Читать книгу Das Mysterium der Wölfe - Anna Brocks - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеAlbträume
Gerade sitze ich im Auto und fahre mit Jane nach Hause. Wo wir waren? An einem bazillenverseuchten Ort, wo man drei Stunden auf eine Diagnose wartet, nur um festzustellen, dass man einfache Migräne hat. Genau, im Krankenhaus.
Ich habe mittlerweile schon seit drei Tagen chronische Kopfschmerzen, schlafe nicht besonders gut und habe extremen Hunger, der kaum zu bändigen ist. Der Hausarzt wusste nicht, was es sein könnte und hat mich zur Sicherheit ins Krankenhaus geschickt. Dort konnte man sich offensichtlich auch keinen Reim darauf machen, aber damit man der ganzen Sache einen Namen geben und mir zumindest ein Mittel gegen starke Kopfschmerzen verschreiben konnte, sagten die Ärzte, es seien Migräne.
Und nun sitze ich im Auto neben Jane und lese mir die Beschreibung meiner Kopfschmerztabletten durch. „Und? Wie oft sollst du eine nehmen?“ Jane klingt besorgter als sonst.
Ich lese vor: „Hier steht: bei sehr starken oder chronischen Kopfschmerzen nehmen Sie jeweils eine Kapsel morgens, mittags und abends ein. Die Kapsel sollte unmittelbar nach einer Mahlzeit eingenommen werden.“
„Nach einer Mahlzeit? Das dürfte dir nicht schwerfallen bei den Mengen an Essen, die du in letzter Zeit in dich hineinschaufelst. Außerdem solltest du weniger Fleisch essen.“ Ich hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass meine ach so reizende Stiefschwester, wenn man sie überhaupt so nennen kann, auch im Auto sitzt, da wir sie von ihrem neuen Freund abgeholt haben. Nebenbei ist sie überzeugte Vegetarierin und versucht, mir zu allem Überfluss jeden Tag einzureden, wie ich es mir nur erlauben kann, so viel Fleisch zu essen.
Ich versuche wie immer, ruhig zu bleiben und ignoriere die ganze Sache. Jane schweigt dazu. Vielleicht hat sie es auch schon satt, Alicia Tag für Tag zu erklären, dass sie sich nicht in meine Angelegenheiten einmischen soll. In solchen Situationen bin ich immer froh, wenn ich meine Kopfhörer griffbereit habe.
Die Autofahrt hat nicht lange gedauert. Schon sind wir wieder im Vorgarten unseres zweistöckigen Einfamilienhauses. Daheim angekommen geht jeder seinen gewohnten Weg. Ich begebe mich in mein Zimmer, Jane in die Küche und Alicia wirft sich vor den Fernseher. Der Alltag bei uns ist leider nahezu jeden Tag gleich. Es ist bereits Samstag und mein aufregendstes Erlebnis bisher war, dass sich unsere Nachbarn einen Hund angeschafft haben. Einen kleinen Chihuahua, der jedes Mal, wenn sich ein Auto nähert, mit heller Stimme zu bellen beginnt. So fühle ich mich immer nutzloser. Ich würde so gerne verschwinden. Einfach das Leben genießen. Umherziehen, ohne zu wissen, wo es einen hin verschlägt. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Der Rest des Tages verläuft wie immer. Die einzige Änderung in meinem Tagesablauf ist, dass ich nach dem Essen eine kleine Kapsel schlucken muss. Nach dem Essen habe ich beschlossen, mich langsam fertig fürs Bett zu machen, da ich todmüde bin. Nun ist es gerade mal neun Uhr und ich liege in meine Decke eingekuschelt auf meinem weichen Federbett und gleite sanft in die Welt der Träume.
Der nächste Morgen. Ich bin noch immer hundemüde, da ich wieder nicht sonderlich gut geschlafen habe. Meine Kopfschmerzen sind zwar verschwunden, aber der Heißhunger ist noch da. Es ist Sonntag und ich habe keinen Schimmer, was ich mit dem Tag anfangen soll. Den Vormittag habe ich nun sowieso schon verschlafen, also sollte ich zumindest am Nachmittag etwas unternehmen. Ein Blick aus dem Fenster hat mir schnell bei meiner Entscheidung geholfen. Da draußen die Sonne scheint und ein wunderschöner Spätsommertag angebrochen ist, gehe ich spazieren, um den Kopf freizukriegen.
Auch wenn ich hier momentan nicht sonderlich glücklich bin, muss ich dennoch eines sagen: die Gegend ist wunderschön. Mein Spaziergang dauert jetzt schon eine Weile und ich entferne mich immer weiter von unserem kleinen Örtchen. Wie schön es doch wäre, wenn ich gar nicht mehr umkehren müsste. So wohl habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Die wärmenden Strahlen der Sonne, der blaue Himmel, die weiten Felder, herrlich. Keine Menschenseele, so weit das Auge reicht. Nur hin und wieder sieht man einen Hasen über die Felder hoppeln oder Rehe, die in der Wiese grasen. Ich gehe noch ein Stückchen weiter und schon tut sich auf dem schmalen Kiesweg, den ich mittlerweile schon so oft entlanggelaufen bin, die gewohnte Kreuzung auf. Wie oft ich schon hier gestanden bin und einmal nach links und dann wieder nach rechts geblickt habe. Bisher habe ich immer den rechten Weg genommen, denn von diesem weiß ich, dass er wieder zurück zu meinem Zuhause führt, aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich mich seit einiger Zeit lieber anders entschieden. Vielleicht, weil dieser Weg von Zuhause wegführt. Ins Nichts. In die Freiheit.
Nach meinem Spaziergang habe ich es mir daheim gemütlich gemacht. Ich habe meine Hausaufgaben erledigt, ein bisschen Musik gehört und mit dem einen oder anderen Freund telefoniert. Der Tag ist viel zu langsam vergangen. Zu guter Letzt habe ich etwas gegessen, wieder eine Kapsel geschluckt und nun liege ich in meinem Bett. Es ist neun Uhr. Genau wie gestern. Ich grübele noch etwas nach. Ob man mit 16 schon seine Midlifecrisis erleben kann? Vielleicht hilft es mir etwas, wenn ich jeden Tag spazieren gehe. Heute habe ich mich dabei richtig lebendig gefühlt. Außerdem vermeidet etwas Bewegung, dass ich zu dick werde. Immerhin weichen meine Essgewohnheiten momentan von jeglicher Norm ab. Ich sollte nicht so viel nachdenken, sonst kann ich gar nicht schlafen.
„Wo? Wo bin ich hier? Was soll das Ganze? Dieser Ort, ich kenne diesen Ort. Oder etwa doch nicht? Diese Stimme, wieso ist sie so vertraut? Was ist das alles hier? Nein, ich will noch nicht gehen...nicht...“
„Jessica! Jessica! Wach schon auf, Jessica! Du kommst noch zu spät zur Schule!“
„Schule? Was?“ Ich springe auf und bin hellwach. Verschlafen? Ich? Das kann doch gar nicht sein!
„Komm schon, steh auf, du Schlafmütze! Wir müssen bald los.“ Jane lächelt mich freundlich an, als ob es ihr gar nichts ausmachen würde, dass ich verschlafen habe. Aber so ist sie eben. Immer offen und herzlich. In jeder Situation. Ganz anders als ihre reizende Tochter, die mit verschränkten Armen und genervter Miene hinter ihr in meinem Zimmer steht.
Jetzt ist beeilen angesagt. Zähne putzen, Haare machen, in die Kleidung schlüpfen, wie soll ich das alles in den fünf Minuten, die mir noch bleiben, schaffen? Aber ich habe sowieso keine andere Wahl. Wenn da nicht auch noch dieser Hunger wäre. Egal, ich schnappe mir noch zwei Semmeln aus der Küche, bevor ich gehe und stopfe diese schnell in meinen Rucksack, damit ich wenigstens für die Pausen etwas zu essen habe. Noch schnell in die Schuhe geschlüpft und schon stürme ich aus dem Haus und sehe Jane und Alicia bereits im Wagen sitzen.
Die Schulglocke läutet und ich bin noch bei meinem Spint, um meine Sachen für die nächste Stunde zu holen. Blitzschnell schleudere ich die Tür zu, verdrehe das Zahlenschloss und stürme in das Klassenzimmer. Geschafft! Zu meinem Glück hat sich auch Miss Fielder verspätet.
Wenige Augenblicke später öffnet sich die Tür und sie betritt die Klasse. Alle stehen auf, so wie immer, doch eine Sache ist diesmal anders, denn unsere Lehrerin ist nicht allein. Sie hat jemanden bei sich.
Ihre schrille Stimme hallt durch den Raum: „Ihr dürft euch nun setzen.“ Das tun wir sogleich. „Entschuldigt meine Verspätung, aber ich hatte noch ein paar organisatorische Dinge zu erledigen. Darf ich euch nun euren neuen Mitschüler vorstellen? Das ist Jake. Er musste die Schule wechseln, da er umgezogen ist.“
Mir schwant Übles. Ein neuer Schüler in unserer Klasse? Das wird sicher schnell die Runde machen. Außerdem sieht dieser Jake nicht einmal schlecht aus. Okay, das war vielleicht etwas untertrieben, er sieht tatsächlich wahnsinnig gut aus. Großartig. Die Mädchen an unserer Schule werden bestimmt wieder durchdrehen, die Jungs werden sich beschweren, weil die Mädels nur noch Augen für ihn haben und so weiter und so fort.
Ich denke, ich habe ein Problem. So wie ich das sehe, bin ich die Einzige, die allein sitzt. Das heißt, dass sich dieser Typ vermutlich neben mich setzen wird und das heißt wiederum, dass mich alle hassen werden, was mich ja eigentlich nicht wirklich kratzt, aber es gibt auch Besseres.
Miss Fielder wendet sich ihm zu: „Okay Jake, dann würde ich mal sagen, du setzt dich neben Jessica.“ So beginnt sie also, meine persönliche Misere. Jake befolgt diese Anweisung natürlich. Mit einem leichten Kopfnicken stimmt er Miss Fielder zu und begibt sich direkt zu meinem Platz, ich korrigiere, zu unserem Platz. Dann, als wäre nie etwas gewesen, beginnt Miss Fielder mit dem Unterricht.
Alle im Raum starren wie gebannt auf den Neuen. Dieser räumt seelenruhig seine Sachen aus, schaut kurz auf, woraufhin alle Blicke wieder zur Tafel gehen. Ich hingegen kann gar nicht anders, als mir meinen neuen Sitznachbarn anzusehen. Plötzlich blickt er mir in die Augen und grinst mich an. Daraufhin kommt wieder ein kurzes Kopfnicken zur Begrüßung. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Solche Augen habe ich noch nie gesehen. Dieser Ausdruck, einfach fesselnd. Sie strahlen Freundlichkeit und Offenheit aus, aber auch gleichzeitig Ruhe und Gelassenheit. Dazu kommt noch die unglaubliche Farbe. Seine Augen sind bernsteinfarben. Wie gesagt, so etwas habe ich noch nie gesehen.
„Ach ja, Jessica?“ Ich erschrecke, als Miss Fielder plötzlich meinen Namen nennt.
Etwas durcheinander antworte ich: „Was gibt's?“
„Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du unserem neuen Schüler alles zeigen könntest. Er kennt sich hier noch nicht aus und ich wäre erfreut, wenn das jemand übernehmen könnte.“ Auch das noch. Schnell das Angebot ausschlagen, solange es noch geht!
Meine Stimme ist etwas zittrig, aber egal, ich muss ihr klar sagen, dass ich nicht will: „Tut mir leid, aber das könnte sich als Problem darstellen.“
Neugierig fragt sie nach: „Darf ich erfahren, wieso?“
Ich muss mir schnell etwas einfallen lassen: „Ich habe momentan sehr viel zu tun. Mit der Schule und die ganzen Hausarbeiten und...“ Ich stocke. Miss Fielders Blicke sagen mehr als tausend Worte.
Sie lächelt zwar, aber es ist kein freundliches Lächeln. Eher so ein „was bildet die sich ein“-Lächeln: „Meine liebe Jessica, du hast da etwas falsch verstanden. Das war keine Frage, das war eine Anweisung. Du wirst das schon schaffen. Und nun wieder zurück zum Stoff.“
Das war vielleicht eine Ansage. Ich habe sie vorher schon nicht gemocht und jetzt auch noch das! Recht viel schlimmer kann es gar nicht mehr werden. Als ob ich mit all meinen Problemen auch noch einen Schönling am Hals gebrauchen kann. Ich meine, was bildet der sich eigentlich ein? Kommt hierher in seiner engen Jeans mit dem protzigen Gürtel und dem noch engeren schwarzen T-Shirt. Die traurige Sache daran ist, dass er damit auch noch verdammt gut aussieht.
Na endlich, die erste Stunde ist vorbei. Ich hasse Physik und dann noch in der ersten Stunde, das ist doch unmenschlich. Wenigstens entfällt die zweite Einheit. Da kann ich das Herumführen unseres Neuzugangs zumindest gleich hinter mich bringen. Er packt gerade sein Zeug weg.
„Ich bin übrigens Jessica, wie du vielleicht schon mitgekriegt hast. Nenn mich aber bitte Jess, ist mir lieber.“ Er sieht mich zuerst etwas verdutzt an, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Hoffentlich spricht er meine Sprache.
„Ich bin Jake, nett dich kennenzulernen.“ Als ob der Rest nicht schon gereicht hätte, hat er jetzt auch noch die angenehmste Stimme, die mir je zu Ohren gekommen ist. Das darf doch wohl nicht wahr sein!
Ohne mir meine Begeisterung anmerken zu lassen, fahre ich fort: „Ja, freut mich auch. Wir hätten jetzt eine Freistunde. Wenn du willst, zeig ich dir alles.“
Er lächelt mich an: „Das wäre großartig. Tut mir übrigens leid, dass du das übernehmen musst. Ich hätte was zu Miss Fielder gesagt, aber ich hatte schon so eine Ahnung, dass sie eine ziemlich...“
Als er nicht weiterspricht, setze ich fort: „Du kannst es ruhig sagen, sie ist eine blöde Ziege. Ich sehe das ganz genau so.“ Plötzlich geschieht etwas, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Er lacht! Und wie er lacht! Es ist ein herzliches, unverfälschtes Lachen, wie ich es schon lange nicht mehr gehört habe.
Langsam kommt er wieder zu Wort: „Du bist die erste Person hier, die mir ohne zu zögern ihre Meinung sagt. Das ist erfrischend.“
Ich grinse ihn an. „Komm, ich zeig dir jetzt mal alles.“
Und wieder ist es neun Uhr. Ich liege in meinem Bett. Nur diesmal ist etwas anders. Ich bin gar nicht müde, nicht ein bisschen. Ob das mit dem heutigen Tag zusammenhängt? Heute ist einfach so viel passiert. Ich habe Jake noch die ganze Schule gezeigt. Wir haben unseren Spint gleich nebeneinander, aber das ist noch nicht das Beste. So viel gelacht habe ich schon lange nicht mehr. In seiner Nähe habe ich mich so unendlich wohl gefühlt. Endlich konnte ich so sein, wie ich wirklich bin und aus ganzem Herzen lachen. Ein großartiges Gefühl. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas ist anders an ihm. Er hat eine unbeschreibliche Ausstrahlung. Keine Ahnung, wie ich es erklären soll. Mal sehen, was der morgige Tag so bringt.
„Was? Schon wieder? Was ist das für ein Ort? Antwortet mir doch!“ Das ganze Schreien und Rufen bringt offensichtlich nichts. Wo bin ich hier überhaupt? Es ist wunderschön. So ein friedliches Tal habe ich noch nie gesehen. Der kleine Bach, die saftige Wiese, die vielen Bäume und alles im Schutz dieses Berges. Dieser Berg, wo habe ich ihn schon mal gesehen? Er kommt mir so dermaßen bekannt vor. Diese Gegend, ist das vielleicht...
„Das darf doch wohl nicht wahr sein! Du verschläfst schon wieder! Wach endlich auf! Wenn ich deinetwegen zu spät komme, kannst du was erleben!“ Diese schrille Stimme. Diese schrille nervige Stimme. Alicia! Plötzlich bin ich hellwach. Nicht schon wieder! Ich kann doch nicht ernsthaft schon wieder verschlafen haben! Wunderbar. Das erste Gesicht, das ich heute sehe, ist Alicias. Was für ein toller Start in den Tag. Sie sieht wütend aus. „Beeil dich gefälligst! Wir warten unten im Wagen auf dich. Wehe, du kommst zu spät!“ Mit diesen Worten stampft sie aus meinem Zimmer. Also dann: Fertigmachen im Eiltempo. So kann das nicht weitergehen.
Auf dem Weg zur Schule wäre ich beinahe eingeschlafen und jetzt sitze ich im langweiligsten Unterricht, den es gibt. Außerdem muss ich immer an meinen Traum denken. Das war nicht das erste Mal, dass ich etwas Merkwürdiges geträumt habe. Was hat das alles nur zu bedeuten?
