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ОглавлениеKAPITEL EINS
PAPA 1.0
Die Entwicklung der menschlichen Vaterschaft
Es ist eine wenig bekannte Tatsache, aber die Väter haben die Menschheit gerettet.
Vor 500.000 Jahren stand einer unserer Vorfahren, der Homo heidelbergensis, vor einem Dilemma. Eine Million Jahre zuvor hatten die Angehörigen dieser Art Afrika verlassen und sich über Europa und den Nahen Osten verbreitet. Sie hatten es sogar bis an die Südküste von England geschafft und sich am Rand einer wundervollen tropischen Lagune nahe dem heutigen Dorf Boxgrove in West Sussex niedergelassen. Wie andere Hominini der damaligen Zeit gingen sie aufrecht auf zwei Beinen, aber sie unterschieden sich von ihren Zeitgenossen durch ihr größeres Gehirn. Sie entwickelten rudimentäre Anfänge einer Sprache und schufen erste wunderschöne, symmetrische Steinwerkzeuge und perfekt ausbalancierte Jagdspeere. Aber sie hatten ein Problem. Unzweifelhaft besaßen sie das Potenzial, als Spezies erfolgreich zu sein. Doch der aufrechte Gang und das damit verbundene enge Becken, dem sie das Durchhaltevermögen verdankten, um Afrika zu verlassen, dazu die großen Köpfe mit dem komplexen Gehirn, das ihnen erlaubt hatte, neue Umgebungen zu besiedeln, bargen eine demografische Zeitbombe in sich. Damit die großen Köpfe durch den engeren Geburtskanal der Mütter passten, wurden die Babys von Homo heidelbergensis früh geboren, in einem sehr hilflosen und verletzlichen Zustand.
An wen sollten sich die Mütter wenden? Wer konnte ihnen mit ihren munteren Kleinkindern helfen, während sie der kräftezehrenden Aufgabe nachgingen, sich um ihre hilflosen Neugeborenen zu kümmern? Wie konnten sie ihre Kinder zu selbstständigen Wesen erziehen, aber sich immer noch oft genug fortpflanzen, um ihre Art zu erhalten und zu mehren? Rund eine Million Jahre waren Großmütter, Tanten und Schwestern eingesprungen. Aber vor 500.000 Jahren, bei unserem Freund Homo heidelbergensis, wurde das Gehirn noch einmal sprunghaft größer, und nun reichte die Kraft der Frauen nicht mehr aus. Und wer füllte die Lücke? Der Vater. Er setzte seine neu erworbene Fähigkeit ein, Feuer zu machen und schwer verdauliche Pflanzen zu kochen, und ermöglichte damit seinen Kindern, feste Nahrung zu essen, während seine Partnerin sich auf das Neugeborene konzentrierte, und er jagte das wertvolle Wild, das seiner Familie die nötige Energie lieferte. Er übernahm die Rolle des Lehrers und vermittelte seinen heranwachsenden Kindern die überlebenswichtigen Fertigkeiten wie Produktion von Werkzeugen, Verteidigung gegen Raubtiere und Jagd, und er entwickelte die komplexen sozialen Fähigkeiten, dank derer sie mit ihren Jagdgenossen kooperieren konnten. All das bewahrte unsere Vorfahren vor dem Aussterben, und heute, 500.000 Jahre später, sind wir eines der erfolgreichsten Tiere auf dem Planeten und sogar Angehörige des exklusiven Klubs der 5 Prozent der Säugetiere – und die einzige Affenart –, deren männliche Angehörige in ihren Nachwuchs investieren. Damit war die menschliche Vaterschaft geboren.
