird Zeit, dass ich es ihm sage: „Bezüglich unseres Plans habe ich noch ein paar Veränderungsvorschläge.“ Er hört mir aufmerksam zu. „Überleg doch mal. Sie wissen ohnehin schon, dass wir ihnen auf den Fersen sind. Den Überraschungseffekt können wir daher sowieso vergessen.“
Überrascht fragt er nach: „Willst du sie etwa frontal angreifen?“
Etwas zögerlich nicke ich: „Mehr oder weniger. Mir ist zwar klar, dass sie in der Überzahl sind, aber was tut das schon zur Sache? Ich habe gesehen, wie gut du kämpfen kannst und du weißt auch, dass ich es mit vielen von ihnen aufnehmen kann. Warum also noch länger warten? Ich bin es ehrlich gesagt leid, ihnen andauernd nachzulaufen. Es wird Zeit, sich zu stellen und die Sache ein für alle Mal zu klären.“ Blake antwortet nicht. Er denkt nach. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihm der Vorschlag nicht gefällt. Immerhin wartet er schon lange auf eine passende Gelegenheit und ist sehr geduldig. Das kann ich von mir selbst mittlerweile nicht mehr behaupten. Ich will das alles endlich hinter mich bringen und wieder meine eigenen Ziele verfolgen. Auch wenn ich noch nicht weiß, was diese genau sind.
Es folgt eine Reaktion, mit der ich nicht gerechnet habe: „Gut, so machen wir es.“ Nun bin ich diejenige, die überrascht ist und Blake einen fragenden Blick zuwirft. „Für mich ist es schon längst an der Zeit, dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen. Heute wird es sich endlich entscheiden. Entweder Leader oder ich.“ Seine Entschlossenheit beeindruckt mich. Er würde mit seinem eigenen Leben bezahlen, um das von Leader zu beenden. Das finde ich beachtlich.
Mit einem Lächeln versuche ich, ihn zu ermutigen: „Wir schaffen das. Es ist simpel. Wir müssen uns nur bis zu Leader durchschlagen und ihn dann ausschalten. Wenn sie keinen Anführer mehr haben, werden die übrigen Wölfe davonlaufen.“
Er nickt: „Völlig richtig. Genau dasselbe habe ich mir auch gedacht. Eine Kleinigkeit wäre da aber noch, um die ich dich bitten möchte, Jessica.“ Ich kann mir schon denken, was jetzt kommt. „Bitte überlass Leader mir. Selbst wenn ich in eine missliche Lage kommen sollte, ich muss das allein durchziehen. Ohne Hilfe.“
„Das verstehe ich.“ Entschlossen blicke ich zu ihm. „Manche Dinge im Leben muss man allein schaffen, damit sie von Bedeutung sind. Leader gehört dir. Ich halte dir so gut es geht den Rücken frei, damit du es nur mit ihm zu tun hast. Überlass den Rest des Rudels ruhig mir.“
Offensichtlich erleichtert über meine Reaktion grinst er mich an: „Vielen Dank. Das weiß ich sehr zu schätzen.“ Plötzlich richtet sich sein Blick wieder nach vorne und seine Miene wird ernst. „Was soll das denn jetzt?“
Sofort folge ich seinem Blick und erkenne den Grund für Blakes Reaktion: „Wie ist das möglich? Die Spur endet hier.“ Schon wieder stehen wir vor einer Sackgasse. Diesmal aber nicht in Form eines Sees, sondern vor einer riesigen Felswand, die steil in die Höhe ragt. Sie verläuft links und rechts von uns noch sehr weit. Man kann kein Ende erkennen. „Glaubst du, dass sie geklettert sind?“
Blake schüttelt den Kopf: „Niemals. Die Wand ist zu hoch. Das hätten niemals alle geschafft.“ Er streckt seine Schnauze in die Luft und schnuppert. „Und da ist noch etwas, das mich stutzig macht.“
Ich mache es ihm nach und auch mir fällt sofort etwas auf: „Ihr Geruch ist hier viel stärker als am Rest des Weges.“ Unsicher blicke ich in alle Richtungen. „Außerdem ist er überall. Er kommt aus keiner Richtung. Was ist hier bloß los?“
„Keine Ahnung.“ Die Anspannung ist ihm ins Gesicht geschrieben. „Aber wir müssen jetzt umso vorsichtiger sein. Irgendwas ist hier faul.“ Das Rudel ist ganz in der Nähe. Ich kann sie spüren. Mein Instinkt wurde geweckt und das macht sich auch an meinem Körper bemerkbar. Die schwarze Aura um mich wird stärker. Ein Schutzmechanismus, der nur bei drohender Gefahr ausgelöst wird.
