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Kapitel 2

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Ein bedauerlicher Verlust


Der Weg in die Stadt ist problemlos verlaufen. Es war nicht schwierig, unentdeckt zu bleiben unter all den Leuten. Zum Glück bin ich noch mitten in der Nacht angekommen und konnte mir so problemlos ein paar Klamotten besorgen. Ich bin einfach einem jungen Mädchen gefolgt, das ungefähr dieselbe Kleidergröße trug. So viel es mir leicht, über die Feuerwehrleiter in ihr Zimmer einzusteigen und mir ein neues Outfit zusammenzusuchen.

Die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz dauerte dann schon länger. Ich hatte kein Geld bei mir und das Stehlen von Bargeld ist bekanntlich schwieriger als das von Klamotten. Vor allem, weil ich genug davon gebraucht hätte, um mir eine Nacht in irgendeinem Hotel zu finanzieren. Also habe ich beschlossen, nicht das Geld zu stehlen, sondern einfach ohne Bezahlung in ein Hotel einzuchecken. Es ist zwar nicht das allerschönste Zimmer, aber in so einer Absteige würde auch niemand vermuten, dass jemand einbrechen würde.

Also habe ich mir wieder eine Feuerwehrleiter gesucht und bin erneut in ein Zimmer eingestiegen, nur diesmal mit dem Unterschied, dass ich hier eine Weile bleiben würde. Zur Sicherheit habe ich das Schloss mit meinen Klauen demoliert, sodass es sich nicht mehr aufschließen lässt. Zusätzlich habe ich noch einen schweren Stuhl unter die Türklinke geklemmt. Nun kann man die Tür gar nicht mehr öffnen.

Da es schon fast wieder hell war, als ich eingeschlafen bin, bin ich am nächsten Morgen erst kurz nach Mittag aufgewacht. Danach habe ich mich in der näheren Umgebung noch etwas umgesehen und bin zum Hafen gegangen. Blake hatte recht, als er gesagt hat, dass hier jeden Tag viele Schiffe ein- und ausfahren. Nachdem ich mich mit der Stadt vertraut gemacht hatte, besorgte ich mir etwas zu essen und nun ist es draußen schon wieder dunkel.

Ich liege gerade im Bett und starre an die Decke. Noch ist es zu früh, um mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Es muss dafür später in der Nacht sein, damit ich mir sicher bin, dass die Schattenwölfe bereits schlafen. Meine Fähigkeit ist sehr nützlich. Ohne sie würde ich meine Artgenossen vermutlich nie ausfindig machen können. Ich habe beschlossen, mich in Nathans Träume einzuschleichen. Mit ihm kann ich bestimmt am besten reden. Immerhin hat er mir das Angebot gemacht, bei ihnen zu bleiben und außerdem kenne ich die anderen Mitglieder des Rudels kaum. Mal abgesehen von Marlow, den ich aber eigentlich vorerst nicht von meinem Vorhaben, mich ihnen anzuschließen, unterrichten will.

Ehrlich gesagt bin ich gespannt, wie Nathan reagieren wird. Vermutlich rechnet er nicht damit, dass ich sein Angebot doch noch annehme. Hoffentlich hat er das damals ernst gemeint, ansonsten weiß ich nicht, wohin ich noch gehen soll. Darüber nachzudenken bringt leider nichts. Ich muss es einfach herausfinden und das kann ich nur, wenn ich ihn in seinen Träumen zur Rede stelle.

Es ist schon lange dunkel draußen und mittlerweile über eine Stunde her, dass ich es das letzte Mal probiert habe. Zuvor konnte ich mich nicht in seine Träume einschleusen. Ich habe mich konzentriert, ausschließlich an Nathan gedacht und dann meinen Geist aus meinem Körper entlassen. Leider bin ich nur im Nichts herumgeirrt und konnte nichts entdecken. Schwer zu beschreiben, aber ich bin mir sicher, dass das daran gelegen hat, dass Nathan noch wach war.

Gut, es wird Zeit sich erneut zu konzentrieren. Diesmal muss es funktionieren. Ich will endlich wissen, wo die Schattenwölfe sind. Vorher habe ich keine ruhige Minute. Also schließe ich die Augen und löse meinen Geist vom Körper. Es fühlt sich angenehm an. Fast so, als würde ich auf Kommando einschlafen. Ich gleite langsam in die Welt der Träume.


Es hat funktioniert. Ich befinde mich eindeutig nicht mehr in der realen Welt. Dennoch ist diesmal etwas anders. Die Welt der Träume hat wohl endlos viele Möglichkeiten, was ihr Aussehen angeht. Das hängt dann wohl von der Person ab, die träumt. Gerade bin ich in einem Waldgebiet. Es ist Nacht. Die Sterne scheinen vom Himmel und alles ist ganz ruhig. Es scheint fast so, als wäre ich wirklich hier. Aber ich spüre, dass das alles nur ein Konstrukt von Nathans Gedanken ist.

Ich kann ihn nirgends sehen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass das alles von ihm auf die Beine gestellt wurde. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich kann seine Anwesenheit wahrnehmen. Seine Ausstrahlung ist unverwechselbar.

Nun muss ich mich aber auf mein eigentliches Vorhaben konzentrieren. Eigentlich hatte ich mir alles anders vorgestellt. Mein Plan war es, Nathan in seinem Traum zu fragen, wo sich das Rudel der Schattenwölfe gerade aufhält. Leider funktioniert das nicht, wenn er nicht da ist. Ich werde mich nun selbst auf die Suche nach Antworten machen müssen.

Also durchstreife ich vorerst den Wald. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Wald eine Erinnerung von ihm darstellt oder einfach nur frei erfunden ist. Wenn ich von ersterem ausgehe, könnte das ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Moment mal, ich höre Stimmen.

„Wir müssen endlich weiterkommen, Marlow.“ War das Mara? Das klang ganz nach ihrer schrillen, bösartigen Stimme. „Ich habe es satt zu warten! Lass uns das andere Rudel endlich finden und umbringen!“ Ja, nun bin ich mir absolut sicher.

Während ich den Stimmen folge, höre ich Marlow: „Hüte deine Zunge, Mara! Vergiss nicht, mit wem du sprichst! Mir ist klar, dass wir uns die anderen Amulette von diesem verdammten Lichtwolf und seinen kleinen Freunden holen müssen. Glaubst du etwa, dass ich nicht genau das vorhabe?“ Endlich erkenne ich etwas. Ich verstecke mich hinter einem Busch und blicke durch das Gestrüpp. Wenige Meter vor mir stehen sechs Personen. Es sind eindeutig die Schattenwölfe. Sie haben ihre menschliche Gestalt angenommen. Alle sind beisammen, auch Nathan ist hier.

Jaden ergreift das Wort: „Genau, Mara. Hör endlich auf zu jammern. Du bist nicht die Einzige, die unsere Feinde tot sehen will. Leider vergisst du dabei, dass wir keine Ahnung haben, wo sie sich befinden. Also bevor du dich das nächste Mal beschwerst, überleg dir besser vorher, wie du sie ausfindig machen willst.“ Mara murrt kurz und verschränkt die Arme.

Dann schüttelt Nathan den Kopf: „So kommen wir jedenfalls nicht weiter.“ Keiner schaut in meine Richtung. Sie scheinen nicht einmal zu merken, dass ich da bin. Nicht einmal Nathan selbst, obwohl das sein eigener Traum ist. Da kommt mir ein Gedanke. Mal sehen, ob sie einfach nur unaufmerksam sind, oder ob sie mich wirklich nicht wahrnehmen können.

„Hey ihr!“ Ich stehe auf und zeige mich. Keine Reaktion. „Hallo? Nathan! Marlow! Könnt ihr mich hören?“ Offensichtlich nicht. Sie rühren sich kein bisschen. Alle stehen noch immer da und scheinen nachzudenken.

Ian bricht die Stille: „Und du kannst die Amulette wirklich nicht ausmachen, Akeyla? Sie müssen doch bei den Wölfen sein.“

Schuldbewusst blickt Akeyla zu Boden: „Nein, leider nicht. Du weißt doch, dass ich die Amulette nicht orten kann, wenn derjenige, der sie bei sich trägt, seine Wolfsgestalt angenommen hat. Tut mir wirklich leid.“

Mara zischt sie an: „Das würde nicht so sein, wenn du deine Fähigkeiten besser trainiert hättest! Dann hätten wir dieses Problem jetzt nicht!“ Akeyla zuckt zusammen und senkt den Kopf.

Plötzlich mischt sich Nathan ein: „Sei bloß still, Mara! Sie kann genauso wenig etwas dafür, wie wir anderen. Ohne Akeyla hätten wir vermutlich kein einziges Amulett gefunden, also sei gefälligst etwas dankbarer. Du selbst hast keine Fähigkeiten, die dem Rudel irgendwie nützen. Zeig ein wenig Respekt!“ Man spürt sofort, dass Nathan und Akeyla ein sehr enges Verhältnis zueinander haben. Er nimmt sie in Schutz, was bei ihr vermutlich öfter nötig ist. Sie wehrt sich kein bisschen gegen die Anschuldigungen und hört nur still zu.

Doch Mara lässt sich so schnell nicht einschüchtern: „Das kommt gerade von dir! Deine Fähigkeit ist auch nicht gerade sinnvoll. Wofür braucht man schon einen Schattenwolf, der Gefühle erspüren kann? Ist doch total unnötig.“

Mit einem Grinsen im Gesicht antwortet Nathan: „Es ist ganz nützlich, um seine Gegner einzuschüchtern oder ihnen mental zu schaden. Und du weißt, dass ich recht habe, sonst wärst du jetzt nicht so unsicher.“ Sie sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Sei doch nicht gleich so wütend. Du explodierst fast, meine Liebe.“ Er weiß genau, was sie empfindet. Ich muss schmunzeln.

„Genug jetzt!“ Marlow spricht ein Machtwort. „Nathan, ich habe dir doch verboten, deine Fähigkeit im Rudel einzusetzen. Das schafft nur unnötige Streitereien. Außerdem gibt es jetzt Wichtigeres. Wir werden vorerst in die nächste Stadt gehen. Dort können wir noch eher an Informationen kommen als in diesem Wald.“

Jaden fragt nach: „Du meinst doch nicht etwa diese stinkende Hafenstadt, oder? Muss das denn wirklich sein?“ Wie war das? Hat er gerade das gesagt, was ich glaube gehört zu haben?

Langsam strapaziert die Situation Marlows Nerven: „Wenn ich sage, dass wir dort hingehen sollen, dann machen wir das auch, verstanden? Keine weitere Diskussion! Wir brechen morgen früh auf.“ Er entfernt sich von der Gruppe.

Bevor er außer Sichtweite ist, ruft ihm Ian noch nach: „Wieso denn erst morgen? Wir können doch genauso gut heute noch losziehen!“

Es folgt eine kurze Antwort: „Weil ich euch heute keine Sekunde länger ertrage!“ Und weg ist er. Marlow sucht sich wohl ein Plätzchen, um allein zu sein.

Die anderen schauen sich verdutzt an, als Nathan mit den Schultern zuckt: „Soll mir auch recht sein. Ich lege mich hin. Ihr solltet das Gleiche tun. Marlow will morgen bestimmt früh aufbrechen.“ Er geht wortlos zu einem Baum, setzt sich und lehnt seinen Rücken an den Stamm.

Plötzlich wird mein Körper schwerer. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Es fühlt sich so an, als würde mich irgendeine Kraft erdrücken. Mir wird schwindlig. Es fällt mir immer schwerer, die Augen offen zu halten. Ich denke, dass ich jeden Moment das Bewusstsein verliere.


Da bin ich wieder. Im Bett des Hotelzimmers. Der Traum ist vorbei. Es scheint so, als wäre Nathan wieder aufgewacht. Immerhin habe ich die Informationen, die ich wollte. Nun muss ich mich nur noch genau an das erinnern, was ich gehört habe.