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Evolutionsanthropologen treibt die Frage um, was uns zu Menschen macht. Was unterscheidet uns von anderen Tieren und vor allem von anderen Großaffen? Den Unterschied anatomisch zu definieren ist nicht sehr schwierig – kein Mann wird seinen aufrecht gehenden, unbehaarten Geschlechtsgenossen mit einem Gorilla verwechseln, höchstens in tiefschwarzer Nacht nach einem sehr langen Besuch in der Kneipe. Aber wenn wir das Verhalten betrachten, wird es schon deutlich schwieriger, zu sagen, wann aus dem Schimpansen ein Mensch wird. Lange dachte man, der Werkzeuggebrauch sei das unterscheidende Merkmal; die Steinwerkzeuge, die an zwei Millionen Jahre alten Ausgrabungsstätten in Ostafrika gefunden wurden, kündeten unzweifelhaft von einer erstaunlichen Veränderung bei Verhalten und Intelligenz. Aber wie sich gezeigt hat, nutzen wilde Schimpansen genauso versiert Steinwerkzeuge, um Nüsse zu knacken, und herabgefallene Blätter, um dringend benötigtes Wasser aufzunehmen. Selbst unsere sprachlichen Fähigkeiten, die einst als Beleg unserer einzigartigen Intelligenz galten, können im Labor trainierte Schimpansen nachahmen, die gelernt haben, mit einer Reihe von Zeichen ihre Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken und sogar einfache Sätze zu produzieren. Zugegeben, diese Sätze beschränken sich meist auf Wünsche im Zusammenhang mit Nahrung, aber dennoch können sie kommunizieren. Oft übersehen wird hingegen ein Verhalten, ohne das es unsere Art schlichtweg nicht mehr geben würde: das Vatersein.
Unter Säugetieren sind Väter, die bei ihrem Nachwuchs bleiben und für ihn sorgen, eine seltene Ausnahme. Bei Vögeln ist der Vater, der unermüdlich jeden Tag viele Kilometer vom Nest weg- und wieder zurückfliegt, um seine Jungen mit Nahrung zu versorgen, eine geläufige Erscheinung: Bei über 90 Prozent der Vögel investieren Mutter und Vater Zeit und Energie in die Aufzucht ihrer Brut. Aber das häufigste Verhalten bei Säugetieren ist männliche Promiskuität – die Männchen paaren sich mit vielen Weibchen und machen sich nach der Kopulation aus dem Staub. Unsere nächsten Verwandten unter den Affen praktizieren zwei Arten von Promiskuität. Gorillas haben die Strategie »ein Männchen, viele Weibchen« – der Harem. Das bedeutet, dass das große Silberrücken-Männchen alle Weibchen für sich behält, sofern es nicht ein jüngeres, weniger dominantes Männchen schafft, sich schnell hinter einem Baum mit einem Weibchen zu paaren, wenn der Silberrücken gerade nicht hinschaut. Der Gorillavater blickt wohlwollend auf seine zahlreichen Nachkommen, weil er sich seiner Vaterschaft praktisch sicher sein kann, aber seine Beteiligung an der Aufzucht ist gleich null. Ein reichhaltiges Nahrungsangebot, die relativ schnelle Entwicklung von Gorillababys und lange Abstände zwischen den Geburten bedeuten, dass die Mütter ihre Babys mit allem versorgen können, was sie brauchen – die Väter können dazu nur noch ein bisschen beitragen. Bei Schimpansen geht es liberaler zu: Mehrere Männchen paaren sich mit mehreren Weibchen in einer großen Gruppe, obwohl das Alphamännchen immer Zugang zu den meisten und besten Weibchen bekommt. Kein Männchen weiß, welche von den vielen Jungtieren seine Nachkommen sind, und infolgedessen verwenden sie keine wertvolle Energie auf die Jungtiere. Stattdessen nutzen sie die Zeit lieber für die Fellpflege anderer Männchen; das dient dem Aufbau der so wichtigen Allianzen und ist Teil des komplexen politischen Spiels, das den Platz eines Männchens in der Hierarchie der Schimpansengruppe sichert.