Mit gesenkter Stimme teile ich meine Sorge Blake mit: „Wir sind nicht allein. Ich rieche einen Hinterhalt.“ Er antwortet nicht. Seine Muskeln sind mindestens so angespannt, wie meine. Wo sind sie bloß? Ich kann um uns keinen erkennen.
„Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Hier gibt es so gut wie keine Verstecke.“ Plötzlich erstarrt er in der Bewegung. Er scheint eine Eingebung zu haben. „Es sei denn, dass…“ Wortlos hebt er den Kopf und sieht nach oben. Ich will seinem Blick gerade folgen, als er schon reagiert. „Jessica, pass auf!“ Bevor ich irgendetwas tun kann, stößt er mich zur Seite.
Mir gelingt es zum Glück, auf meinen vier Pfoten zu landen, aber dennoch geht mir alles viel zu schnell. Ich sehe nur noch aus dem Augenwinkel, wie Blake ausholt und dem Angreifer einen heftigen Schlag mit seiner rechten Pfote versetzt, der diesen völlig ausschaltet.
Plötzlich landen hinter ihm zwei weitere Wölfe und ich schreie auf: „Vorsicht! Hinter dir!“ Im selben Moment drücke ich mich noch vom Boden ab und springe über Blake hinweg auf die beiden zu. Den ersten stoße ich zur Seite, während ich dem zweiten meine Zähne seitlich in den Hals ramme. Ich strecke meinen Gegner zu Boden und lasse ihn nicht los, bis er sich nicht mehr bewegt. Blake wurde in der Zwischenzeit in einen Kampf mit dem zweiten verwickelt, der sich von meiner Attacke schnell erholt hat. Er versetzt Blake einen heftigen Schlag ins Gesicht, woraufhin er zu Boden fällt. Siegessicher setzt er dann zu einem weiteren Angriff an, vergisst dabei aber völlig auf mich. Ohne große Mühe kann ich ihn von hinten überwältigen und umwerfen. Als er dann am Rücken liegt, ramme ich meine Klauen in seinen Brustkorb und drücke sie tief hinein, bis sich der Wolf nicht mehr rührt.
„Das bringt nichts! Wir sind umzingelt!“ Blake hat sich wieder aufgerichtet. „Sie sind in den Bäumen! Wir müssen zu der Felswand, schnell!“ Sofort stürmt er los und ich laufe ihm hinterher. Kurz vor der Wand bleiben wir stehen und drehen uns um. Nun haben wir zumindest die nötige Rückendeckung.
Während wir Seite an Seite in drohende Position gehen, beobachte ich, wie immer mehr Wölfe von den Bäumen springen: „Sieht gar nicht gut aus. Sie haben uns wohl schon erwartet. Wir sind ihnen in die Falle gegangen.“ Hilflos müssen wir zusehen, wie sich die vielen Wölfe formieren und einen Halbkreis um uns bilden. Binnen weniger Sekunden sind wir völlig umstellt. Hinter uns ist die Wand, vor uns zahlreiche Wölfe. Es gibt keinen Ausweg mehr.
„Missliche Lage, nicht wahr?“ Die Stimme kenne ich. „Ihr hattet doch wohl nicht gehofft, dass ihr uns unbemerkt verfolgen könnt? Ein äußerst naiver Gedanke, wenn ich das mal so sagen darf.“ In der Mitte treten die Wölfe langsam zur Seite und lassen denjenigen durch, von dem diese Worte gerade kamen. Der große, braune Wolf kommt mit einem Lächeln im Gesicht auf uns zu.
Blake knurrt ihn zornig an: „Leader. Du hast es die ganze Zeit gewusst.“
Daraufhin beginnt er zu lachen: „Natürlich wusste ich es. Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Zahlreiche Kopfgeldjäger wollten mich bereits schnappen und eine ordentliche Summe für meine Wenigkeit einkassieren. Du bist nur einer von vielen.“
Nun mische ich mich ein: „Du hast ja keine Ahnung! Blake hat beträchtliche Gründe, um dich zur Strecke zu bringen! Hier geht es nicht nur um Geld, sondern um weit mehr! Also pass besser auf, was du sagst!“
Leader wirkt ratlos: „Was? Du glaubst also tatsächlich, dass…“
„Halt den Mund!“ Blake hat ihn unterbrochen, bevor er weitersprechen konnte. „Wir sind nicht hier, um zu reden. Es hat lange genug gedauert. Heute hole ich mir deinen Kopf, verlass dich drauf!“ Blitzartig startet Blake nach vorne. Er hat sein Ziel genau im Visier. Leader reagiert mindestens genauso schnell und zieht sich zurück. Zwei große, schwarze Wölfe stellen sich Blake in den Weg und stoßen ihn weg. Nun wird es Zeit, dass ich meinen Teil der Abmachung erfülle.