Eines steht fest, ich konnte mich auf keine Weise bemerkbar machen. Nicht einmal Nathan selbst scheint bemerkt zu haben, dass ich in seine Träume eingedrungen war. Ich fühlte mich wie ein stiller Beobachter und das weist auf eine bestimmte Tatsache hin. Das war eine Erinnerung. Nathan hat sich im Traum an ein vergangenes Ereignis erinnert. Aber wie weit liegt diese Erinnerung zurück? Wenn es mehrere Tage oder Wochen sind, bringt mich das nicht weiter. Liegt es jedoch erst einen Tag oder wenige Stunden zurück, wären die Schattenwölfe ganz in der Nähe.

Ich muss zugeben, dass ich aber sehr optimistisch bin. Immerhin haben sie von einer Hafenstadt gesprochen. Sie müssen ebenfalls ein Portal benutzt haben, um die Wüste verlassen zu können. Es kann sein, dass sie nahe der Stelle rausgekommen sind, wo auch ich vor einiger Zeit gelandet bin. Das heißt, der Ort ist schon mal der gleiche. Fehlt nur noch die Zeit.

Auch hier habe ich ein gutes Gefühl. Nathan hat sich sehr detailliert an das Gespräch erinnert, das heißt, es kann noch nicht so weit zurückliegen. Außerdem hätte ich es bei meinem Rundgang heute sofort gespürt, wenn sich Schattenwölfe in der Stadt befinden würden oder diese erst vor ein paar Tagen durchquert hätten. Ich vermute also, dass dieses Ereignis erst heute Nacht stattfand, vielleicht ist es sogar erst eine Stunde oder ein paar Minuten her. Das würde heißen, dass sie sich morgen auf den Weg hierher machen. Was für ein Glück! Ich hätte nie gedacht, dass ich sie so schnell finden würde oder besser gesagt, dass sie mich finden würden. Nun brauche ich also nichts mehr zu tun, außer zu warten. Die Schattenwölfe kommen von selbst zu mir.

Nun bin ich endlich erleichtert. Das Problem hat sich von selbst gelöst. Heute Nacht kann ich beruhigt schlafen. Morgen muss ich völlig fit und ausgeschlafen sein, wenn ich meinen Artgenossen entgegentrete. Es dauert nicht mehr lange. Bald werde ich wieder in einem Rudel leben.


Es ist soweit. In diesem Moment haben die Schattenwölfe die Stadt betreten. Ich konnte es genau spüren. Mein Herz hat für einen kurzen Moment ausgesetzt, dadurch bin ich aufgewacht.

Dieses enorm starke Gefühl, wenn sie in der Nähe sind, wirft natürlich eine sehr wichtige Frage auf. Können sie mich auch wahrnehmen? Wenn sie sich auf mich konzentrieren und damit rechnen, dass ich in der Nähe bin, vermutlich schon, aber nun? Meine Aura dürfte sich von der der anderen Schattenwölfe kaum unterscheiden. Marlow und sein Rudel könnten also gar nicht wissen, dass ich da bin, weil ihre eigene Aura die meine überdeckt. Lediglich die Lichtwölfin in mir würde mich verraten, aber da diese nun nicht mehr existiert, können sie auch diese nicht mehr wahrnehmen.

Darüber nachzudenken bringt mir nur leider auch nichts. Außerdem macht es keinen Unterschied, ob sie es wissen oder nicht. Ich werde ihnen so oder so begegnen. Dazu muss ich mich aber langsam fertig machen. Also stehe ich auf und gehe ins Badezimmer. Die letzte Dusche vor meinem Aufbruch lasse ich mir nicht nehmen. Danach werde ich mich auf den Weg machen.


Es war nicht schwer, den Ort auszumachen, an dem sie sich befinden. Also bin ich direkt zum Hafen gelaufen und stehe nun vor einem großen Frachtschiff. Es macht durchaus Sinn, dass die Schattenwölfe dort sind, immerhin wollen sie bestimmt nicht allzu lange in der Stadt bleiben und eventuell mit dem Schiff weiterreisen. Jetzt, wo ich so vor dem Aufgang zum Frachter stehe, werde ich etwas nervös. Bald begegne ich meinen Artgenossen, die früher meine schlimmsten Feinde waren. Wie werden sie wohl reagieren? Es gibt nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden.

Ich gehe an Bord des Schiffes. Zum Glück ist es noch sehr früh am Morgen und es befinden sich keine Leute hier. Ich spüre ihre Anwesenheit immer stärker, je mehr ich mich der großen Ladefläche des Schiffes nähere. Dann stehe ich vor einer Luke, die in das Innere des Frachters führt. Sie ist offen. Es besteht kein Zweifel. Darin müssen sie sein, ich bin mir ganz sicher. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich atme noch einmal tief durch und trete in die Dunkelheit.

Stufe für Stufe steige ich die Eisentreppe hinab. Jeder meiner Schritte hallt durch den riesigen Frachtraum. Als ich ganz unten ankomme, sehe ich mich um. Der Frachtraum ist voller großer Container. Einzelne Holzkisten sind mit schweren Ketten am Boden befestigt. Einen Überblick zu bekommen, ist schier unmöglich. Wenn also jemand einen Überraschungsangriff starten wollen würde, wäre das der perfekte Ort dafür.

Mit diesem weniger erfreulichen Gedanken gehe ich weiter. Obwohl ich im Dunkeln sehen kann, spüre ich genau, wie finster es hier unten ist. Ich bin sehr aufmerksam. Meine Augen schweifen durch den Raum. Die Anwesenheit der Schatten ist mit jedem Schritt noch mehr spürbar.

Dann bleibe ich stehen. Ich stehe auf einer großen, leeren Fläche. Rundum mich sind Kisten und Container aller Art. Genau hier sind sie. Es fühlt sich fast so an, als würden die Schattenwölfe bereits neben mir stehen. Also bewege ich mich nicht mehr. Sie müssen mittlerweile ohnehin längst wissen, dass jemand den Frachtraum betreten hat. Mit Sicherheit beobachten sie mich. Nun überlasse ich es ihnen, den ersten Schritt zu tun.

Als ich plötzlich eine Bewegung unmittelbar vor mir ausmache, bleibt mein Blick starr auf den großen Containerstapel gerichtet. Dann erkenne ich sie, die roten Augen. Nach und nach kommen sie aus der Dunkelheit hervor. Es wirkt fast so, als ob sie durch den Raum schweben würden. Bald zähle ich sechs Augenpaare, die sich mir langsam nähern. Wenige Sekunden später, sind die dazugehörigen Körper zu erkennen.

Geschmeidig wie Raubkatzen gleiten die Schattenwölfe über den Boden und kommen in meine Richtung. Sie haben ihre Wolfsgestalt angenommen. Offensichtlich wissen sie nicht ganz, was sie von meinem Erscheinen halten sollen. Wenige Schritte vor mir bleiben sie dann in einer Reihe stehen. Wortlos starren sie mich an. Die Augen eines jeden einzelnen mustern mich von Kopf bis Fuß. Nur der Wolf ganz rechts sieht mir direkt ins Gesicht. Seine Miene verändert sich kein bisschen, aber seine strahlenden Augen scheinen ein Lächeln auszudrücken. Kein Zweifel, das ist Nathan.

Plötzlich tritt einer der Wölfe hervor: „Ich habe dich schon erwartet, meine liebe Jessica. Deine Anwesenheit war schon beim Betreten der Stadt stark spürbar.“ Auch Marlow erkenne ich auf einen Blick. Nicht nur aufgrund seiner Stimme oder dem zerfetzten Ohr, sondern auch aufgrund seiner Ausstrahlung. Er ist den anderen in jeder Hinsicht überlegen und hat das typische Auftreten eines Anführers.

Mit einem Lächeln im Gesicht nicke ich ihm zu: „Ja, auch ich konnte euch deutlich spüren. Es war nicht sehr schwer für mich, euch ausfindig zu machen.“

Nun grinst er: „Es ist eine Seltenheit, dich so offen gegenüber mir und meinem Rudel zu erleben. Du kommst nicht mit negativen Absichten zu uns, oder?“

Kopfschüttelnd antworte ich ihm: „Nein, keineswegs.“

Augenblicklich nimmt Marlow seine menschliche Gestalt an: „Dann gibt es wohl auch keinen Grund, sich bedroht zu fühlen. Außerdem entspricht es einer gewissen Höflichkeit, sich von Angesicht zu Angesicht zu unterhalten, nicht wahr?“ Er blickt kurz nach links und rechts, woraufhin sich auch der Rest des Rudels verwandelt. Während sie das tun, spricht Marlow weiter. „Es wundert mich, dich allein hier anzutreffen. Wo sind denn deine kleinen Freunde? Der Lichtwolf scheint nicht in der Nähe zu sein, sonst hätte ich ihn schon längst wahrgenommen.“

Bei dieser Bemerkung werde ich wieder ernst: „Sie sind nicht hier, keiner von ihnen. Ich selbst habe keine Ahnung, wo sie sich befinden.“ Marlow wirkt neugierig. Er will wohl, dass ich das noch weiter ausführe. „Meine Zeit bei ihnen ist beendet. Es gab gewisse Differenzen zwischen uns, die nicht geklärt werden konnten. Also habe ich sie verlassen.“ Die Schattenwölfe tauschen untereinander verwirrte Blicke aus. Sie scheinen noch nicht recht glauben zu können, was ich eben gesagt habe. Nur Nathan lächelt. Seine blutroten Augen leuchten hinter den schwarzen Haaren hervor und er fixiert mich noch immer.

Dann platzt Mara heraus: „Wieso sollen wir dir glauben? Du bist immerhin zum Teil eine Lichtwölfin! Denen kann man nie trauen!“

Ian, der neben ihr steht, legt seine Hand auf ihre Schulter: „Das mag schon sein, aber sieh sie dir doch mal genauer an und konzentriere dich auf das, was du spürst. Nach außen hin ist da kein Fünkchen Licht mehr wahrzunehmen.“

Den Blick wieder auf mich gerichtet, ergreift Marlow das Wort: „Deinem Aussehen nach zu urteilen hast du deine Meinung bezüglich uns Schattenwölfen geändert, sehe ich das richtig?“

Es wird wohl Zeit für eine ausführliche Erklärung: „Nun gut, ich sage euch, warum ich hier bin.“ Gespannt hören sie mir alle zu. „Meine Zeit bei dem anderen Rudel und somit auch meine Zeit als Lichtwölfin ist vorbei. Nach langem Nachdenken und ewigem Hadern mit mir selbst habe ich endlich herausgefunden, wo ich wirklich hingehöre. Zu den Schatten.“

Plötzlich unterbricht mich Nathan: „Was sie sagt, ist die Wahrheit. Ich habe es selbst miterlebt, als sie sich am See der Spiegel entscheiden musste. Sie hat sich für die Dunkelheit entschieden. Ohne Zweifel.“

Marlow nickt: „Ja, ich weiß. Du hast uns mehrmals davon berichtet, Nathan. Ich will trotzdem hören, was sie noch zu sagen hat.“

Das war mein Stichwort, um fortzusetzen: „Wie gesagt, ich habe erkannt, dass alle Dinge, die mir über die Schattenwölfe erzählt wurden, nichts als leere Worte waren. Auch der Gedanke, die Menschheit vor der Dunkelheit schützen zu müssen, war gelogen. Die Menschen sind grausam. Das wurde mir nun schon oft genug bestätigt.“

Nun unterbricht mich Jaden: „Sie scheint nicht zu lügen. Man kann in ihren Augen dieselbe Überzeugung sehen, die uns alle antreibt.“ Das hat wohl auch Marlow erkannt, denn er findet offensichtlich großen Gefallen an dem, was ich sage.