Im Gegensatz dazu haben die Angehörigen der Gattung Homo ein ganz anderes Modell der Vaterschaft entwickelt: Der Papa bleibt lange bei seinem Nachwuchs und hilft der Mutter. Die konkrete Beteiligung der Väter variiert sehr stark von Kultur zu Kultur, wie wir weiter hinten in diesem Buch untersuchen werden, aber letztlich spielen sie alle eine entscheidende Rolle im Leben ihrer Kinder. Nötig wurde ihre Beteiligung durch die einzigartige Kombination der beiden bereits erwähnten anatomischen Merkmale – dem aufrechten Gang und den großen Gehirnen. Denn bei einem Vierbeiner sind die Beine wie bei einem Tisch angeordnet, an den vier Ecken des Körpers mit jeweils einem beträchtlichen Abstand dazwischen. Hingegen liegen die Beine eines Zweibeiners nahe beieinander, was bedeutet, dass wir ein viel tieferes und engeres Becken und in der Folge auch einen engeren Geburtskanal haben als unsere vierbeinigen Freunde. Für sich genommen ist der enge Geburtskanal kein Problem, das Problem entsteht erst durch das große Gehirn.
Entwicklungsmäßig betrachtet, fallen Tierbabys nach der Geburt in eine von zwei Kategorien: Entweder sind sie sehr weit entwickelt, Augen und Ohren sind offen, Fell oder Haare vorhanden, und sie können sich bald nach der Geburt allein fortbewegen. Oder sie sind hilflos, bewegungsunfähig, Augen und Ohren verschlossen. Tiere der ersten Kategorie heißen Nestflüchter, in der Regel trifft das für Affen zu. Es erstaunt mich immer wieder, wie geschickt ein Schimpansenbaby wenige Tage nach der Geburt ganz ohne Hilfe durch die Bäume klettert. Die zweite Kategorie sind die Nesthocker, dazu zählen Hundewelpen und kleine Kätzchen. Diese beiden Entwicklungswege existieren, weil bei der großen Mehrheit der Arten das Gehirnwachstum nach zwei Modellen vonstattengeht: entweder im Mutterleib – das Modell Schimpanse – oder nach der Geburt wie bei den Hunde- und Katzenwelpen. Ich spreche von der großen Mehrheit, weil es eine Ausnahme gibt: uns.
Das menschliche Gehirn ist erheblich größer, als bei einem Säugetier mit unserem Körpergewicht zu erwarten wäre – tatsächlich fast sechsmal so groß. Die Größe des Gehirns ist das anatomische Merkmal, dem wir unseren Erfolg verdanken. Wir haben die Sprache entwickelt, sind in einzigartiger Weise zu Innovationen fähig und konnten ein Ausmaß an Kontrolle über unsere Umwelt erlangen, das uns zu den Herrschern der Erde werden ließ. Aber weil unsere Gehirne im Verhältnis zu unserer Körpergröße so ungewöhnlich groß sind, brauchen sie länger, um zu reifen. Und da liegt das Problem. Unser enges Becken bedeutet, dass diese entscheidend wichtige Entwicklungsphase nicht im Mutterleib stattfinden kann, weil sonst das Baby den Geburtskanal nicht mehr passieren könnte – für Mutter und Kind bestünde ein erhebliches Risiko, bei der Geburt zu sterben. Um das Überleben der Art sicherzustellen, hat die Evolution die Menschen nach einer ungewöhnlich kurzen Schwangerschaftsdauer selektiert, was bedeutet, dass menschliche Babys geboren werden, bevor sie voll entwickelt sind. Das hat zwei Folgen: Erstens zeigen die Babys eine bestimmte Kombination von Merkmalen bei der Geburt – die Hilflosigkeit von Welpen, aber offene Augen und Ohren wie bei einem Schimpansen. Und zweitens sind Menschen die einzige Spezies, bei der das Gehirn vor und nach der Geburt wächst. Problem gelöst.
Aber ist es wirklich gelöst? Eine längere Phase des Gehirnwachstums nach der Geburt, in unserem Fall ein Jahr, ermöglicht dem Gehirn, sein volles Potenzial zu erlangen, aber bedeutet auch, dass die Mutter dadurch eine erhebliche Last zu tragen hat: ein sehr abhängiges, zur Fortbewegung unfähiges Baby, das nach Energie hungert. Sie muss nicht nur viel Energie aufwenden, um ihren Nachwuchs herumzutragen; theoretisch sollte sie das Baby auch länger stillen, als es nötig gewesen wäre, wenn das Gehirnwachstum nur vor der Geburt stattgefunden hätte, wie es bei Schimpansen der Fall ist. Aber die Realität ist anders. Während in manchen Gesellschaften Mütter länger als sechs Monate stillen, ist es durchaus möglich und in westlichen Ländern die Regel, das Baby in diesem Alter abzustillen und ihm feste Nahrung zu verabreichen. Warum ist die Laktationszeit bei Menschen so kurz?