Mit einem Mal bündle ich all meine Energie und die schwarze Aura breitet sich wie Rauch explosionsartig über meinen ganzen Körper aus. Ich stürze mich auf den ersten der beiden Wölfe und gemeinsam überschlagen wir uns mehrmals. Als wir zum Stehen kommen, liege ich auf dem Rücken, der schwarze Wolf ist über mir. Er schnappt wild nach meinem Hals, aber ich halte ihn mit meinen Pfoten zurück. Dann drücke ich ihn mit meinen Hinterbeinen von mir, sodass er sich überschlägt. Zugleich springe ich auf und lasse ihm keine Chance, sich zu wehren. Ein gezielter Biss genügt, um seine Halsschlagader zu durchtrennen.
„Jessica! Leader flieht!“ Ich drehe mich zu Blake, der sich in der Zwischenzeit um den zweiten Wolf gekümmert hat. Dann wandert mein Blick durch das aufgebrachte Rudel und hinter ihnen erkenne ich Leader. Er läuft tatsächlich davon. „Wir müssen uns beeilen, sonst erwischen wir ihn nicht mehr!“ Wahre Worte. Leider stehen zwischen ihm und uns viele Wölfe in drohender Position und es sieht nicht so aus, als würden sie uns freiwillig vorbeilassen. Ein Plan muss her und ich habe schon eine Idee.
Sogleich teile ich Blake meinen Gedanken mit: „Verwandle dich! Sofort!“ Er sieht mich ungläubig an und will gerade etwas einwenden, aber ich lasse ihm gar keine Chance. „Tu es einfach! Vertrau mir, oder wir werden Leader verlieren!“
Meine Worte stimmen ihn um: „Na schön, ich mache es!“ Augenblicklich folgt er der Anweisung. „Und was jetzt?“ Keine Zeit zu antworten. Ich laufe zu ihm und packe ihn am Rücken. Während ich meine Zähne tief in den Stoff seines Hemdes vergrabe, hebe ich Blake hoch und drehe mich mehrmals um die eigene Achse. Als ich genug Schwung habe, reiße ich meinen Kopf in die Luft und lasse Blake im selben Augenblick los. Er fliegt in hohem Bogen mehrere Meter über das Rudel hinweg.
„Verwandeln! Jetzt!“ Als er meine Schreie hört, reagiert er genau im richtigen Moment. Am höchsten Punkt seines Fluges nimmt er wieder die Gestalt des weißen Wolfes an und verlagert sein Gewicht nach vorne. Mit Leichtigkeit landet er auf seinen Pfoten und nimmt sofort die Verfolgung auf. Leader gehört nun ihm.
Das Rudel starrt ihm gebannt hinterher, als einer plötzlich ruft: „Wir müssen ihm schnell hinterher! Er darf unseren Anführer nicht einholen! Lasst uns…“ Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden, denn ich habe ihm mit einem gezielten Schlag auf den Kopf bereits das Bewusstsein genommen. Schockiert sehen nun alle Wölfe zu mir.
Mit einem provozierenden Lächeln stehe ich vor ihnen: „Habt ihr da nicht jemanden vergessen?“ Knurrend kommen sie nun näher. „Dann lasst die Spiele beginnen!“ Ohne Rücksicht dringe ich in ihre Reihen ein. Mehrere Wölfe springen mich auf einmal an, aber ich schüttle sie alle ab. Diesmal habe ich nicht den Fehler gemacht, mich erst im Laufe des Kampfes zu verwandeln. Nun sind die Bedingungen ausgeglichen.
Ich reiße einen nach dem anderen zu Boden. Mit Zähnen und Klauen setze ich mich gegen die vielen Gegner zur Wehr. Selbst erleide ich nur kleine Wunden, was ich von meinen Gegenübern nicht behaupten kann. Jaulend und winselnd fallen die meisten nach bereits einem Schlag zu Boden. Meine Wut, der Ehrgeiz meiner Gegner und das viele Blut treiben mich noch mehr an. Ich denke gar nicht daran aufzuhören, ehe nicht jeder von ihnen leblos vor mir liegt.