„Nicht gut geschlafen?“ Ein Blick in Jakes Augen genügt und ich fühle mich schon besser.
Ich bemühe mich um ein Lächeln: „Ich schlafe in letzter Zeit generell nicht so gut. Der Arzt meinte, es seien Migräne.“ Da fällt mir gerade ein, dass ich vergessen habe, meine Tabletten zu nehmen. Komischerweise sind die Kopfschmerzen ganz von allein verschwunden.
Jake schüttelt den Kopf: „Eines kannst du mir glauben. Wenn ein Arzt zu dir sagt, du hättest Migräne, dann fällt ihm einfach nichts anderes ein.“
Ich frage nach: „Und was macht dich da so sicher?“
„Ich spreche aus Erfahrung.“ Ich hätte gerne nachgefragt, aber unserem Lehrer ist das Getratsche durchaus aufgefallen und er bittet uns, das zu unterlassen. Dazu fällt mir nur eines ein: wenn Blicke töten könnten. So, wie mich meine Klassenkameradinnen im Moment ansehen, möchte ich nicht wissen, was die von mir halten. Also beschließe ich, für den Rest des Unterrichts den Mund zu halten. Zu meiner eigenen Sicherheit, versteht sich.
Die ersten drei Stunden waren die pure Langeweile. Hätte mich Jake zwischendurch nicht unterhalten, wäre ich wohl eingeschlafen. Endlich kann ich etwas essen. Wenn mein Magen noch mehr zu knurren beginnt, glaubt man noch glatt, ein Bär sitzt in der Klasse. Zwei Semmeln. Großartig. Ich hatte heute Morgen wieder nur Zeit, mir zwei trockene Semmeln einzupacken. In letzter Zeit hasse ich alles, was nicht mit Fleisch zu tun hat. Morgen darf ich nicht wieder verschlafen.
Hier draußen ist die Luft herrlich. Der Spaziergang war eine gute Entscheidung. Man merkt langsam, dass die Tage kürzer werden und auch die Temperaturen sinken allmählich. Ich bin nicht mehr so müde wie vorhin und meine Kopfschmerzen sind tatsächlich komplett verschwunden. Das Einzige, das mir etwas Angst macht, ist die Tatsache, dass ich immer schlechter schlafe oder besser gesagt träume. Normal fühlt sich die ganze Sache jedenfalls nicht an. Die Träume sind unscharf und verschwommen. Sie wirken wie Erinnerungen, die tief in mir schlummern, ich aber schon vor langer Zeit vergessen habe.
„Träume ich etwa schon wieder?“ Diesmal ist etwas anders. Ich kann nichts sehen. Alles ist schwarz. Was sind das bloß für Schreie? Das klingt grässlich! Hört sich nach einer Schlacht an. Dieses Knurren, sind das Hunde?
Plötzlich ist es wieder still. Langsam sehe ich etwas. Eine verschwommene Silhouette. Wer ist das bloß? Ich kann fast nichts erkennen.
„So, mein Schatz, hab keine Angst. Hier bist du sicher. Ich muss gehen. Wenn sie mich verfolgen, werden sie dich mit Sicherheit finden. Es tut mir leid, dass ich dir keine Mutter sein kann. Ich wünschte, ich würde dich aufwachsen sehen. Alles Glück der Welt sei mit dir, meine kleine Jessica.“
„Nein, geh nicht! Das kannst du mir nicht antun! Geh nicht, nein!“ Ich bin völlig außer Atem. Diese Stimme. Woher kenne ich sie bloß? Alles kam mir so bekannt vor. Ich habe diese Situation schon einmal miterlebt. Zum Verrücktwerden! Alles in meinem Kopf ist so durcheinander. Zeit zum Aufstehen. Einschlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr. Ich muss dringend unter die Dusche, ich bin noch ganz verschwitzt. Wenigstens komme ich heute mal nicht zu spät.
Und wieder bin ich in der Schule. Es ist Mittwoch, Unterricht bis zwölf. Das heitert auf. Wie spät ist es eigentlich? Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn? Wenn ich einmal nicht zu spät komme, komme ich dafür überpünktlich. Ich brauche unbedingt eine bessere Zeiteinteilung. Jake ist auch früh dran.
„Heute etwas früher hier? Ist ja ganz was Neues.“ Ich lächele ihn an.
Jake grinst zurück: „Das musst du gerade sagen. Wer kommt denn hier immer zu spät?“
Ich verschränke die Arme: „Ich habe zumindest eine Ausrede.“
„Und die wäre?“ Mit fragendem Blick sieht er mich an.
„Meine Migräne, was denn sonst? Du kannst gern meinen Arzt fragen.“ Wir beide lachen. Wie ich es doch liebe, wenn er lacht. Er ist innerhalb kürzester Zeit ein guter Freund von mir geworden. Mit ihm habe ich so viel Spaß, wie mit sonst niemandem.
Plötzlich unterbricht er das Gelächter und fragt mich etwas: „Hast du heute Abend schon was vor?“
Ich bin überrascht: „Nein, eigentlich nicht. Wieso fragst du?“
Etwas verlegen setzt er fort: „Ich habe gedacht, dass wir doch mal ins Kino gehen könnten. Immerhin bist du die einzige Freundin, die ich momentan hier habe und da können wir doch mal was gemeinsam unternehmen.“ Die Begründung klang etwas wie eine Entschuldigung. Er will wohl nicht, dass ich einen falschen Eindruck bekomme. Wir sind nur Freunde und das ist gut so. Eine Beziehung wäre das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen könnte.
Also stimme ich freudig zu: „Ja, ich komme gerne mit. Momentan weiß ich sowieso nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll und im Kino war ich auch schon lange nicht mehr.“
„Klasse, dann hole ich dich heute um fünf ab.“ Er hat ein breites Grinsen im Gesicht.
„Okay, mach das.“ Ich frage noch nach. „Wie wollen wir hinkommen? Ich könnte Jane fragen, ob sie uns fährt.“
Jake lächelt: „Das wird nicht nötig sein. Ich fahre.“
Überrascht über diese Antwort frage ich nach: „Wie alt bist du eigentlich?“
Er lacht: „Ich hab mir schon fast gedacht, dass das jetzt kommt. Du hättest nicht geglaubt, dass ich schon einen Wagen habe, nicht wahr?“
Ich zögere etwas, dann nicke ich: „Wenn ich ehrlich bin, hast du recht. Nun sag schon, wie alt bist du?“
Er lehnt sich gemütlich im Sessel zurück: „Rate.“
Ich verdrehe die Augen: „Ist das dein Ernst? Mal sehen, von deinem Aussehen her würde ich dich älter schätzen, aber da du erst in der sechsten Klasse bist, müsstest du eigentlich 16 sein.“
„Daneben. Ich bin 19.“ Und wieder überrascht er mich. Warum ist er noch in der Schule? Er ist kein schlechter Schüler und tut sich in keinem Fach sonderlich schwer. Merkwürdig. Aber was tut das schon zur Sache? Er ist nett, bringt mich zum Lachen und nebenbei sind wir sowieso nur Freunde, also spielt sein Alter wirklich keine große Rolle.
Der Schultag ist wie im Fluge vergangen. Es ist kurz vor fünf und ich mache mich fertig. Plötzlich kommt Alicia ins Zimmer und mustert mich von oben bis unten: „Gehst du noch irgendwo hin?“
Genervt antworte ich: „Das geht dich gar nichts an.“
„Verstehe schon, war eine dumme Frage.“ Was sie nicht sagt. „Wo gehst du denn hin?“
„Ins Kino mit einem Freund.“ Ich kann mir schon denken, was jetzt kommt.
Hellhörig fragt sie nach: „Mit einem Freund? Läuft da was?“
Ich schüttle den Kopf: „Nein, ich habe viel Spaß mit ihm und er ist wirklich ein netter Kerl. Ein guter Freund eben.“
Alicia nickt nur: „Ach ja, noch etwas. Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr einen Neuen in der Klasse habt? Er sieht verdammt gut aus. Wieso sagst du mir sowas nicht?“
„Keine Ahnung. Vielleicht, weil es dich nichts angeht?“ Wenn die wüsste.
„Ja, aber hast du dir den schon mal angesehen?“ Sie kann einen echt fertig machen.
Also antworte ich in derselben genervten Tonlage wie vorhin: „Ja, klar. Ich gehe mit ihm in dieselbe Klasse. Natürlich habe ich ihn mir schon angesehen. Außerdem sitzt er neben mir.“
„Du Glückspilz! Und wie ist er so?“ Wie ihre Augen bei dieser Frage funkeln. Ich frage mich gerade, wie man so interessiert an einem Kerl sein kann, mit dem man noch kein Wort gewechselt hat.
„Ich habe viel Spaß mit ihm und er ist ein netter Kerl. Ein guter Freund eben.“ Ich kann mir das hämische Grinsen nicht verkneifen.
Plötzlich verschwindet das Funkeln in ihren Augen. Ich denke, sie hat es verstanden. „Warte mal, du gehst mit dem Neuen ins Kino?“ Ihr Entsetzen lässt mein Lächeln nur noch größer werden.
Es klingelt. Alicia stürmt die Treppe runter und öffnet die Tür. Ich greife mir noch schnell meine Tasche und gehe dann ebenfalls hinunter. Als ich zur Tür komme, sehe ich Alicia, die versucht, ein Gespräch anzufangen und gekünstelt lacht. Es ist schon beinahe zum Schämen.
Mit einem Lächeln gehe ich auf Jake zu und begrüße ihn: „Ich zieh mir schnell die Schuhe an, dann können wir los.“ Er nickt verdutzt. Alicia hat noch immer nicht aufgehört zu reden. Ich ziehe meine Jacke über. Zum Abschied winke ich Alica noch kurz zu und schließe die Tür hinter mir, ohne darauf zu warten, dass sie zum Ende kommt. Ansonsten hätten wir mit Sicherheit den Film verpasst.
Ich wende mich Jake zu: „Tut mir leid, so ist sie eben. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie gebremst, aber wenn sie einmal in Fahrt ist, kann man Alicia kaum stoppen.“
„Entschuldige, was hast du gesagt? Meine Ohren klingen immer noch.“ Ich muss lachen. Dann sehe ich mir sein Auto an. Ich kann es kaum glauben. Der Wagen sieht verdammt teuer aus. Wie kann sich ein Schüler sowas nur leisten?
Verdutzt schaue ich ihn an: „Sag mal, ist der Wagen gestohlen?“
Plötzlich wirkt Jake nervös: „Nein, nein. Der Wagen gehört meinen Eltern. Ich habe ihn mir ausgeliehen.“ Ich nicke nur. Dann steigen wir ein.
Dieser Wagen ist genial! Ich sitze neben Jake im Auto und fühle mich lebendig. „Sag mal Jess, du siehst deiner Schwester sowas von gar nicht ähnlich. Wie kommt das?“ Komisch, dass er fragt. Er hat so einen Unterton in seiner Stimme, als ob er die Antwort darauf schon wüsste.
„Ich bin ein Adoptivkind.“ Gespannt warte ich auf seine Reaktion. Die meisten Menschen werden damit nicht fertig und bemitleiden mich, ohne mich überhaupt danach zu fragen, ob es mich in irgendeiner Weise belastet.
„So ist das also. Irgendwie habe ich mir das schon fast gedacht. Du hast deine Eltern bisher immer nur beim Vornamen genannt und das mit deiner Schwester hat meinen Verdacht dann noch bestätigt. Kennst du deine richtigen Eltern?“ Ich bin verblüfft. Er reagiert gelassen wie immer. Zum ersten Mal ist mir ein Gespräch dieser Art nicht unangenehm.
Ich antworte ihm: „Nein, leider nicht. Jane hat mir erzählt, dass sie sich schon lange ein Kind gewünscht haben und dann lag ich auf der Türschwelle. Sie hat gesagt, dass sie nicht lange nachgedacht und mich einfach sofort zu sich genommen haben. Ich habe keine Informationen über meine Eltern oder meine Herkunft.“ Was war das denn gerade? Hat Jake gerade ein Lächeln unterdrückt? Nein, das kann ich mir nur eingebildet haben.
„Der Film war klasse!“ Ich gehe mit Jake aus dem Kino in Richtung Auto.
Er stimmt zu: „Ja, finde ich auch. Stehst du auf Actionfilme, Jess?“
Ich nicke euphorisch: „Und wie! Ich kann gar nicht genug davon kriegen!“
Grinsend stimmt mir Jake zu: „Geht mir genauso.“ Er denkt kurz nach. „Irgendwie will ich noch nicht nach Hause. Hat Jane irgendwas gesagt, wann du daheim sein sollst?“
Ich zucke mit den Schultern: „Nicht direkt.“
„Dann haben wir noch genug Zeit, um was essen zu gehen. Ich kenne ein großartiges Restaurant hier in der Nähe.“
„Na dann los. Ich habe nichts dagegen.“ So gehen wir los.
Das Restaurant ist nicht weit vom Kino entfernt und die Speisekarte ist phänomenal. Ich entscheide mich trotz allem für das Steak. Jake trifft die gleiche Entscheidung und sagt es gleich der Kellnerin: „Wir kriegen zweimal das Steak, bitte. Und könnten sie bei meinem die Beilagen weglassen?“ Die Kellnerin wirkt etwas verdutzt, nickt dann aber freundlich und geht gleich wieder.
Ich frage nach: „Isst du wirklich nur das Fleisch? Gar keine Beilagen?“
Jake schüttelt den Kopf: „Ich bin kein großer Fan von Obst, Gemüse und allem, was daraus gemacht wird. Wenn ich ehrlich bin, esse ich für gewöhnlich nur Fleisch.“
Ich muss lachen: „Wenn ich das Alicia erzähle, wechselt sie kein Wort mehr mit dir!“
„Ist vielleicht auch besser für mich und meine Ohren.“ Das kostet mir erneut ein Lachen.
Das Essen war großartig. Ich bin satt und rundum zufrieden. Auch Jake hat seine Portion ohne Probleme verputzt, ohne Beilagen. Er ist schon eine Persönlichkeit für sich. Gerade gehen wir wieder zum Wagen, der noch immer beim Kino steht. Es ist eine klare Nacht und der Vollmond strahlt vom Himmel herab. Ich bin noch kein bisschen müde.
Plötzlich kommt meine Nachbarin mit ihrem kleinen Chihuahua vorbei. Ich grüße sie freundlich und frage, was sie so spät noch unterwegs macht. Während dem kurzen Wortwechsel keift der Hund Jake wie verrückt an. Ich weiß zwar, dass er viel bellt, aber so habe ich den Kleinen noch nie erlebt. Dann passiert etwas Merkwürdiges. Mit einer enormen Ruhe senkt Jake seinen Kopf und sieht auf den Kläffer herab. Dieser verstummt sogleich, versteckt sich hinter seinem Frauchen und winselt wie ein verängstigter Welpe. Meine Nachbarin und ich blicken erstaunt zu dem völlig verstörten Hündchen. Wir wissen nicht, was der Kleine haben könnte. Nur Jake steht mit einer Engelsgeduld da und grinst hämisch vor sich hin. Dann gehen wir weiter.
Das Thema beschäftigt mich und ich frage nach: „Du bist offensichtlich kein Hunde-Fan, oder?“
„Wie kommst du darauf?“ Er zuckt mit den Schultern.
Also spreche ich weiter: „Mir ist es so vorgekommen, als hätte er Angst vor dir. Dir etwa nicht?“
„Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Ich beschließe, nicht weiter darauf einzugehen. Möglicherweise will er nicht darauf angesprochen werden. Ist im Grunde genommen sowieso unwichtig.
Die Heimfahrt war ruhig. Wir haben nur noch den Abend Revue passieren lassen und dann waren wir schon wieder vor meinem Haus. Die Verabschiedung ist auch nicht sonderlich nennenswert verlaufen. Ein kurzes „Bis morgen“ und schon war Jake wieder weg. Jetzt liege ich in meinem Bett. Es ist halb elf und ich kann kein Auge zumachen. Wieso eigentlich nicht? Ich bin doch sonst immer schon viel früher hundemüde und jetzt kann ich nicht schlafen? Es hängt vielleicht mit dem Vollmond zusammen. Ich werde einfach die Augen schließen und mich zum Schlafen zwingen.
Allmählich reicht es mir. Es ist kurz vor Mitternacht und ich bin hellwach. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr Zwang verspüre ich, nach draußen zu gehen. Ein Spaziergang, das wäre jetzt genau das Richtige. Heute habe ich sowieso noch keine Zeit dafür gefunden. Aber kann ich mich einfach so aus dem Haus schleichen und meine gewohnte Runde gehen? Wieso eigentlich nicht? Ich schlüpfe noch schnell in meine Jeans, ziehe mir einen Pulli an und schleiche mich langsam nach unten.
