Читать книгу Melodie des Herbstes - Anna Maria Luft - Страница 7

Оглавление

Kapitel 3

Ich stehe am Fenster und blicke hinunter auf die Straße, wo ich sofort Edgar entdecke. Er geht mit gemächlichen Schritten dahin. Heute hat er seine vollen grauen Haare sorgfältig nach hinten gekämmt. Mit seiner braunen Lederjacke, darunter ein hellblaues Hemd, sieht er sehr gepflegt aus. In der Hand hält er eine rotgelb gestreifte, schon sehr alte Tasche aus Leinen, die er oft zum Einkäufen benutzt.

Ich denke mir, warum geht er so früh aus dem Haus? Warum auch nicht, wo er meistens schon um sieben aufsteht.

Nachdem er weitergegangen ist, betrachte ich voller Freude mein Blumenfenster, auf das ich sehr stolz bin. Hier blühen Orchideen in Rosa, Hellrot und Weiß. Obwohl sie sehr pflegeleicht sind, und ich sie nur zweimal pro Woche gieße, zeigen sie meistens ihre ganze Pracht. Während die Pflanze in voller Blüte steht, sind schon wieder neue Knospen zu erkennen.

Heute habe ich Geburtstag, was wohl keinen auf der Welt interessiert, nicht einmal Edgar. Oder bin ich zu voreilig? Der Tag hat ja erst begonnen.

Mein Frühstückstisch ist reichlich gedeckt. Zuerst trinke ich ein Gläschen Sekt und spüre gleich die Wirkung des Alkohols. Ich fühle mich leicht beschwingt, gerade richtig an so einem Tag. Ich gönne mir heute eine Fahrt nach München. Warum sollte ich mir nicht selbst eine Freude bereiten? Ich wohne in einem kleinen Ort nahe Starnberg und kann die S-Bahn benutzen, wenn ich nach München fahren will, manchmal auch die Bundesbahn, aber sie hält nicht immer in Starnberg. Ich gestatte mir öfter das Vergnügen, die bayerische Metropole aufzusuchen, um dort bummeln oder einkaufen zu gehen. Vielleicht suche ich mir heute ein Sommerkleid aus, bin ich am Überlegen. Womöglich gehe ich auch ins Kino. Heute zu meinem Geburtstag möchte ich unbedingt einen Spaßtag haben.

Jetzt werde ich erst einmal in aller Ruhe zu Ende frühstücken.

Ich bin 73 Jahre alt geworden. Ich frage mich so oft, wo die vielen Jahre hingegangen sind. Was ist überhaupt Zeit, überlege ich. Es ist ja nicht nur das Fortschreiten der Gegenwart. Es ist auch die Abfolge der Ereignisse, die einem im Leben begegnen. Kaum ist die Gegenwart da, ist sie auch schon wieder vorbei. Jede Minute dauert nur eine Minute, jeder Tag nur einen Tag. Ich höre Edgar sagen: Die Zeit ist relativ. Und, was er noch sagt: Die Wahrnehmung der Zeitdauer hängt davon ah, was in dieser Zeit passiert.

Das kann ich gut nachempfunden. In manchen Jahresabschnitten habe ich die Zeit so empfunden, als wäre sie wie im Flug vergangen, ein anderes Mal habe ich geglaubt, sie bleibt stehen.

In diesem Moment denke ich daran, was in meinem Leben alles Aufregendes passiert ist, und manches, was längst der Vergangenheit angehört, ist in meinem Kopf noch so gegenwärtig, so fest verankert, als wäre es soeben geschehen. Es fällt mir nicht schwer, die schönen Erlebnisse für immer festzuhalten, wie die Geburt meiner Tochter und die erste Weihnacht mit ihr und mit meinem Mann. Damals sind wir als Ehepaar noch ein Herz und eine Seele gewesen. Manche traurigen und unangenehmen Begebenheiten möchte ich allerdings aus meinem Gedächtnis verbannen. So leicht ist das jedoch nicht. Ich kann den Tag und sogar die Stunde nicht vergessen, an dem mich Friedhelm, mein damaliger Mann, verlassen hat. Ich habe bitterlich geweint und mich verzweifelt auf die Couch geworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits in die rassige junge Italienerin Maria Bernadette verliebt. Meine Hoffnung, ich könnte ihn noch zum Bleiben bewegen, hatte sich nicht erfüllt. Er war fest entschlossen gewesen, mich zu verlassen. Einige Zeit war mir noch die Hoffnung geblieben, er käme reumütig zurück, doch welch ein Trugschluss. Schon einige Monate später hatten wir das Haus verkauft, damit jeder seinen Anteil erhalten konnte. Eine vierköpfige Familie war an der Immobilie interessiert, aber da sie aus finanziellen Gründen nicht gleich zugreifen wollte, hatten wir ihnen einen Nachlass gewährt.