„Das schaffen wir nicht! Sie ist zu stark!“ Einer von ihnen scheint wohl den Ernst der Lage erkannt zu haben. „Rückzug! Verschwindet von hier!“ Mehr kann er nicht mehr sagen, da ich ihn bereits am Genick gepackt habe und dieses mit einer kurzen Bewegung breche.
Nun schreit eine andere Wölfin auf: „Flieht! Lauft um euer Leben!“ Die übrigen Wölfe reagieren auf die Warnung und ergreifen tatsächlich die Flucht.
Wütend rufe ich ihnen nach: „Zwecklos! Euer Schicksal war schon besiegelt, als ihr euch für einen Kampf mit mir entschieden habt!“ Mit diesen Worten laufe ich ihnen hinterher und nehme einen Wolf ins Visier. Ich hole ihn schnell ein und packe ihn am rechten Hinterlauf. Als ich fest zubeiße, bricht sein Knochen und er fällt zu Boden. Hilflos rollt er sich auf den Rücken und will mich noch wegdrücken, aber ich lasse ihm keine Chance. Voller Wut vergrabe ich meine Zähne in seinem Hals. Sein Zucken und der Geschmack des Blutes lassen mich noch fester zubeißen.
Stolz schaue ich auf den Besiegten herab, als ich plötzlich ein Stechen im Kopf verspüre. Was ist das bloß? Ich will doch eigentlich die anderen auch noch zur Strecke bringen, oder etwa doch nicht? Warum schmerzt mein Kopf plötzlich so sehr? Mein Körper ist wie gelähmt. Irgendetwas zwingt mich dazu, mich wieder in einen Menschen zu verwandeln. So etwas habe ich noch nie zuvor gespürt. Das Gefühl ist völlig unbekannt. Letztendlich wird das Stechen so stark, dass ich nachgeben muss und meine Gestalt ändere. Sofort fasse ich mir an den Kopf und kralle meine Hände in den Haaren fest.
„Aufhören! Was auch immer das ist, es soll aufhören!“ Ich sinke auf meine Knie. Der Schmerz lässt noch immer nicht nach. In meinem Kopf tobt ein heftiger Kampf. Die schwarze Aura zuckt heftig um meinen Körper herum. „Schluss jetzt! Verschwindet! Alle beide!“ Augenblicklich spüre ich nichts mehr. Mein Körper entspannt sich wieder. Ich nehme die Hände vom Kopf und stütze mich am Boden ab. Angestrengt atme ich ein paarmal tief durch. Es scheint sich wieder alles normalisiert zu haben.
Dieses Gefühl war unglaublich, auf negative Weise. Es fühlte sich kurzfristig so an, als hätte ich keine Kontrolle mehr über mich selbst. Ganz eindeutig, das war die andere Seite. Die Lichtwölfin in mir hat sich mit aller Macht gewehrt. Ich verstehe das nicht. Heißt das, dass diese Seite doch noch nicht ganz verschwunden ist? Ich habe geglaubt, dass ich sie damals am See der Spiegel völlig aufgegeben habe.
Das ist so ungerecht. Finde ich denn nie meinen inneren Frieden? Ich dachte, dass ich nun endlich wüsste, wer ich wirklich bin. Die Schatten haben mich damals so gequält. Mich ihnen hinzugeben, erschien mir als einzige Lösung für dieses Problem, aber nun will das Licht wieder die Überhand gewinnen? Nein, das lasse ich nicht zu! Nie wieder! Ich allein bestimme, wer ich bin! Meine Zukunft liegt in den Schatten, kein Zweifel!
Entschlossen richte ich mich auf. Von nun an bin ich stark. Ich stehe hinter der Entscheidung, die ich damals am See der Spiegel getroffen habe und das gilt es nun zu beweisen. Aber wie?
„Jessica!“ War das Blake? „Jessica, wo bist du? Antworte doch!“ Ja, ganz sicher. Vielleicht braucht er meine Hilfe. Ich muss zu ihm.
Schnell laufe ich in die Richtung, aus der seine Stimme kam: „Blake! Ich bin hier!“ Es dauert nicht lange, bis ich ihn sehe. Aufgebracht läuft er mir entgegen. Auch er hat wieder seine menschliche Gestalt angenommen. Das heißt, dass keine Gefahr mehr in der Nähe sein kann. Aber wo ist Leader? War es vielleicht schon zu spät? Hat er ihn verloren?