Einfach herrlich. Die Luft kommt mir heute noch frischer vor als sonst und der Mond scheint meine Lebensgeister neu zu erwecken. Eine sternenklare Nacht, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe, ist über mir hereingebrochen. Weit und breit keine Menschenseele. Mittlerweile müsste es nach Mitternacht sein und ich verspüre noch immer nicht den leisesten Anflug von Müdigkeit. Da vorne ist die Kreuzung.
Was war das? Bin ich in eine Pfütze getreten? Das kann doch gar nicht sein. Es hat seit Tagen nicht geregnet. Mit meinem Handy sollte ich mehr sehen können. Wo habe ich es bloß hingetan? Aber prinzipiell sehe ich sowieso gar nicht so schlecht. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, sehe ich sogar sehr gut. Fast wie am helllichten Tag. Wie kommt denn das jetzt auf einmal? Na egal, Hauptsache ich sehe etwas. Ach ja, die Pfütze.
Das ist kein Wasser! Es ist Blut und auch noch so viel davon! Wo kommt das nur her? Hier führt eine Blutspur weg und da sind Hufabdrücke. War das ein Reh? Und was ist das? Ein Abdruck einer Pfote? Das könnte eine Bärentatze sein. Aber hier gibt es doch gar keine Bären. Soll ich? Instinktiv gehe ich der Spur nach. Sie führt ins Feld hinein. Der Weizen ist hoch genug, um mich darin zu verstecken.
Das Reh muss um sein Leben gekämpft haben. Die Schneise, die die beiden Tiere hinterlassen haben, ist kaum zu übersehen. Die Spur führt immer weiter ins Feld hinein. Halt, ich höre etwas. Klingt wie ein Schmatzen und Knurren. Vielleicht war es doch nicht klug, hierher zu kommen. Ich sehe noch nichts Genaues. Der Weizen ist zu hoch. Moment mal, jetzt kann ich etwas erkennen. Ist das? das darf doch wohl nicht wahr sein!
Ein Wolf! Ein waschechter Wolf! Jetzt bloß keinen Mucks machen! Das Vieh ist riesig. Er hat die Größe eines ausgewachsenen Bären. Von so großen Wölfen habe ich noch nie etwas gehört, geschweige denn einen gesehen. Eigentlich ein wunderschönes Tier. Muskulöser Körperbau, schneeweißes Fell, was für eine beeindruckende Kreatur. Gleichzeitig wirkt er jedoch abschreckend mit dem vielen Blut, das in seinem Fell klebt. Mit den Krallen, die aus seinen Pfoten ragen, ist wohl nicht zu spaßen. Er steht mit dem Rücken zu mir. Ich würde zu gerne sein Gesicht sehen. Wenn ich noch ein bisschen nach vorne gehe? Verdammt, er hat gezuckt! Jetzt stecke ich in der Klemme!
Nicht bewegen, Jessica. Bleib einfach stehen, vielleicht hat er dich noch nicht gehört. Zu spät, er richtet sich auf. So wirkt er noch riesiger! Dreh dich bitte nicht um! Um Himmels Willen, dreh dich nicht um! Er richtet seine Ohren zurück. Ob er mich atmen hört? Oder meinen Herzschlag? Oh nein, er dreht sich um! Was mache ich nur? Was soll ich bloß tun? Wegrennen? Blöde Idee! Mit den langen und starken Beinen hat er mich, bevor ich erst losgelaufen bin. Um Hilfe rufen? Noch blödere Idee! Es ist kein Mensch hier, der mir helfen könnte. Verstecken kann ich mich nicht, weglaufen ist unmöglich. Langsam gehen mir die Möglichkeiten aus!
Gleich sieht er mich! Ist es jetzt aus? Wird er mich töten? Ich will noch nicht sterben! Nicht jetzt schon! Er sieht mir in die Augen. Plötzlich wird alles um mich langsam. Alles läuft wie in Zeitlupe ab. Mein Atem beruhigt sich wieder und mein Herz schlägt normal. Ich stehe wie angewurzelt da und starre dem riesigen Wolf in die Augen. In die wunderschönen, bernsteinfarbenen Augen. Sein Blick kommt mir so vertraut vor. Weder verschreckt noch bedrohlich. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe aus und in mir steigt ein merkwürdiges Gefühl hoch. Ein Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit. Ein Gefühl, wie ich es sonst nur bei Jake habe. Moment mal, bernsteinfarbene Augen? Das kann nicht sein! Das ist doch unmöglich! Oder etwa doch nicht?
„Jake, bist du es?“ Der Wolf zuckt zusammen und steht nun komplett starr vor mir. Plötzlich blickt er hektisch nach links, dann nach rechts und schon saust er mit enormer Geschwindigkeit davon. Ich verliere ihn binnen Sekunden aus den Augen. Dann blicke ich zu dem Hügel, der sich vor mir erstreckt. Darauf steht er. Hinter ihm leuchtet der Vollmond so hell, wie ich ihn noch nie leuchten sah. Majestätisch streckt er seinen Kopf in Richtung Himmel. Ein lautes Heulen hallt über die Felder. Ein wunderschöner und mystischer Klang. Der Anblick ist atemberaubend. Plötzlich läuft er wieder davon. Und weg ist er.
Ich stehe noch immer regungslos da. Jede Emotion ist von mir gewichen und ich überlege noch immer, ob das ein Traum war. Völlig perplex und wie in Trance begebe ich mich auf den Rückweg. Eines weiß ich nun: schlafen werde ich heute sicher nicht mehr.
Der nächste Morgen ist angebrochen. Ich habe kein bisschen geschlafen. In Gedanken bin ich jede Einzelheit meiner gestrigen Begegnung durchgegangen. Ich habe ständig das Bild dieses Wolfes vor Augen. Dieser Wolf, dieser prächtige, majestätische Wolf. Die Sache lässt mir keine Ruhe. Was mich aber am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass er mich nicht angegriffen hat. Und seine Augen. Der Anblick lässt mich nicht los. Auch das Gefühl, das ich bei unserer Begegnung hatte. Alles ist so merkwürdig, so unwirklich. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber irgendetwas sagt mir, dass ich diesen Wolf kenne, sogar sehr gut kenne. Ein Teil von mir glaubt, dass es Jake war. Der andere Teil sträubt sich völlig gegen diese absurde Behauptung und versucht, das alles zu verdrängen. Vielleicht lenkt mich die Schule etwas ab.
Wie naiv von mir zu glauben, dass mich die Schule ablenken würde. Nicht nur die Tatsache, dass der Unterricht furchtbar langweilig ist, sondern auch die, dass Jake genau neben mir sitzt, macht dies schon unmöglich. Was soll ich nur tun? Ich werde mich natürlich bemühen, mich ihm gegenüber so wie immer zu verhalten, aber werde ich das auch schaffen? Etwas anderes wird mir wohl nicht übrigbleiben. Ich kann wohl kaum nachfragen. Er kommt gerade rein. Ruhig bleiben, Jess. Lass ihn einfach zuerst reden, dann wird schon alles gut werden.
„Wie geht's? Ich hoffe du bist nicht zu müde von gestern.“ War das gerade eine Anspielung? Oh nein, was soll ich nur darauf sagen?
Ich beginne zu stottern: „Ähm, was? Müde? Ich? Wieso um alles in der Welt sollte ich müde sein?“
„Wir waren bis halb elf unterwegs und du hast mir erzählt, dass du momentan eigentlich immer früher schlafen gehst. Weißt du noch?“ Jake lächelt mich freundlich an.
„Oh, stimmt ja.“ Natürlich war das auf den gestrigen Abend bezogen und nicht auf das, was in der Nacht passiert ist. Das hätte ich mir auch gleich denken können. Zum Glück kommt gerade Miss Fielder herein. Das erspart mir zumindest weitere Peinlichkeiten.
Schon erfüllt ihre schrille Stimme den Raum: „Guten Morgen, Klasse. Bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, möchte ich euch noch etwas mitteilen. Da wir im letzten Semester keinerlei Exkursionen gemacht haben und es der Lehrplan vorsieht, hält es unsere Schulleitung für angebracht, einen Ausflug zu einem nahegelegenen Campingplatz zu machen. Natürlich dient dies nicht nur zu Unterhaltungszwecken. Wir werden von diesem Platz aus den Berg, welcher dort liegt, hinauf wandern und uns das Museum auf der Spitze ansehen. Mir wurde mitgeteilt, dass ihr in Biologie gerade etwas über die regionale Flora und Fauna lernt. Also packt heute schon eure Sachen. Wir treffen uns morgen um 8 Uhr vor dem Schulgebäude. Noch Fragen?“ Ein Ausflug? Das ist genau das Richtige, um mich abzulenken. Ich werde heute gleich alles einpacken, aber vorher muss ich unbedingt zu der Stelle von gestern. Vielleicht finde ich noch etwas Interessantes.
Nichts, gar nichts. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Eine riesige Pfütze aus Blut verschwindet doch nicht über Nacht. Sie war genau hier. Ganz bestimmt, da ist noch die Schneise, die ich gestern entlang geschlichen bin. Wie ist das möglich? Gestern war hier noch ein regelrechtes Blutbad und jetzt finde ich keinen einzigen Tropfen mehr. Hat es heute schon geregnet? Nein, es ist trocken. Ich gehe wohl besser mal die Schneise entlang. Vielleicht finde ich da noch etwas.
Das darf doch wohl nicht wahr sein. Nichts. Rein Garnichts. Nur viel niedergetretener Weizen und eine kleine Grube. Sonst ist hier kein Indiz mehr für einen Kampf. Geschweige denn für einen Wolf. Habe ich mir das alles doch nur eingebildet? War alles nur ein Traum? Immerhin war es schon spät. Was ist das hier? Das sind eindeutig Schleifspuren. Sie führen weg von dieser Stelle. Mal sehen, was sich am Ende dieser Spur befindet. Langsam komme ich mir vor, wie in einem zweitklassigen Krimi. Ich bin die neugierige Nebenrolle, die immer als erste stirbt. Großartige Aussichten.
Wie weit führt diese Spur denn noch weg? Und vor allem, wer um Himmels Willen schleift einen halb aufgefressenen Rehkadaver weg und verwischt nebenbei alle Spuren? Ich höre das Rauschen eines Baches. Er muss hier ganz in der Nähe sein. Außerdem rieche ich das Wasser. Moment mal, Wasser riechen? Langsam drehe ich völlig durch.
Ganz in der Nähe war wohl doch nicht richtig. Noch immer ist kein Bach in Sicht, aber ich kann ihn immer noch hören. Mir kommt es so vor, als würden alle meine Sinne schärfer werden. Ich kann alles riechen und hören. Gestern konnte ich sogar im Dunkeln so gut sehen, wie bei Tageslicht. Da vorne ist endlich der Bach. Zu meinem Bedauern endet hier aber auch die Schleifspur. Hier hat sich jemand viel Mühe gemacht, um alle Hinweise zu verwischen.
Sieht so aus, als wäre ich die ganze Strecke umsonst gelaufen. Moment. Hier ist doch noch etwas. Das ist eindeutig kein Hufabdruck. Volltreffer, es ist eine Pfote! Und was für eine! Es war also doch kein Traum. Hier ist noch ein Abdruck und da noch einer. Hier auch noch. Und dort! Aber was ist das auf einmal? Das ist doch ein menschlicher Fußabdruck! Unmöglich! Die Spur geht in menschliche Fußabdrücke über. Kann es denn sein, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege? Oh Jake, das kannst du mir doch nicht antun! Du darfst kein Monster sein, nicht du!
Ich bin bereits auf dem Weg nach Hause und habe viel nachzudenken. Ob ich das Richtige getan habe, als ich die Spuren verwischt habe? Es macht keinen Unterschied. Ich werde sowieso mit niemandem darüber sprechen. Man würde mich für verrückt halten. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich mir noch nicht einmal selbst, aber ich habe ein bestimmtes Bauchgefühl. Es fühlt sich an wie eine traurige Gewissheit. Als ob ich schon wissen würde, dass es Jake war. Eines steht fest. Ich muss mehr über diese Sache herausfinden. Vielleicht kann ich ihn morgen beim Ausflug fragen. Ach ja, der Ausflug! Ich muss noch meine Sachen packen! Schnell nach Hause.
„Ich bin wieder da!“ Keine Rückmeldung? „Jane? George? Alicia? Ich bin wieder zurück!“ Niemand da. Ich schaue in die Küche. Dort klebt ein Zettel: „Sind mit Alicia zum Einkaufen gefahren. Werden vor acht nicht zurück sein. Essen steht in der Küche.“ Einkaufen? Seit wann fährt Alicia zum Einkaufen mit? Vermutlich hofft sie, dass dabei auch was für sie rausspringt. Würde mich auch wundern, wenn unsere kleine Prinzessin nichts bekommen würde. So, ich werde mir jetzt erst mal was zu essen machen. Langsam kommt der Hunger wieder.
Was haben wir denn da? Einen Topf mit Kartoffeln, die Pfanne steht auch bereits am Herd. Und was liegt daneben? Frisches Hühnerfleisch. Jane weiß doch, was ich mag. Mit den Kartoffeln hat sie aber nicht gerade ins Schwarze getroffen. Ich glaube, die lasse ich weg. Das Fleisch riecht köstlich. In letzter Zeit ist mein Geruchssinn so stark ausgeprägt, dass ich einfach alles rieche. Nicht nur Essen, sondern auch Pflanzen, Tiere und sogar Menschen. Kaum zu glauben, was? Ich schalte mal die Herdplatte ein. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich muss etwas gegen diesen Heißhunger machen. Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, noch lange mit dem Essen zu warten. Außerdem sieht dieses Stück Fleisch so lecker aus. Fast schade darum, wenn ich es anbrate. Vielleicht sollte ich? Nein, das kann ich nicht machen. Moment mal, habe ich gerade ernsthaft daran gedacht, es roh zu essen? Bin ich völlig übergeschnappt? Nun ja, verübeln kann man es mir ja nicht, immerhin riecht es wirklich zu köstlich. Okay, nur einen kleinen Bissen. Dann weiß ich zumindest, wie eklig Fleisch roh schmecken muss. Nach einem klitzekleinen Stückchen ist Schluss.
Großartig. Wirklich toll. Ich liege in meinem Bett und denke nach. Da habe ich doch tatsächlich ein riesiges Stück Fleisch verputzt und das roh. Was zur Hölle ist nur los mit mir? Seit einer Woche geht das nun schon so. Ich entwickle komische Eigenschaften, kann nicht mehr schlafen, weil mich Albträume plagen und verdächtige meinen besten Freund, ein Wolf zu sein. Habe ich Jake gerade ernsthaft als „besten Freund“ bezeichnet? Wenn ich so darüber nachdenke, ist er das. Ich habe schon lange nichts mehr mit meinen anderen Freunden unternommen. Seit Jake da ist, brauche ich eigentlich keinen anderen mehr. Es ist schwer zu beschreiben. Er ist der Einzige, der mir nicht fremd vorkommt. In letzter Zeit fühle ich mich so ausgeschlossen, als würde ich nicht mehr richtig dazugehören. Und damit meine ich nicht nur wegen meiner Freunde. Auch mit meiner Familie rede ich nicht mehr sehr viel. Jake darf kein Wolf sein, nicht er.
Wieder diese Gegend. Das Tal, der Bach, die Wiese, der Berg. Alles ist wie beim letzten Mal. Leider ist auch alles wieder so verschwommen. Warum erkenne ich nur nichts Genaues? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Langsam wird das Bild klarer. Es ist offensichtlich Nacht. Der Mond und die Sterne scheinen vom Himmel. Ich liege gemütlich im Gras und alles ist so friedlich. Da ist doch jemand, oder besser gesagt etwas. Ein Hund? Nein, das ist kein Hund! Es ist ein Wolf! Nicht schon wieder! Hier sind überall Wölfe! Ein ganzes Rudel von riesigen Wölfen und ich bin mittendrin! Trotz allem sind sie sehr friedlich und vertraut. Sie beachten mich gar nicht. Wer ist das? Die beiden da, ich kenne sie doch! Scheint so, als wäre das ein Pärchen. Ein schwarzer und ein weißer Wolf. Sie sehen glücklich aus. Warum lächeln sie mich denn so an? Stimmt irgendwas nicht mit mir? Ich schaue an mir runter. Ach du meine Güte! Das ist doch nicht mein Körper! Da sollten doch eigentlich Hände sein, keine Pfoten, geschweige denn Krallen!
„Ich bin kein Wolf!“ Diese Worte schreiend wache ich auf. Langsam gehen mir diese Träume auf die Nerven. Hoffentlich habe ich nicht wieder verschlafen. Nein, kann gar nicht sein, es ist stockdunkel. Allmählich passen sich meine Augen der Dunkelheit an. Wo bin ich hier? Träume ich noch? Nein, das fühlt sich anders an, realer. Ich liege im Laub! Was mache ich bloß an diesem Ort? Ich stehe auf und sehe mich um. Um mich sind nichts als Bäume. Ich muss im Wald hinter unserem Haus sein. Aber das erklärt noch lange nicht, wie ich hierherkomme. Als hätte ich nicht schon genug Probleme.