Der Verlust unseres Eigenheims war für mich sehr dramatisch gewesen. Lange Zeit wurden mir deshalb öfter Albträume beschert. Ich habe geträumt, dass ich auf der Straße leben muss. Bis jetzt hat sich mein Gedächtnis noch nicht von diesem negativen Erlebnis befreien können.

Mitten in meine Gedanken hinein läutet jetzt das Telefon. Ich nehme erwartungsvoll den Hörer ab und staune, dass meine Tochter in der Leitung ist. Sie sagt: „Mutti, herzlichen Glückwunsch zu deinem dreiundsiebzigsten Ehrentag.“

„Oh, danke, Dietlinde, lieb von dir, dass du heute an mich denkst“, sage ich und frage mich in diesem Augenblick, ob das ein Zeichen der Versöhnung sein könnte. Ich warte schon so lange sehnlichst darauf.

Dietlinde schweigt vorerst. Deshalb wiederhole ich: „Ich finde es sehr nett von dir, dass du…“

Sie unterbricht mich mit dem vielversprechenden Satz: „Manchmal kommt es anders als man denkt.“

„Wie meinst du das, Dietlindchen?“, frage ich. „Bitte, könntest du dich genauer ausdrücken? Komm mich besuchen, dann können wir darüber reden und über vieles andere. Ich würde mich riesig darüber freuen.“

„Nein, ich komme nicht“, sagt sie so energisch, dass ich zusammenzucke.

„Dann danke für deine guten Wünsche“, wiederhole ich mich. „Es hat mich sehr gefreut, dass du…“ Ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie auflegt. Darüber bin ich enttäuscht. Ich wollte noch ein Weilchen mit ihr reden, sie fragen, wie es ihr geht. So rufe ich rasch zurück, aber sie nimmt den Hörer nicht ab. Ich versuche es eine halbe Stunde später wieder, bekomme aber erneut keine Verbindung. Rasch räume ich das Frühstücksgeschirr weg und mache mich für die Fahrt nach München fertig.

Als ich vor meine Wohnungstür trete, steht mir zu meiner großen Überraschung Gloria mit einem Blumenstrauß gegenüber. Ihr hübsches Geschenk nehme ich staunend und dankend entgegen. „Woher weißt du, dass ich Geburtstag habe? Vielleicht von Edgar?“, frage ich. Sie sagt: „Nein, von ihm nicht. Ich möchte aber nicht verraten, wer mir den Tipp gegeben hat.“

„Darf ich dich für morgen Nachmittag zum Kaffee einladen? Heute fahre ich nach München.“

„Gerne! Nachmittags habe ich morgen etwas Zeit.“

„Schön! Du könntest gegen 15 Uhr kommen.“

„Oh, danke! Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen in München“, sagt sie lächelnd. Wahrscheinlich ist sie glücklich darüber, mir eine Freude bereitet zu haben. Manchmal kommt die Freude, die man anderen schenkt, wieder ins eigene Herz zurück. Ich selbst habe das schon oft erlebt.

Ich gehe in meine Wohnung zurück, stelle die Blumen in meine bauchige Glasvase, die ich mit Wasser fülle. Dann rieche ich an den verführerisch duftenden gelben Rosen. Ich frage mich, wie Gloria darauf kommt, mir diese wunderschönen Blumen zu schenken. Ich sehe es als Bestätigung dafür, dass sie mich mag, und so freue ich mich darüber, dass ein so aufgeschlossenes junges Mädchen mich betagten Menschen sympathisch findet. Ich stelle immer wieder fest, dass mir die Anerkennung der jungen Generation sehr viel bedeutet.