Dennoch will ich sie voll und ganz überzeugen: „In der Zeit, die ich nun allein umhergereist bin, wurde mir gezeigt, wie wenig man anderen vertrauen kann. Schattenwölfe werden überall verstoßen und können entweder allein oder nur mit ihren Artgenossen leben und das ist der Grund, warum ich hier bin.“

Nach kurzem Schweigen beginnt Marlow wieder zu sprechen: „Ich denke, es bedarf keiner weiteren Erklärung, um zu verstehen, worauf du hinauswillst. Es freut mich sehr, dass du deine engstirnigen Ansichten den Schatten gegenüber endlich abgelegt hast. Wie du ja weißt, wollte ich dich schon immer gerne im Rudel haben, denn wir wenigen unserer Art gehören zusammen.“

Plötzlich mischt sich Mara ein: „Also mir reicht das ganz und gar nicht! Seid doch nicht alle so leichtsinnig! Sie mag zwar zum Teil eine von uns sein, aber ihr dürft dabei nicht die Lichtwölfin in ihr vergessen! Ich habe es euch schon einmal gesagt und ich werde es auch noch tausendmal wiederholen. Sie ist nicht wie wir!“ Marlows verärgerter Blick lässt sie verstummen. Ich selbst äußere mich nicht dazu. Ihr Vertrauen zu gewinnen, ist wohl doch schwieriger, als ich anfangs gedacht habe. Wie kann ich ihnen nur beweisen, dass ich es ernst meine?

„Eigentlich ist es doch ganz simpel.“ Diese leise Stimme ist mir nahezu unbekannt. Auch die Schattenwölfe blicken etwas perplex zu der Wölfin, von der die Bemerkung kam. Es war Akeyla. „Nathan soll einfach bestimmen, ob sie es wirklich so meint oder nicht. Dafür ist seine Fähigkeit am besten geeignet.“

„Da hat sie allerdings recht.“ Marlow wendet sich an Nathan und nickt ihm zu. „Hast du gehört? Sieh dir ihre Gefühle an, Nathan. Das wird Klarheit bringen.“

Alle Augen wandern zu Nathan, der ziemlich überrascht wirkt: „Natürlich. Darauf hätte ich selbst kommen können.“ Er dreht sich zu mir und sieht mich lange und eindringlich an. Die Konzentration ist ihm wahrlich ins Gesicht geschrieben. Dann plötzlich entspannt sich sein Körper wieder und er lächelt. „Es besteht kein Zweifel. Sie meint das, was sie gesagt hat, völlig ernst. Kein Grund, ihr nicht zu vertrauen.“

Diese Antwort gefällt Marlow offensichtlich: „Na also, dann wäre das ja auch geklärt. Noch irgendwelche Einwände?“ Er sieht provokant zu Mara, die diesmal aber schweigt. „Gut, somit kann ich endlich feierlich verkünden, dass unser Rudel vom heutigen Tage an ein neues Mitglied hat. Willkommen in der Familie, Jessica.“ Ich weiß nicht warum, aber diese Worte berühren mich so sehr, dass ich nahezu sprachlos bin. Endlich gehöre ich wieder zu einem Rudel. Die Zeiten der Einsamkeit sind vorbei. Es ist lange her, dass ich das von mir behaupten konnte, aber ich verspüre gerade nur ein einziges Gefühl. Ich bin glücklich.

Lächelnd wende ich mich an das gesamte Rudel: „Vielen Dank, dass ihr mir eine Chance gebt. Ich werde euch nicht enttäuschen, versprochen.“

Dann meldet sich Ian zu Wort: „Ich will euch ja nicht den Spaß verderben, aber so wie ich das sehe, tut sich draußen auf dem Schiff langsam etwas. Die Menschen beginnen zu arbeiten. Wir sollten uns wieder verstecken.“

Jaden stimmt zu: „Ja, sehe ich genauso. Lasst uns wieder in die Container gehen und warten, bis sie den Frachtraum versperren und das Schiff den Hafen verlässt.“ Er wirft Marlow einen fragenden Blick zu, der einfach nur nickt. So teilen sie sich auf und jeweils zwei gehen in eine Richtung. Während Jaden und Ian einen Container ansteuern, machen Marlow und Mara das Gleiche.

Ich bleibe etwas unbeholfen stehen, als mir jemand an die Schulter fasst: „Du kannst gerne mit Akeyla und mir kommen. In den Containern ist genügend Platz für drei. Außerdem sollte dich noch jemand in die Regeln des Rudels einweihen.“ Nathan lächelt mich an.

Etwas neben der Spur antworte ich: „Ja, sehr gern.“ Dann folge ich ihnen. Es ist schwer zu beschreiben, aber Nathan hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Dieses Gefühl, das ich habe, wenn er mit mir spricht oder mich ansieht, kann ich nirgends einordnen. Fakt ist, dass mir sein Verhalten anders erscheint, wenn er allein mit mir ist oder, wie gerade eben, nur Akeyla dabei ist. Wenn sich das ganze Rudel in der Nähe befindet, erscheint er mir unnahbar.

Eines steht auf jeden Fall fest, dieses Rudel könnte ungewöhnlicher nicht sein. Aus den verschiedenen Mitgliedern muss ich erst noch schlau werden. Anfangs werde ich mich wohl noch still verhalten und mich ihnen anpassen müssen. Nichtsdestotrotz bin ich mir sicher, dass das die einzig richtige Entscheidung war. Hier gehöre ich hin, hier kann ich etwas erreichen. Für mich hat ein neues Kapitel begonnen. Das Leben unter den Schatten.


Nach einigen Stunden wurde die Luke zum Frachtraum geschlossen und das Schiff hat den Hafen verlassen. Das erste Mal, seit ich hier unten bin, habe ich nun etwas Zeit für mich. Es gibt so einiges nachzudenken.

Zum Glück haben mich Nathan und Akeyla über das Verhalten im Rudel aufgeklärt. Genau genommen ist es nicht viel anders als bei normalen Wölfen, außer dass Loyalität hier enorm wichtig ist. Dies gilt nicht nur gegenüber Marlow als Anführer, sondern generell. Auch wenn sie nach außen hin versuchen, bedrohlich zu wirken, scheinen die Schattenwölfe doch eine sehr enge Beziehung zueinander zu haben. Jeder passt auf jeden auf und wenn jemand Probleme hat, gilt das für das gesamte Rudel.

Ihre Art zu denken gefällt mir immer mehr. Außerdem fühle ich mich nun wohler, da ich in Nathan und Akeyla neue Freunde gefunden habe. Bei Nathan dachte ich mir schon, dass ich schnell eine Beziehung zu ihm aufbauen könnte. Immerhin habe ich mich mit ihm schon am See der Spiegel gut verstanden. Aus Akeyla wird man aber erst richtig schlau, wenn man allein mit ihr spricht. Sie ist warmherzig und entspricht eigentlich gar nicht dem Bild einer Schattenwölfin.

Gemeinsam strahlen die beiden sogar eine noch größere Wärme aus. Man merkt, dass sie schon sehr lange zusammenleben müssen. Mit der Zeit werde ich bestimmt mehr über alle Mitglieder des Rudels herausfinden. Die groben Beschreibungen von Nathan und Akeyla haben mir aber jetzt schon geholfen.

Ian soll einer der loyalsten Schattenwölfe sein. Er vertraut Marlow blind und dient auch oft genug als ausführende Kraft aufgrund seiner enormen Stärke. Das klingt plausibel, wenn man bedenkt, dass er der größte von den sechs ist, sowohl als Wolf, als auch als Mensch. Das zwei Meter große Muskelpaket kann es vermutlich mit jedem aufnehmen, was bei einem Kampf sicherlich nützlich ist.

Das absolute Gegenteil zu ihm stellt Jaden dar und das nicht nur der Größe wegen. Er ist zwar das kleinste Mitglied des Rudels, aber man sollte ihn nicht unterschätzen. Nathan hat mir gesagt, dass er derjenige ist, der die klügsten und gleichzeitig hinterlistigsten Pläne schmiedet. Marlow fragt ihn bei vielen Entscheidungen nach seiner Meinung. Laut Akeyla sollte man sich mit ihm nie auf einen Streit einlassen, da er sehr wortgewandt ist und sich dadurch zu wehren weiß.

Das ist eine Eigenschaft, die auf Mara gar nicht zutrifft. Mir war von Anfang an klar, dass sie eine sehr schwierige Person ist, die sofort zur Tat schreitet und nichts von allzu langen Gesprächen hält. Ihre Grausamkeit wurde mir auch noch einmal von Akeyla bestätigt. Sie findet Gefallen daran, andere leiden zu sehen und tötet liebend gerne. Eigentlich sieht sie als Mensch gar nicht so gefährlich aus. Sie ist sehr zierlich. Durch die kurzen, strubbeligen Haare wirkt sie beinahe etwas kindlich, doch der Schein trügt. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich mit ihr so einige Schwierigkeiten haben könnte.

Zu Marlow konnten mir die beiden nur Dinge erzählen, die ich bereits wusste. Sein größtes Ziel ist es, die Welt in ewige Dunkelheit zu stürzen. Er sieht es als seine Pflicht an, das zu beenden, was seine Vorfahren begonnen haben. An anderen Wölfen liegt ihm genauso wenig, wie an den Menschen. Keiner im Rudel wagt es, seine Entscheidungen anzuzweifeln. Es gibt hierbei nur eine Ausnahme. Akeyla hat es mir erzählt, als Nathan eingeschlafen ist. Anscheinend ist er derjenige, der Marlow oft genug zur Weißglut treibt.

So habe ich also ein paar Informationen über mein neues Rudel gesammelt. Der Rest wird sich hoffentlich im Laufe der Zeit selbst ergeben. Zum Glück haben sie nicht nach meinen früheren Freunden gefragt. Ich bevorzuge es noch immer, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Leider gibt es da eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet. Es ist ein Problem, für das ich bald eine Lösung finden muss. Dabei geht es um die direkte Auseinandersetzung mit ihnen. Diese wird sich leider nicht vermeiden lassen.

Nun sitze ich bereits lange auf einer Holzkiste etwas abseits von den anderen und denke darüber nach. Und je länger das dauert, desto klarer wird mir, dass ich wohl oder übel gegen sie kämpfen muss. Marlow wird es nicht dulden, wenn ich zögere. Außerdem würde dieses Handeln das Vertrauen der Schattenwölfe zu mir in den Grundfesten erschüttern. Ich muss meine Vergangenheit hinter mir lassen und Jake, Chris, Rachel und Logan endgültig als meine Feinde anerkennen. Das ist die einzige Lösung.

„Bedrückt dich etwas?“ Ich erschrecke, als plötzlich Nathan vor mir steht. Bei all dem vielen Nachdenken habe ich ihn gar nicht kommen sehen.

Etwas zögernd antworte ich ihm: „Schwer zu sagen. Es gibt noch ein paar Dinge, die ich erst realisieren muss. Über manches bin ich mir noch nicht völlig im Klaren.“

Er setzt sich neben mich: „Du sprichst von deinen früheren Freunden, nicht wahr? Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer es für dich sein muss, dich nun gegen sie zu stellen. Deine Unsicherheit ist zwar schon weitaus geringer als damals am See der Spiegel, aber du wirkst immer noch unentschlossen auf mich.“

Daraufhin schüttle ich den Kopf: „Eigentlich bin ich das ja nicht. Ich bin mir sicher, dass ich zu euch gehöre. So entschlossen war ich noch nie, glaub mir. Es ist trotzdem ein großer Unterschied zwischen der Tatsache, dass ich mich von ihnen abgewandt habe und der, dass ich sie nun vielleicht sogar verletzen muss.“

Nathan lauscht mir mit großem Interesse: „Ich verstehe. Hast du bereits eine Lösung gefunden? Wie hast du dich entschieden?“

„Mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als sie früher oder später zu bekämpfen. Also werde ich das auch tun.“ Noch immer ist Nathan sehr aufmerksam. Genau deshalb kommt mir gerade ein Gedanke, den ich dann sofort ausspreche. „Du fragst nur aus Höflichkeit nach, nicht wahr?“

Diese Frage scheint ihn zu überraschen: „Wie kommst du darauf?“

Schulterzuckend folgt eine Antwort von mir: „Du besitzt doch auch eine besondere Fähigkeit. Wenn ich mich recht erinnere, kannst du die Gefühle von anderen erkennen. Also müsstest du doch wissen, ob ich zweifle oder nicht.“

„Das ist nicht immer so klar, wie ich es gerne hätte.“ Plötzlich steht er auf. „Komm, wir gehen zu den anderen zurück. Wenn du weiterhin allein hier herumsitzt, wirst du dich nie an die Gruppe gewöhnen.“ Mit diesen Worten geht er voraus zu den anderen, die alle vor einem großen Container sitzen. Das ging mir jetzt etwas zu schnell. Er hat das Gespräch einfach abgebrochen. Habe ich etwas Falsches gesagt? „Kommst du jetzt, oder nicht?“ Wortlos stehe ich auf und folge Nathan. Wie gesagt, aus dem Kerl werde ich nicht schlau. Hoffentlich ändert sich das bald. Ich kann nicht noch mehr Probleme gebrauchen.