Es hängt alles mit der Demografie und dem Überleben der Art zusammen. Die verkürzte Schwangerschaft und Stillzeit entstanden wohl zum gleichen Zeitpunkt in der Evolution, vor 1,8 Millionen Jahren mit dem Auftauchen des Homo ergaster. Nur das Stillen verhindert, dass eine Mutter wieder schwanger wird, so stellt die Evolution sicher, dass sie ihre gesamte Zeit und Energie für die Bedürfnisse ihres heranwachsenden Babys einsetzt. Aber hätten unsere Vorfahren dies tatsächlich in dem Maß getan, wie es die Entwicklung des menschlichen Gehirns – des Organs in unserem Körper, das am meisten Energie verbraucht, auch wenn es nicht wächst – nach der Geburt erfordert, hätte das die Abstände zwischen den Geburten so verlängert, dass es die Erhaltung der Art gefährdet hätte. Unsere Vorfahren wären ausgestorben, und vielleicht würde eine andere Art die Erde beherrschen. Durch die Verkürzung der Stillzeit konnten die Mütter ihre Kinder früher entwöhnen und wieder fruchtbar werden, und so war sichergestellt, dass sie genug Kinder bekamen, um die Population zu erhalten und sogar zu vergrößern.
Alle Eltern kennen die Erschöpfung, wenn sie versuchen, die Bedürfnisse eines Neugeborenen zu erfüllen, und gleichzeitig mit den unendlichen Wünschen eines Kleinkinds konfrontiert sind, das essen, schmusen, spielen und getröstet werden will. Ich erinnere mich noch, was für ein Stress es war, meine zweite Tochter zu stillen und gleichzeitig nach der richtigen Teletubbies-DVD für meine erstgeborene zu suchen und ihr etwas zu essen und zu trinken zu geben. Man entwickelt großes Geschick, Dinge mit einer Hand zu tun. Aber stellen wir uns einmal vor, all die Annehmlichkeiten des modernen Lebens wären auf einmal nicht mehr da – keine Geräte, die uns Arbeit abnehmen, keine Babyausstattung und keine Verhütungsmittel. Das war die Situation der weiblichen Angehörigen der prähistorischen Art Homo ergaster. Ohne die Möglichkeit, ihre Fortpflanzung ab dem Alter der Geschlechtsreife zwischen elf und 13 Jahren zu kontrollieren, waren sie entweder dauernd schwanger oder stillten und mussten sich nebenher noch um eine mehr oder weniger große Schar von abhängigen Kleinkindern kümmern. Für sie gab es die komfortablen fünfjährigen Abstände zwischen den Geburten wie bei den Schimpansen nicht.
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Uns Menschen zeichnet unsere außerordentlich intensive Kooperation aus. Denken wir nur daran, wie oft am Tag wir mit jemand anderem zusammenarbeiten, um ein Ziel zu erreichen. Wir kooperieren, um lebenswichtige Ressourcen wie Nahrung und Wasser zu finden oder zu produzieren, um die Fertigkeiten und das Wissen zu lehren und zu erlernen, um erfolgreich zu sein, um Handel zu treiben und unsere Kinder großzuziehen. Eine der wichtigsten Formen der Kooperation ist die zwischen genetisch Verwandten oder innerhalb der Sippe. Diese Verwandten- oder Sippenselektion bedeutet, dass wir für unser eigenes Überleben davon profitieren, wenn wir anderen helfen, mit denen wir blutsverwandt sind. Der entscheidende Punkt ist nicht, dass wir, wenn wir unseren Verwandten helfen, selbst Hilfe erwarten können, sobald wir in Not sind, obwohl das häufig zutrifft. Wichtig ist vielmehr, dass wir die Gene teilen, und wie jeder gute Evolutionsbiologe weiß, kommt es letztlich auf das Überleben der Gene an. Das ist mit dem Konzept des »egoistischen Gens« gemeint, das Richard Dawkins in seinem 1976 erschienenen Buch so bezeichnet und erforscht hat: Die Erbeinheit, auf die die Evolution einwirkt, ist nicht das Individuum, sondern das Gen. Indem wir Verwandten bei der Versorgung ihrer Kinder helfen, sichern wir das Überleben der Kinder und damit zugleich das Überleben von Versionen unserer eigenen Gene. Es versteht sich von selbst, dass es umso vorteilhafter für einen Menschen ist, anderen bei der Aufzucht ihrer Kinder zu helfen, je näher die Blutsverwandtschaft ist, weil auch die Zahl der gemeinsamen Gene umso größer ist. Deshalb ist es fast universell so, dass sich nach den Eltern die Großeltern am meisten um die Kinder kümmern.