Was riecht hier so komisch? Den Geruch kenne ich. Na klar, es riecht nach frischem Blut! Merkwürdigerweise sind meine Hände so feucht. Oh nein, bitte nicht! Langsam hebe ich meine Handflächen und sehe sie an. Ich habe es vermutet. Das Blut kommt von meinen eigenen Händen! Habe ich mich verletzt? Sieht nicht so aus. Riecht auch nicht nach meinem Blut. Das riecht nach einem Tier. Vielleicht ein Reh oder auch ein Hirsch? Was war das denn? Ich höre ein Rascheln. Da vorne ist er ja, ein Hirsch! Liegt er etwa am Boden? Das sehe ich mir näher an.
Ich bin noch gut zehn Meter von dem Tier entfernt und schon bekommt er riesige Panik. Mit weit aufgerissenen Augen starrt mich der Hirsch an und macht sich so klein er nur kann. Zur Sicherheit bleibe ich stehen. Es sieht tatsächlich so aus, als ob er verletzt wäre. Sein Fell ist mit Blut verklebt und am linken Bein scheint er eine Wunde zu haben. Sind das etwa Spuren von Klauen? Und was für welche! Was auch immer dieses Tier verletzt hat, es muss lange und scharfe Klauen haben. Moment mal, lange Klauen? Das kann doch wohl nicht schon wieder dieser Wolf gewesen sein! Der arme Hirsch. Ich muss ihm helfen, ich kann gar nicht anders, aber zuerst muss ich näher ran.
Langsam und geduckt schleiche ich mich an den verletzten Hirsch. Ungefähr die Hälfte des Weges habe ich hinter mir. Das arme Tier wird immer nervöser, aber bei so einer Verletzung kann es sowieso nicht davonlaufen. Nur noch wenige Meter, bis ich dort bin. Ein paar Schritte noch. Oh nein, er richtet sich auf! Nicht doch, du dummes Tier, ich will dir nur helfen! Unter sichtlich großen Schmerzen steht der Hirsch auf und richtet sein mächtiges Geweih bedrohlich in meine Richtung. Ich bleibe stehen.
Der Hirsch fixiert nur mich. Warum eigentlich? Müsste er nicht viel besorgter sein wegen der Bestie, die hier noch umherstreifen könnte? Prinzipiell müsste ich das ja auch sein, aber wenn mir der Wolf wirklich etwas antun wollte, hätte er das bestimmt schon letztes Mal gemacht. Gerade fällt mir wieder das Blut an meinen Händen ein. Wie kommt es überhaupt dorthin? Dann blicke ich an mir hinab. Meine Kleidung völlig ist zerfetzt und ebenfalls blutverschmiert. Was habe ich nur angestellt? Langsam setzt sich der Hirsch wieder in Bewegung. Ich mache einen Schritt nach vorne, was sich als schlechte Idee herausstellt. Das Tier scheint seine letzte Kraft zusammenzunehmen und läuft los. Er bewegt sich zwar nicht sonderlich schnell, aber man merkt dennoch, dass er um sein Leben rennt.
Was ist das nur plötzlich für ein merkwürdiges Gefühl? Mein Atem stockt und wird unruhig, mein Herz schlägt schneller und ich kann meinen Blick nicht von dem fliehenden Tier abwenden. Meine Augen fixieren jede seiner Bewegungen. Jeder Sprung, jeder noch so kleine Schritt, ich erkenne alles. All meine Muskeln spannen sich an. Es ist wie ein Drang, nein, wohl eher ein Instinkt. Ich spüre dieses starke Verlangen. Das Verlangen, mich in Bewegung zu setzen, aber etwas anderes bereitet mir größere Sorgen. Diese Fleischlust. Diese enorme, nicht zu bändigende Fleischlust. Es ist so schlimm, wie noch nie. Ich kann nicht anders, ich kann es nicht abstellen, ich muss sofort loslaufen!
„Wo bin ich? Mir brummt der Schädel.“ Langsam öffne ich meine Augen. Ich fühle mich so schlapp und leblos. Nach ausgiebigen Augenreiben, Gähnen und Strecken sehe ich mich um. Was für eine Erleichterung, ich liege in meinem Bett. Eingekuschelt in meiner dicken Bettdecke und auf meiner weichen Matratze schaue ich auf den Wecker. Gerade mal fünf Uhr. Ich vertrete mir wohl besser mal die Beine. Was zur Hölle ist das? Oh nein, nein, nein, nein, das kann einfach nicht wahr sein! Es war kein Traum! Verdammt nochmal, es war real! Ich trage noch immer dieselbe Kleidung, die ich gestern anhatte. Nur diesmal ist sie sogar noch zerfetzter und durchtränkt mit eingetrocknetem Blut. Ich sehe aus, als hätte ich ein Tier zerlegt. Der Hirsch! Ich werde doch nicht etwa?
In Windeseile springe ich aus dem Bett und schleiche mich über den Flur ins Bad gegenüber von meinem Zimmer. Die anderen schlafen sowieso noch alle. Ich schließe die Tür hinter mir ab und versuche dabei, so leise wie nur irgend möglich zu sein. Dann gehe ich zum Spiegel und was ich da sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Mein Gesicht hat genauso viel Blut abbekommen, wie mein restlicher Körper und als ich meinen Mund öffne, kann ich nicht glauben, was ich da sehe. Überall Blut. Auf den Zähnen, zwischen den Zähnen, einfach überall! Oh Jessica, was hast du da nur angestellt?
Mittlerweile sind fast zwei Stunden vergangen, seitdem ich aufgewacht bin. Es gab reichlich zu tun. Zuallererst habe ich meine Zähne geputzt. Und das fünfmal. Danach habe ich sofort meine Kleidung und auch meine Bettwäsche entsorgt. Ich habe sie in drei schwarze Müllbeutel eingewickelt und dann zur Sicherheit noch in die Mülltonne der Nachbarn geworfen. Dann habe ich mein Bett neu bezogen, das restliche Zeug für den heutigen Ausflug eingepackt und zu guter Letzt sehr lange geduscht. Jetzt liege ich fix und fertig in meinem Bett und will erst gar nicht darüber nachdenken, was ich gestern getan habe. Mir fehlt noch jede Erklärung bezüglich dieses Ereignisses und tausende Fragen schwirren mir durch den Kopf. Gerade kommt Jane in mein Zimmer und fragt mich, was ich zum Frühstück möchte. Ich schlage ihr Angebot dankend aus. Immerhin hatte ich einen ausgiebigen Mitternachtsimbiss.
Eigentlich hätte ich eine gute Ablenkung gebrauchen können, um nicht so viel nachzudenken. Und wo bin ich gerade? Im langweiligsten Bus der Welt. Ich habe meine Kopfhörer vergessen und keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Eine halbe Stunde Fahrt habe ich schon hinter mir. Das Traurige ist, dass ich nochmal so lange warten muss. Jake sitzt neben mir und redet nicht viel. Kein Wunder. Er hätte zu Beginn der Fahrt ein Gespräch angefangen, aber ich habe ihm auf seine Fragen nur mit dem Nötigsten geantwortet. Da kam ihm vermutlich die Erkenntnis, dass ich nicht wirklich in der Stimmung zum Reden bin und nun sitzt er schweigend neben mir. Eigentlich wollte ich ihn ausfragen, was die ganze Wolfsgeschichte angeht, aber hier im Bus sind mir zu viele Leute. Was, wenn die noch hören, worüber ich mit ihm rede? Also habe ich beschlossen zu warten. Hoffentlich kommen wir bald an.
„Jess, wach auf!“ Was, aufwachen? „Komm schon, Jessica, wir sind da. Du hast die halbe Fahrt verschlafen. Die anderen sind schon alle draußen.“
„Verschlafen? Was?“ Endlich mache ich die Augen auf. Habe ich tatsächlich geschlafen? Das passiert mir doch sonst nie. Diese Stimme, das war doch Jake. Langsam blicke ich nach oben und sehe Jake, der mich anlächelt.
„Na, gut geschlafen?“ Ich bin doch tatsächlich auf Jakes Schulter eingenickt! Wie peinlich! Schnell setze ich mich wieder auf und streife mein Shirt zurecht.
Ich räuspere mich kurz und antworte dann etwas beschämt: „Tut mir leid, ich habe letzte Nacht nicht sonderlich gut geschlafen.“
„Macht doch nichts. Wir müssen aussteigen. Die anderen warten bestimmt schon.“ Von seinem Lächeln geht die gewohnte Wärme aus. Ich kann gar nicht anders und muss zurückgrinsen. Dann stehen wir beide auf und gehen nach draußen. Ich steige aus dem Bus und das Erste, was ich sehe, ist der Berg, der vor mir in den Himmel ragt. Wir haben wunderschönes Wetter und die Wiese auf dem Campingplatz ist noch etwas feucht vom Morgentau. Die Blätter der Bäume, die den gesamten Platz umgeben, sind noch grün und saftig. Ein schöner Anblick.
Die zweite Sache, die mir sofort ins Auge springt, sind meine Mitschülerinnen, die mich so ansehen, als ob sie mich jeden Moment auffressen würden. Ihnen gefällt es anscheinend gar nicht, dass ich gerade auf der Schulter des bestaussehenden Schülers ein Schläfchen gemacht habe. Ich versuche, die Situation so gut wie möglich zu ignorieren und begebe mich zu der Gruppe. Jake ist gleich hinter mir.
Miss Fielder steht mit verschränkten Armen vor mir: „Na, haben wir gut geschlafen?“ Mir gefällt ihr sarkastischer Unterton gar nicht.
„Wenn Sie schon fragen, eigentlich schon.“ Mit dem gekünsteltsten Lächeln, das ich nur aufbringen kann, grinse ich sie an.
„Pass auf, junge Dame, ich bin hier immer noch deine Lehrerin und verbitte mir jegliche Art von Scherzen!“ Am liebsten hätte ich jetzt gesagt: „Blöde Frage, blöde Antwort.“, aber ich habe es mir letztendlich doch verkniffen und nicke einfach. Dann wendet sie sich ab von mir.
Jake tippt mir auf die Schulter und flüstert mir etwas ins Ohr: „Du hattest übrigens recht. Sie ist die Unausstehlichste von allen. Die braucht dringend mal wieder einen Mann an ihrer Seite.“ Das kostet mich ein Lachen.
„Genau dasselbe sage ich auch immer!“ Wir beide brechen in Gelächter aus. Miss Fielder dreht sich kurz um und wir verstummen augenblicklich.
Genervt schüttelt sie den Kopf und wendet sich der Klasse zu: „Wir werden zuerst den Berg hinaufwandern. Oben sehen wir uns dann das Museum an und machen eine kurze Pause. Gegen Mittag werden wir umkehren.“
Recht viel Enthusiasmus ist bei der Gruppe nicht vorhanden, aber Miss Fielder ignoriert die Situation gekonnt und wandert voraus. Die anderen gehen ihr sogleich nach und auch ich will ihr folgen, als mich Jake plötzlich am Arm packt und weg von der Gruppe zerrt.
„Was soll das werden?“ Er zieht mich weg von dem Campingplatz zu dem Wald, der sich gleich daneben befindet. Hinter einem großen Busch bleibt er dann stehen und duckt sich, damit uns die anderen nicht sehen. Ich habe keinen Schimmer, was das soll. „Wärst du so freundlich, mir zu erklären, warum du das gemacht hast?“
Mit gesenkter Stimme antwortet er mir: „Okay, sei ehrlich. Willst du ernsthaft an einem so schönen Tag in einer noch schöneren Gegend diesen Berg hinaufgehen, nur um sich ein langweiliges Museum anzusehen und wieder runterzukommen?“
Ich zucke mit den Schultern: „Uns wird nichts anderes übrigbleiben.“
Jake schüttelt den Kopf: „Ich bitte dich, uns hat keiner gesehen und denen fällt es bestimmt nicht auf, wenn wir weg sind. Miss Fielder ist ja schon mit einer kleinen Klasse überfordert. Bei einer so großen Gruppe könnten zehn Schüler verschwinden und sie würde es nicht merken.“
Ich unterdrücke ein Grinsen und frage nach: „Mag ja sein, aber was willst du hier überhaupt machen? Hier ist weit und breit keine Menschenseele.“
„Ich kenne da einen Ort, der dir gefallen könnte.“ Jake grinst mich an. Was meint er nur damit? Er ist doch gerade erst hergezogen. Da kann er sich gar nicht in der Gegend auskennen.
Also frage ich weiter: „Was ist das für ein Ort?“
„Das wirst du sehen, wenn wir dort sind, aber ich garantiere dir, dass er dir gefällt.“ Ich habe ein merkwürdiges Bauchgefühl. Kurz blicke ich über den Busch hinweg und sehe, dass unsere Gruppe bereits weit entfernt ist. Also stimme ich ihm mit einem genervten Kopfnicken zu.
Wir sind ein schönes Stück gelaufen. Also beschließe ich, mich nach dem Rest des Weges zu erkundigen: „Wie weit ist es denn noch?“
Ohne sich umzudrehen antwortet mir Jake: „Wir müssen nicht mehr lange laufen. Geht dir schon die Puste aus?“
Ich verneine das: „Das ist es nicht, aber ich habe mich gefragt, woher du diesen Ort überhaupt kennst. Immerhin wohnst du noch nicht lange hier und man muss schon ein ganz schönes Stück laufen, um dorthin zu gelangen. Also, was hat es hiermit auf sich?“
Er dreht sich kurz um: „Sagen wir mal, es ist ein Familiengeheimnis.“ Hat Jake gerade ein Lächeln unterdrückt oder habe ich mir das nur eingebildet? Apropos Familie. Ich und Jake haben diese Woche eigentlich schon relativ viel unternommen, aber ich habe noch nie sein Haus gesehen, geschweige denn seine Familie.
Ohne lange nachzudenken, frage ich wieder: „Wie ist deine Familie eigentlich so?“ Jakes Miene wird auf einmal wieder ernster. War das vielleicht etwas zu direkt? Vielleicht redet er nicht so gerne über seine Eltern. Es herrscht eine kurze Stille zwischen uns. Als müsste er überlegen, was er sagt.
„Meine Familie ist großartig. Sie sind sehr offene Persönlichkeiten. Wir sind ziemlich viele, aber aufgrund gewisser Gegebenheiten sehen wir uns alle nicht mehr so oft.“ Ich habe beschlossen, nicht weiter darauf einzugehen und nicke nur. Anscheinend bereitet ihm dieses Thema großen Kummer. Während Jake gesprochen hat, konnte man beobachten, wie es ihm zugesetzt hat. Er hat seine Hand während dem Sprechen zu einer Faust geballt, als müsste er irgendetwas unterdrücken. Vielleicht Trauer? Oder Wut? Ich würde gerne nachfragen, aber ich weiß, dass das jetzt unangebracht wäre. Also lasse ich es.
Wir gehen noch ein Stückchen weiter und plötzlich sehe ich, wie vor uns langsam der Wald zu Ende geht. Ich blicke zu Jake und er nickt nur. Wir sind da. Da vorne muss der Ort sein, von dem er gesprochen hat. Ich beschleunige meine Schritte. Dann trete ich aus dem Wald und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich werde kurz geblendet und schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich das wunderschönste Fleckchen Erde, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Wir befinden uns in einem friedlichen Tal. Vor mir ist eine saftige Wiese und ein kleiner Bach bahnt sich seinen Weg durch das Areal. Dieser Ort ist nicht so riesig wie der Campingplatz, aber dafür bei weitem schöner. Rund um den Bach ist ein Kiesbett und vereinzelt liegen große Felsen da. Das Tal ist von Bäumen umgeben und liegt im Schutz des Berges. Alles ist so ruhig und friedlich. Ich fühle mich geborgen. Als wäre ich daheim angekommen.
„Habe ich zu viel versprochen?“ Aber ich antworte Jake nicht. Ich stehe nur wie angewurzelt da und sehe mir alle Einzelheiten dieses wunderbaren Ortes an. In mir steigt ein großes Glücksgefühl hoch. So sehr ich auch auf die Umgebung fixiert bin, eines fällt mir trotzdem auf. Die Tatsache, dass mich Jake von oben bis unten mustert. Er betrachtet meinen ganzen Körper, wartet auf eine Reaktion und als er in mein Gesicht sieht, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er nachdenklich wird. Er ist jedoch nicht der Einzige, der nachdenken muss, denn auch mir fällt etwas Merkwürdiges auf. Ich habe diesen Ort schon einmal gesehen. Kann das sein? Ist das möglich? Es war in meinen Träumen. Ich sehe mich noch einmal genau um und es stimmt wirklich. Alles ist genauso friedlich, genauso schön. Jede Einzelheit stimmt. Nur diesmal ist eines anders. Die Atmosphäre ist zwar ruhig und idyllisch, aber eines fehlt. Hier wirkt alles so leblos im Vergleich zu meinen Träumen. Als ich von diesem Ort geträumt habe, waren hier überall Wölfe. Ein riesiges Rudel, das so wirkte, als ob es schon ewig hier leben würde. Nur jetzt ist niemand hier. Kein einziger Wolf, geschweige denn ein ganzes Rudel.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mich Jake am Arm nimmt und mich besorgt ansieht: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, alles okay. Ich war nur überwältigt von diesem schönen Anblick. Ein toller Ort. Kommst du öfter hierher?“
„Nein, nicht mehr.“ Er wirkt nachdenklich. „In meiner Kindheit war ich öfter hier, wenn wir Verwandte besucht haben. Ein toller Platz, um herumzutoben und einfach mal die Natur zu genießen.“
„Du warst also schon mehrmals hier? Das ist dann wahrscheinlich auch der Grund, warum du und deine Eltern hierhergezogen seid.“ Jake wirkt so, als ob er sich etwas unwohl fühlen würde.