Um ehrlich zu sein, ich bin kein großer Fan von Schiffsreisen. Flugzeuge sind mir ebenso wenig geheuer. Ich bevorzuge es, festen Boden unter den Füßen zu haben. Umso besser finde ich es nun, dass wir endlich von dem Frachter runterkommen. Unsere Reise hat zwei volle Tage gedauert. Das Rudel ist auch dementsprechend erschöpft. Wir haben in dieser Zeit keine Nahrung zu uns genommen. Das ist vermutlich auch der Grund, warum Marlow die folgende Anweisung gibt: „Genug ausgeruht. Wir gehen auf die Jagd.“

Keiner widerspricht ihm und wir folgen wortlos unserem Anführer. Es dürfte nicht allzu schwer werden, hier ein paar Rehe oder sonstiges Wild zu finden. Das Waldgebiet ist immerhin riesig. Gleich nachdem wir uns unbemerkt vom Schiff geschlichen haben, sind wir hierhergekommen. Das kleine Städtchen, in dem es Halt machte, interessierte Marlow kaum. Wir anderen konnten es ohnehin nicht erwarten, wieder frische Waldluft zu atmen und den weichen Boden der Natur unter unseren Pfoten zu spüren.

Ich verstehe mich mit den meisten im Rudel sehr gut. Nathan und Akeyla sind von Anfang an nett zu mir gewesen und auch mit Ian habe ich schon ein paar Worte gewechselt. Mara misstraut mir anscheinend noch immer und auch Jaden hat stets ein Auge auf mich. Aus Marlows Verhalten kann ich rein gar nichts schließen. Er ist immerhin der Anführer des Rudels und so benimmt er sich auch. Sobald er irgendetwas sagt, hören ihm die anderen aufmerksam zu. Ich mache es ihnen nach.

Bisher wurde kein einziges Mal angesprochen, wohin wir überhaupt gehen und ich wollte nicht nachfragen. Das wird sich vermutlich ohnehin von selbst klären, hoffe ich. Die Gesprächsthemen hatten auf der ganzen Reise nichts mit den Amuletten oder der Beschaffung dieser zu tun. Wir redeten über unterschiedliche Dinge, hauptsächlich über das Leben vor all dem hier. Alle Wölfe des Rudels scheinen das gleiche Schicksal zu teilen. Keiner wollte viel mit ihnen zu tun haben, sie entweder verjagen oder gar töten. Marlow hatte sich auf die Suche nach allen verbliebenen Schattenwölfen dieser Welt gemacht und sie auch gefunden.

Bei all den Konversationen war ich meist nur still und habe gelauscht. Nur bei einem Thema konnte ich nicht schweigen, denn die anderen wollten bald auch mehr über mich und mein Leben wissen. Also begann ich zu erzählen. Ich hielt es für unnötig, etwas für mich zu behalten, immerhin gibt es nichts zu verbergen. Hoffentlich hat meine Offenheit ihr Vertrauen etwas gesteigert. Anfangs hielten sie es für schier unmöglich, dass ich so lange unter den Menschen leben konnte.

Die Geschichte mit meinen verstorbenen Eltern traf auf geteilte Meinungen. Während Mara, Ian und Jaden nur wenig Mitgefühl zeigten, konnte man in Nathans und Akeylas Augen tiefes Bedauern erkennen. Das tragische Schicksal meiner Eltern ließ sie offensichtlich ganz und gar nicht kalt. Marlow hingegen grinste immer nur vor sich hin. Ihm scheint es zu gefallen, dass er erreicht hat, was er von Anfang an wollte. Er hat die Geschichte nun zu Ende gebracht und mich auf die Seite der Schatten gezogen.

Mit dem Thema kam auch die Frage auf, wie alles verlaufen wäre, wenn ihr Vorhaben schon damals geglückt wäre. Die Geschichte der Nachfahren der sieben Schattenfürsten ist eine Tragödie. Selbst bei Akeyla, die eigentlich sehr gutherzig ist, konnte man tiefen Hass und immense Trauer verspüren, als wir über die vielen Todesfälle sprachen. Die Schatten wurden regelrecht ausgerottet, sowohl von Wölfen als auch von Menschen, die von ihrer Existenz wussten. Nathan erklärte mir später, dass sie Rache genommen hatten. Das Rudel verbrachte eine lange Zeit damit, die Verantwortlichen zu suchen und zu töten, bevor sie sich auf die Suche nach den Amuletten gemacht haben. Je länger wir darüber sprachen, desto besser konnte ich sie verstehen.

„Komm schon! Ein wenig schneller, wenn ich bitten darf!“ Marlows Worte weisen mich darauf hin, dass die anderen schon ein gutes Stück weiter vorne sind. Ich war wohl etwas in Gedanken versunken.

Sofort schließe ich auf: „Ja, sofort!“ Nun kann ich es mir nicht mehr erlauben, abwesend zu sein. Wir gehen immerhin jagen. Endlich bekomme ich eine Möglichkeit, um zu zeigen, was ich kann. Ich darf die Chance nicht verstreichen lassen.


Der Tag war enorm anstrengend. Zuerst das viele Laufen, danach die Suche nach Beute und dann auch noch die Jagd. Wenigstens können wir uns nun alle ausruhen, nachdem wir gut gegessen haben. Die Beute war mehr als ausreichend für das gesamte Rudel. Der riesige Keiler hat sich zwar gar nicht erst auf einen Kampf eingelassen und sofort die Flucht ergriffen, aber als ich ihn hatte, war die Sache schnell vorüber. Die anderen staunten nicht schlecht, als ich das Biest mit einem Biss niedergestreckt habe.

„Das heute war wirklich gute Arbeit, Jessica.“ Kam das Lob gerade von Marlow? Auch das restliche Rudel horcht auf. „Du warst eine große Hilfe bei der Jagd.“

Ehe ich etwas darauf sagen kann, setzt Ian fort: „Ja, das stimmt. Ein derartig großes Tier nach einer Verfolgungsjagd so einfach auszuschalten, ist schon eine Leistung. In dir steckt offensichtlich eine wahre Schattenwölfin.“ Er lacht kurz auf.

Ich fühle mich ehrlich gesagt geschmeichelt und grinse vor mich hin: „Danke, aber das war keine allzu große Besonderheit. Immerhin musste ich in den letzten Wochen lernen, allein zu jagen.“

Nathan lächelt: „Das merkt man dir an. Du kommst allein wohl besser zurecht als die meisten von uns.“

„Ja, das war wirklich nicht übel, Jessica.“ Überrascht blicke ich zu Mara, die gerade das erste Mal meinen Namen in den Mund genommen hat. „Ich muss zugeben, dass ich das nicht erwartet habe. Du scheinst vielleicht doch eine Kämpfernatur zu sein. Sowas kann man immer brauchen.“ Hat sie mir gerade tatsächlich ein Kompliment gemacht? Ich denke schon.

Mit einem Lächeln im Gesicht zucke ich mit den Schultern: „Kann schon sein.“ Es ehrt mich auf gewisse Weise, dass das eben sogar von Mara kam. Wenn ich mich weiterhin bemühe, akzeptiert sie mich vielleicht auch endlich als Mitglied des Rudels.

„Und das ist nicht ihre einzige Stärke, wenn ich mich recht erinnere.“ Mein Blick haftet nun wieder auf Marlow. Meine Miene ist nun genauso ernst wie seine. Jetzt ist es wohl soweit. Ich wusste schon, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis er mich darauf ansprechen würde. Dieses Gespräch könnte nun unangenehm werden.

Dennoch bleibe ich vorerst gelassen: „Da hast du recht. Du kennst meine Fähigkeit schon sehr gut, nicht wahr?“

Marlow verschränkt die Arme: „Erzähl uns doch ein wenig davon. Beschreibe mir, wie deine Gabe genau funktioniert. Vor allem wie du sie einsetzen kannst, würde mich brennend interessieren.“ Er stellt sich eindeutig dumm. Schließlich weiß er über diese Sache mindestens genauso viel wie ich. Marlow will auf etwas Bestimmtes hinaus und ich kann mir schon denken, worauf.

Erneut antworte ich kühl: „Ich kann das Unterbewusstsein auf verschiedene Weisen kontrollieren. Das kann ich bei mir selbst und auch bei anderen anwenden.“ Offensichtlich wartet er auf eine genauere Ausführung. Also setze ich fort. „Es ist mir möglich, meine Seele für kurze Zeit von meinem Körper zu lösen. Außerdem kann ich in die Träume anderer eindringen. Beides dient hauptsächlich dazu, um an nützliche Informationen zu gelangen oder Einblick in die Gedanken und Gefühle anderer zu bekommen.“

„Klingt echt nützlich, wenn ihr mich fragt.“ Jaden hat plötzlich ein hämisches Grinsen im Gesicht. „Denkt ihr dasselbe, was ich denke? Mit Jessicas Fähigkeit haben wir endlich die Lösung unseres Problems gefunden.“

Mara schüttelt den Kopf: „Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.“

Als Jaden seine Idee näher ausführen will, kommt ihm Nathan zuvor: „Es ist doch völlig offensichtlich, woran er denkt. Seit Wochen sind wir auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, um die übrigen Amulette zu finden. Bisher waren wir erfolglos, aber das könnte sich nun ändern.“

Marlow ergreift wieder das Wort: „Akeylas Fähigkeit ist mittlerweile nutzlos für uns geworden.“ Sie blickt beschämt zu Boden. „Das andere Rudel ist schlau genug, um die Amulette versteckt zu halten. Der Lichtwolf trägt sie bei sich und hat sich bisher nicht mehr in einen Menschen verwandelt, was wiederum bedeutet, dass sich unsere Ziele in der Raum-Zeit-Lücke befinden.“

Ich führe seinen Gedanken zu Ende: „Was heißt, dass Akeyla nicht mehr in der Lage ist, sie zu orten.“

Nickend erklärt Ian weiter: „Für unser Vorhaben, die Herren der Finsternis zu befreien, brauchen wir leider alle Amulette. Sie müssen zur selben Zeit am selben Ort sein, am Schattenberg. Dort wurden unsere Vorfahren einst in die Steine der Amulette gesperrt und nur dort können sie auch wieder aus ihren Gefängnissen ausbrechen.“

„Und da kommst du ins Spiel.“ Marlows Augen funkeln regelrecht. „Du wirst dich in die Gedanken deiner früheren Kameraden einschleichen und ihren Aufenthaltsort in Erfahrung bringen. Dann statten wir ihnen einen Besuch ab und bringen die restlichen Amulette in unseren Besitz.“

Plötzlich lacht Mara laut auf: „Das ist brillant! Ich kann es kaum erwarten, diesen miesen Nervensägen endlich zu geben, was sie verdienen! Den Tod!“ Ich erstarre. Ein grausames Bild spielt sich vor meinem inneren Auge ab. Pures Entsetzen überkommt mich. Ohne jegliche Gefühlsregung starre ich ins Leere.