Ein paar Momente setze ich mich in den Sessel, weil mir so viele Gedanken durch den Kopf schießen. Dabei wird mir bewusst, dass heute bereits zwei wunderbare Ereignisse geschehen sind, die ich vorher nie vermutet hätte: Die Gratulation meiner Tochter und die Glorias.

Jetzt will ich mich beeilen, zur S-Bahn-Station zu kommen.

Als ich in München beim Eingang des Kaufhauses Karstadt vorbeikomme, das noch vor einiger Zeit das Kaufhaus Herde gewesen ist, sitzt ein Mann auf dem Boden, - ich schätze ihn auf etwa fünfzig. Er hebt die Hand, um mich zum Stehenbleiben zu bewegen. Seine Kleidung ist schäbig, die Jacke an den Ärmeln schon sehr abgewetzt. Das Hemd - man kann nicht erkennen, ob es weiß oder grau ist - ist halb geöffnet. Ungepflegt wuchert der Bart in seinem faltigen Gesicht. Neben seinen zerbeulten Schuhen liegt ein Rucksack. Mir scheint, dass auch das Hand wägeichen daneben ihm gehört.

„Bitte, Madame, bleiben Sie einen Moment stehen“, ruft er mir zu. „Ich muss Ihnen unbedingt etwas sagen.“ Ich wundere mich über die Anrede Madame und trete näher. „Ja, was möchten Sie mir sagen?“

„Ich bin ohne meine Schuld verarmt. Weil ich lange krank war, hat man mich aus der Firma geworfen.“

Ich sage: „Aber das geht doch nicht so leicht. Wenn man krank ist, kann man nicht.

„Ich habe keine Lust gehabt, das Sozialgericht einzuschalten, denn ich dachte nicht daran, wieder in diese Firma zurückzukehren, weil mein Chef ein unmöglicher Mensch ist und ich nicht mehr mit ihm Zusammenarbeiten möchte. Er hat nämlich eine wilde Geschichte über mich erfunden. Die meisten, auch meine Kollegen, haben sie ihm geglaubt.“

„Sie haben doch sicher Arbeitslosengeld erhalten.“

„Ja, habe ich. Und dann hat man mir eine Stelle vermittelt. Ich musste Kisten auf einen Lastwagen laden. Meine Rückenschmerzen nahmen wieder zu. Ich war doch schon einmal an der Wirbelsäule operiert worden und…“ Er seufzt tief. „Ich bin zusammengebrochen.“

„Das ist bitter“, sage ich, „aber Sie hätten die Arbeit verweigern können, weil sie für Sie körperlich unzumutbar war. Da gibt es einen Paragraphen.“

Ich will seine Geschichte noch weiter hören, obwohl ich sie nicht völlig glauben kann. Etwas stimmt da nicht. „Warum haben Sie keine Rente beantragt?“, frage ich. „Habe ich doch. Man hat sie mir nicht bewilligt. Ich sei noch arbeitsfähig, hat man mir gesagt. Ich habe dann eine Arbeit in einem Büro angenommen. Sie war stinklangweilig. So bin ich öfter eingeschlafen. Man hat mich entlassen.“

„An der Entlassung waren Sie selber schuld.“

„Kann sein. Inzwischen sind mir meine Frau und mein Sohn davongelaufen. Ich habe nicht einmal eine Adresse und nie mehr etwas von ihnen gehört. - Eine dritte Stelle habe ich auch noch besetzt: Ich musste im Winter auf einem riesigen Gelände Schnee schippen, was ein Unding war. Täglich war ich zum Umfallen müde.“

Ich schüttle den Kopf. „Aber so viel Schnee gab es letzten Winter doch bei uns nicht. Außerdem - warum nehmen Sie eine solche Stelle an, wenn Sie schon einen körperlichen Schaden haben und damit überfordert sind?“

Der Mann wird leicht ärgerlich. „Sie glauben nicht, was ich Ihnen erzähle? Es war ein großes Gelände, auf dem gebrauchte Autos ausgestellt werden sollten.“