Unsere weibliche Vertreterin von Homo ergaster hätte in ihrer schweren Stunde wohl Hilfe bei ihren Verwandten gesucht. Ob es ihre Mutter gewesen wäre, ist fraglich, weil wir nicht wissen, ob unsere Vorfahren lange genug lebten, um das Alter von Großeltern zu erreichen. Trotz vieler Jahrtausende der Evolution lag das Alter bei der Menopause immer bei rund 50 Jahren, und es gibt bemerkenswert wenige bis gar keine Skelettfunde (Anthropologen können stundenlang über diese Frage diskutieren – wir sind schon ein seltsames Volk), die dieses Alter aufweisen. Aber wir wissen, dass es irgendwelche weiblichen Verwandten gegeben haben wird. Und woher wissen wir das? Weil die Evolution sparsam ist, das heißt, sie erreicht ihr Ziel immer auf dem am wenigsten komplizierten und/oder am wenigsten kostspieligen Weg. Vom Energieaufwand her ist es weniger kostspielig, mit einer Person desselben Geschlechts zu kooperieren als mit einer Person des anderen Geschlechts. Ich denke, das können wir alle nachvollziehen. Wenn wir mit jemandem desselben Geschlechts kooperieren, nutzen wir die gleiche Tauschwährung, und deshalb sind Akte der Kooperation leicht zu verfolgen. Selbst unter Verwandten erwartet man, dass Kooperation mehr oder weniger wechselseitig erfolgt – du kratzt mir den Rücken, und ich werde dir den Rücken kratzen –, deshalb ist es wichtig, den Überblick zu behalten, damit nicht einer oder eine immer Hilfe leistet. Und je leichter es ist, den Überblick zu behalten, desto weniger Gehirnleistung ist nötig, und desto weniger kostbare Energie wird verbraucht. In der Frühzeit unserer Spezies haben im Zusammenhang mit Kindern die Frauen die gleiche Art von Handlungen getauscht: solche, die mit der Sorge für das Kind und seinem Schutz zusammenhingen. Männer kooperierten aus anderen Gründen – sie halfen vielleicht mit dem Kind, weil das ihre Chancen erhöhte, der nächste Partner der Mutter zu werden, eine deutliche andere Währung. Der Wechselkurs zwischen beiden Währungen war unglaublich schwer zu kalkulieren, und deshalb entschied die Evolution, dass wir solche Formen des Austauschs nur dann machten, wenn es unbedingt nötig war. In der Folge wandten sich Mütter in erster Linie an andere Frauen, wenn sie Hilfe brauchten.