Als wir uns gegenüberstehen, wirkt er erleichtert: „Ich dachte schon, dass dich das Rudel verschleppt hat. Zum Glück geht es dir gut.“
In der Hinsicht stimme ich ihm zu: „Ja, stimmt schon. Von den Mitgliedern des Rudels kann man das nicht behaupten. Diejenigen, die übrig geblieben sind, sind weggelaufen. Wo ist Leader? Hast du ihn noch erwischt?“
Nun hat er ein stolzes Lächeln im Gesicht: „Ja, das habe ich. Der Kampf hat nicht sehr lange gedauert. Sein Körper liegt dort drüben.“ Er deutet hinter das Gestrüpp. Nur eine Sache macht mich skeptisch.
Blake von oben bis unten musternd frage ich nach: „Es scheint kein allzu harter Kampf gewesen zu sein, nicht wahr?“ Das wundert mich ehrlich gesagt sehr. Leader war der Anführer eines großen Rudels und nicht gerade schmächtig gebaut. Außerdem wird er doch angeblich von so vielen Wölfen gesucht und ist berühmt als Verbrecher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er ein leichter Gegner gewesen ist.
„Dasselbe könnte ich von dir behaupten. Immerhin hast du es mit einem ganzen Rudel aufgenommen, nicht wahr?“ In seiner Stimme erkenne ich etwas, das ich zuvor bei ihm noch nie wahrgenommen habe. Es erinnert mich an einen leichten Anflug von Panik oder Misstrauen.
Also rede ich nochmal dagegen: „Versteh mich nicht falsch, aber ich bin schließlich eine Schattenwölfin. Es ist bei mir genetisch veranlagt, dass ich stark bin. Du hingegen kämpfst überdurchschnittlich gut, ohne solche Fähigkeiten vererbt bekommen zu haben. Hast du irgendeine besondere Ausbildung gehabt?“ Meine Argumente sind zwar etwas weit hergeholt, aber ich muss zugeben, dass ich ein ungutes Gefühl habe. Bisher habe ich Blake von Anfang an vertraut. Erst jetzt, wo alles vorbei ist, hinterfrage ich so manches, was mir zuvor nicht aufgefallen ist.
Wieder reagiert Blake ähnlich wie vorhin: „Ausbildung? Woher sollte ich denn bitte eine besondere Ausbildung haben?“ Er stellt sich dumm. Außerdem hat er mir keine direkte Antwort auf meine Frage gegeben. Blake weicht mir aus. „Ich habe dir doch bereits alles aus meiner Vergangenheit erzählt. Es gibt keinen Grund, mir zu misstrauen.“ Nun spricht er sogar den Vertrauensaspekt an. Irgendwas ist hier faul. Oder bilde ich mir das alles nur ein? Bisher hat mich mein Instinkt eigentlich nie im Stich gelassen und mir immer die richtigen Warnungen und Hinweise gegeben. Es kann aber auch sein, dass ich momentan generell etwas skeptisch bin. Immerhin hatte ich zuvor einen Schwächeanfall und die schwarze Aura ist zurzeit nicht mehr in meiner Nähe. Vielleicht fühle ich mich nur unsicher.
Ich beschließe also, es dabei zu belassen: „Du hast recht, Blake. Es tut mir leid. Du hast mir nie einen Grund gegeben, dir zu misstrauen. Also sollte ich es auch nicht tun.“
Jetzt hat er ein zufriedenes Grinsen im Gesicht: „Na also. Freut mich, dass du das genauso siehst. Wenn du willst, kannst du dich von meinem Sieg vergewissern.“ Mit einer kurzen Handgeste gibt er mir zu verstehen, dass ich ihm folgen soll. Dann geht er voraus zu der Stelle, wo er Leader zur Strecke gebracht hat.
Als wir durch das Dickicht gehen, kommt mir eine naheliegende Frage in den Sinn, die ich sogleich stelle: „Wie geht es nun für dich weiter? Wir haben unser Ziel erreicht und beide unsere Rache bekommen.“
Nun, da wir vor Leaders leblosem Körper stehen, deutet er darauf und gibt mir eine Antwort: „Wir haben ihn gemeinsam verfolgt und letztlich auch gekriegt. Warum sollten wir unsere Arbeit nicht würdigen lassen?“
Mir ist nicht klar, was er meint: „Was willst du damit sagen?“
Schulterzuckend antwortet er mir: „Du weißt doch, dass auf seinen Kopf eine ziemlich hohe Summe ausgesetzt ist. Ein bisschen Kapital hat noch keinem geschadet.“ Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme kommt mir so gekünstelt vor. Wieder steigt ein ungutes Gefühl in mir hoch.