Ich atme erst tief ein und aus. Dann sage ich: „Ich bezweifle nicht, dass Sie diese Arbeit verrichtet haben, aber Sie hätten sie verweigern können.“

„Ich bekam eine schwere Lungenentzündung und musste ins Krankenhaus. Nach meiner Heilung war ich nur noch ein Wrack. Sie sehen ja selbst, wie ich heruntergekommen bin.“

Ich lache. „Sie müssten sich nur etwas besser kleiden, dann würden Sie gar nicht so schlecht aussehen. Außerdem riechen Sie nach Zigaretten- oder Zigarrenrauch. Sie werden Ihr Geld verrauchen.“

„Stimmt nicht. Ich habe in einer Suppenküche gegessen. Da wurde so viel geraucht, dass es in meine Kleidung gezogen ist.“

„In einer Suppenküche wird niemals das Rauchen erlaubt.“

„Es stimmt aber. Jetzt gehe ich jeden zweiten Tag zur Tafel und bekomme billige Lebensmittel. Aber meine Miete ist in die Höhe gegangen, weil das Haus renoviert wurde. Die Arbeitslosenhilfe, die ich bekomme, reicht nicht weit. Ich habe die Wohnung verlassen müssen. Ich bin jetzt Hartz 4“

„Sie werden doch einen Weg finden, ein bisschen Geld dazu zu verdienen? Es werden überall Leute gesucht. Außerdem erhalten Sie doch auch Leistungen der Grundsicherung, sie bekommen Arbeitslosengeld II. Ist das so wenig? Wie ist es mit Wohngeld? Außerdem könnten Sie einen Mini-Job annehmen, der Sie körperlich nicht zu sehr belastet?“

„Suchen Sie mir einen! Keiner will mich haben.“

Ich seufze! Dann fallt mir ein zu sagen: „In diesem Outfit würde ich Sie auch nicht einstellen. Oder haben Sie sich extra so zum Betteln angezogen?“

Der Mann schüttelt den Kopf. „Jetzt werden Sie unverschämt. Bitte, gehen Sie weiter.“

„Entschuldigung! Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Ich möchte Ihnen etwas geben, wie auch immer Ihre Geschichte verlaufen ist. Alles kann ich nicht glauben, was Sie mir erzählt haben, aber dass Ihre finanzielle Lage sehr schlecht ist, kann ich mir denken.“

Ich hole meine Geldbörse aus der Handtasche, nehme einen Zwanzigeuroschein heraus und überreiche ihn dem Hilfsbedürftigen.

„Danke“, sagt er, nachdem er das Geld an sich genommen hat und verbeugt sich vor mir.

Ich gehe weiter und denke nach: Habe ich einem armen Menschen mit meinen 20 Euro wirklich geholfen? Ich glaube schon, auch wenn die Geschichte des Mannes etwas unwahrscheinlich geklungen hat. Ich höre ein paar Vorübergehende sagen: „Es ist Dummheit, einem Bettler etwas zu geben. Er wird sich für dieses Geld nur alkoholische Getränke oder Zigaretten kaufen.

Ich denke mir: Wenn er wirklich arm ist, wird er sich dafür Lebensmittel besorgen und wenn nicht, ist er selber schuld.

Jetzt fühle ich mich nicht mehr in der unbeschwerten Stimmung, mir ein Kleid zu kaufen und fahre nach Hause.

Bei meiner Rückkehr sehe ich zu meiner großen Überraschung vor meiner Wohnungstür ein Päckchen liegen. Der Absender ist Edgar. Als ich es später öffne, finde ich drei Goethe-Bände darin vor. In einem der Bücher stehen Gedichte, im anderen Die Leiden des jungen Werther und im dritten Band Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ich finde, dass Edgar viel zu viel Geld für mich ausgegeben hat. Dennoch freue ich mich über dieses großherzige Geschenk, vor allem rechne ich es ihm hoch an, meinen Geburtstag nicht vergessen zu haben. In meiner Hochstimmung springe ich in die Höhe, spüre aber sofort meinen Rücken wieder, der mir ab und zu Schmerzen bereitet.

