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Kapitel 2

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Selten hatte sich Steven so verletzlich gefühlt, wie in den letzten Stunden. Das Wochenende war in einer Katastrophe geendet und hatte die Schüler des Internats schwer erschüttert. Nachdem der Notarzt endlich eingetroffen war, folgte die Polizei nur kurze Zeit später. Alecs Eltern wurden benachrichtigt und Lucy ins Krankenhaus gebracht. Die Party endete mit einem Schlag und seither hüllten sich die Schüler in einsames Schweigen. Selbst Bea hatte sich zurück gezogen und das Wochenende in ihrem Zimmer verbracht. Die wenigen Schüler, die die Möglichkeit hatten nach Hause zu fahren, hatten diesen Ausweg genutzt und waren erst heute früh, kurz vor Unterrichtsbeginn zurück gekehrt. Steven konnte es ihnen nicht übel nehmen. Sie alle waren seit dem Vorfall ein wenig von der Rolle. Lucy ging es wohl schon besser, obwohl er selbst sie noch nicht besucht hatte. Doch Bea hatte ihn unterrichtet, dass sie bereits morgen entlassen werden würde, sofern sich ihr Zustand nicht wieder verschlechterte.

Der halbe Tag lag bereits hinter ihm, als er eine Mitteilung erhielt, sich im Büro des Direktors einzufinden. Nur widerstrebend hatte sich Steven auf den Weg zu Wallace gemacht, der im Internat als streng und unnachgiebig galt. Steven hatte in den letzten vier Jahren noch kein einziges positives Gespräch mit dem alten Herrn geführt. Stattdessen hatte er sich oft anhören dürfen, wie unproduktiv er doch sei und sich hier nur auf seiner faulen Haut ausruhen würde.

Das Internat hingegen mochte Steven sehr. Seit er vor vier Jahren seine ersten Schritte auf dem geölten Parkettboden im Eingangsbereich gesetzt hatte, fühlte er sich hier mehr zu Hause als in seinem eigenem Heim, denn dort wartete bloß Einsamkeit und Langeweile auf den Jugendlichen. Seine Eltern hatten sich vor vielen Jahren getrennt und Steven vorsorglich in die Obhut einer Privatschule entlassen. So brauchten sie sich nicht selbst um die Erziehung und Versorgung ihres Nachwuchses zu bemühen. Nur in den Sommerferien und an Weihnachten besuchte Steven seine Eltern, meistens zeitlich aufgeteilt, damit auch jeder zu seinem Recht kam. Aber von Liebe und Geborgenheit brauchte hier keiner sprechen. Denn sowohl Bill, Stevens Vater, als auch seine Mutter Melinda waren glücklich mit ihren neuen Familien und Steven machte ihnen nur deutlich, aus welcher schlechten Epoche ihres Lebens er entsprungen war.

Steven hatte schon vor Jahren aufgehört, um die Gunst seiner Eltern zu buhlen. Seither genoss er die Vorzüge dieser Behandlung in vollem Ausmaß. Geld hatte für die Familie nie eine Rolle gespielt. Und immer wenn Steven mit seinem Vater sprach, schickte er ihm anschließend einen großen Batzen Kohle und entließ sich damit aller Verantwortung. Von Melinda hingegen erhielt Steven nur selten etwas. Meistens eine Grußkarte zum Geburtstag oder ein Päckchen gefüllt mit Süßigkeiten. Das schien ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Dabei wusste Steven genau, dass nicht Melinda die Päckchen schickte, sondern ihre Stieftochter Betty, die sich bereits vor Jahren in Steven verguckt hatte. Steven fand die Schwärmerei seiner 10-jährigen Stiefschwester niedlich und ließ es dabei bewenden.

Kurz vor dem Büro des Direktors fielen ihm all die Sachen wieder ein und er schluckte schwer, bevor er es schaffte, den Arm zu heben und endlich an die Tür zu klopfen.

"Herein!"

Ein lauter Befehlston schwappte zu ihm herüber und Steven betrat Wallace dunklen Arbeitsplatz.

Sofort entdeckte er den grauen Haarschopf seines Vaters in dem Ledersessel vor Direktor Wallace Schreibtisch. Er sah nur kurz zu Steven, nickte und wendete sich dann wieder Wallace zu. Typisch für Dad, dachte er. Noch nicht einmal ein "Hallo" kam ihm über die Lippen.

"Guten Tag."

Steven schloss die Tür hinter sich und trat näher auf den Schreibtisch des Direktors zu.

"Steven. Setz dich bitte. Dein Vater und ich müssen etwas mit dir besprechen."

Er schluckte und nickte vorsichtig. Dann nahm er auf dem zweiten Sessel Platz und schaute abwechselnd zwischen seinem Vater und Wallace hin und her. Bill schien nicht zu wissen, wie er das Gespräch beginnen sollte, also räusperte sich Wallace und begann mit seiner kleinen Ansprache.

"Steven, was dein Vater dir nun sagen möchte, fällt ihm mit Sicherheit nicht leicht. Und auch für mich ist es ein kleiner Schock, das darfst du mir gerne glauben. Doch nach den Ereignissen des letzten Wochenendes und der Tatsache, dass dein Vater in Zukunft nicht mehr für das Schulgeld aufkommen kann, werden wir dich leider aus dem Internat entlassen müssen."

Schock! Steven klappte der Mund auf und seine Hände wurden feucht. Was hatte Wallace dort gesagt? Aus dem Internat entlassen? Das ging doch nicht. Hier war sein zu Hause! Wo sollte er denn hin? Und warum sagte sein Vater nichts dazu?