Und so zog unsere Vertreterin von Homo ergaster ihre Kinder mit der Hilfe ihrer weiblichen Verwandten groß, ihrer Schwestern, Cousinen und sogar ihrer älteren Töchter. Wie wir wissen, reichte über eine Million Jahre diese Hilfe aus, aber etwa vor 500.000 Jahren vergrößerte sich das Gehirn zum zweiten Mal erheblich, und damit wurden die Energiekosten für die Aufzucht eines Kindes erneut zu groß. Dieser Sprung bei der Größe des Gehirns bis auf fast die 1300 Kubikzentimeter, die es heute hat, bedeutete, dass die Zeitspanne der kindlichen Abhängigkeit noch länger wurde und der Bedarf an sehr energiereicher Nahrung – in dem Fall Fleisch – noch drängender. Bis dahin waren unsere Vorfahren eher zufällig an Fleisch gelangt; manchmal hatten sie die Risse von Raubtieren geplündert, und manchmal (das klingt sehr viel aufregender) schnappten sie einem lauernden tierischen Räuber seine Beute vor der Nase weg. Diese Ad-hoc-Methode reichte eindeutig nicht mehr aus, und besser planbare, erheblich weniger gefährliche Methoden, an diese lebenswichtige Ressource zu gelangen, mussten entwickelt werden, um das enorm große Gehirn zu ernähren. Es ist kein Zufall, dass parallel zum Homo heidelbergensis mit dem größeren Gehirn auch erste archäologische Belege für die Verwendung von Jagdspeeren auftauchen. Und nicht irgendwelche Wurfgeräte, sondern 1,50 Meter lange, perfekt gearbeitete hölzerne Wurfspeere wie jene über 300.000 Jahre alten Exemplare, die im niedersächsischen Schöningen gefunden wurden. Homo heidelbergensis war nicht nur ein guter Jäger, sondern auch ein hervorragender Handwerker.
Es reichte nicht mehr aus, dass die weiblichen Verwandten, die wahrscheinlich alle ihre eigenen kleinen Kinder betreuten, sich zusammentaten und allein ihre Kinder aufzogen. Verlässliche Quellen für Fleisch mussten erschlossen werden, um die sich schnell entwickelnden Kleinkinder zu ernähren und die Mütter mit der richtigen Nahrung zu versorgen, die für das Austragen und Stillen ihrer Kinder mit den großen Gehirnen immer mehr Energie brauchten. Jemand anderer musste einspringen, um das Überleben der Art zu sichern, jemand, der die Zeit, die Energie und das Geschick besaß, auf die Jagd nach Fleisch zu gehen und effiziente Werkzeuge für die Jagd und die Verarbeitung der Beute zu produzieren. Jemand, der nicht durch die kräftezehrende Aufgabe der Fortpflanzung behindert wurde, aber trotzdem durch die genetische Verwandtschaft mit eingebunden war. Jemand, der eine Feuerstelle bauen – die archäologischen Zeugnisse zeigen einen sprunghaften Anstieg von Feuerstellen um diese Zeit – und das Feuer kontrollieren konnte, was es ermöglichte, das erbeutete Fleisch zu garen und damit für den kindlichen Magen besser verdaulich zu machen. Jemand, der die Aufgabe übernehmen konnte, die Fertigkeiten der Werkzeugproduktion und die Regeln der Jagd an die heranwachsenden Kinder weiterzugeben. Und jemand, der, als die Jagd immer komplexer wurde, die lebenswichtigen Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten vermitteln konnte, die für den Erfolg bei der Jagd und für den Erfolg des Kindes in der größeren sozialen Welt so entscheidend waren. Aus der Einleitung zu diesem Kapitel wissen wir, dass dieser Jemand der Papa war.