„Was ist denn, Jessica?“ Marlow sieht mich skeptisch an. „Diese Aufgabe wird doch wohl hoffentlich kein Problem für dich darstellen?“

Es ist mir nicht möglich, einen vollständigen Satz zu formulieren: „Ich weiß nicht, ob...“ Ich stocke. „Es kann sein, dass ich…“ Alle Augen sind auf mich gerichtet. Völlig sprachlos schaue ich einen nach dem anderen an. Sie warten auf eine Antwort. Lediglich Nathan wirkt zutiefst besorgt und deutet mit einer unauffälligen Handbewegung an, dass ich endlich etwas sagen soll.

Nun ist Marlows Geduld zu Ende: „Vergiss nicht, auf welcher Seite du stehst! Du hast dich für die Schatten entschieden! Jeder, der nicht zu uns gehört, ist ein Feind und wir zeigen unseren Feinden gegenüber keine Gnade!“

Augenblicklich finde ich meine Konzentration wieder und antworte Marlow mit ernstem, aber gleichzeitig bedauerndem Tonfall: „Es tut mir aufrichtig leid, aber es ist mir nicht möglich, in die Gedanken meines früheren Rudels einzudringen.“

Mit schriller Stimme platzt Mara heraus: „Wieso nicht? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Erklär uns das!“

Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen: „Den genauen Grund kenne ich selbst nicht. Meine Vermutung ist, dass Jakes Anwesenheit meine Fähigkeit blockiert. Er ist ein Lichtwolf und scheint das gesamte Rudel vor meinem Eindringen in deren Unterbewusstsein zu schützen. Ich habe es bereits mehrmals versucht und es war bisher immer nur dasselbe. Vor mir erscheint ein weißes Licht, das mich blendet. So sehr ich mich auch anstrenge, da komme ich nicht durch. Es ist unmöglich, eine Verbindung herzustellen.“

Sie schreit noch lauter: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Noch immer schauen alle nur mich an. Ich bemühe mich, so gelassen und ernst wie möglich zu wirken. Sie dürfen nicht merken, dass alles, was ich eben gesagt habe, eine einzige Lüge war.

Ian schüttelt enttäuscht den Kopf: „Das ist äußerst bedauerlich. Jetzt sind wir also nicht schlauer als zuvor. So kommen wir nicht weiter.“ Ich weiß nicht, warum ich gelogen habe. Mich hat plötzlich eine solche Panik gepackt, dass mir gar nichts anderes in den Sinn kam. Für einen kurzen Moment dachte ich nur daran, Jake, Chris, Rachel und Logan schützen zu müssen. War das ein Fehler? Warum habe ich das getan? Sie sind doch gar nicht mehr meine Freunde, im Gegenteil!

„Wartet noch einen Moment.“ Meine Aufmerksamkeit gilt nun wieder Marlow. „Nimm das bitte nicht persönlich, Jessica, aber du bist noch nicht allzu lange im Rudel. Es ist nur natürlich, dass ich von deiner Loyalität bisher nicht völlig überzeugt werden konnte.“ Mir schwant Übles.

Jaden scheint wieder sofort gemerkt zu haben, was Marlow vorhat: „Akeylas Gabe ist im Moment zwar völlig nutzlos, aber das gilt nicht für Nathan.“ Und wieder ist da dieses hämische Grinsen. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie konnte ich das nur vergessen?

Und schon erteilt Marlow den Befehl: „Los, Nathan! Du hast es doch gehört!“

Völlig überrascht zuckt er zusammen, fängt sich aber gleich wieder: „Natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Ohne zu zögern tritt er einen Schritt vor und steht mir gegenüber. Hilflos sehe ich ihn an, er fixiert nur meine Augen. Völlig konzentriert starrt er mich an.

Als dies eine Weile dauert, fragt Akeyla nach: „Alles in Ordnung, Nathan? Du brauchst doch sonst nicht so lange.“

„Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.“ Augenblicklich entspannt er sich. Bei mir hingegen ist nun jeder Muskel bis zum Zerreißen angespannt. Nathan sieht mir noch immer in die Augen, als er plötzlich zu lächeln beginnt. „Sie sagt die Wahrheit, ohne Zweifel.“ Wie war das? Habe ich mich verhört?

Auch Marlow kann es nicht glauben: „Bist du dir da völlig sicher? Überprüfe das besser!“ Er hat sich wohl geirrt. Mit Sicherheit, er hat sich getäuscht.

Komplett überzeugt wendet sich Nathan an seinen Anführer: „Glaub mir, das habe ich bereits. Sie hat nicht gelogen, ich versichere es dir. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.“ Unmöglich. Dieser Blick. Nun bin ich mir völlig sicher. Nathan weiß, dass ich gelogen habe. Er nimmt mich in Schutz.

Gespannt warten wir alle auf Marlows Reaktion, der überraschenderweise gelassen bleibt: „Wenn das so ist. In diesem Fall können wir leider nichts ändern. Wir werden auf eigene Faust nach den Wölfen suchen müssen.“

Plötzlich mischt sich Mara ein: „Moment mal, meinst du das ernst? Du bist doch sonst nicht so schnell überzeugt!“ Ich bin ehrlich gesagt auch etwas skeptisch. Wieso um alles in der Welt kommen von ihm keine Widerworte mehr?

Erneut folgt eine kühle Antwort: „Ganz einfach. Nathan kennt die Regeln unseres Rudels mindestens genauso gut, wie alle anderen hier. Er weiß, was ihm blüht, wenn er mich tatsächlich anlügen sollte.“ Mit einem feindseligen Grinsen im Gesicht wendet er sich an Nathan. „Nicht wahr, mein Freund?“

Mit gesenktem Kopf stimmt er ihm zu: „Ja, das weiß ich nur allzu gut.“ Seine Stimme ist leise und verletzlich. Es folgt kein provozierender Spruch, wie man es eigentlich von ihm erwarten würde, im Gegenteil. Er dreht sich um. „Kann ich jetzt gehen? Es gibt wohl nichts mehr zu besprechen.“ In seinem Stolz verletzt, trottet er davon.

Akeyla will ihm gerade nachgehen, als Marlow sie aufhält: „Immer langsam, ich brauche dich hier. Gemeinsam mit Jaden wirst du mir helfen, einen Plan zur Suche des anderen Rudels aufzustellen. Wir brauchen deinen Orientierungssinn und auch die Orte, an denen du die Amulette das letzte Mal gespürt hast.“ Hilflos sieht sie zuerst Marlow, dann wieder Nathan an.

Ich trete näher an sie heran und versuche, sie aufzumuntern: „Keine Sorge, ich kümmere mich um ihn.“ Sie lächelt dankbar und nickt. Dann entferne ich mich von der Gruppe und folge Nathan, der bereits außer Sichtweite ist, in den Wald.


Wo kann er nur hingegangen sein? Ich bin weit gelaufen und die Spur führt immer weiter. Hoffentlich habe ich ihn bald eingeholt. Mir geht es nicht nur darum, dass ich Akeyla versprochen habe, nach ihm zu sehen, sondern eher um meine eigenen Gründe. Ich will Antworten.

„Ich wusste, dass du mir folgen würdest.“ Endlich, da vorne ist er. Nathan sitzt mit dem Rücken zu mir auf einem großen Baumstamm und macht keine Anstalten, sich umzudrehen. „Setz dich. Es gibt bestimmt so einiges, das du wissen möchtest.“

Wortlos setze ich mich neben ihn. Nathan sieht mich nicht an. Er hat den Blick starr geradeaus gerichtet. Ehrlich gesagt kann ich ihm das nicht verübeln, denn das Bild, das sich vor uns beiden auftut, ist wunderschön. Wir befinden uns am höchsten Punkt einer Klippe und haben die gesamte Landschaft im Überblick. Das Waldgebiet ist gigantisch. Man kann kilometerweit sehen und dennoch reicht es bis zum Horizont. Die Nacht ist sternenklar und der Mond leuchtet hell vom Himmel herab. Lediglich das Zirpen der Grillen ist zu hören.

Nach einer Weile breche ich die Stille: „Warum hast du das getan, Nathan? Du hast mich in Schutz genommen und deinen Anführer angelogen. Dadurch hast du dich selbst in Gefahr gebracht. Das macht keinen Sinn.“

Schulterzuckend und mich noch immer nicht ansehend antwortet er: „Wieso sollte das keinen Sinn machen? Marlow mag zwar mein Anführer sein, aber dennoch liegt die Entscheidung, ob ich lüge oder nicht, nur bei mir. Ich kann es ohnehin nicht ausstehen, immer nach seiner Pfeife tanzen zu müssen.“

Das reicht mir ganz und gar nicht: „Soll das alles gewesen sein? Komm schon, wir beide wissen genau, dass da noch mehr dahintersteckt.“

Endlich sieht er mir in die Augen: „Die Wahrheit? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, ob du gelogen hast oder nicht.“ Ein verwirrter Blick meinerseits folgt. „Glaub mir, deine Gefühle sind mir völlig unbekannt, waren sie schon immer.“

Sofort frage ich weiter nach: „Was? Moment mal, du meinst also, dass du nicht spüren kannst, was in mir vorgeht? Aber wieso? Das ist doch deine besondere Fähigkeit, oder etwa nicht?“

Nathan lacht bitter: „Eigentlich schon. Es funktioniert auch bei allen anderen einwandfrei, nur bei dir nicht.“ Schockiert und neugierig zugleich warte ich auf eine genauere Ausführung seiner Worte. „Meine Theorie ist, dass du einfach zu mächtig bist und deine eigene Fähigkeit als Schutz dient. Immerhin hast du große Kontrolle über dein Unterbewusstsein und das von anderen. Somit ist es mir nahezu unmöglich, bei dir etwas zu erkennen.“ Das klingt schon plausibel. Meine Fähigkeit ist der von Nathan bis zu einem gewissen Grad sehr ähnlich. Wir beide können in die Gedanken anderer eindringen, nur auf unterschiedliche Weise. Vielleicht bin ich einfach stärker als er. Schließlich kann ich meine Gabe auf ihn ohne Probleme anwenden.

„Da hast du schon recht. Das heißt dann also, dass du über mich und meine Gedanken keinerlei Informationen hast.“ Er nickt auf meine Bemerkung hin. Plötzlich fällt mir im selben Moment etwas ein. „Warte, das heißt ja dann auch, dass du schon früher gelogen hast. Im Containerschiff zum Beispiel. Du hast den anderen versichert, dass meine Absichten stimmen und ich mich den Schattenwölfen aus gutem Grund anschließen möchte.“

Mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht erinnert er sich zurück: „Ach ja, stimmt. Ich hatte keine Ahnung, was du gedacht hast. Du hättest uns genauso gut in den Rücken fallen können.“ Er beginnt plötzlich zu lachen. Ich stehe nur ungläubig neben ihm und habe keinerlei Grund, mich zu amüsieren. „Na, wieso denn so ernst?“

Ich bin völlig verwirrt: „Das alles ist doch völlig verrückt! Nun gut, du hast mir nun zumindest gesagt, dass du eigentlich gar nichts über mich weißt. Leider macht das die ganze Sache nur noch komplizierter!“

„Wieso denn das?“ Nun ist auch ihm das Lachen vergangen. Dennoch stellt er sich meiner Meinung nach völlig dumm.

Also erkläre ich es ihm noch einmal: „Du hast mich vor den anderen in Schutz genommen und das sogar zweimal! Warum um Himmels Willen tust du das, wenn du mich noch nicht einmal richtig kennst?“

Es folgt eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet habe: „Bei dir brauche ich nun wirklich keine spezielle Fähigkeit, um zu erkennen, dass man dir vertrauen kann.“ Erneut fehlen mir die Worte und ich starre ihn sprachlos an. „In dir steckt vieles, Jessica. Da bin ich mir absolut sicher. Du bist etwas Besonderes. Und schon allein aus diesem Grund will ich dich weiterhin im Rudel haben. Ich will mehr über dich erfahren.“ Wenigstens macht sein Verhalten nun endlich Sinn nach dieser Erklärung.