Edgar hat eine hübsche Geburtstagskarte beigelegt, worin er mir neben seinen Glückwünschen mitteilt, dass er am Nachmittag nach Wien gefahren ist, um Lörchen, die verunglückt sei, im Krankenhaus aufzusuchen.

Ich erschrecke darüber, denn ich liebe dieses Kind, als wäre es mein eigenes.

Während ich ein Glas Wein trinke und dabei doch wieder Chips nasche, verfalle ich in Nachdenklichkeit. Dietlinde hat mir kürzlich nicht nur die Schuld an der Scheidung vorgeworfen, sondern auch, dass ich sie nicht geliebt hätte, weil mir mein Beruf wichtiger gewesen sei. Ich bin eine leitende Angestellte in einem Münchner Bekleidungshaus gewesen, eine Direktrice. Erst hatte ich nach dem Besuch der Handelsschule in einem Bamberger Steuerbüro gearbeitet. Dieser Beruf hatte mir nicht zugesagt. Ich war nach München umgezogen, hatte meinen Beruf gewechselt und war erst Schneiderin, später Schneidermeisterin geworden und hatte mich bis zur Direktrice empor gearbeitet. Ich war damals schon verheiratet und hatte wegen meiner vollen Berufstätigkeit mein Kind und den Haushalt vernachlässigt. Mein Mann war zu dieser Zeit tagelang als Generalvertreter für medizinische Geräte unterwegs gewesen. Von ihm hatte ich keine Hilfe erwarten können. Was hätte ich tun sollen? Meinen Beruf wollte ich nicht aufgeben und halbtags arbeiten hatte mir die Firma nicht erlaubt. Wegen Dietlinde wollte ich nicht daheim bleibleiben. Heute bin ich traurig darüber, es nicht getan zu haben. Kürzlich hat meine Tochter zu mir gesagt, dass sie sich damals sehr allein gefühlt habe. Wie oft habe ich sie schon um Verzeihung gebeten, aber meine Reue kommt bei ihr nicht an.

Gloria kommt am nächsten Tag gegen drei Uhr zu mir. Sie wünscht sich einen Rotbuschtee. Zufällig habe ich noch einen daheim. Ich habe in der Konditorei einige Obstschnitten und mehrere Stückchen Bienenstich besorgt.

Das Mädchen erzählt, dass sie auf die Realschule in Starnberg gehe. Sie wolle demnächst aufs Gymnasium überwechseln. Sie sagt: „Ich möchte eines Tages in die Politik gehen. Mit großem Interesse lese ich die Zeitung.“

„Du solltest dich mit Edgar treffen. Er hätte Freude an einer Diskussion über Politik. Ich mag das nicht.“

Ich äußere, dass es in der Politik nicht immer mit rechten Dingen zugehe. „Außerdem regen mich diese ewigen Streitereien der Politiker auf. Mir reichen schon die Nachrichten. Ich sehe mir im Fernsehen lieber einen fröhlichen oder harmonischen Film an. Das ist entspannend. Ich denke nicht daran, mich in meinem Alter auch noch aufzuregen.“

Gloria lacht. „Aufregen erhält jung“, sagt sie.

„Nein, aufregen macht alt und hässlich“, sage ich. „Alt bin ich schon, und hässlicher muss ich nicht noch werden.“

Gloria lacht, und murmelt: „Sie sind doch nicht hässlich, sondern für Ihr Alter noch sehr attraktiv.“

„Danke!“

„Frau Münder, die Politiker sind auch nur Menschen wie du und ich. Es muss geredet und auch gestritten werden, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, Diese Männer und Frauen tragen Verantwortung für das, was sie tun.“

Ich staune, dass Gloria mit ihren 16 Jahren schon so redet. Dass sie eine sehr intelligente junge Frau ist, ist mir schon lange klar.

„Nehmen die Politiker ihre Verantwortung wirklich ernst?“, frage ich sie.