Etwas zögernd schüttle ich den Kopf: „Nein, das will ich eigentlich nicht. Versteh mich nicht falsch, du kannst dir die Belohnung gerne holen. Sie gehört dir. Ich selbst werde nun wieder meinen eigenen Weg gehen. Glaub mir, das ist besser so.“ So drehe ich mich weg von ihm und will gerade gehen.
Plötzlich aber hält er mich an der Schulter fest: „Nein, warte!“ Ich wende mich ihm noch einmal zu. „Dieses Geschenk kann ich nicht so einfach annehmen. Du hast mir sehr geholfen, Jessica. Das wäre nicht fair.“
Erneut weise ich ihn ab: „Ach was, das geht schon in Ordnung. Wenn ich als Wölfin eines gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass Reichtümer einem im Leben nur wenig bringen. Merk dir das, Blake. Leb wohl.“
Als ich wieder einen Schritt weg von ihm mache, stellt er sich mir plötzlich in den Weg und lässt mich nicht vorbei: „Nein, ich lasse dich jetzt nicht gehen. Auf keinen Fall.“ Er erschrickt über seine eigenen Worte. „Wir sind gemeinsam so weit gekommen. Das kann doch nicht so einfach enden.“
Ich mustere ihn erneut. Ich beobachte jede Reaktion seines Körpers. Seine Hände zittern und er strahlt dennoch eine enorme Entschlossenheit aus. Eines steht fest, er will mich auf keinen Fall gehen lassen. Leider kaufe ich ihm nicht ab, dass ich ihm in unserer gemeinsamen Zeit ans Herz gewachsen bin. Da steckt etwas anderes dahinter.
Ruhig, aber dennoch bestimmt sehe ich ihm in die Augen: „Lass mich sofort gehen, Blake.“ Er rührt sich nicht. Ein großer Fehler. „Was verheimlichst du?“
Seine Entschlossenheit weicht mit einem Mal: „Was meinst du? Wieso sollte ich etwas verbergen? Vertraust du mir nicht?“ Das war nun eine Frage zu viel.
Also gebe ich ihm eine ehrliche Antwort: „Nein, Blake. Das tue ich nicht. Hinter all dem steckt doch weit mehr, als du zugeben willst. Sag mir die Wahrheit. Ich finde sie sowieso heraus. Glaub mir, du kannst mich nicht täuschen.“
Noch immer weist er alle Anschuldigungen ab: „Ich weiß noch immer nicht, was du meinst, Jessica. Du musst mir doch glauben, dass…“ Plötzlich hört er auf zu sprechen und sieht mir in die Augen. „Weißt du was? Eigentlich hast du recht. Dich kann man nicht täuschen. Schade eigentlich. Ich hatte gehofft, dass wir das auf die sanfte Tour regeln können.“ Ich wusste es. Blake führt etwas im Schilde, vermutlich schon die ganze Zeit.
Meine Freundlichkeit ihm gegenüber ist mit einem Schlag wie weggeblasen: „Jetzt sag mir endlich, was du von mir willst. Rede oder ich hole mir meine Informationen selbst!“ Ich weiß mittlerweile, wie ich meine Fähigkeiten zu meinem Vorteil nutzen kann. Wenn er nicht bald mit der Antwort rausrückt, statte ich ihm einen Besuch in seinem Unterbewusstsein ab.