Trotzdem schüttle ich den Kopf: „Du bist ein komischer Kerl, Nathan. Das war mir bereits nach unserer ersten Begegnung klar. Aus dir werde ich beim besten Willen nicht schlau.“

Lächelnd erwidert er: „Glaub mir, bei dir geht es mir nicht anders. Aus diesem Grund wusste ich auch anfangs nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten sollte. Normalerweise ist es sehr einfach für mich, andere einzuschätzen. Durch meine Fähigkeit kann ich immer bis ans äußerste gehen. Bei Marlow zum Beispiel merke ich genau, ob er nur wütend oder kurz vorm Durchdrehen ist. Akeylas schwesterliche Liebe zu mir, Maras Feindseligkeit, ich erkenne all dies auf einen Blick.“

Ich unterbreche ihn kurz: „Darf ich dich etwas fragen? Es gibt da eine Sache, die mich schon länger interessiert.“ Er sieht mich neugierig an und nickt dann. „Was für eine Beziehung hast du eigentlich zu Akeyla? Ihr beiden steht euch offensichtlich sehr nahe. Wie kommt das?“

Er hat plötzlich ein stolzes Lächeln im Gesicht: „Wie bereits gesagt, sie ist wie eine kleine Schwester für mich.“ Dann wird seine Miene ernst. „Ich lernte schon sehr früh, mich allein zu versorgen. Meine Eltern wurden von anderen Wölfen umgebracht. Ich erinnere mich kaum daran, genauso wenig, wie ich mich an sie erinnere. Als ich allein durch die Wildnis zog, kam ich eines Tages zu einer Kampfstätte. Überall waren tote Wölfe. Erst später erfuhr ich, dass es Schattenwölfe waren, die Opfer eines Überfalls wurden.“

Betroffen schüttle ich den Kopf: „Das ist schrecklich. Es muss schlimm gewesen sein, schon in jungen Jahren so viele grausame Dinge erlebt zu haben.“

Nickend setzt er fort: „Ja, das war es. Dennoch hatte meine Entdeckung auch ihre guten Seiten. Ich hörte ein jämmerliches Wimmern und Winseln zwischen all den toten Wölfen. Schließlich fand ich sie dann. Eine kleine Wölfin, die sich völlig verängstigt an den toten Körper ihrer Mutter schmiegte. Es dauerte lange, bis ich sie davon überzeugen konnte, von ihr abzulassen. Letzten Endes kam sie mit mir. Ich war von diesem Tag an ihre neue Familie.“ Ohne noch etwas zu sagen blickt er in den Sternenhimmel.

Dann frage ich weiter nach: „Und was ist dann passiert? Wie seid ihr in das Rudel von Marlow gekommen.“

Nathan sieht wieder zu mir: „Wir zogen umher und wurden bald größer und stärker. Dennoch wurden wir immer wieder angegriffen und ständig verfolgt. Mir wurde bald klar, dass ich Akeyla nicht ewig beschützen konnte. Ich brauchte eine Absicherung und da trafen wir beide auf Marlow und die anderen. Sie erklärten uns, dass sie bereits nach uns gesucht hatten und erzählten uns von ihrem Vorhaben, alle Schattenwölfe zu finden. Obwohl mir ihre Regeln, was die Loyalität und den unbedingten Gehorsam Marlow gegenüber angeht, nicht gefielen, stimmte ich dennoch zu. Akeyla zuliebe gab ich meine Freiheit auf. Tja, und nun bin ich hier.“

Nun bin ich diejenige, die in den Himmel blickt: „Das Vorhaben, noch weitere unserer Art zu finden, ist wohl missglückt, nicht wahr?“

Es folgt die traurige Antwort: „Leider ja. Obwohl es noch ein paar gab, andere fanden sie immer vor uns und machten mit ihnen kurzen Prozess. Unser Hass wurde somit über die Jahre hinweg immer mehr geschürt. Wir nahmen Rache an vielen, aber das war uns bald nicht mehr genug.“

Noch immer beobachte ich Mond und Sterne: „Die Amulette sind eindeutig die beste Lösung, um all diese Probleme aus der Welt zu schaffen. Unsere Rasse hätte ein besseres Leben, wenn unser Vorhaben gelingt. Die Ungerechtigkeit wäre beseitigt.“

„Ich halte trotzdem nicht allzu viel von der Sache.“ Überrascht über diese Bemerkung blicke ich zu Nathan. „Versteh mich nicht falsch, mir ist es ziemlich egal, ob die Welt nun tatsächlich in Dunkelheit gehüllt wird oder ob sie so bleibt, wie sie ist. Ich führe lediglich die Befehle von Marlow aus und bin meinem Rudel treu, vor allem Akeyla. Sie ist der einzig wahre Grund, warum ich all das hier tue.“

Mit großem Respekt für diese Entscheidung setze ich fort: „Dein einziges Ziel ist es, deine Familie zu beschützen. Dafür würdest du alles geben. Das ist bewundernswert, Nathan. Du kannst stolz auf dich sein.“

„Vielen Dank.“ Man sieht ihm an, dass er gerührt ist. Ich vermute, dass ihm das bisher noch niemand gesagt hat, obwohl er diese Worte mehr als verdient. Plötzlich steht er auf. „Wir sollten zu den anderen zurückgehen. Sie denken sonst noch, dass wir verschwunden sind, nach der Aktion von vorhin.“ Er reicht mir die Hand.

Lachend nehme ich sie und er hilft mir auf: „Ja, da könntest du recht haben. Lass uns umkehren.“


Die Gruppe ist sehr schweigsam, seitdem wir wieder bei ihnen angekommen sind. Marlow, Akeyla und Jaden scheinen noch immer an einem Plan zur Beschaffung der restlichen Amulette zu feilen. Ian hat sich in der Zwischenzeit hingelegt und schläft. Auch Mara liegt etwas abseits von Nathan und mir. Sie scheint sich zu langweilen und stochert mit ihren Klauen in einem morschen Ast herum.

Da auch Nathan schon länger nichts mehr gesagt hat, ergreife ich das Wort: „Wie lange sie wohl noch brauchen? Bin ja mal gespannt, was ihnen so einfällt.“

Nathan antwortet schulterzuckend: „Ich vermute mal, dass ihre Vorschläge nicht allzu kreativ sein werden. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich eine Lösung für das Problem gefunden haben.“

„Hoffentlich hast du damit nicht recht.“ Auch Mara beteiligt sich nun am Gespräch. „Ich halte dieses ewige Nichtstun keinen Tag länger aus.“

Da gesellt sich auch Ian wieder zu uns: „Besser als die Hektik, die wir in den letzten Wochen hatten, ist es allemal. Zumindest brauchen wir uns jetzt keineswegs mehr zu beeilen.“

Ich frage nach: „Wie meinst du das?“

Er antwortet gelassen: „Na ja, überleg doch mal. Deine kleinen Freunde von damals haben bestimmt auch keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll. Sie werden uns nicht mehr in die Quere kommen.“

Nathan stimmt ihm nickend zu: „Richtig. Sie haben schließlich nicht alle Amulette, somit können sie sie nicht zerstören. Der Geist würde in ein anderes Objekt entfliehen, welches Akeyla mit etwas Mühe bestimmt wieder ausmachen könnte. Somit bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie verstecken sich vor uns und gehen uns für alle Zeit aus dem Weg oder sie suchen eine Auseinandersetzung, um die anderen Amulette zu bekommen.“

Mara lacht laut auf: „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass diese Feiglinge zu uns kommen würden? Niemals!“ Auch wenn ich es vielleicht mit anderen Worten ausgedrückt hätte, sie hat vollkommen recht. Jake würde das Risiko nie eingehen.

„Und genau deshalb werden wir uns auf die Suche nach ihnen machen.“ Überrascht wandern die Blicke von uns allen zu Marlow, der wie aus dem Nichts mit Akeyla und Jaden vor uns auftaucht.

Nun kommt auch Mara näher: „Habt ihr endlich eine Lösung gefunden? Wie geht es nun weiter?“

Die Antwort auf diese Frage übernimmt Jaden: „Ja, das haben wir. Zumindest mehr oder weniger. Wir haben einstimmig beschlossen, dass wir uns trennen werden.“ Sofort horchen alle auf. „Der eine Teil unserer Gruppe wird sich auf den Weg zum Berg machen und die Amulette mit sich nehmen. Die übrigen machen sich auf die Suche nach dem Lichtwolf und seinen Gefährten.“

Bevor er den Gedanken noch weiter ausführen kann, unterbricht ihn Nathan: „Haltet ihr das wirklich für eine gute Idee? Ich verstehe ja, dass ihr endlich weiterkommen wollt, aber wir waren bisher noch nie voneinander getrennt. Das könnte ein großes Risiko für uns bedeuten.“

Akeyla schüttelt den Kopf: „Die Amulette dabeizuhaben, wenn wir auf das andere Rudel treffen, ist mindestens genauso riskant.“

Nun mische ich mich ein: „Unterschätzt sie nicht. Ich war lange genug mit Jake, Chris, Rachel und Logan unterwegs, um zu wissen, dass sie sehr stark sind. Allein mögen sie vielleicht nicht so zäh sein, wie wir Schattenwölfe, aber ihr Teamwork ändert das. Unser größter Vorteil ist unsere Überzahl. Wollt ihr diesen einfach so aufgeben?“

Plötzlich macht sich Marlow groß: „Es ist nicht nötig, noch länger darüber zu reden. Die Entscheidung steht fest. Wir haben die Vor- und Nachteile ausführlich besprochen und sind zu diesem Entschluss gekommen. Keine Widerrede mehr.“ Für gewöhnlich würde ich mich nicht so einfach abwimmeln lassen, aber bei Marlow ist das etwas anderes. Sowohl sein Tonfall als auch die Mimik und Gestik von ihm zeigen, dass er es ernst meint und seine Geduld sollte man auf keinen Fall auf die Probe stellen.

Somit stimmt auch Ian zu: „Na gut, dann steht es fest. Wie wollt ihr die Gruppen einteilen? Darüber habt ihr euch doch bestimmt auch schon Gedanken gemacht.“

Diesmal antwortet wieder Jaden: „Wie Jessica bereits gesagt hat, sollten wir die Wölfe nicht unterschätzen. Deshalb wird sich der Großteil der Gruppe an der Suche nach ihnen beteiligen. Also gehen nur drei zum Berg, der Rest wird für den Kampf gebraucht.“

Sofort folgt eine naheliegende Frage meinerseits: „Und wer wird kämpfen?“ Nun wird es interessant. Ich bin gespannt, ob sie mich meinen ehemaligen Gefährten gegenüberstellen wollen. Ehrlich gesagt könnte ich gut darauf verzichten.

„Die Einteilung war nicht sonderlich schwer zu treffen.“ Marlow klingt nicht so, als ob er irgendwelche Einwände bezüglich dieses Beschlusses tolerieren würde. „Ich selbst werde die Führung des Suchtrupps übernehmen. Auch Jaden muss unbedingt dabei sein, damit die Planung stimmt. Ian, du bist der stärkste von uns und ich zähle auf dich bei einer direkten Auseinandersetzung. Und zu guter Letzt darf natürlich auch Mara ihre Kampfeslust ausleben.“ Klingt alles sehr plausibel. Die Betroffenen scheinen zufrieden mit Marlows Wahl zu sein. Besonders Mara ist die Vorfreude ins Gesicht geschrieben.

Ian hat aber dennoch etwas einzuwenden: „Was ist mit Nathan? Denkst du nicht, dass wir ihn gebrauchen könnten? Und damit meine ich nicht nur wegen seiner Fähigkeit, sondern auch wegen des Kampfes. Durch seine Geschicklichkeit hat er auch mich oft genug besiegt.“

„Das haben wir bedacht.“ Akeyla grinst Nathan kurz an. „Ich war diejenige, die ihn unbedingt in dieser Gruppe haben wollte. Er ist stark, das wissen wir. Und genau aus diesem Grund muss er bei den Amuletten bleiben. Wir müssen davon ausgehen, dass uns auf dem Weg zum Berg alle möglichen Hindernisse begegnen könnten. Für solche Fälle brauche ich einen geschickten Kämpfer bei mir.“

Dann wendet sich Marlow an mich: „Deshalb erwarte ich auch von dir, dass du nicht von Akeylas Seite weichst, Jessica. Ich weiß, welche Kräfte in dir schlummern. Diese wirst du vielleicht nutzen müssen. Kann ich auf dich zählen?“ Ohne zu zögern stimme ich zu. Mich überrascht es sehr, dass mir Marlow eine so wichtige Aufgabe anvertraut. „Außerdem sind wir uns alle einig gewesen, dass die Begegnung mit deinen ehemaligen Freunden noch zu früh ist. Wir müssen uns bei einem Kampf voll und ganz auf dich verlassen können. Das ist eine wichtige Voraussetzung.“

Ich nicke: „Natürlich.“ Das klang schon eher nach Marlow. Er vertraut mir noch immer nicht richtig. Speziell nach den heutigen Ereignissen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sich Nathan nicht für mich stark gemacht hätte.

