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Die Brodm’ri
ОглавлениеTäglich zieht die Alte ihren Karren von der Scharnitz nach Mittenwald und wieder zurück. Ob es krachend kalter Winter ist und der Weg so voller Eisplatten, dass sie alle Augenblick nach rückwärts rutscht, und wie ein braves Ross die Eisen einhauen muss, um nur weiter zu kommen, ob es schneit, dass sie kaum die Landstrasse zu erkennen vermag, oder die Sonne herunterbrennt, dass ihr der Kopf zerspringen möchte, ob das Schneewasser im Frühjahr, wenn es „aper“ wird, auf der Landstrasse dahinschiesst, wie wenn diese ein Bachbett und der in seinem vollen Rechte wäre, oder im Herbst der wüste Wind durchs Tal pfeift und sie fast umwirft: das alte Weiblein zieht gleichmütig seinen Karren hin und her, über eine Stunde hin, weit über eine Stunde zurück. Es fällt ihr nimmer ein, etwa hinauf nach dem jähen Absturz der Karwendelwand zu schauen und drüben nach dem kühnen Aufbau des Wettersteins, sie trabt wie ein alter Gaul ihre Strasse in Staub und Schnee, in Regen und Wind. Ihr gilt’s gleich, ob sie allein unterwegs ist, oder ob sich ein Jäger oder Grenzer ihr zugesellt, oder gar Touristen, die nach Seefeld wandern, nach dem Hinterautal vielleicht, wo die junge grüne Isar schäumend aus der Einsamkeit stürmt; ob geputzte Städter „in Toilette“ sie überholen (o idyllisches nachbarliches Paradies von Partenkirchen!) zur Zeit der „Saison“, wo das biedere Volk der Mittenwalder seinen echten und innigen Nationalgesang mit der echten und innigen Melodie anzustimmen pflegt: „Kennst du das Tal am Fusse des Karwendelbergs?“ Der M’ri gilt das alles gleich, wenn sie auch gern ein paar Worte im Vorbeigehen redet; sie hat nur den einen Gedanken: ihre Wecken und Semmeln, von denen sie für jeden Haushalt in der Scharnitz eine bestimmte Anzahl ohne Zoll über die Grenze bringen darf. Tapfer aufgeladen hat sie jeden Tag, die Scharnitzer lieben das Brot, das die Mittenwalder Bäcker „bachen“, voraus das des Fasel, des Zunterer, in dem alten Fuggerhaus an der Hauptstrasse. Dort hält immer der Karren der Alten, während sie ihre anderen kleinen Besorgungen im Markte macht. Da buckelt sie frisch und geschäftig in den Läden herum, immer murmelnd, immer ihre Aufträge wiederholend. Nie schreibt sie sich etwas auf, es ist aber doch noch nie vorgekommen, dass sie etwas vergessen hat. Ihr Amt nimmt sie deshalb auch so in Anspruch, dass sie während des Einkaufens auf keinen Gruss hört und niemanden sieht. Erst, wenn sie beschaulich ruhend auf ihrem Bänklein sitzt im Laden der klugen und hübschen „Faselin“, die so viel von der alten Mittenwalder Chronik zu erzählen weiss, ist sie zugänglich, und die M’ri und ich halten stets einen kleinen Schwatz, während die „Bäckin“ die Semmeln und Wecken abzählt. Manchmal treffen wir uns auch auf der Landstrasse, wo sie immer gern eine Stehpause macht und plaudert.
Gewöhnlich gehen unsere Gespräche so an: „Grüss Gott, M’ri, wie geht’s?“
„Wie geaht’s? Alleweil ziahchen und ziahchen!“ Dabei lacht sie über ihr ganzes braunes, verrunzeltes und verwittertes, gutes, altes Gesicht, in dem die schwarzen Augen ganz verschmitzt glitzern können, wie die Augen einer Jungen.
Sag ich: „Eine Hitz ist’s, schauderhaft!“ oder: „Aber der Wind heut, M’ri, hat er dich denn nicht umgeschmissen?“ „O mei’, ischt gleich,“ meint sie und wischt den Schweiss von der Stirn oder die Tränen aus den Augenwinkeln, die ihr der Sturm draussen bei der grossen wilden Wiese, beim Schaudriwaudriraut, wo er gar so unheimlich fauchen kann, herausgepresst hat. Und dann trabt sie wieder ihre Strasse weiter, gelassen und fröhlich.
Einmal treffe ich sie, als ich eben ins Hinterautal will, hart hinter der Scharnitz, hoch oben am Wald krabbelt sie herum und recht Laub zusammen. Einen hohen Haufen hat sie schon aufgeladen und trägt noch immer mehr zu. Sobald sie mich sieht, kommt sie über die steile Anhöhe herunter wie eine Junge. Ich hab ihr Kuchen mitgebracht, den sie geheimnisvoll schmunzelnd verschwinden lässt.