„Die meisten schon. Unser Deutschland ist doch okay im Gegensatz zu vielen anderen Ländern. Das haben wir Politikern zu verdanken, dass es so ist.“

„Nicht allein Politikern. Ja, in Deutschland kann man gut leben. Wenn ich Länder betrachte, in denen die Frauen unterdrückt werden und tun müssen, was Männer befehlen, kommt mir die Wut. Und manche Frauen müssen sich sogar hinter einer Burka verstecken, damit sie mit ihrem schönen Gesicht keinen anderen Mann reizen können. Wo bleibt die Würde der Frauen?“

„Steckt da nicht die Religion dahinter?“, überlegt Gloria.“

„Möglich, aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist es Tradition! So war es immer, so wird es auch weiterhin sein. Die Frauen müssen ihren Männern gehorchen. Stell dir doch mal vor, Gloria, auch in unserem Deutschland der 60er Jahre haben Frauen ihre Männer fragen müssen, ob sie arbeiten gehen dürfen. Ist das nicht unglaublich?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwidert Gloria.

„Doch, das ist wahr. Du kannst es sicher irgendwo nachlesen oder jemanden fragen.“

Das Mädchen spielt an dem Saum ihres Minikleides und fragt mich: „Wie ich Sie kenne, haben Sie sicher selbst bestimmt, was Sie tun wollten, nicht wahr?“

„Ja! Das habe ich mir nie wegnehmen lassen.“

Gloria hat inzwischen ihren Tee ausgetrunken, ich gieße nach. Dazu nimmt sie sich noch ein Stück Apfeltorte und, nachdem sie hineingebissen hat, sagt sie: „Wissen Sie, worüber ich mich freue? Dass wir hier in diesem Haus wohnen können. Meine Eltern haben lange nach einer passenden Wohnung gesucht. Die Mitbewohner sind alle nett.“

„Alle nicht, aber darüber möchte ich mich nicht äußern.“

„Müssen Sie auch nicht.“

Ich sage:„In unserer Gegend lebt es sich gut. Wir haben ganz in der Nähe den Wald und den herrlichen Starnberger See. Die Berge sind auch nicht weit weg. Was wollen wir mehr? Viele Menschen verbringen ihren Urlaub in unserer wunderschönen Landschaft.“

Gloria verschränkt auf einmal ihre Arme. Es fällt ihr anscheinend nicht leicht zu fragen, wie ich mit Herrn Frömmler zurechtkomme.

„Bestens, wir sind Freunde. Glaubst du nicht, dass es zwischen Mann und Frau eine Freundschaft geben kann? Im Alter braucht man das dringend.“

„Ist er nicht manchmal sonderbar?“

„Nein! Er ist ein guter Zuhörer. Er nimmt mich ernst und geht auf alles ein. Aber jeder macht mal Fehler, ich auch.“

Gloria lächelt. „Hört sich gut an. In diesem Haus ist keiner einsam. Oder doch? Vielleicht Frau Schröter?“ „Könnte sein. Ihre Freundin, Frau Lingmann, lebt jetzt in einem Altersheim. Sie hatte doch den Brand in der Amselstraße verursacht. Übrigens, das wollte ich dir schon mal sagen: Deine Eltern finde ich nett.“

„Sind sie auch. Sie ärgern sich jedoch, weil ich in die Politik gehen will.“

Ich zucke mit den Schultern. „Ein junger Mensch sollte sich beruflich frei entscheiden können.“

„Das könnten Sie ihnen sagen.“

Ich schüttle den Kopf. „Ich kann mich nicht in eure Familienangelegenheiten einmischen.“

„Schade“, meint sie und beißt sich auf die Lippen, weil sie etwas überlegt. Dann fragt sie mich: „Warum ist Edgar heute nicht hier?“

„Es ist gestern nach Wien gefahren. Seine Enkelin ist verunglückt.“

„Verunglückt? Schlimm?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Wir reden noch über die Schule. Sie bleibt zwei Stunden, obwohl sie früher gehen wollte.

Als Edgar drei Tage später von Wien zurückkehrt, bedanke ich mich für das wundervolle Geschenk und erkundige mich, wie es Lörchen geht.

„Schon besser. Sie hat eine Gehirnerschütterung und muss noch eine Woche im Krankenhaus bleiben.“

Er berichtet, dass sie gedankenlos in ein Auto gelaufen sei. „Sie hat noch Glück im Unglück gehabt. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.“

Melodie des Herbstes

Подняться наверх