„Hier, Akeyla.“ Marlow holt die Amulette aus seinen Taschen. „Pass gut auf sie auf. Am besten du bewegst dich nur in Wolfsgestalt voran. Sicher ist sicher.“

Ian gähnt: „Gut, dann ist nun alles geklärt. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir uns trennen. Lasst uns noch ein wenig Kraft tanken, bis es soweit ist.“ Dieser Vorschlag trifft auf große Bestätigung von allen. Man sieht jedem einzelnen an, dass die letzten Tage auf dem Schiff an den Kräften gezehrt haben.

So verwandeln wir uns also alle in Wolfsgestalt und jeder sucht sich einen Schlafplatz in der näheren Umgebung. Ich lege mich auf den kühlen Waldboden, rolle mich ein und vergrabe meine Schnauze im Fell. Es dauert nicht lange, bis mir die Augen zufallen und ich langsam weggleite.


„Aufwachen! Wir werden angegriffen!“ Nathans Worte reißen mich aus dem Schlaf. Er beißt mir ins Nackenfell und reißt mich mit einem Ruck hoch. „Lauf!“

„Wieso denn? Was ist geschehen?“ Ich kann mich noch nicht einmal richtig auf den Beinen halten. „Wo sind die anderen?“

Panisch rempelt er mich an: „Es ist ein Überfall! Sie sind bereits gefangen! Wenn wir uns nicht beeilen, geht es uns genauso! Also lauf endlich los!“

Nun bin auch ich in Aufruhr versetzt: „Was? Wir müssen ihnen doch helfen, Nathan!“

Erneut versucht er, mich durch einen heftigen Stoß zum Gehen zu bewegen: „Das bringt nichts! Sie sind bereits verloren! Keine Zeit, um weitere Fragen zu stellen!“ Plötzlich wandert sein Blick an mir vorbei und er fixiert etwas hinter mir. „Vorsicht!“ Mit weit aufgerissenen Augen drückt er mich zur Seite. Ich falle und sehe nur noch aus dem Augenwinkel, wie Nathan von irgendetwas direkt in die Brust getroffen wird. Sein schwerer Wolfskörper sinkt zu Boden.

„Oh nein, Nathan!“ Ich will gerade zu ihm eilen, als ich ein Stechen in meinem rechten Vorderlauf spüre. Das letzte, was ich sehe, ist ein kleiner Pfeil, der in mir steckt. Dann verliere ich binnen Sekunden das Bewusstsein.


„Sie scheint aufzuwachen.“ Wo bin ich? Mein Kopf brennt wie Feuer. „Jessica, alles in Ordnung? Mach die Augen auf, wenn du mich hörst.“ Das klang nach Akeyla. Es fällt mir zwar schwer, aber ich öffne meine Augen.

Verwirrt frage ich nach: „Was ist geschehen? Mir tut alles weh.“ Alles um mich ist noch verschwommen. Es ist mir nicht möglich auszumachen, wo ich mich befinde. Um mich stehen nur sechs schwarze Silhouetten.

Leise ertönt wieder Akeylas Stimme: „Wir sind angegriffen worden. Das war vor ungefähr zwei Tagen. Sie haben uns verschleppt.“ Endlich bekomme ich wieder die Kontrolle über meine Sinne. Ich kann etwas erkennen. Um mich steht das gesamte Rudel. Alle haben ihre menschliche Gestalt angenommen, das gilt auch für mich. Sie sehen mitgenommen aus. Langsam richte ich mich auf, was sich als ziemliche Herausforderung entpuppt.

Als ich unsicher auf den Beinen stehe, frage ich weiter: „Wer war das? Und was haben sie mit uns gemacht?“

„Diese Feiglinge haben uns betäubt.“ Jaden knurrt voller Gram. „Wer auch immer das war, sie sind sehr professionell. Man benötigt ein starkes Gift, um uns außer Gefecht setzen zu können. Mich selbst hat der Pfeil nur gestreift und ich war bereits für mehrere Stunden bewusstlos. Ihr alle seid gerade erst aufgewacht.“

Nathan schüttelt ungläubig den Kopf: „Zwei volle Tage. Was sind das bloß für Leute gewesen?“

Marlow ballt die Hände zu Fäusten und zittert vor Wut: „Das waren Menschen, ohne Zweifel. Hier überall stinkt es nach dieser niederträchtigen Rasse. Wartet nur, wenn ich hier wieder rauskomme. Es wird mir eine Freude sein, sie umzubringen.“

„Aber wie zum Teufel konnten sie uns finden? Und woher wussten sie überhaupt von unserer Existenz?“ Selbst der starke Ian ist völlig blass. „Sie müssen das alles doch geplant haben, sonst hätten sie uns nicht so überraschen können.“

Augenblicklich kommt mir ein Gedanke, den ich sofort ausspreche: „Wolfsjäger.“ Die Aufmerksamkeit aller liegt nun auf mir. „Ich bin mir sicher.“

Neugierig fragt Mara nach: „Wie kannst du das wissen?“

„Leider hatte ich vor einiger Zeit selbst eine unangenehme Begegnung mit dieser Sorte Menschen. Wir können froh sein, dass sie uns nur betäubt haben. Bei der letzten Auseinandersetzung mit ihnen kam ich fast ums Leben. Sie sind geschickt und wissen wohl mehr über uns, als wir glauben.“

Akeyla fragt ungläubig nach: „Du sagst also, dass es Menschen gibt, die gezielt Jagd auf Wölfe machen? Davon wusste ich gar nichts.“

„Mir ist völlig egal, wer sie sind oder was sie vorhaben!“ Mara stampft wütend auf den Boden. „Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich ihnen den Kopf abreiße, wenn ich sie in die Finger bekomme!“

„Was noch viel wichtiger ist, wir müssen die Amulette zurückbekommen.“ Marlows Blick ist finsterer als je zuvor. „Sie haben sie uns abgenommen, als wir bewusstlos waren. Zuerst holen wir uns zurück, was uns gehört, danach werden sie alle sterben!“ Der Beschluss trifft auf große Bestätigung im ganzen Rudel.

Jaden legt seine Hand auf Marlows Schulter: „Damit wir das tun können, müssen wir aber erst hier rauskommen und das könnte sich als schwierig herausstellen.“ Diese Bemerkung bringt mich dazu, mich umzusehen. Tatsächlich, Jaden hat recht. Wir befinden uns in einem leeren Raum, aus dem lediglich eine Tür führt und diese ist geschlossen.

Mit verschränkten Armen mustert auch Nathan die Umgebung: „Ich vermute mal, dass die Tür nicht einfach zu knacken ist, oder?“ Jaden nickt. „Wir haben es hier wohl tatsächlich mit Profis zu tun.“

„Und was ist damit?“ Ian deutet nach rechts. „Das sieht doch schon eher vielversprechend aus, oder etwa nicht?“ Neben uns befindet sich ein riesiger Spiegel, der sich über die gesamte rechte Wand erstreckt.

Ich gehe näher ran und blicke hinein: „Glaubst du, dass sich dahinter ein Raum befindet? Das würde dann wohl bedeuten, dass sie uns beobachten.“ So etwas habe ich schon oft genug in Filmen gesehen. Dieser Raum gleicht einem Verhörzimmer. „Es würde mich brennend interessieren, wer hinter all dem steckt.“

„Kein Problem, das haben wir gleich.“ Ohne weitere Worte geht Marlow direkt auf den Spiegel zu. Er ballt seine rechte Hand zu einer Faust und schlägt fest gegen das Glas. Es rührt sich keinen Millimeter. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Erneut holt er aus. Diesmal stelle ich mich aber zwischen ihn und die Spiegelwand. Sein entsetzter und zugleich wütender Blick trifft mich.

Kopfschüttelnd schaue ich ihm in die Augen: „Das bringt nichts. Diese Menschen werden nicht so dumm sein und nur eine normale Glasscheibe zwischen sich selbst und sieben Schattenwölfe bringen. Das ist mit Sicherheit Panzerglas.“

Knurrend tritt Marlow ein paar Schritte zurück: „Na gut, wenn du in Bezug auf die Menschen alles besser weißt, dann verrate mir eines. Wieso zum Teufel haben sie uns gefangen genommen und uns nicht gleich umgebracht, wenn sie wissen, wie gefährlich wir sind?“ Leider kenne ich den Grund nur allzu gut. Es fällt mir nur schwer, darüber zu sprechen. Marlow wird ungeduldig. „Hast du etwa keine Antwort darauf?“

Ich senke den Kopf: „Leider doch. Als wir auf der Suche nach dem Portal waren, das uns zum letzten Amulett bringen sollte, habe ich eine schreckliche Entdeckung gemacht, die das alles hier erklären könnte.“

Neugierig tritt Mara näher an mich heran: „Wovon sprichst du, Jessica? Raus mit der Sprache! Was hast du gesehen?“

„Ich fand eine Art Forschungseinrichtung.“ Vor meinem inneren Auge sehe ich die Bilder der blutverschmierten Zellen ganz genau. „Die Menschen haben dort Versuche an Wölfen durchgeführt. Sie nahmen, wie es scheint, keine Rücksicht auf deren Alter oder Herkunft. Für sie waren diese Wölfe alles nur wilde Tiere, die sie studieren wollten.“ Ich bekomme Gänsehaut.

Ian will noch mehr wissen: „Woher weißt du das? Das kann doch gar nicht sein!“

„Leider doch.“ Meine Hände beginnen zu zittern. „Sie haben sie gefoltert. Immer wieder. Jeden Tag. Die Aufzeichnungen waren schrecklich.“ Ich spüre, wie sich eine Dunkelheit in mir aufbaut.

„Jessica? Alles in Ordnung mit dir?“ Nathans Stimme höre ich kaum noch. In meinem Inneren stelle ich mir nur noch die Schreie der zahlreichen Opfer vor. Ich sehe sie alle vor mir. Die schrecklichen Bilder, die ich mir ausmale, werden immer schlimmer.

Die enorme Wut steigt in mir hoch und ich spüre, wie sich die schwarze Aura auf meinem Körper ausbreitet: „Wie kann man nur so grausam sein? Warum nur?“ Ich kneife die Augen fest zusammen. „Diese Monster!“ Mit einem Mal entlädt sich all der Hass und ich schlage fest gegen die Spiegelwand. Das Klirren des Glases lässt mich erschrecken und ich öffne die Augen. Genauso schnell, wie sie gekommen ist, verschwindet die schwarze Aura wieder.

Mara tritt mit entsetztem Blick zurück: „Das war unglaublich.“ Alle starren mich fassungslos an. Sogar Marlow fehlen die Worte.

Beschämt schüttle ich den Kopf: „Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Hin und wieder verliere ich einfach die Kontrolle. Das ist so…“

„Wunderbar.“ Überrascht über diese Bemerkung blicke ich zu Marlow. Sein Schrecken ist mit einem Mal in Begeisterung übergegangen. „In dir steckt noch viel mehr, als ich geglaubt habe. Du bist ein Meisterwerk unserer Rasse.“ Ich bin fassungslos. Bisher hatten alle immer nur Angst vor mir, wenn ich die Kontrolle verloren habe, aber hier wird das sogar anerkannt. All meine vorherigen Schwächen scheinen nun als Stärken gesehen zu werden.