„So ist es.“ Er fühlt sich anscheinend nicht wohl, wenn ich ihn auf seine Familie, den Umzug oder sonstige Themen bezüglich seines bisherigen Lebens anspreche. Ich muss ihn irgendwie ablenken, sonst wird er wieder so nachdenklich und das habe ich gar nicht gern. Also beschließe ich, ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen, laufe los und begebe mich zu dem kleinen Bach. Jake ruft mir nach: „Darf ich dich fragen, was das wird?“
Im Laufen drehe ich mich kurz um und rufe zurück: „Genug herumgestanden, jetzt machen wir was!“
„Ich habe ehrlich gesagt keinen Schimmer, was du damit meinst!“ Aber ich gebe ihm keine weiteren Hinweise, lache nur und laufe weiter in Richtung Bach. Jake folgt mir gemächlich.
Beim Kiesbett angekommen ziehe die Schuhe aus und steige mit den Füßen in das kühle Nass. Die Sonne lacht vom Himmel und es ist ein wirklich heißer Tag. Da kann eine kleine Abkühlung nicht schaden. Jake hat mittlerweile bemerkt, was ich vorhabe und beginnt zu grinsen. Entweder er findet die Idee nicht schlecht oder er hält mich einfach nur für kindisch. Egal, was es ist, Hauptsache wir haben unseren Spaß dabei. Nun ist Jake bei mir angekommen und tut es mir gleich. Er steigt vorsichtig mit dem ersten Fuß ins Wasser. Es sieht irrsinnig komisch aus, wie er sich dabei anstellt.
Mit spöttischem Unterton frage ich nach: „Bist du etwa wasserscheu, oder was?“
„Allzu warm ist das Wasser ja nicht.“ Nun steht er auch endlich mit dem zweiten Fuß im Bach. Ich bin schon in der Mitte und mir geht das Wasser bis über die Knie, aber kalt finde ich es nun wirklich nicht. Eher erfrischend.
„Du bist vielleicht ein Weichei! Damit habe ich nicht gerechnet!“ Ich beginne zu lachen. Jake steht mit verschränkten Armen da und sieht mich vorwurfsvoll an. Dann beschließt er, sich zu verteidigen.
„Weichei? Eine Frechheit ist das! Na warte!“ Blitzschnell taucht er beide Hände ins Nass und spritzt mich mit einer vollen Ladung Wasser an. Nun bin ich diejenige, die verdutzt und pitschnass mit verschränkten Armen dasteht und Jake derjenige, der lacht. Und wie er lacht! Er kriegt sich kaum noch ein! Da muss ich ihm wohl eine dringende Lektion erteilen! Nun schreite auch ich zur Tat und diesmal bekommt Jake die volle Ladung ab. Das ist der Startschuss für eine heftige Wasserschlacht mit viel Gelächter, bei der sich keiner etwas schenkt.
Erschöpft und durchnässt liege ich nun da. Rund um mich wachsen Blumen in den verschiedensten Farben und Variationen. Jake liegt mit beiden Armen hinter dem Kopf verschränkt neben mir und starrt in den Himmel. Unsere Sachen sind schon fast wieder trocken, da die Sonne mit voller Kraft auf uns herab scheint. Ich könnte ewig hier liegen bleiben. Nur wenn ich mir die Sonne so ansehe, ist es bald schon Mittag. Das bedeutet, dass sich die anderen gerade wieder auf den Weg zum Campingplatz machen werden. Ob jemand bemerkt hat, dass Jake und ich fehlen? Jedenfalls müssen wir bald wieder zurückgehen, denn spätestens beim Bus wird Miss Fielder die Anwesenheit prüfen.
„Jake.“ Ich drehe mich zu ihm. „Wir sollten uns langsam wieder auf den Rückweg machen. Sonst fällt noch auf, dass wir beide nicht da sind.“
Langsam öffnet er die Augen und dreht den Kopf in meine Richtung: „Wieso die Eile? Es ist so schön hier.“
Ich nicke verständnisvoll: „Ja, ich weiß, aber wir bekommen Ärger, wenn wir nicht beim Bus sind. Nicht, dass er noch ohne uns losfährt.“
„Ist doch egal. Bleiben wir einfach hier.“ Wie bitte? Er muss wohl noch träumen. Ernst kann er das jedenfalls nicht meinen. „Außerdem will ich nicht wieder in die Stadt. Wie hast du das nur dein ganzes Leben lang ausgehalten?“
„Wie meinst du das? Warst du bisher nicht immer in der Stadt?“ Das kostet Jake ein Lachen.
„Nein, glaub mir, das war ich nicht.“ Sollte ich jetzt etwa ahnen, was er meint? Ich weiß nicht genau, worauf er hinauswill und sehe ihn mit fragendem Blick an. Die Antwort folgt sogleich: „Sagen wir mal so, ich bin ein Kind der Natur.“ Also entweder er spricht in Rätseln, oder ich verstehe es einfach nicht. Langsam wird mir das Ganze zu blöd und ich stehe auf. Jake rührt sich keinen Millimeter.
Ich versuche, ihn zum Aufstehen zu motivieren: „Komm jetzt, wir müssen wirklich los.“ Er schließt die Augen wieder und bewegt sich noch immer nicht.
„Du stehst mir in der Sonne.“ Soll das jetzt ein Scherz sein? Er will mich doch tatsächlich auf die Probe stellen! Gut, dieses Spiel kann man auch zu zweit spielen.
„Dann gehe ich eben ohne dich zurück.“ Schnurstracks stampfe ich an ihm vorbei in Richtung Wald.
Plötzlich ruft er mir nach: „Nur gut, dass du dir den Weg zurück gemerkt hast!“ Ich bleibe stehen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich zurückkomme. Seufzend kehre ich um.
Jake macht die Augen auf: „Schon wieder zurück? Das ging aber schnell.“ Er findet sichtlich großen Gefallen daran, mich an der Nase herumzuführen.
Ich werde lauter: „Steh jetzt endlich auf, du Faulpelz!“
„Bring mich doch dazu.“ Er beginnt zu grinsen und sieht mir direkt in die Augen. Ich beuge mich hinunter zu ihm und ziehe seine Arme hinter seinem Kopf hervor. Jake macht keine Anstalten, sich zu wehren. Gut, er hat es nicht anders gewollt. Ich nehme ihn an den Händen und versuche, ihn aufzurichten, mit wenig Erfolg. Aber so einfach lasse ich das nicht auf mir sitzen! Noch einmal ziehe ich mit aller Anstrengung an seinen Armen und siehe da, ich kann locker genug Kraft aufbringen, um ihn hochzuziehen. Jake wirkt überrascht. Offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich ihn so einfach aufrichten kann. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich das genauso wenig von mir geglaubt. Ich bin wohl stärker, als ich gedacht habe.
Nun steht Jake vor mir und sieht mich an. Ohne jegliche Gefühlsregung im Gesicht. Mit genau demselben Blick starre ich zurück. Stille. Plötzlich gehen Jakes Mundwinkel nach oben und wir beide beginnen laut zu lachen. Ich weiß nicht warum, aber ich muss einfach nur lachen. Ohne Pause. Nach einiger Zeit kriege ich mich wieder ein und auch Jake scheint langsam wieder runterzukommen: „Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Das war die Rache für die Wasserschlacht!“
„Du hast das absichtlich gemacht?“ Ich verschränke die Arme und drehe mich weg von ihm. „Da ist wohl jemand ein schlechter Verlierer.“
Jake lächelt mich an: „Oh ja, so sieht's aus.“
„Okay Jake, jetzt müssen wir aber wirklich zurück.“ Ich klinge wieder etwas ernster.
Es folgt ein enttäuschtes Seufzen: „Ernsthaft? Ich habe ehrlich gesagt immer noch keine Lust dazu.“
Schulterzuckend grinse ich: „Ich auch nicht, aber es ist nun mal so.“
„Ich lege mich lieber nochmal hin.“ Jake lächelt herausfordernd.
Darauf entgegne ich lachend: „Ich kann dich sowieso ohne Probleme zum Aufstehen zwingen!“
„Ich enttäusche dich ja nur ungern, aber wenn ich mich wehre, kriegst du das nicht hin.“ Provokant legt er sich wieder ins Gras. Mir bleibt wohl keine andere Wahl. Also schnappe ich erneut seine Hand und ziehe mit aller Kraft an dieser, leider ohne Erfolg. Noch einmal, wieder nichts. Diesmal hält Jake dagegen. In seinem Gesicht ist jedoch keinerlei Anstrengung zu erkennen. Ich bringe alle Kraft auf, aber keine Chance.
Plötzlich schreitet Jake zur Tat. Blitzschnell befreit er seine Hand und packt stattdessen meine. Mit einem heftigen Ruck zieht er mich zu sich, sodass ich mein Gleichgewicht verliere und ihm entgegenfalle. Gekonnt stützt mich Jake ab und rollt sich zur Seite. Alles ist innerhalb von wenigen Sekunden geschehen. Nun liege ich auf dem Rücken und Jake ist über mir. Sein Gesicht ist nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Aber ich fühle mich nicht schlecht. Im Gegenteil. Ich fühle mich sogar sehr gut. Und in diesem Moment kommt mir das erste Mal der Gedanke, dass ich Jake vielleicht doch nicht nur als sehr guten Freund sehe. Er sieht mir direkt in die Augen und lächelt mich an: „Wer ist nun der Stärkere? Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.“
Etwas verdutzt antworte ich ihm: „Nein, nein. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass du mich so schnell zu Boden werfen kannst. Und vor allem so gekonnt.“
Grinsend fixiert er meine Augen: „So bin ich eben.“
„Du bist was Besonderes.“ Habe ich das eben laut gesagt? Ich spüre richtig, wie mein Gesicht rot wird, aber Jake sieht gar nicht verwundert aus. Eher geschmeichelt. Und wieder strahlt er seine übliche Ruhe aus. Ihm scheint die Situation nichts auszumachen.
„Du bist auch etwas Besonderes.“ Es herrscht Stille zwischen uns. Keiner sagt ein Wort. Wir sehen uns nur in die Augen und lächeln. Diese Augen, diese wunderschönen Augen. An ihm ist alles perfekt. Von oben bis unten. Jedes Detail stimmt. Sein Körper, seine Haare, sein Gesicht. Und diese Lippen.
Jake kommt langsam näher. Sein Gesicht rückt an meines heran. Ich presse meine Hände an seinen Brustkorb. Nun ist er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt und ich spüre bereits seinen Atem. Jake schließt die Augen. Langsam lässt die Kraft in meinen Armen nach. Jake kommt mir immer näher und schließlich berühren seine Lippen schon fast die meinen.
Plötzlich zuckt Jake zusammen. Ich spüre, wie er jeden Muskel anspannt und er reißt seine Augen auf. Blitzschnell drückt er sich vom Boden ab und springt auf. Dann nimmt er meine Hand und richtet auch mich mit einem Ruck auf. Alles geht so schnell. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht: „Was ist denn los?“
„Ruhig. Mach keinen Mucks.“ Jake hat seine Stimme gesenkt. Er spricht sehr leise, flüstert schon fast. Gehetzt blickt er um sich. Sein ganzer Körper ist angespannt.
Auch ich spreche nun leiser: „Würdest du mir erklären, was hier vor sich geht?“
Er antwortet schnell und direkt: „Beweg dich einfach nicht. Und atme ruhiger. Ich spüre Gefahr.“
„Gefahr? Was meinst du damit?“ Langsam macht er mir Angst.
„Spürst du es nicht auch?“ Jetzt wo er es sagt, fühle ich wirklich ein Unwohlsein. Als würde sich etwas nähern. Etwas Gefährliches.
Ich blicke in alle Richtungen und stehe mit dem Rücken zu Jake. Gehetzt sehe ich mich um und mein Puls wird immer schneller. Ich spüre die Gefahr regelrecht. Plötzlich sehe ich es. Ich sehe die Ursache für mein Unwohlsein. Starr vor Angst blicke ich in den Wald und erkenne, wie sich ein Bär nähert. Das Biest ist riesig. Ich schaue ihm direkt in die Augen, die mich mustern. Aus seinem gigantischen Maul ragen scharfe Zähne. Er kommt immer näher. Ich mache einen Schritt zurück und drücke mich an Jakes Rücken. Leise flüstere ich ihm ins Ohr: „Jake? Ich glaube, ich kenne nun die Gefahr.“
Jake dreht sich langsam um und reißt die Augen weit auf, als er den Grizzlybären sieht. Ich zittere am ganzen Körper. Was sollen wir nur machen? Dieses Vieh ist riesig! So einen großen Bären habe ich noch nie zu Gesicht bekommen! Allein seine Pranken sind so groß wie mein Kopf! Ein Schlag mit diesen Dingern und mein Leben ist vorbei! Verzweifelt suche ich Blickkontakt zu Jake. Er jedoch blickt nur in die Augen des Bären. Dieser fixiert nun auch Jake. Beide starren sich an, als wären sie Gegner. Plötzlich richtet der Bär seine Augen auf mich und reißt das Maul auf. Jake reagiert sofort und stellt sich vor mich: „Untersteh dich! Du wirst sie nicht anrühren!“
Stotternd kralle ich mich an ihm fest: „Was meinst du damit?“
Er wendet seinen Blick nicht von dem Bären ab: „Hör zu, er wird gleich losstürmen und es sieht so aus, als wäre seine Wahl auf dich gefallen.“
Nun drücke ich mich noch fester an ihn: „Was? Heißt das, dass er uns gleich angreifen wird? Oder besser gesagt, mich angreifen wird?“ Jake schweigt kurz.
Dann antwortet er: „Ja, das heißt es.“
„Wir müssen weglaufen, auf einen Baum klettern, irgendwas!“ Hektisch sehe ich mich um und suche eine Möglichkeit, um zu fliehen.
Jake schüttelt den Kopf: „Keine Chance, er hätte dich binnen Sekunden.“
„Schlag doch etwas Besseres vor!“ Verärgert lasse ich ihn wieder los.
„Du musst keine Angst haben. Ich werde dich beschützen. Geh einfach ein paar Schritte zurück und lauf auf keinen Fall weg, hast du verstanden?“ Was redet er da bloß für einen Schwachsinn?
Ich schüttle den Kopf: „Wie meinst du das? Hast du dir das Biest schon mal angesehen? Was willst du gegen dieses Ungeheuer unternehmen? Es erschrecken, oder was?“
Jake kneift die Augen etwas zusammen und lächelt: „Ich bevorzuge zu kämpfen. Und jetzt geh bitte ein paar Schritte zurück.“
Ich will noch etwas einwenden: „Aber...“
„Tu es einfach! Vertrau mir!“ Leichter gesagt als getan. Ich meine, das kann doch nicht sein Ernst sein! Kämpfen? Ist er jetzt vollkommen wahnsinnig? Oder vielleicht? Mir kommt ein Gedanke, den ich zuvor stets verdrängt habe. So trete ich zurück. Jake sieht mir nach. „Danke für dein Vertrauen und vergiss bitte nicht, wer ich eigentlich bin. Ich will nicht, dass du ein falsches Bild von mir bekommst.“ Jetzt ist es eindeutig. Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt. Aber jetzt habe ich wirklich andere Sorgen. Selbst, wenn es so sein sollte, heißt das nicht, dass er eine Chance gegen den Grizzlybären hat.
Verzweifelt schaue ich ihm nach: „Pass bitte auf dich auf.“ Jake wirft mir noch ein letztes Lächeln zu. Dann konzentriert er sich auf den Bären. Dieser steht noch immer wie angewurzelt da und fixiert mich. Mir zittern die Knie.