„Wie geht’s, M’ri?“
Sie deutet auf den grossen Haufen „Straa“, den sie schon zusammengetragen und nachher ins Dorf bringen will zu ihrer Tochter. „Alleweil ziahchen und ziahchen.“ Ich sehe mir den hohen Streuhaufen an: „Und heut warst du schon in Mittenwald?“ Sie schaut mich verwundert und ganz verständnislos an und nickt. Währenddem kommt ein Blondkopf auf sie zugesprungen und hält sich halb hinter ihrer Schürze verborgen; von dieser gedeckten Stellung aus sieht er argwöhnisch auf mich. Fast verschämt zieht sie den Kuchen aus der Tasche und schiebt ihm ein tüchtiges Stück in den Mund, während sie nur ein bisschen versucht. Der hübsche Krauskopf, der mir so feindselige Augen anmacht, gehört ihrer Tochter, bei der sie auch wohnt, und der sie die Streu bringen will. Ein sauberes, kleines, weisses Haus haben sie miteinander, alles voller Blumen und Vögel, ich hab mir’s nachher angeschaut.
Immer wieder erzählt sie mir von ihrem Schwiegersohn, der „Jager“ beim Fürsten ist und oft „langs“ Zeit nicht daheim; dass er kreuzbrav und sauber ist und so „viel guat“ mit ihr.
„Und die Kinder?“
„Alleweil mehrer werd’n s’.“
„Ein Stück? Zwei — drei?“
Sie nickt: „Mög’n aa mehrer werd’n, wie’s kimmt.“
„Da muss die Grossmutter Kinder warten?“
Sie macht die Bewegung des Fahrens. Auch die „ziahcht“ sie! „Mei’, sekkier’n di’ halt!“ — Ob sie nie krank war, frag ich sie wieder einmal.
Krank? Sie denkt einen Augenblick nach. Eigentlich nie. Nur einmal ja, ist ihr’s zu Herzen gegangen, aber nicht das Kranksein, nein, das nicht arbeiten Können war’s, das Faulenzen, das Zuschauenmüssen, wie die anderen arbeiteten, das Hände-in-den-Schoss-legen. Der „Verdruss“ hätte sie beinahe umgebracht, meint sie, es sei die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen! Nun erzählt sie ausführlich, sehr wichtig, aber immer dabei schmunzelnd, immer ein wenig belustigt, mit einer gewissen humorvollen Ueberlegenheit: Also der Wind wehte wieder einmal recht wüst durchs Tal, so, wie’s die Mittenwalder haben wollen, damit es schön Wetter bleibt. Er knatterte und brüllte und wütete herum, wie wenn aller Dinge letztes Ende wäre. Die M’ri sass gemütlich in der Stube und freute sich ihrer Ruhe nach dem Strauss mit dem Sturm. Eben war sie von Mittenwald gekommen, hatte ihre Wecken und Semmeln abgeliefert und löffelte ihren Kaffee. Da hört sie das grosse Scheunentor draussen wütend schlagen.
„So lass es doch,“ sagt ihr die Tochter ärgerlich, „bleib sitzen.“
Die Junge bleibt, der Alten lässt es keine Ruhe. Wohl hätte sie ebensogut durch das Haus, den Gang und den Stall hinten herum nach der Scheuer gehen können, aber das ist ihr zu weit. Schnell läuft sie aussen herum, in den immer rasender werdenden Sturm hinein. „Bautz! Bautz! — Bumm!“ schlägt das Tor mit dumpfem Krachen auf und zu, auf und zu, dass man meint, es müsse splittern. Die Alte rennt hin und will’s aufhalten, beide Arme stemmt sie dagegen — ein neuer wilder Windstoss und schon liegt sie auf dem Rücken; mit aller Wucht ist das schwere Tor auf ihre Arme geflogen und hat sie umgeworfen. Da liegt sie und kann sich nicht mehr rühren, kann nicht mehr aufstehen, und in den Schultern brennt’s und reisst’s und tobt’s. —
„Boade sein’s ausg’fall’n g’wes’n, boade!“ sagt sie und zwinkert, wie wenn das ein köstlicher, von ihr ausgeheckter Schabernack gewesen sei, sich beide Achseln auszufallen!
Als der Arzt kam, schlug er freilich über diese Art der Schelmerei die Hände über dem Kopf zusammen. Beide Achseln! Und dabei sass sie ganz vergnügt im Bett und wartete darauf, dass er schnell den kleinen Schaden repariere, damit sie morgen wieder ihren Karren nach Mittenwald „ziahchen“ könne!
Später erzählte der Doktor das alles in der „Post“ in Mittenwald; auch dass sie keinen Schnaufer, keinen Schrei getan, als er ihr die Achseln einrichtete.
„Is es jetzt g’schehg’n?“ Das war alles, was das alte Weiblein frug.
Heute konnte sie sich noch kindisch darüber freuen, dass die Leute sich alle über sie verwundert und die Köpfe über sie geschüttelt hatten.
„Des sell ischt doch nir g’wesen,“ meint sie, „aber das Feiern!“ Sie war glücklich, als sie sich wieder vor ihren Wagen spannen konnte; unnütz sein, das war schlimmer als krank sein, das war beinahe der Tod!
Was sie wohl machen wird, die Alte?
„Alleweil ziahchen und ziahchen.“