Jaden hat ein Lächeln im Gesicht: „Nun haben sich unsere Probleme wohl von selbst gelöst.“ Er deutet auf die zerbrochene Spiegelwand, hinter der sich tatsächlich ein Raum befunden hat. Darin befinden sich verschiedene Geräte und, was noch viel wichtiger ist, eine offene Tür. „Die Menschen haben wohl im Eifer ihrer Flucht vergessen, die Tür zu verriegeln. Schwerer Fehler.“

Akeyla ändert plötzlich ihre Gestalt: „Na dann los! Wir müssen die Amulette zurückholen! Sie werden bestimmt nicht auf uns warten!“ Also tun wir es ihr gleich.

Laut lachend läuft Mara voraus: „Die werden sich wünschen, niemals geboren worden zu sein!“ Wir folgen ihr. Ich bilde das Schlusslicht. Mara scheint ihrem Instinkt zu folgen, als sie durch die vielen Gänge des Gebäudes läuft. „Ich kann ihre Angst förmlich riechen! Es wird nicht schwer sein, sie auszumachen!“ Grausamkeit scheint wohl Maras besonderes Talent zu sein. Leider weiß ich noch nicht recht, was ich davon halten soll. Will sie tatsächlich alle Menschen, die uns über den Weg laufen, töten? Das ist ein riesiges Firmengebäude. Vielleicht sind auch Unschuldige hier.

„Du darfst nicht zögern, Jessica.“ Nathan läuft plötzlich neben mir her und hat seine Stimme gesenkt. „Das ist deine Chance, um zu beweisen, dass du eine von den Schatten bist. Wenn du ihr Vertrauen gewinnen willst, darfst du kein Erbarmen zeigen. Also zögere nicht, auch wenn es wehtut.“ Ohne etwas dagegen einzuwenden, nicke ich. Nathan hat vollkommen recht. Mir bleibt keine andere Wahl.

„Da vorne sind sie!“ Ians Stimme lässt mich wieder nach vorne blicken. Wenige Meter vor uns verschwinden die letzten Menschen hinter einer Stahltür, die der aus dem Verhörzimmer gleicht.

Laut brüllend legt Marlow an Tempo zu: „Sie dürfen die Tür nicht schließen! Ian, hol sie dir!“ Sofort reagiert Ian und beschleunigt enorm. Im letzten Moment schleudert er seinen schweren Körper gegen die Tür, bevor diese einrastet. Nun haben die Menschen keine Chance mehr. Wie eine reißende Flut strömt das gesamte Rudel in den Raum und binnen Sekunden entsteht ein Blutbad.

Mara schnappt sich einen nach dem anderen, während die Leute schreiend in alle Richtungen fliehen. Auch die übrigen machen kurzen Prozess mit den Menschen. Sie machen keinen Unterschied, wen sie zu fassen bekommen. Manche versuchen, sich unter den vielen Schreibtischen zu verstecken, aber umsonst. Der große Büroraum sieht wie ein Schlachtfeld aus. Umgeworfene Möbel, herumfliegende Zettel, Blut und leblose Körper überall. Dazu kommen noch die Todesschreie der Opfer.

Ich selbst stehe nur da und bin völlig überfordert. Noch scheint keiner meiner Gefährten darauf aufmerksam geworden zu sein. Sie sind wohl alle viel zu sehr im Kampfesrausch. Hilflos schaue ich zu Nathan, der gerade einen jungen Mann vor sich liegen hat, welcher zitternd um sein Leben fleht. Vergeblich. Ein Schlag mit Nathans Pranke reicht, um ihm das Leben zu nehmen.

Mit blutverschmiertem Gesicht sieht Nathan zu mir: „Los jetzt! Denk einfach daran, was sie alles getan haben!“ Sein Befehl reißt mich aus meiner Starre und ich laufe los. Ich darf kein Mitleid zeigen. Es muss so sein.

Mit diesem Gedanken mache ich mein erstes Opfer aus. Innerhalb weniger Sekunden habe ich den älteren Mann eingeholt und stoße ihn um. Ich lasse ihm keine Zeit, sich zu wehren und schnappe nach seiner Gurgel. Ein Biss genügt und sein weißer Laborkittel färbt sich rot. Plötzlich höre ich ein ängstliches Wimmern unmittelbar neben mir. Unter einem Schreibtisch kauert eine junge Frau. Und erneut muss ich mir Nathans Anweisung ins Gedächtnis rufen. Kein Zögern. Also beiße ich in ihr Bein und ziehe sie aus ihrem Versteck hervor.

„Nein, bitte nicht!“ Tränenüberströmt liegt sie vor mir und macht keine Anstalten zu fliehen oder sich zu wehren. Die Frau fleht lediglich um ihr Leben. „Bitte, bitte nicht! Lass mich gehen!“ Ich blicke nur kurz in ihr völlig verängstigtes Gesicht, dann wende ich mich ab und jage meine Klauen tief in ihren Brustkorb. Erst als sie nicht mehr zuckt, sehe ich sie wieder an. Schockiert weiche ich zurück. Die Frau trägt keinen Laborkittel, sondern ein ganz normales Business-Outfit. Wie es scheint, hat sie einfach hier in dem Büro gearbeitet. Vielleicht wusste sie nicht einmal, was ein paar Räume weiter geschieht. Sie war jung, zu jung. Ich muss mich abwenden.

Plötzlich stupst mich jemand von der Seite an: „Wir müssen weiter. Akeyla hat die Amulette in einem anderen Raum ausgemacht. Komm mit.“ Es ist Nathan. Die anderen sind bereits weitergelaufen. Nun ist es völlig still. Ich kann mich nicht rühren. Noch immer entsetzt über meine Tat blicke ich erneut in das hübsche Gesicht der leblosen Frau. „Es wird leichter, glaub mir. Anfangs ist es immer schwer. Komm jetzt, wir müssen weiter.“ Nathan schiebt mich sanft von der Stelle, bis ich ihm dann schließlich folge. Wir laufen durch einen Gang und folgen der Schneise der Verwüstung.

„So viele Tote.“ Ich kann es noch immer nicht glauben. „Ob es das alles wirklich wert ist? Müssen so viele Menschen sterben, nur damit sieben Wölfe ihr Ziel erreichen? Kann man das rechtfertigen?“

Nathan scheint mir gar nicht richtig zuzuhören: „Denk einfach nicht mehr daran, Jessica. Wir müssen die anderen einholen und ihnen helfen, die Amulette zu finden. Anderenfalls wäre alles umsonst gewesen und der Tod dieser Menschen hätte nicht den geringsten Sinn gehabt.“ Wortlos läuft er voraus. Ich entgegne all dem nichts mehr und folge ihm.

„Er hat sie! Ganz sicher!“ Das ist Akeylas Stimme, die aus dem Raum am Ende des Gangs hallt. Nathan und ich rennen weiter und stürmen durch die offene Tür. Dann bleiben wir ruckartig stehen und erfassen die Lage. Hier scheint sich in unserer Abwesenheit einiges getan zu haben. Zwei tote Männer in schwarzen Anzügen liegen unmittelbar neben der Tür. Das war wohl das Sicherheitspersonal.

Plötzlich zischt uns Marlow an: „Wird auch Zeit, dass ihr kommt! Wo wart ihr so lange?“ Die Situation ist mehr als angespannt. Das gesamte Rudel steht im Halbkreis um einen älteren Mann, der sich zitternd an die Wand presst. In der rechten Hand hält er einen Revolver.

Ruhig gibt ihm Nathan eine Antwort: „Wir mussten noch ein paar von den Menschen erledigen. Ihr wart ehrlich gesagt nicht sehr gründlich.“ Und wieder lügt er, um mich in Schutz zu nehmen.

Plötzlich schreit uns der verängstigte Mann an: „Man wird euch ohnehin wieder jagen, wenn irgendjemand dieses Massaker sieht! Ihr werdet euch für eure Taten verantworten müssen, ihr Monster!“

Jaden wirkt amüsiert: „Ach, tatsächlich? So wie ich das sehe, werden wir keinerlei Probleme haben. Bis irgendjemand all das sieht, sind wir längst über alle Berge. Außerdem sind die Zeugen tot. Wer sollte also noch von unserer Existenz erfahren?“

Daraufhin wendet sich Marlow an Mara: „Geh und verwische die Spuren, Mara. Mach es wie immer, aber sei gründlich.“ Mit einem erfreuten Grinsen im Gesicht läuft Mara los. So planlos, wie ihr Vorgehen anfangs wirkte, ist es wohl doch nicht. Sie mögen zwar schnell die Kontrolle verlieren, wenn es um Wut oder Gewalt geht, aber über die Konsequenzen scheinen sie sich durchaus im Klaren zu sein.

„Wenn es irgendeine höhere Macht gibt, wird euch diese bestrafen, seid euch dessen sicher.“ Der Blick des Mannes könnte verachtender nicht sein.

Ian lacht laut: „Natürlich gibt es diese! Du stehst vor ihr! Und wenn wir erst wiederhaben, was uns gehört, wirst du noch eine viel größere Macht kennenlernen!“ Jaden rempelt Ian an und wirft ihm einen mahnenden Blick zu.

Dieser erkennt jedoch erst zu spät, dass er einen Fehler begangen hat. Der Mann holt bereits eines der Amulette aus der Tasche seines Anzugs: „Meinst du etwa die Amulette hier? Darum geht es euch also! Wenn das so ist, werde ich der Welt einen großen Gefallen tun!“

„Schnell, haltet ihn auf!“ Marlows Befehl kommt leider zu spät. Alles geht viel zu schnell. Ehe noch irgendjemand von uns reagieren kann, richtet der Mann den Revolver auf das Amulett der Trauer und drückt ab. Das uralte Relikt zerspringt in tausende Teile und wir alle stehen fassungslos vor den Scherben. „Tötet ihn! Sofort!“ Bevor er ein weiteres Amulett zerstören kann, springen Ian und Jaden nach vorne und werfen den Mann zu Boden. Keiner der beiden zögert. Sie zerfetzen ihn regelrecht. Ich muss mich abwenden.

Plötzlich kommt Mara in den Raum gestürmt: „Alles erledigt! Die Feuer sind gelegt! Wir müssen schnell raus hier, ehe uns der Rauch den Weg versperrt!“ Sie ist sichtlich verwirrt, als sie bemerkt, dass keiner von uns reagiert. „Was ist denn hier los?“

„Verdammt! Das darf nicht wahr sein!“ Marlow kocht regelrecht vor Wut. „Holt die übrigen Amulette und dann raus hier, ihr nutzloses Pack!“

Mara fragt erneut nach: „Wovon redest du? Was ist geschehen?“

Marlow dreht sich knurrend um und verpasst Mara einen heftigen Schlag: „Sei still!“ Sie fällt winselnd zu Boden, während Marlow mit gefletschten Zähnen über ihr steht. Dann wendet er sich an Ian und Jaden. „Los jetzt oder ich werfe euch allesamt ins Feuer!“ Die beiden verwandeln sich augenblicklich in Menschengestalt und durchsuchen die Kleidung des Mannes nach den Amuletten. Marlow läuft in der Zwischenzeit nach draußen und wir anderen folgen ihm. Nathan, Akeyla und ich halten Abstand zu unserem wütenden Anführer. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass auch Mara ein paar Meter hinter mir ist.

Plötzlich zischt sie mich an: „Sieh mich nicht an!“ Mit diesen Worten zieht sie an mir vorbei und läuft voraus. Ich lasse mich davon nicht beirren und steuere ebenfalls den Ausgang an, der bereits in Sicht ist. Draußen angekommen verwandeln sich alle blitzartig in Menschengestalt, wir bleiben aber nicht stehen. So laufen wir weiter. Ich habe keine Ahnung, wo wir hinlaufen und vermutlich geht es Marlow nicht anders. Er denkt aber nicht einmal daran anzuhalten. Sein einziges Ziel ist davonzukommen, egal wohin.

Das Mysterium der Wölfe

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