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Anders als bei unseren Cousins, den Menschenaffen, ist bei uns der Größenunterschied zwischen den Geschlechtern relativ gering. Männer sind ungefähr 1,1-mal so groß wie Frauen, männliche Gorillas dagegen mit dem 1,75-Fachen fast doppelt so groß wie weibliche. Männliche Gorillas sind so viel größer, weil sie ihren Harem von Weibchen, die Junge haben, gegen andere Männchen verteidigen müssen. Wir Menschen haben hingegen die letzte halbe Million Jahre weitgehend in monogamen Paarbeziehungen gelebt, bei denen beide Geschlechter wählen, mit wem sie zusammen sein wollen; Männer müssen nicht mit physischer Kraft viele Frauen zusammenhalten, die wenig Mitsprache haben, wer ihr männlicher Partner sein wird. Der geringe Größenunterschied spielt bei der Entwicklung des menschlichen Vaterseins eine sehr wichtige Rolle. Die Evolutionsanthropologin Dr. Cathy Key vom University College London hat in einer sehr gründlichen Untersuchung diesen Größenunterschied zwischen den Geschlechtern herangezogen, um zu errechnen, wann die menschliche Vaterrolle entstand. Bei den meisten Arten sind die männlichen Tiere deutlich größer als die weiblichen und die Kosten der Reproduktion für ein männliches Tier deutlich höher als für ein weibliches, weil ein Männchen einen großen Körper ausbilden und erhalten muss, um erfolgreich Zugang zu Partnerinnen zu bekommen. Bei den Menschen hingegen sind die Reproduktionskosten für einen Mann sehr viel geringer als für eine Frau. Es ist nicht wesentlich aufwendiger, einen großen Körper auszubilden und zu erhalten, als es für die Frau ist, ein Baby auszutragen und zu stillen. Key kalkulierte, dass es sich unter diesen Umständen für einen Mann zunächst lohnte, Energie zu investieren und der Frau bei der Aufzucht ihrer Kinder zu helfen, selbst wenn es nicht seine waren, um damit die Chance zu erhöhen, dass sie ihn als Vater für ihr nächstes Kind auswählte. Doch da die Evolution die Verwandtenselektion bevorzugt – in erster Linie jenen helfen, mit denen wir genetisch verwandt sind –, entwickelte sich rasch ein zweites Stadium, in dem die Männer ihre Partnerin »bewachten« (»Mate-Guarding«). Das bedeutete, dass der Mann die ganze Zeit in der Nähe seiner Partnerin blieb, damit er zur Stelle war, wenn sie das nächste Mal fruchtbar wurde – was sich bei Menschenfrauen gar nicht leicht feststellen lässt –, und die Gelegenheit zur Paarung ergreifen konnte. Die Kehrseite für den Mann war, dass er sich nicht mehr nach anderen Partnerinnen umsehen und die promiskuitive, aber potenziell sehr produktive Paarungsstrategie aufgeben musste. Das reduzierte die Zahl seiner lebenslangen Nachkommen und machte es umso wichtiger, dass die Nachkommen, die er hatte, erwachsen wurden und seine Gene weitergeben konnten. In der Folge investierte er massiv in die Kinder seiner Partnerin, bei denen er sicher sein konnte, dass es seine Kinder waren, weil er praktisch nicht von ihrer Seite wich. Key hat errechnet, dass der Punkt in unserer Vorgeschichte, an dem das passierte – das heißt, an dem die Reproduktionskosten für die Frau sehr viel höher waren als die für den Mann –, mit dem Auftauchen des Homo heidelbergensis mit dem großen Gehirn, aber ähnlicher Körpergröße der Geschlechter vor einer halben Million Jahren zusammenfiel.
Und die Geschichte der Evolution über 500.000 Jahre hinweg ist hauptsächlich aus drei Gründen immer noch wichtig für die Väter von heute. Erstens tauchten mit den ersten Vätern zwei Schlüsselmerkmale auf, die bis heute die Rolle des Vaters definieren, unabhängig davon, wo er lebt. Nämlich zu schützen und zu unterrichten. Im Lauf dieses Buchs werde ich immer wieder darauf zurückkommen, wie stark bei allen Vätern der Drang ist, das Überleben ihrer Kinder zu sichern und ihr Lernen zu fördern, insbesondere im Umgang mit der komplexen sozialen Welt, in der unsere Spezies lebt. Zweitens erfahren wir, dass Vatersein bei Menschen nicht einfach nur ein Nebenprodukt des männlichen Wunsches ist, sich fortzupflanzen, sondern dass es durch die natürliche Selektion ausgewählt wurde. Die Evolution ist fixiert auf Effizienz und wird eine Art nur dann auf den Weg einer komplexen Veränderung bei Verhalten oder Anatomie schicken, wenn das wirklich der einzige Weg ist, ihr Überleben zu sichern. Man könnte sagen, dass das Vatersein bei Menschen der Inbegriff einer solchen Veränderung ist. Es war eine weltbewegende Verhaltensänderung mit weitreichenden Folgen für unsere Spezies, und es wäre nicht selektiert worden, wenn es uns nicht beträchtliche Vorteile gebracht hätte. Schließlich und vielleicht am wichtigsten erzählt uns die Geschichte der Evolution, dass Vatersein angeboren ist und nicht erlernt wird, wie man uns oft weismachen will. Natürlich muss ein Vater all die praktischen Dinge lernen, etwa wie man die Windeln wechselt, ein Baby badet und füttert, aber das gilt für die Mutter genauso. Wer jemals beobachtet hat, wie eine frischgebackene Mutter versucht, mit dem Stillen zurechtzukommen, begreift, dass wir alle Zeit brauchen, um zu lernen, ein Elternteil zu sein. Aber der Instinkt für das Elternsein ist vorhanden, das habe ich ganz am Anfang meiner universitären Laufbahn erfahren.