„Hey, hier ist dein Gegner!“ Jake zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Langsam nähert sich das Ungetüm. Es setzt einen Schritt vor den anderen und kommt immer näher. Jake geht in leichte Schrittstellung und spannt seinen Körper an. Man sieht jeden Muskel. Der Grizzlybär bleibt stehen. Stille. Die Situation ist höchst unangenehm. Wie die Ruhe vor einem Sturm. Plötzlich geht alles unglaublich schnell. Der Bär reißt das Maul auf und sein Brüllen hallt noch weit in die Ferne. Das riesige Muskelpaket setzt sich in Bewegung und läuft direkt auf Jake zu. Dieser rührt sich nicht vom Fleck. Nur noch ein paar Meter und der Bär ist da! Ich kann gar nicht hinsehen!
Dann läuft auch Jake los. Beide sehen sich bedrohlich in die Augen und steuern genau aufeinander zu. Keiner denkt daran auszuweichen. Und plötzlich geschieht es: Jake drückt sich mit seinen Beinen vom Boden ab und fliegt in hohem Bogen dem Bären entgegen. Ich würde am liebsten laut aufschreien, aber die Angst hat meinen Körper nun voll im Griff. Der Bär reißt das Maul auf und richtet seine vorderen Pranken auf. Jake fliegt ihm entgegen und landet mit dem linken Fuß gekonnt auf dem Kopf des Bären, zieht den Rechten nach und gibt dem Grizzly einen saftigen Tritt auf die Schnauze, sodass dieser vor Schmerz aufbrüllt. Im selben Moment drückt sich Jake wieder von dessen Kopf ab, stützt sich mit den Armen auf dem Rücken des Bären ab und stößt sich weg von diesem. So landet er elegant auf seinen Beinen und steht ohne einen Kratzer hinter dem Grizzlybären, der nun noch wütender zu sein scheint.
Momentan scheint Jake noch alles im Griff zu haben, wenn er da nicht eine Kleinigkeit übersehen hätte: die Tatsache, dass der Bär jetzt direkt vor mir steht! Mit seiner rechten Pranke reibt er sich noch über die Schnauze und sieht zu Boden. Plötzlich schaut er jedoch auf und wendet seinen Blick mir zu. Ich bin noch immer starr vor Angst und kann mich nicht rühren. Am liebsten würde ich schreiend davonlaufen, aber ich bin wie gelähmt. Der Bär holt tief Luft. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, stößt er ein heftiges Brüllen aus, dass noch viel lauter ist als zuvor. Ich lasse einen Schrei los und knicke zusammen. Zitternd sitze ich nun auf dem Boden und der Bär kommt näher. Er hebt seine Pranke und holt aus. Ich kann mich noch immer nicht bewegen, sitze nur starr vor Angst im Gras und sehe meinem Schicksal ins Auge.
„Jessica!“ Wie aus dem Nichts höre ich Jakes Stimme. Ich sehe nur aus dem Augenwinkel, wie er auf mich zustürmt. Dann geschieht das Unglaublichste, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe: aus Jakes Fingern beginnen scharfe Klauen zu wachsen. Das Gleiche geschieht mit seinen Füßen. Aus seinen Schuhen ragen schon die schwarzen Krallen. An Jakes Armen und Beinen beginnen plötzlich weiße Haare zu sprießen. Seine Ohren werden spitzer, seine Augen leuchten immer mehr und aus seinem Mund blitzen messerscharfe Zähne hervor. Schließlich springt er hoch in die Luft, direkt vor die Sonne, sodass und ich meine Augen schließen muss. Als ich diese wieder öffne, sehe ich das prächtigste aller Tiere nur wenige Meter entfernt von mir stehen.
Also waren all meine Befürchtungen wahr. Alle Hirngespinste, die ich mir wieder ausgeredet habe, waren Realität. Ein Wolf. Jake ist ein Wolf. Und was für einer! Majestätisch steht er da. Seine Größe ist dem Grizzly ebenbürtig. Das weiße Fell glänzt in der Sonne und Jakes Augen leuchten heller denn je. Mächtige Klauen zieren jede seiner Pfoten. Seine Zähne sind messerscharf. Einfach unglaublich. Auch der Grizzlybär muss gemerkt haben, dass sich etwas verändert hat. Er steht zwar mit dem Rücken zu Jake, aber in seinen Augen erkennt man deutlich, dass er die Verwandlung gespürt hat. Langsam senkt der Bär seine Pranke wieder und dreht sich um. Er ignoriert mich völlig. Seine Aufmerksamkeit liegt nun ganz auf dem Wolf, der ihm gegenübersteht.
Jake setzt sich in Bewegung. Behutsam streift er um den Bären und umkreist diesen. Jede seiner Bewegungen strahlt höchste Ruhe und Gelassenheit aus und die Spannung, die in der Luft liegt, raubt mir den Atem. Elegant zieht Jake Kreise um den Grizzly, die immer enger und enger werden. Der Bär ist bei weitem nicht so ruhig. Im Gegenteil. Die ungewohnte Situation scheint das Tier nervös zu machen. Gehetzt blickt er hin und her, weiß nicht wie er sich verhalten soll und atmet immer unregelmäßiger. Schließlich hält er die Spannung nicht mehr aus und der Bär geht zum Angriff über. Dies ist der Auslöser für einen heftigen Kampf.
Mit einem Prankenschlag wirft der Bär Jake zu Boden. Dieser schüttelt den Schmerz kurzerhand ab und richtet sich knurrend auf. Mit weit aufgerissenem Maul geht er dem Grizzly an die Gurgel. Er verbeißt sich tief im Fleisch und lässt nicht mehr los. Unter Schmerzen brüllt der Bär auf und stellt sich auf die Hinterbeine. Dann wirft er sich mit seinem ganzen Gewicht auf Jake, der dem Grizzly noch immer an der Gurgel hängt. Daraufhin löst Jake seinen Biss und entfernt sich ein paar Schritte vom Gegner. Jake sieht wie eine wilde Bestie aus mit dem ganzen Blut, das auf seinem weißen Fell klebt. Seine Pupillen sind klein geworden und wenn ich ihn mir so ansehe, erkenne ich ihn kaum wieder. Wenn ich ehrlich bin, macht er mir sogar etwas Angst. Der Kampf geht weiter. Jake will dem Bären wieder an die Gurgel gehen, aber diesmal geht etwas schief. Bevor Jake sich wieder in dessen Hals verbeißen kann, fährt der Bär mit dem Kopf unter Jakes Körper und wirft diesen hoch in die Luft.
„Oh nein, Jake!“ Er setzt sein Leben ein, um mich zu retten und ich kann nichts anderes tun, als daneben zu stehen und zuzusehen. Das macht mich krank! Ich würde so gerne etwas unternehmen. Jake versucht verzweifelt, sich in der Luft zu drehen, aber er schafft es nicht. Dann übernimmt leider die Schwerkraft den Rest und Jake fällt aus großer Höhe. Und als ob das nicht schon reichen würde, wartet der Grizzly bereits unten auf ihn. Während Jake noch im freien Fall ist, reagiert der Bär und rammt ihn mit einem gewaltigen Kopfstoß weg. Mit großer Wucht prallt Jake auf den Boden und kommt wenige Meter vor meinen Füßen zum Stehen. Sein Fell ist zerzaust und vom Blut verklebt. Fix und fertig liegt Jake nun auf dem Boden und atmet schwer. Am liebsten würde ich jetzt zu ihm hinlaufen und ihm wieder auf die Beine helfen, aber das ist nicht möglich, denn der Grizzlybär kommt gerade näher. Ohne Jake noch weiter zu beachten kommt er auf mich zu. Verdammt, steh doch auf Jake! Aber so sehr ich ihm auch vertraue, ich glaube nicht, dass sich Jake nochmal aufrichten kann. Das war's dann wohl. Mein letztes Stündlein hat geschlagen.
„Ich danke dir, Jake. Du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um mich zu beschützen.“ Die Angst verschlägt mir die Stimme.
„Was redest du denn da? Glaubst du, dass ich so leicht aufgebe? Ich lasse mich doch nicht von so einem Teddybären unterkriegen!“ Ich glaube das nicht. Will er jetzt ernsthaft noch weitermachen?
Sofort versuche ich, ihn davon abzuhalten: „Wie meinst du das? Du bist völlig am Boden! Hör auf damit, solange du noch kannst!“
„Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich beschütze.“ Langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht richtet sich Jake auf. „Und.“ Seine Beine zittern. „Ich halte meine Versprechen auch!“ Er ist wieder auf den Beinen.
Entsetzt schreie ich ihn an: „Du wirst dich noch umbringen!“
„Besser ich als du!“ Ich weiß nicht mehr, was ich darauf entgegnen soll. Stur bleibt Jake stehen. Der Bär kommt immer näher, aber Jake macht nicht die geringste Anstalt, sich zu bewegen. Er wartet nur ab. „Okay, hör gut zu. Ich habe dir doch gesagt, dass du auf keinen Fall davonlaufen sollst, weil er dich sonst erwischt.“
„Ja, worauf willst du hinaus?“ Mir schwant Übles.
„Vergiss, was ich gesagt habe! Wenn mich das Vieh erneut angreift, läufst du so schnell du kannst, okay?“
Ich versuche, mich zu wehren: „Aber...“
„Keine Widerrede! Du läufst quer über die Grasfläche und dann in den Wald hinein. Laufe immer nach Westen! Richte dich nach der Sonne und was am allerwichtigsten ist: bleib auf keinen Fall stehen! Auch wenn er mich noch so sehr zurichtet, du wirst weiterlaufen, hast du das verstanden?“ Was soll ich darauf nur sagen? Einerseits will ich mein Leben retten, aber andererseits will ich Jake nicht zurücklassen! Was soll ich nur tun?
Jake atmet noch einmal tief durch. Der Bär steht vor ihm und beide sehen sich in die Augen. Mein ganzer Körper ist unter Spannung. Ich halte das alles nicht aus! Plötzlich drückt sich Jake vom Boden weg und springt den Bären an. Er wirft sich gegen das Ungetüm, sodass er das Gleichgewicht verliert. Das ist der Startschuss für mich. So schnell ich nur kann laufe ich los. Quer über die Wiese. Ohne mich umzudrehen. Doch dann passiert etwas, das mich zum Anhalten zwingt. Ein Geräusch, das meine Beine lähmt und mich dazu bringt, dass ich mich umdrehe. Es war Jakes Jaulen. Ein hilfloses Jaulen, nachdem er einen heftigen Schlag einkassiert hat. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und schaue von weitem zu, wie Jake mit gesenktem Haupt vor dem Bären steht. Völlig außer Atem und mit Wunden über dem ganzen Körper verteilt steht er vor ihm. Als hätte er bereits aufgegeben. Der Bär setzt zum finalen Schlag an. Mit seiner riesigen Pranke schleudert er Jake gegen einen Baum. Ich merke, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllen. Jake liegt am Boden. Er rührt sich nicht mehr und hat die Augen schon fast geschlossen. Seine wunderschönen, bernsteinfarbenen Augen. Ich kann nicht zulassen, dass er sie für immer schließt! Der Bär geht auf Jake zu. Das ist zu viel für mich! Ich kann nicht zusehen! Ich muss ihm helfen! Ich muss handeln!
Plötzlich überrumpelt mich eine riesige Menge an Gefühlen. Ich spüre Angst, Kummer, Wut, Hass, Verzweiflung, aber vor allem Schuld. Die Schuld, dass Jake nur wegen mir in dieser Lage ist und ich ihm nicht einmal helfen kann. Diese Hilflosigkeit macht mich krank! Ich hasse es, nichts unternehmen zu können! Ich will helfen! Und das werde ich auch! Plötzlich spüre ich eine Kraft in mir, die aus dem Nichts zu kommen scheint. Stärke durchströmt meinen Körper und ich fühle, wie sich plötzlich etwas verändert, wie ich mich verändere. Meine Finger- und Zehenspitzen fühlen sich so komisch an. Ich hebe meine Hände. Was ich dann sehe, raubt mir den Atem.
Es ist dasselbe Phänomen, wie bei Jake. Immer länger werdende Klauen wachsen aus meinen Fingern, wo eigentlich meine Nägel sein sollten. Ich kann es nicht fassen! Vorsichtig fahre ich mit meiner Zunge über die Zähne. Sie sind scharf wie Rasierklingen! Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf, aber leider nur eine Antwort und diese wage ich nicht auszusprechen. Jedoch, so schlimm diese Situation auch ist, ich darf nicht länger darüber nachdenken, denn Jake ist noch immer in Lebensgefahr. Ich muss ihm helfen und augenblicklich steigt ein merkwürdiges Gefühl in mir hoch. Obwohl ich mit dieser Lage völlig überfordert bin, weiß ich dennoch genau, was ich zu tun habe.
Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Ich spüre eine noch nie zuvor da gewesene Kraft. Eine Kraft, die ich umsetzen muss. Also laufe ich los. Ich laufe und laufe, schneller als je zuvor. Währenddessen merke ich, wie sich meine Wirbelsäule verbiegt und es fällt mir immer schwerer, aufrecht zu bleiben. Die Verwandlung geht rasend schnell voran. Als ich während dem Laufen auf meine Arme und Beine blicke, sehe ich bereits die schwarzen Wolfsbeine, von denen nichts Menschliches mehr ausgeht. Plötzlich spüre ich einen Stich im Rücken und es ist mir nicht länger möglich, aufrecht zu stehen. Ich falle bei vollem Tempo auf meine Hände und laufe so weiter.
Jake liegt mit geschlossenen Augen auf dem Boden und der Grizzly beugt sich bereits vor. Nein, er wird ihn töten! Instinktiv senke ich meinen Kopf, sodass meine Stirn nach vorne zeigt. Nur noch wenige Meter! Ich nutze die enorme Geschwindigkeit, die ich aufgenommen habe und drücke mich vom Boden ab. Mit der Stirn voran pralle ich mit voller Wucht auf das Ungetüm und schleudere den Bären weg von Jake. Diesmal ist der Grizzly derjenige, der gegen einen Baum geworfen wird und bei der Wucht des Aufpralls wird die riesige Eiche gleich mitgerissen. Nun liegt er da. Mein Gegner liegt auf dem umgefallenen Baumstamm und rührt sich nicht mehr. Blut tropft aus seiner Nase. Jake! Sofort wende ich mich ihm zu. Er sieht schrecklich aus. Sein ganzes Fell ist voller Blut und er atmet nur noch schwer.
„Jake? Jake? Wach doch auf! Bitte, wach auf!“ Keine Reaktion. Der Kampf hat ihm alle Kraft geraubt. Wenn er doch zumindest seine Augen öffnen würde! Sanft stupse ich ihn mit der Nase an, aber er rührt sich nicht. Ich lege meine Pfote auf seine Schulter und versuche, ihn wach zu kriegen, aber er reagiert einfach nicht. „Oh Jake, bitte wach auf! Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll! Du bist mir so unendlich wichtig! Ich will nicht, dass du gehst! Komm schon, das kannst du mir doch nicht antun!“ Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich kann meine Trauer nicht länger zurückhalten und beginne zu weinen. Langsam kullert eine Träne über meine Schnauze nach vorne und tropft über meine Nasenspitze auf Jakes Gesicht.
Plötzlich öffnet er die Augen: „Jess? Bist du das?“
„Jake, du lebst! Du lebst! Ich kann es gar nicht fassen!“ Voller Freude jaule ich auf und kuschele mich zu ihm.
„Immer langsam, Jess! Du erdrückst mich noch!“ Unglaublich, dass er selbst in dieser Situation noch lachen kann. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass dir nichts passiert ist.“ Wie war das? Ausgerechnet er macht sich Sorgen um mich?
Ich ermahne ihn mit vorwurfsvollem Unterton: „Ist das dein Ernst? Dieses Biest hätte dich fast getötet und du machst dir Sorgen um mich? Du bist verrückt.“
Er lacht: „Stimmt eigentlich, aber eines muss man dir lassen, du warst auch nicht übel. Wie eine richtige Wölfin.“ Ja genau, ich und eine richtige Wölfin, sonst noch was? Moment! Vor lauter Aufregung und Sorge habe ich das völlig verdrängt! Wie ist das nur möglich? Aber was noch merkwürdiger ist, wieso ist Jake nicht überrascht? „Jessica? Habe ich was Falsches gesagt?“
„Nein, nein, aber eines verstehe ich nicht ganz. Wieso überrascht es dich nicht? Ich meine, ich habe selbst nicht gewusst, dass ich sowas kann.“ Jake sieht schuldbewusst zu Boden. Was hat das alles nur zu bedeuten?
Ohne aufzuschauen beginnt er zu sprechen: „Ich habe es schon vorher gewusst.“
Ich bin entsetzt: „Was? Wie konntest du so etwas wissen?“
„Wir Wölfe spüren einen Artgenossen, wenn er vor uns steht. Dich habe ich sogar schon von Weitem erkannt. Wenn ich ehrlich bin, bist du sogar der einzige Grund, warum ich hier bin.“ Das darf doch wohl nicht wahr sein.
„Ich verstehe nicht ganz.“ Was genau versucht Jake mir gerade zu sagen?