Überraschenderweise beginnt er aber gleich zu erzählen: „Gut, warum eigentlich nicht? Du hast schließlich das Recht zu erfahren, warum ich dich jetzt mitnehmen werde.“ Das soll er mal versuchen. „Beginnen wir am besten nochmal von Anfang an. Ich habe dir doch erzählt, dass ich Leader aus gutem Grund verfolge. Die Geschichte mit meinem Rudel, meiner Familie und so weiter.“
Seine gleichgültige Stimme veranlasst mich, Verdacht zu schöpfen: „Das war alles eine Lüge, nicht wahr?“ Er nickt stolz. „Wirklich beeindruckend. Normalerweise täuscht man mich nicht so leicht. Du hast die Geschichte sehr glaubwürdig verkauft, das muss man dir lassen.“
„Vielen Dank. Nun willst du bestimmt wissen, was es tatsächlich damit auf sich hat, dass ich in der Stadt war. Ganz einfach gesagt, es hat etwas mit meiner Berufung zu tun. Ich bin Kopfgeldjäger, musst du wissen.“
Nun wird mir so einiges klar: „Deshalb hast du so viele Dinge über Leader gewusst. Es war dein Job, ihn so gut es nur geht auszuspionieren und dir dann seinen Kopf zu holen, nicht wahr?“
„Stimmt.“ Er deutet auf Leaders Leiche. „Dieser Kerl hat mir ein paar Wochen intensive Arbeit gekostet. Ich habe all seine Bewegungen studiert, immer darauf gewartet, dass ich ihn allein erwische, aber es war aussichtslos. Das Kopfgeld ist sehr hoch, deshalb habe ich mich darauf eingestellt, dass das eine langwierige Sache wird, aber dass es so lange dauern würde? Ich war kurz davor, doch wieder aufzugeben.“
Die Geschichte nimmt langsam Gestalt an und ich denke noch einen Schritt weiter: „Dann bin ich dir in die Quere gekommen.“
Nickend stimmt Blake zu: „Ja, das ist vollkommen richtig. Ich habe sofort bemerkt, dass du dich der Stadt näherst. Seit du den ersten Schritt in Leaders Territorium gesetzt hast, beobachte ich dich. Anfangs dachte ich, du wärst wieder nur ein weiteres Opfer von ihm, das durch einen unglücklichen Zufall in die Stadt gekommen ist, aber dem war nicht so.“
Neugierig frage ich nach: „Du hast also das Gespräch zwischen mir und Leader von Anfang an verfolgt? Und auch als der Kampf begonnen hat, warst du da?“ Er nickt. So viel zu dem Thema, dass er mir geholfen hat. Was für eine Heuchelei.
Dann setzt er fort: „Und genau dieser Kampf hat mich zum Nachdenken veranlasst. Wie du in deiner menschlichen Gestalt einen Wolf nach dem anderen zu Fall gebracht hast, einfach unglaublich. Von diesem Zeitpunkt an begann eine Idee in meinem Kopf Gestalt anzunehmen.“ Er hält kurz inne. „Du bist eine Schattenwölfin und ich musste Leader irgendwie zu fassen kriegen. Warum also nicht dich zu meinem Vorteil nutzen?“
Ich lache bitter: „Du bist verdammt gerissen, das muss man dir lassen. Nachdem ich in eine missliche Lage gekommen war, hast du den großen Retter gespielt. Anfangs war ich noch misstrauisch, aber dann hast du mir die Geschichte mit deiner Schwester aufgetischt. Ich habe dir sofort geglaubt. Oft genug habe ich nun selbst schon jemanden verloren, der mir wichtig war und wusste, wie man sich dabei fühlt.“
Auf einmal wird Blake ernst: „Eines war nicht gelogen. Ich hatte enormen Hass auf Leader. Er entführt kleine Wölfe aus den Rudeln, nur um sich selbst eine unterwürfige Horde völlig verzweifelter Lakaien zu schaffen. Glaub mir, er ist ein Scheusal gewesen.“ Dann atmet er tief durch. „Ich hatte keine andere Wahl, als dich anzulügen. Anders wärst du mir bestimmt nicht gefolgt oder hättest mir misstraut.“
„Das macht schon alles Sinn, aber eines verstehe ich nicht.“ Fragend sehe ich ihm in die Augen. „Was hat das damit zu tun, dass du mich nicht gehen lassen willst? Du hast mich für deine Zwecke missbraucht. Jetzt hast du doch, was du von Anfang an wolltest. Hättest du mich zuvor einfach gehen lassen, wäre ich nie dahintergekommen. Warum also?“
Blake macht einen Schritt zurück: „Das ist eigentlich ganz einfach.“ Er hält Abstand. Ganz klar, immerhin weiß er genau, wie stark ich bin und genauso gut wird er wissen, was passiert, wenn man eine Schattenwölfin wütend macht. „Du bist eine der wenigen Schatten, die es noch gibt. Den Kopf von einem von euch zu bringen, macht mich einerseits unermesslich reich und bringt mir Ruhm und Ehre. Davon werden noch Generationen sprechen.“ Ich wurde hintergangen. Wie konnte ich nur glauben, dass mich jemand akzeptieren könnte, so wie ich bin? Sie sind doch alle gleich. Menschen und Wölfe, alle wollen sie mir schaden.