Ich habe zuerst Anthropologie bei einem wunderbaren Primatenforscher namens Simon Bearder studiert. Er hatte sich einen Namen mit der Erforschung der kleinen, nachtaktiven Galagos in Afrika gemacht. In der ersten Vorlesung erklärte er, wie nahe verwandt wir mit unseren Cousins bei den Affen und Menschenaffen sind, und tatsächlich sind wir einfach Primaten mit einem ungewöhnlich großen Gehirn und unersättlicher Neugier, die uns dazu drängt, zu lernen und Dinge zu erfinden. Er erläuterte, dass das in vielerlei Hinsicht eine wunderbare Sache war, dass wir aber manchmal bei dem Versuch, immer besser zu werden, unsere grundlegenden Instinkte und Fähigkeiten ignorierten. Ein Bereich, in dem wir uns damit schadeten, war die Elternschaft. Wie zwei Väter in meiner Studie feststellten, ist Elternsein mit einer steilen Lernkurve verbunden, und am Anfang kann es sein, dass man Fehler macht. Aber der Instinkt, Vater zu sein, ist stark und wird den Mann letztlich auf den richtigen Weg führen:
Noah: Man macht Sachen verkehrt, aber solange man nicht wirklich Schaden anrichtet, ist es einfach unvermeidlich […]
Adrian: Als sie zu uns gekommen ist, vielleicht vier Tage später, setzten wir sie zum ersten Mal in ihren Buggy und machten einen richtig langen Spaziergang. Alle sollten unser wundervolles Kind sehen […] [Irgendwann sagten wir:] »Sieht sie nicht ziemlich rot aus?!« Eineinhalb Stunden später fragten wir uns: Haben wir sie ausreichend mit Sonnencreme eingecremt? Sie war ziemlich rosa! Und dann gab es den Tag, als wir sie im Park hin und her schwenkten, und weil wir nicht wussten, wie stark wir waren, haben wir sie ziemlich rumgewirbelt und dachten schon, wir hätten ihr die Schulter ausgekugelt! Das haben wir nie wieder gemacht.
Noah und Adrian, Papas von Judy (sieben)
Die Botschaft lautet: Hören Sie auf Ihren Bauch. Lauschen Sie auf Ihren inneren Primaten, und dann wissen Sie, wie Sie Ihr Kind am besten aufziehen. Alle Eltern sind anders und erreichen ihre Ziele im Umgang mit ihren Kindern auf unterschiedliche Weise. Aber ihre Anatomie, ihr Gehirn, ihre Gene und ihre Hormone wurden alle von der Evolution für das Elternsein angelegt. Der Instinkt und die Fähigkeit zum Elternsein sind da, man muss nur darauf achten. Das gilt auch für Väter.
In den weiteren Kapiteln dieses Buchs bleiben wir fest in der Gegenwart. Wir schauen uns an, wie die Evolution massiv darin investiert hat, Männer zu Vätern zu machen – neurologisch, genetisch, physiologisch und psychologisch –, und wie heutige Väter, wenn sie bei ihren Kindern bleiben, Vorteile sammeln, die nicht nur für sie selbst und ihre Kinder wertvoll sind, sondern für unsere Gesellschaft insgesamt. Aber die Botschaft aus unserer evolutionären Vergangenheit lautet: Väter sind nicht nur Anhängsel der Mütter, gelegentliche Babysitter oder Taschenträger. Sie sind das Ergebnis von 500.000 Jahren Evolution, und sie bleiben ein entscheidender Teil der Geschichte der Menschheit.