Er schüttelt den Kopf: „Es würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen, um dir das alles zu erklären. Ich würde sagen, wir verschieben das Ganze.“ Verschieben? Was redet er da? Es geht hier immerhin um mich, um meine Vergangenheit und meine Zukunft. Ich will alles wissen und nicht nur einen Teil!
Also schreie ich ihn an: „Das soll wohl ein Scherz sein! Ich will sofort die Wahrheit wissen! Und damit meine ich die ganze Wahrheit, von Anfang an!“
Mit sarkastischem Unterton antwortet er: „Ich dachte, du willst unbedingt zur Gruppe zurück, Jess?“
Ich atme tief durch. Dann folgt ein Kopfschütteln: „Mittlerweile können wir das auch schon vergessen. Ärger bekommen wir so oder so. Außerdem, wie willst du in deinem Zustand zurückgehen?“
Ein zurückhaltendes Grinsen schleicht über seine Lippen: „Du willst wirklich alles wissen?“
Ich nicke: „Bis ins kleinste Detail.“
Er setzt fort: „Es ist eine ziemlich heftige Geschichte. Ich weiß nicht, ob du mit allem klarkommen wirst.“
Wieder nicke ich: „Ich schaffe das schon.“
„Du wirst vieles nicht verstehen können, ich meine...“
„Verdammt nochmal, Jake! Ich will alles wissen, von Anfang bis zum Ende! Jede noch so unwichtige Kleinigkeit! Keine Angst, ich verkrafte das schon!“ Jake sieht mich besorgt an. Es ist nett von ihm, dass er mich schonen will, aber das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Er atmet tief durch: „Nun gut, ich erzähle dir alles, aber könntest du mir zuerst aufhelfen?“ Ich nicke. Vorsichtig unterstütze ich Jake beim Aufstehen. Es geht nur sehr langsam voran, aber als er dann endlich wieder auf allen Vieren steht, stütze ich ihn so gut es nur geht ab und gemeinsam schleppen wir uns zum Wasser.
Es hat gedauert, bis Jake seinen Durst gestillt und die Wunden einigermaßen versorgt hat. Ich bin in der Zwischenzeit daneben gesessen und habe mir überlegt, was ich nun alles erfahren könnte, aber allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht.
Wie ich wohl aussehe? Ich gehe zum Wasser und blicke hinein. Man kann nicht viel erkennen. Das Einzige, was ich sehe, ist eine riesige schwarze Silhouette. Als ich auf meinen Schatten blicke, merke ich erst, wie groß ich eigentlich bin. Ein richtiges Ungeheuer. Gerade schießt mir der Gedanke an letzte Nacht durch den Kopf. Ich habe das arme Tier getötet. Jetzt besteht kein Zweifel mehr. So merkwürdig es auch klingen mag, aber irgendwie habe ich gewusst, dass ich anders bin. Nicht nur wegen den Ereignissen der letzten Tage, auch vorher war es mir klar.
Was ist denn jetzt los? Als ich wieder auf mein Spiegelbild im Wasser blicke, erkenne ich gar kein schwarzes Ungetüm mehr, sondern einen Menschen. Ich sehe mein Gesicht wieder. Habe ich mich etwa zurückverwandelt? Ohne etwas zu merken? Ach du meine Güte! Hektisch blicke ich an meinem Körper herab. Was für ein Glück.
Plötzlich höre ich Jakes schallendes Gelächter: „Ich kann nicht mehr!“ Er kriegt sich kaum noch ein. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen, als du an dir hinuntergeschaut hast! Hast du etwa Angst gehabt, dass du nichts mehr anhast?“ Ich spüre richtig, wie ich rot werde. Kann doch sein, dass meine Kleidung weg ist. Jake, der ebenfalls wieder seine menschliche Gestalt angenommen hat, kugelt sich regelrecht vor Lachen.
Ich verschränke die Arme: „Jetzt krieg dich doch wieder ein! Kann doch sein, dass ich plötzlich nackt bin! Woher soll ich denn wissen, wie das läuft?“
Langsam hört Jake wieder auf mit dem Gelächter: „Tu dir keinen Zwang an!“
Gut, eines nach dem anderen: „Wie kommt es, dass ich meine Kleidung noch immer anhabe?“
„Das kann ich dir auch nicht genau sagen. Ich weiß nur, dass eine alte Legende besagt, dass vor vielen Jahren ein Zauber auf alle Wölfe gelegt wurde. Zum Dank für ihre Existenz als Wesen purer Reinheit erlangten wir die Fähigkeit, uns in Menschen zu verwandeln, um von ihnen nicht als Feinde angesehen zu werden. Damit wir auch in einer neuen Welt, die von den Menschen regiert wird, in Ruhe leben können und uns nicht ständig Gedanken über unsere Verwandlung machen müssen, wurde die Sache mit der Kleidung gleich in den Zauber miteinbezogen.“ Jake grinst, als würde er das auch nicht so ganz glauben.
Ich bin noch etwas skeptisch: „Klingt ja alles sehr fraglich.“
Er zuckt mit den Schultern: „Wenn man in der Welt der Wölfe aufwächst, denkt man nach geraumer Zeit nicht mehr über sowas nach.“
Etwas vorsichtig beginne ich zu fragen: „Jake? Wie lange bist du eigentlich schon ein Wolf? Oder besser gesagt, wie lange weißt du es schon?“
„Nicht so zurückhaltend!“ Er lächelt mich an. „Mal überlegen, eigentlich so lange ich denken kann. Ich wusste von klein auf, dass ich ein Wolf bin und bin auch als einer aufgewachsen. Das Wort Mensch fand ich noch nie passend für mich.“ Wie abwertend er das gerade gesagt hat. Als wäre es eine Beleidigung.
„Hast du etwas gegen die Menschen?“ Schon komisch, so über dieses Thema zu sprechen. Heute Morgen habe ich mich selbst noch zu den Menschen gezählt.
Jake zögert: „Das trifft die Sache nicht ganz. In meinen Augen ist das noch untertrieben. Wenn ich ehrlich bin, mag ich die Menschen von Grund auf nicht. Nicht nur, weil sie die niedere Rasse sind, sondern auch aus persönlichen Gründen.“
„Und die wären?“ Die Direktheit meiner Frage scheint ihn zu überraschen.
Jake grübelt. Seine Stimmung hat sich plötzlich verändert. Er ist ernst geworden: „Meine Familie. Ich habe sie durch einen Menschen verloren. Genauer gesagt durch einen Jäger. Ich war noch sehr jung, dennoch erinnere ich mich an jedes Detail. Wir waren etwas weiter weg von unserem Rudel. Ich habe mit meinem Vater im Unterholz gespielt. Meine Mutter hat uns von weitem beobachtet. Alles schien ruhig und friedlich zu sein, aber das war es nicht. Ohne es zu ahnen, spielten wir weiter, als wir plötzlich einen Schuss hörten. Keiner von uns dachte nur eine Sekunde lang nach und wir rannten sofort zu meiner Mutter, aber es war bereits zu spät. Der Jäger stand auf einer Lichtung, mein Vater griff ihn an. Es kostete ihn wenig Anstrengung, ihn zu töten, aber mit einem zweiten Jäger hatte er nicht gerechnet. Von weitem musste ich mitansehen, wie die Kugel ihn traf.“ Jake spricht nicht mehr weiter. Er ist zutiefst verletzt. Es folgt eine lange Stille. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte.
Jake setzt fort: „Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Anstatt mich zu verstecken, bin ich weggelaufen. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass das eine dumme Idee war, denn ich hatte mich zu weit von meinem Rudel entfernt. Auch nach tagelanger Suche fand ich sie nicht mehr. Ich war noch sehr jung, konnte mich weder orientieren noch verteidigen. Das Jagen war zu diesem Zeitpunkt auch nicht meine größte Stärke. Ein paar kleine Tiere habe ich erwischt, aber von dem konnte ich nicht ewig leben. Durch einen glücklichen Zufall fand ich mich nach einiger Zeit am Waldrand wieder und zu meinem Vorteil war nahe dem Wald eine Stadt. In meiner Verzweiflung mischte ich mich unter die Menschen. Zum Glück beherrschte ich die Verwandlung in einen von ihnen. Und so lebte ich unter ihnen, zog von Stadt zu Stadt und schlief in der Gosse. Durch Taschendiebstahl kam ich über die Runden.“ Und ich dachte, mein Leben wäre eine Tragödie. „Na Jess, hat es dir die Sprache verschlagen?“ Jake lächelt mich an.
Etwas verdutzt schüttle ich den Kopf: „Nein, nein. Das Ganze war nur eine heftige Geschichte. Damit habe ich nicht gerechnet. Du musstest viel ertragen.“
Er zuckt mit den Schultern: „So ist das Leben. Ich hoffe, du verstehst nun, warum ich die Menschen nicht ausstehen kann.“
Ich zögere etwas, bevor ich versuche, ihm meinen Standpunkt näher zu bringen: „Ja schon, aber es gibt auch andere, nette Menschen.“
„Ach, tatsächlich?“ Jake hat einen ironischen Unterton in der Stimme. „Die musst du mir zeigen.“
Sein Sarkasmus gefällt mir nicht: „Jetzt tu nicht so! Was ist mit George und Jane? Die beiden haben mich großgezogen. Sie waren immer sehr gut zu mir.“
„Ja, weil sie glauben, dass du ein Mensch bist, so wie sie.“ Was soll das jetzt wieder heißen? Er lacht spöttisch: „Glaubst du allen Ernstes, dass sie dich noch immer so freundlich aufnehmen würden, wenn du als Wolf vor ihnen stehst? Sie würden dich verstoßen! Ohne Kompromiss!“
„Das weißt du doch gar nicht!“ Jetzt bin ich sauer. Wie kann er es nur wagen, so über sie zu reden? Sie sind zwar nicht meine leiblichen Eltern, aber George und Jane haben mich immer wie ihre eigene Tochter behandelt. Sie würden mich nie einfach so weggeben. Egal, was passiert.
Aber Jake bleibt stur: „Natürlich weiß ich das! Glaub mir, Menschen sind immer nett und freundlich ihrer eigenen Rasse gegenüber, aber wenn es um andere Lebewesen geht, sind sie herzlos. Sie fühlen sich in ihrer Dominanz bedroht und machen dann kurzen Prozess.“
Jetzt werde ich noch lauter: „Das ist doch gar nicht wahr! Du kannst nicht einfach alle als großes Ganzes betrachten, nur weil du bisher nur schlechte Erfahrungen mit Menschen hattest! Ich sollte das am besten wissen, immerhin habe ich mein bisheriges Leben mit ihnen verbracht!“
Kopfschüttelnd verschränkt er die Arme: „Glaub doch, was du willst, aber eines musst du mir noch erklären.“
Genervt frage ich nach: „Und das wäre?“
„Was wirst du jetzt tun, nachdem du erfahren hast, dass du eine Wölfin bist? Willst du weiter bei den Menschen bleiben? Weiter eine Lüge leben?“ Ich kann es nicht fassen! Wie kann er so etwas nur fragen? Leider ist sein Einwand jedoch berechtigt. Was werde ich tun? Einfach so weiterleben wie bisher?
Jake gebe ich jedenfalls nicht nach. Dazu bin ich im Moment viel zu sauer auf ihn: „Natürlich werde ich so weiterleben! Immerhin hat das doch immer gut funktioniert oder etwa nicht?“
„Ach, so ist das. Du warst immer glücklich bei den Menschen, nicht wahr?“ Schon wieder diese Ironie in seiner Stimme.
„Wenn du alles besser weißt, dann musst du mir eines erklären: was sollte ich denn deiner Meinung nach sonst machen?“
„Abhauen natürlich!“ Was redet er da? „Weg von hier! In die Wildnis hinaus!“
Ungläubig schüttle ich den Kopf: „Abhauen? Einfach so? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Das könnte ich George und Jane doch niemals antun! Sie würden umkommen vor lauter Sorge um mich! Außerdem könnte ich da draußen nie überleben!“
„Dafür hast du ja immerhin mich.“ Nun fehlen mir die Worte. Jake hat tatsächlich vorgeschlagen, dass ich von hier verschwinde. Für immer. Einfach weg mit ihm, wohin auch immer es uns verschlägt. Ausbrechen aus meinem Käfig, endlich frei sein, ohne Regeln und ohne Gesetz. Das ist doch absurd.
„Nein Jake, dafür bin ich nicht die Richtige.“ Ich blicke beschämt zu Boden.
Aber Jake gibt nicht auf: „Warum denn nicht? Ich sehe es dir doch an! Du willst weg von hier! Der Wolf in dir war so lange eingesperrt und wurde nun endlich freigelassen! Du weißt jetzt, wer du wirklich bist und trotzdem willst du dich vor all dem verstecken? Hierbleiben und so tun, als wäre nichts geschehen? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!“
„Das ist es aber! Es ist mein voller Ernst! Ich will nicht einfach Hals über Kopf verschwinden! Ich will hier leben! Mein Glück in der Welt der Menschen versuchen! Im Grunde genommen bin ich einer von ihnen. Wolf hin oder her, ich sehe mich selbst als Mensch an und habe nicht vor, daran etwas zu ändern!“ Eigentlich stimmt das alles nicht so ganz. Wie kann sich etwas richtig und falsch zur gleichen Zeit anfühlen? Was ist nur los mit mir?
Jakes Augen sprechen tausend Worte. Man kann die Enttäuschung in seinem Gesicht nur zu gut sehen: „Ich sehe, dass ich dich nicht mehr umstimmen kann. Eigentlich schade. Ich frage mich nur, wie ich mich so in dir täuschen konnte.“ Er ist niedergeschlagen.
„Jake.“ Aber er lässt mich gar nicht erst anfangen.
„Lass es, Jess! Keine Worte könnten die Situation hier besser machen.“ Er blickt kurz zurück. „Ich werde gehen. Hier gibt es nichts mehr, was mich hält. Morgen werde ich aufbrechen. Ich möchte nur, dass du das weißt. Denk nochmal gut über deine Zukunft nach, denn ab morgen wird sie beschlossen sein. Solltest du deine Meinung aber noch ändern, dann melde dich bei mir. Morgen Mittag werde ich aufbrechen.“ Was soll man darauf noch sagen? Ich kann nur noch nicken und sehe beschämt zu Boden. Eigentlich bin ich ein Feigling, denn ich fürchte mich vor meiner Vergangenheit und noch mehr vor meiner Zukunft. Was wird sie bringen? Ein Leben voller Gefahren und Abenteuer als das, was ich wirklich bin, oder als eine wandelnde Lüge, die ihr Glück bei den Menschen sucht? Ich habe noch eine Entscheidung zu treffen, eine wirklich schwierige Entscheidung.
Der Rest dieses dämlichen, verblödeten, unnötigen Tages war einfach nur schrecklich! Nachdem Jake mit mir zurück zum Bus gegangen ist, haben wir uns eine elendslange Rede von Miss Fielder von wegen Unpünktlichkeit, Moral und was weiß ich noch alles anhören können. Während der Fahrt hat sie meine Eltern kontaktiert. Vor lauter Wut sind ihr zum Glück Jakes schmutzige Klamotten nicht aufgefallen, oder sie hat sie einfach ignoriert. Hauptsache ist, dass sie nicht nachgefragt hat. Seine Wunden sind gut verheilt. Die tiefen Fleischwunden konnte er unter der Kleidung verstecken. Muss wohl noch so eine besondere Fähigkeit von Wölfen sein. Trotz allem war die Heimfahrt der pure Horror. Ich habe mich gar nicht erst getraut, Jake anzusehen und wenn ich es doch tat, zerriss mir der Ausdruck in seinen Augen fast das Herz.
Was soll ich denn nur tun? Meine Gedanken sind komplett durcheinander! Hunderte, nein tausende von Fragen schwirren durch meinen Kopf! Ich fühle mich so dermaßen mies. Warum kann mir denn keiner bei meiner Entscheidung helfen? Ich wälze mich in meinem Bett hin und her und hoffe nur, dass ich bald einschlafe. Vielleicht habe ich wenigstens in meinen Träumen Ruhe und Frieden.
„Jessica.“ Diese Stimme, ich kenne sie.
„Hallo, wer ist da? Ich kann nichts sehen!“ Das Bild wird langsam klarer. Ich reibe mir die Augen. Wo bin ich nur? Alles ist weiß und hell. Ich fühle mich unbeschreiblich wohl. Halt, da ist jemand! Ich sehe zwei Silhouetten. Sie sind verschwommen. Langsam kann ich etwas erkennen. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wölfe? Schon wieder?
„Ist es jetzt besser?“ Der linke Wolf hat mich angesprochen. Er sieht so vertraut aus, genau wie der andere. Beide sind atemberaubend und dieser Gegensatz! Auf der rechten Seite steht eine weiße Wölfin mit den schönsten blauen Augen, die ich jemals gesehen habe. Sie ist graziös, elegant und ihr Blick strahlt eine angenehme Wärme aus. Der linke Wolf hingegen wirkt auf den ersten Blick fast etwas bedrohlich, aber ich fühle mich in seiner Gegenwart trotzdem sicher. Sein schwarzes Fell glänzt in dem Licht, das uns umgibt. Was mich jedoch am meisten fasziniert, sind seine Augen. Sie sind blutrot und die Güte in seinem Blick passt eigentlich gar nicht in das Gesamtbild.