Eigentlich sollte ich jetzt schockiert sein, aber ich bleibe dennoch ganz ruhig: „Es trifft mich, dass du mich von Anfang an nur für deine eigenen Zwecke missbraucht hast. Die ganze Sache hat aber auch seine guten Seiten.“ Er reagiert überrascht. „Du hast mir etwas Wichtiges gezeigt und mir eine Entscheidung abgenommen. Es gibt niemanden, der mich als Schattenwölfin jemals schätzen wird, außer die Schatten selbst. Ich weiß nun, wo ich hingehöre.“
„Wenn du das sagst.“ Meine Worte scheinen Blake zu verwirren. „Freut mich, dass ich dir helfen konnte. Leider wird dir das nicht mehr viel bringen, denn du wirst wohl oder übel mit mir kommen müssen.“
Nachdem ich einmal tief durchgeatmet habe, folgt meine Antwort: „Schade eigentlich. Du bist bestimmt kein schlechter Kerl, Blake. Tut mir leid für dich, dass du diesen Weg gewählt hast.“ Ich gehe in Kampfposition. „Du kannst dich noch anders entscheiden und wir beide gehen einfach getrennte Wege. Solltest du mich aber angreifen, erwarte keine Rücksicht von mir.“
Er beginnt zu lachen: „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich dich jetzt noch gehen lasse? Ich bin viel zu weit gekommen!“
Enttäuscht blicke ich zu Boden: „Dann sei es so.“ Im selben Moment verwandelt sich Blake und stürmt mit gefletschten Zähnen auf mich zu. Als er kurz vor mir ist und mit dem aufgerissenen Maul nach mir schnappt, mache ich einen schnellen Schritt zur Seite, hole gleichzeitig mit den Armen aus, lege die rechte Hand in die linke und verpasse ihm einen gezielten Schlag auf den großen Wolfskopf. Blake sinkt augenblicklich zu Boden und nimmt seine menschliche Gestalt an. Er hat das Bewusstsein verloren.
Ich bleibe noch einen Moment bei ihm stehen und blicke auf ihn herab. Mir kommt ein Gedanke. Es gibt da noch etwas, das ich wissen möchte, bevor ich gehe. Wie hat mich Blake gesehen? Waren es nur leere Worte, die er mir im Laufe unserer gemeinsamen Zeit gesagt hat? Das muss ich noch erfahren. Es wird Zeit, wieder einmal Gebrauch von meinen Fähigkeiten als Schattenwölfin zu machen. Blake schläft tief und fest. Ich werde ihm einen Besuch in seinen Träumen abstatten.
Es war sehr leicht, an die Informationen zu gelangen, die ich haben wollte. Als Blake alles aufgeklärt hat, hat er mir tatsächlich die ganze Wahrheit gesagt. Es war alles nur ein riesengroßer Schwindel. Eigentlich sollte mir das egal sein, aber es trifft mich dennoch irgendwie. Einen Trost habe ich trotzdem. Ich weiß nun, wo ich hingehöre. Endlich habe ich einen Plan. Mein neues Ziel ist es, die Schattenwölfe ausfindig zu machen und zu ihnen zu gehen. Nathan hat mir damals gesagt, dass dort immer ein Platz für einen Artgenossen ist.
Was Blake angeht, um ihn habe ich mich entsprechend gekümmert. Seine Taten durften nicht ungestraft bleiben. Nebenbei konnte ich nicht riskieren, dass er mir folgt. Also habe ich ihm beide Beine gebrochen und ihn bewusstlos liegen lassen. Der Wald hier draußen ist nicht ungefährlich. Außerdem wird es bald dunkel. Die Tiere werden somit den Rest erledigen.
Erstaunlich, wie sehr er sich selbst überschätzt hat. Er war doch tatsächlich fest davon überzeugt, in einem Kampf gegen mich bestehen zu können. Und das, obwohl er genau wusste, wie stark ich war. Er muss blind gewesen sein vor Gier und Habsucht. Das hat er nun davon.
Ich mache mich nun auf den Weg in die große Hafenstadt. Von dort aus dürfte es leicht sein, an Informationen zu gelangen. Wenn ich dann ein fixes Ziel habe, werde ich das nächste Schiff nehmen. So gehe ich nun dem Sonnenuntergang entgegen und weiß endlich, was ich tun muss. Es wird Zeit, meiner wahren Bestimmung zu folgen.