"Dad?"

"Ja, das stimmt. Ich habe mit deiner Mom gesprochen und wir sind uns einig, dass hier nicht der richtige Umgang für dich herrscht. Anscheinend sehen einige Schüler den Drogen- und Alkoholkonsum sehr locker und wir möchten beide, dass du nicht eines Tages tot in einem Pool endest."

"Dad! Ich habe doch nichts gemacht. Noch nicht mal etwas genommen?"

"Nein, dieses Mal nicht, doch was passiert als nächstes?"

Steven schaute seinen Vater mit großen Augen an.

"Das kannst du nicht machen, Dad. Das hier ist mein Zuhause. Ich lebe hier."

"Das kann sein Steven, doch ab und an muss der Mensch neue Wege beschreiten und deiner beginnt heute."

"Nein." Steven schüttelte mit dem Kopf und wurde wütend. Jetzt mischte sich auch Wallace mit in die Unterhaltung ein.

"Doch, so ist es, Junge. Und es gibt noch einen weiteren Grund. Den darf dir dein Vater gerne selbst erklären. Denn auch für uns ist es eine große Überraschung, das kannst du mir glauben."

"Was meint er?" Steven wies mit dem Kopf in Richtung Wallace und zog die Augenbrauen hoch. Seine Haare wischte er sich mit einer Handbewegung aus der Stirn.

"Direktor Wallace hat eben von mir erfahren, dass ich nicht mehr für dein Schulgeld aufkommen kann. Ich habe meinen Job verloren und bin im Moment arbeitslos. Ich muss jetzt erst einmal sehen, wie ich mein Haus finanziert bekomme, da habe ich nicht das Geld um dich hier unterzubringen. Das ist zweitrangig. Außerdem hat deine Mom bereits eine andere Schule gefunden, die sich aus Sponsorengeldern und Stipendien zusammen setzt. Da wirst du ab sofort unterrichtet werden."

"Das kannst du nicht machen." Steven wurde ganz leise, denn er fürchtete, dass seine Stimme brach. Alles, was ihm etwas bedeutete, war hier. Seine Freunde waren zu seiner Familie geworden. Dieses Haus kannte er besser, als das Heim seines Vaters. Und jetzt sollte er alles verlieren. Er kämpfte mit den Tränen, denn vor Wallace wollte er nicht die Fassung verlieren.

"Es tut mir leid." Sein Dad schaute zu Boden. In diesem Augenblick wurde ihm klar, wie sehr er seinen Vater tatsächlich hasste. Nicht nur, dass er seit Jahren kaum Kontakt zu ihm gehabt hatte, auch jetzt waren ihm seine eignen vier Wände viel wichtiger als das Wohlergehen seines Sohnes. Denn nun würde er erneut abgeschoben werden. Eine andere Schule, andere Mitschüler, andere Lehrer. Doch noch immer keine Eltern.

"Steven, ich habe mit deinem Dad abgesprochen, dass ihr gleich zusammen deine Sachen packt. Du sollst noch die Möglichkeit erhalten, dich von deinen Freunden zu verabschieden ehe du uns dann verlässt. Also gehe jetzt am besten zum Mittagessen. Dein Vater erwartet dich dann anschließend oben auf deinem Zimmer."

"Wieso?" Er zitterte und seine Stimme war kaum zu vernehmen.

"Ich habe mich verspekuliert und nun muss ich die Konsequenzen dafür tragen."

"Du trägst die Konsequenzen? Nein Dad! Ich trage sie. Du fährst gleich nach Hause und genießt dein Leben. Meins hingegen ruinierst du vollkommen."

"Es tut mir leid, wenn du es so siehst. Dein Mom und ich sehen das anders. Deine neue Unterbringung ist eine Eliteschule für Musik. Und ich weiß, dass du ein hervorragender Pianist bist. Dort wirst du dein Talent zeigen können."

"Das werde ich nicht. Egal wohin ihr mich schickt, ich werde mich bestimmt nie mehr an ein Klavier setzen und für euch in die Tasten hauen. Das ist vorbei!"

"Das wäre sehr schade, denn dann müssten wir dich auf ein städtisches Internat schicken und du weißt ja selbst, wie es dort zugeht."

"Oh ja. Dort werde ich dann täglich die Möglichkeit haben, Alkohol und Drogen zu konsumieren. Damit bin ich dann auf jeden Fall besser dran als hier!" Inzwischen hatte Steven die Stimme erhoben. Er konnte es nicht fassen, was sein Vater ihm hier berichtete. Er nahm ihm alles und nun sollte er auch noch dankbar sein? Er stand abrupt auf und Bill und Wallace wechselten einen überraschten Blick.

"Ich gehe jetzt zu meinen Freunden."

"Ja, geh´ nur, Junge. Verabschiede dich in Ruhe von deinen Mitschülern."

Mit diesen letzten Worten entschwand Steven aus dem Büro und eilte die Stufen hinab in den Aufenthaltsraum. In seinem Kopf kreisten die Gedanken. Er wollte das nicht zulassen, doch irgendwie konnte er die Tränen kaum noch zurück halten. Sein Weg führte ihn weder in sein Zimmer, noch in den Speiseraum. Stattdessen tat er etwas, das er noch nie gemacht hatte, er versteckte sich in einer Kabine auf den Toiletten und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Er wollte schreien, seine Wut laut hinaus brüllen. Doch was hätte das gebracht? Besonders seine Freundschaft zu Charly und Bea bedeutete ihm mehr, als seine Eltern es jemals getan haben.

Observe

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