Ohne zu wissen was los ist, frage ich nach: „Wer seid ihr?“
Die Wölfin wirkt bestürzt: „Erkennst du uns denn nicht?“
„Ich kenne deine Stimme. Du bist in einem meiner Träume vorgekommen. Das warst du, nicht wahr?“ Sie nickt. „Eigentlich, wenn ich mich recht erinnere, seid ihr beide in meinen Träumen vorgekommen. Als ich mich in diesem Tal wiedergefunden habe. Unter den ganzen Wölfen seid ihr mir zuerst aufgefallen. Ihr habt mich angesehen und voller Freude gestrahlt.“
„Du hast recht, Jessica. Das waren wir.“ Die weiße Wölfin lächelt. „Es war eine Erinnerung an uns. Noch bevor du zu den Menschen kamst.“
„Eine Erinnerung? An euch? Das heißt, ich habe euch gekannt? Warum weiß ich davon nichts mehr?“ Das alles ist so absurd.
Nun kommt der andere Wolf zu Wort: „Du warst damals noch sehr klein. Viel zu jung, um zu verstehen, was um dich geschah. Deine Gedanken haben alle Erinnerungen an uns verdrängt. Weil du bei den Menschen aufgewachsen bist, ist dir nie in den Sinn gekommen, dass du ein Wolf sein könntest. Du hast uns aus deinen Gedanken verbannt und schließlich vergessen. Nur deine Träume konnten dich an das erinnern, was du eigentlich immer wissen solltest, an deine Herkunft.“
„Meine Herkunft? Soll das etwa heißen? Seid ihr wirklich?“ Beide nicken nur. „Ich kann es nicht fassen! Ihr seid tatsächlich meine Eltern! Wie ist das nur möglich? Warum wart ihr die ganze Zeit nicht da? Es gibt so vieles, das ich euch fragen muss!“
Die Wölfin hat Tränen in den Augen: „Meine kleine Jessica, endlich erkennst du uns wieder.“
Mein Vater setzt fort: „Du musstest viel durchmachen in den letzten Tagen, aber es wurde endlich Zeit, dass du alles erfährst. Wir würden deine Fragen so gerne beantworten, aber wir können nicht lange bleiben. Uns ist nur eine bestimmte Zeit gegeben, um zu einem Lebenden Kontakt aufzunehmen und diese Zeit ist fast abgelaufen.“ Hat er das gerade wirklich gesagt?
Hektisch frage ich nach: „Wie meinst du das? Zu einem Lebenden? Soll das etwa heißen, dass ihr nicht mehr lebt? Seid ihr bereits gestorben? Wann? Wie?“ Das Bild wird verschwommener.
Meine Mutter sieht angestrengt aus: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, Jessica. Leider ist es uns nicht möglich, all deine Fragen zu beantworten, aber wir sind aus einem bestimmten Grund hier. Geh mit dem anderen Wolf! Lüfte das Geheimnis um dich und deine Vergangenheit! Du bist eine Wölfin, du warst schon immer eine, auch wenn du es nicht gewusst hast und was am wichtigsten ist: du wirst immer eine Wölfin sein. Du bist etwas Besonderes. Du bist...“ Das Bild verschwimmt immer mehr.
Ich rufe ihnen nach: „Nein, geht nicht! Ich will euch nicht schon wieder verlieren! Bleibt da! Bitte!“
„Nicht!“ Ich bin wieder in meinem Zimmer. Dieser Traum. Ich habe tatsächlich meine Eltern gesehen. Sie waren so wundervoll. Hätte ich doch nur etwas länger Kontakt mit ihnen aufnehmen können. Was wollte mir meine Mutter zum Schluss noch sagen? Wieso sind sie gestorben?
Trotz all der neuen Fragen haben sie mir zu einer wichtigen Antwort verholfen. Jetzt steht es fest: ich nehme meine Identität als Wölfin an. Ich werde mit Jake gehen und das Geheimnis um meine Vergangenheit lüften. Er soll mir alles erzählen, was er weiß.
Wie spät ist es eigentlich? Fünf Uhr? Gut, ich sollte bald aufbrechen. Mitnehmen werde ich sowieso nichts. Ich werde einfach weggehen, ohne Gepäck. Eines sollte ich jedoch noch tun: ich muss einen Abschiedsbrief hinterlassen, das schulde ich George und Jane. Was soll ich nur schreiben? Ich habe keine Ahnung, aber es muss schnell geschehen, denn ich will aus dem Haus sein, bevor meine Familie aufwacht. Meine Familie, so kann ich sie nun nicht mehr nennen. Ich habe keine Familie mehr. Ich bin auf mich selbst gestellt. Wobei ich eines nicht vergessen darf: Jake ist bei mir. Er hat versprochen, immer für mich da zu sein und mich zu beschützen. Ich bin nicht allein.
Nun stehe ich also vor dem Haus, in dem ich all die Jahre gelebt habe. Hier bin ich aufgewachsen. Jetzt hier zu sein und zu wissen, dass man nie wieder zurückkommen wird, ist ein bedrückendes Gefühl. Ich habe nicht vor, wieder hierher zu kommen. Schon viel zu lange bin ich an diesen Ort gefesselt gewesen und nun gibt es nichts mehr, was mich noch hält. Also mache ich mich auf den Weg.
Es ist nun bereits sechs Uhr und ich habe mich entschieden, zu Fuß zu dem Platz von gestern zu gehen. Das wird zwar etwas Zeit in Anspruch nehmen, aber ich habe noch viel nachzudenken. Der Abschiedsbrief, den ich in aller Eile verfasst habe, ist nicht so ausführlich und herzzerreißend geworden, wie ich es gerne gehabt hätte, aber ich konnte meine Tränen dennoch nicht zurückhalten. Am liebsten hätte ich ihnen alles erklärt, von Anfang bis Ende. Ich hätte ihnen ein dickes Buch, das all meine Gedanken und Gefühle beinhaltet, hinterlassen wollen und ihnen alle nur denkbaren Gründe genannt, warum ich ihnen so dermaßen dankbar für alles bin und wie sehr ich die beiden vermissen werde. Leider hatte ich nicht die Zeit.
Ich habe Jake gleich nach dem Aufwachen angerufen und ihm gesagt, dass ich ihn noch einmal sehen möchte, bevor er geht. Außerdem habe ich betont, dass ich ihn viele Dinge fragen muss. Mal sehen, ob er etwas von meiner Vergangenheit weiß. Ich kann es mir fast nicht vorstellen, aber er ist viel herumgekommen, mal sehen.
Ich bin fast da. Dort hinten ist Licht. Scheint so, als hätte ich den richtigen Weg genommen. Ich trete aus dem Wald heraus und bin wieder auf der Wiese von gestern. Es müsste mittlerweile fast Mittag sein und die Sonne gewinnt an Kraft. Jake ist bereits da. Er sitzt auf einem großen Felsen vor dem Bach und starrt ins Wasser. Als ich mich in Bewegung setze und zu ihm gehe, dreht er sich in meine Richtung und sieht mich an. Ich weiß nicht, was ich von seinem Gesichtsausdruck halten soll. Er sieht hoffnungsvoll aus, aber dennoch besorgt. Ich denke, dass er schon vermutet, warum ich hier bin. Mal sehen, wie er meine Entscheidung aufnimmt.
„Wie geht es dir nach gestern?“ Schuldgefühle sind in seinem Blick zu erkennen. Er bereut unseren gestrigen Streit wohl genauso sehr, wie ich es tue.
Schulterzuckend stehe ich vor ihm: „Es geht so. Ich habe viel nachgedacht. Über mich, meine Eltern, meine Vergangenheit und auch über meine Zukunft.“
„Und?“ Da ist er wieder, dieser hoffnungsvolle Blick. Ich werde ihn nicht mehr länger auf die Folter spannen und einfach mit der Wahrheit rausrücken.
„Bezüglich meiner Vergangenheit bin ich nicht viel schlauer als gestern, aber was meine Zukunft angeht, habe ich eine Entscheidung getroffen.“ Jake ist sichtlich angespannt. „Ich habe mich entschieden, mit dir zu kommen.“ Nun ist ihm die Freude buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Er grinst bis über beide Ohren und seine Augen funkeln regelrecht.
Trotzdem versucht er, so ruhig wie immer zu klingen: „Wie kommt es zu dieser Entscheidung?“
Ich setze fort: „Es war nicht einfach. Eigentlich bin ich mit dem Gedanken, hier zu bleiben und mein Leben wie bisher weiterzuleben, schlafen gegangen. Meine Träume haben mich umgestimmt.“
„Deine Träume? Wie meinst du das?“ Jake ist sichtlich neugierig.
„Ich habe gehofft, du kannst mir Näheres dazu sagen.“ Ich setze mich neben ihn auf den Felsen und beginne zu erzählen. „Seit einiger Zeit habe ich merkwürdige Träume. Sie sind wie Erinnerungen, die langsam vordringen wollen. Darin habe ich dieses Tal gesehen und auch meine Eltern.“
Sofort fragt er nach: „Deine Eltern? Kannst du dich an sie erinnern?“
Ich zucke mit den Schultern: „Eigentlich dachte ich, dass ich das nicht könnte, aber gestern Nacht ist etwas Eigenartiges geschehen. Sie sind mir im Traum begegnet. Beide haben vor mir gestanden, in voller Größe. Alles wirkte so real, als wären sie wirklich bei mir gewesen. Sie sagten mir, ich solle das Geheimnis um meine Vergangenheit lüften und mein wahres Ich entdecken. Außerdem meinte meine Mutter, ich sei etwas Besonderes, aber als sie es näher erklären wollte, bin ich aufgewacht.“
Jake fixiert den Boden: „Klingt alles sehr merkwürdig, wenn du mich fragst. Als ob sie aus dem Jenseits zu dir sprechen wollten.“
Mir fällt noch etwas ein: „Sie haben irgendetwas davon gesagt, dass ihnen nur eine bestimmte Zeit gegeben ist, um mit einem Lebenden zu sprechen. Was kann das alles nur bedeuten?“
„Es gibt da schon etwas, das ich weiß.“ Ich horche auf. „Bei uns Wölfen ist das so: wir glauben fest daran, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Eine Art Paradies, in das wir alle kommen, wenn wir unser Leben als Wolf würdig gelebt haben. Viele behaupten, dass das nicht nur eine Legende sei und es gibt genügend Hinweise, die die Existenz des Paradieses bestätigen.“
„Worauf willst du hinaus?“ Ich ahne schon etwas.
Plötzlich sieht mir Jake tief in die Augen: „Gehen wir mal davon aus, dass deine Eltern bereits gestorben sind. Vielleicht konnten sie aus dem Jenseits Kontakt zu dir aufnehmen. Es gibt sehr mächtige Wölfe unter uns. Wölfe, die spezielle Fähigkeiten haben. Sollte das tatsächlich wahr sein, könnte es sein, dass es tatsächlich kein Traum war. Sie haben mit allen Mitteln versucht, dich davon abzubringen, bei den Menschen zu bleiben und wollen, dass du deine Bestimmung als Wölfin findest.“
„So etwas ist tatsächlich möglich? Dann waren das in meinem Traum tatsächlich meine Eltern. Nicht zu fassen, dass ich sie noch einmal gesehen habe.“ Leider hatte ich nur wenig Zeit, um mit ihnen zu sprechen. Ich hätte sie so gerne besser gekannt.
„Tut mir wirklich leid, dass sie bereits gestorben sind.“ Jake wirkt besorgt. Ich habe sie zwar nicht gekannt, aber trotz allem macht es mich traurig.
Ich schüttle den Kopf: „Halb so schlimm. Es mag zwar merkwürdig klingen, aber ich habe bereits gespürt, dass sie nicht mehr leben.“
Jake bleibt neugierig: „Was hast du in deinen Träumen noch gesehen?“
„Gute Frage. Ich kann mich nicht genau erinnern. Es sind immer nur Bruchstücke gewesen.“ Moment, ich habe ihm noch gar nichts von dem Tal hier gesagt. „Es ist dieser Ort. Ich war schon einmal hier, Jake. Vor langer Zeit. In meinen Träumen war es ruhig und friedlich wie heute, aber es war noch viel schöner. Alles war voller Leben. Ein riesiges Rudel Wölfe war hier und darunter waren auch ich und meine Eltern, doch in einem anderen Traum habe ich Kampfgeräusche gehört. Es klang schrecklich. Meine Mutter hatte mich weggeführt von diesem Lärm und mich auf eine Türschwelle gelegt. Dann ist sie verschwunden.“
Plötzlich wird Jake nachdenklich. Er sagt kein Wort mehr und starrt nur in das vorbeirauschende Wasser. Voller Konzentration grübelt er nach. Er weiß etwas. Nur was? Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu, aber Jake antwortet nicht.
Dann beginnt er zu erzählen: „Es waren Wölfe, sehr viele Wölfe und sie waren an einem schrecklichen Kampf beteiligt. Nahezu jeder von uns kennt diese Geschichte. Es ist eines der wichtigsten und auch gleichzeitig dunkelsten Ereignisse der letzten Jahre gewesen.“ Wie meint er das? Und ich war darin verwickelt?
Nun packt mich die Neugier: „Jake, erzähl mir mehr darüber! Ich will alles wissen, bis ins kleinste Detail!“
„Das kann ich gut verstehen, aber ich weiß leider auch nicht alles. Nur die grundlegenden Dinge sind mir zu Ohren gekommen.“ Warum spannt er mich bloß so auf die Folter?
„Ist mir völlig egal! Jede noch so kleine Information hilft mir weiter. Ich bitte dich, erzähl es mir!“ Meine Hände zittern.
Endlich spricht er weiter: „Es war vor ungefähr 15 Jahren. Hier lebte in der Tat ein riesiges Wolfsrudel, aber sie waren besonders. Es waren Kreaturen einer höheren Ordnung, die edelsten unserer Rasse. Wir nennen sie Lichtwölfe, weil sie genau das verkörpern. Hier fühlten sie sich sicher und geborgen. Eines Tages aber, oder besser gesagt eines Nachts, wurden sie angegriffen. Ein anderes Wolfsrudel kam aus dem Hinterhalt und ein grausamer Kampf brach aus. Das feindliche Rudel hatte die Überraschung auf seiner Seite und somit endete der Kampf tragisch. Die Lichtwölfe wurden an diesem Tag nahezu ausgerottet. Es wurden keine Ausnahmen gemacht. Sie brachten sogar die jüngsten Mitglieder des Rudels um. Keiner überlebte. Zumindest glaubt man das.“ Ich bin sprachlos. Was hat das alles zu bedeuten?
Die Spannung raubt mir den Atem: „Soll das etwa heißen, dass ich...“
Jake vollendet meinen Satz: „Dass du die einzige überlebende Wölfin dieses Rudels bist. Eigentlich dürftest du gar nicht mehr am Leben sein. Keiner weiß, dass es jemanden wie dich überhaupt gibt.“
Ich bin fassungslos: „Das kann doch gar nicht sein, oder?“
„Überleg doch mal, Jessica! Jetzt würde alles Sinn machen!“ Worauf will Jake hinaus?
Ich setze fort: „Nun ist mir klar, warum ich bei George und Jane aufgewachsen bin. Meine Mutter konnte mich nicht behalten. Sie musste mich weggeben, um mich zu schützen. Wäre ich nicht bei den Menschen aufgewachsen, hätte ich höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Meine Eltern haben in diesem Kampf ihr Leben gelassen.“ Das war also meine frühere Heimat. So bin ich zu George und Jane gekommen. Eine Frage hätte ich da aber noch. „Das heißt, ich bin eine Lichtwölfin?“
Jake schüttelt den Kopf: „Meiner Einschätzung nach nicht. Deine Aura spricht dagegen. Einen tatsächlichen Lichtwolf würde ich sofort erkennen.“
Ohne weiter über diese Aussage nachzudenken, setze ich fort: „Gibt es noch Lichtwölfe, Jake?“
„Ja, die gibt es noch.“ War das gerade ein unterdrücktes Lächeln? Nein, das muss ich mir eingebildet haben. „Aber nur noch sehr selten. Man hat Glück, wenn man einen trifft.“ Da, schon wieder! Das unterdrückte Lachen! Jake blickt in den Himmel. „Die Sonne steht bereits hoch. Langsam sollten wir aufbrechen. Immerhin haben wir einen weiten Weg vor uns.“ Jake steht auf und geht voraus. Ich folge ihm. Einen weiten Weg? Wo es wohl hingeht? Haben wir ein Ziel? Ich weiß keine Antworten auf all diese Fragen, aber über eines bin ich mir völlig im Klaren: ich bin jetzt eine Wölfin und die Wildnis wartet auf mich.