Читать книгу Mami Staffel 14 – Familienroman - Anna Sonngarten - Страница 6
ОглавлениеDas Haus der Petersens stand in einem mäßig großen und nicht gerade liebevoll gepflegtem Garten im Frankfurter Westend. Die Straße, die daran vorbei führte, verband zwei Verkehrsachsen, war aber zu schmal, um sich als Rennstrecke für eilige Autofahrer zu eignen. So herrschte hier, nur wenige Geh-Minuten vom Zentrum der Stadt entfernt, meistens eine fast dörfliche Stille.
Zum Leidwesen von Thilo und Corri Petersen wußten ihre drei Kinder – Patti, Helle und Dette – diese Stille nicht zu schätzen. Manchmal fürchteten die Eltern schon, ihr Nachwuchs brauche den Lärm, um sich wohl zu fühlen. Corri, die als Ärztin in einer nahegelegenen Klinik arbeitete, mußte den Krach ja nur abends ertragen. Vater Thilo arbeitete oben im ausgebauten Speicher als Grafiker in seinem Atelier, und so kam es nicht selten vor, daß er laut runterbrüllte: »Ruhe! Ruuhe! Seit ihr alle schwerhörig oder was?«
Dann stellten sich seine drei Sprößlinge wirklich schwerhörig, bemühten sich aber um eine Lautstärke, die der Hausherr gerade noch ertragen konnte.
Heute nachmittag war ihr Vater nicht da. Er hatte sich aufs Fahrrad geschwungen, um einen seiner Kunden in der City zu besuchen. Kaum war er um die nächste Ecke verschwunden, begannen Helle und Dette, die beiden Jungens, die eigentlich Helmut und Detlef hießen, sich wie auf Kommando zu streiten. Sie bewohnten ein riesiges Zimmer im Souterrain. Da nun also die Bücher flogen, die Türen knallten und Gegenstände aller Art durch die Gegend polterten, drang der Lärm bis in den ersten Stock, wo sich Patti, die auf den schönen Namen Patricia getauft worden war, in ihrem Zimmer aufhielt.
Sie war vierzehn und galt allgemein als recht vernünftig. Solange die Eltern nicht zu Hause waren, Klingel und Telefon aber noch zu hören waren, störte sie der Krach nicht. So vergingen die Stunden trotz des Gepolters in geschwisterlicher Harmonie.
Es war gegen fünf an diesem sonnigen Augustnachmittag, als Thilo Petersen von seiner Besprechung zurückkam. Er stellte das Fahrrad in die kleine Garage, hob die Tüten mit den Einkäufen und seine dicke Arbeits-Mappe vom Träger und trat schwerbeladen ins Haus. Sofort bekam er einen Fußball gegen die Brust geknallt, erhob mal kurz seine tiefe Stimme, um Dette und Helle noch für eine Stunde zum Fußballspielen in die kleine Sportanlage um die Ecke zu schicken und lud danach seelenruhig seine Einkäufe in der Küche ab.
Aber schon rief es von oben: »Papi! Papi, bist du endlich wieder da?«
»Ja, bin ich!« gröhlte Thilo zurück, schüttelte aber verwundert den Kopf. Benahm seine Älteste sich wie ein Zweijährige, die die Rückkehr ihres Papis kaum erwarten konnte? Sonst spielte sie doch immer die junge Dame, die längst flügge sein wollte.
Kurz darauf erschien sie unten in der Küche. Mit ihrem braunen, ganz kurz geschnittenen Haar, ihren großen blauen Augen und dem Mund, der so süß schmollen konnte, schien sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Oma Helma war am Telefon. Du sollst sofort zurückrufen, Papi.«
»So. Ist sie denn schon von Sylt zurück?«
Patti hob die Schultern. »Das weiß ich doch nicht. Die Jungens haben so rumgelärmt. Ich hab nur verstanden, daß du gleich zurückrufen sollst.«
»Das hat Zeit.« Er stellte drei Milchflaschen in den Eisschrank und schob das Netz mit dem Gemüse in Pattis Richtung. »Kannst du schon mal putzen. Heute abend gibt’s Omelett mit Salat.«
»Ich? Wieso immer ich? Können Dette und Helle nicht mal helfen?« Wie alle großen Schwestern hielt Patti ihre beiden Brüder von elf und zehn Jahren für schrecklich faul und verwöhnt. »Mami hat gesagt…«
Thilo sah zur Uhr. »Mami kommt in einer halben Stunde. Dann ist der Salat gewaschen. Heute ist Montag und Operations-Tag. Du weißt doch, daß sie danach immer ganz fertig ist und keine häuslichen Auseinandersetzungen verträgt.«
Patti rollte mit den Augen. »Gisi und Moni kommen gleich noch vorbei. Wir wollen unsere neuen CD’s hören. Ist doch blöde, wenn ich jetzt wieder helfen muß. Heute ist der letzte Ferientag. Habe ich dich nicht den ganzen Vormittag in Ruhe gelassen, damit du oben arbeiten konntest?«
Thilo, der schon ahnte, worauf das hinauslief, wandte den Kopf ab, weil er grinsen mußte.
»Salat waschen dauert nur zehn Minuten. Bitte, Papi, mach du’s! Nur noch heute, noch einmal… weil morgen die Schule anfängt.«
Wie meistens, wenn sie ihn so flehend anschaute, gab er sich geschlagen. Nur seine Mappe drückte er ihr schnell unter den Arm.
»Bring die mal hoch ins Atelier. Und ruf deine Freundinnen an, sie sollen erst nach dem Essen kommen. Vorher holst du die Jungens von der Anlage. Dann bist du nachher von allen Pflichten befreit.«
Patti nickte, klemmte sich die Mappe unter den Arm und verließ die Küche. »Montag ist trotzdem die reinste Hölle, Papi!«
»Ja, ja.« Thilo mußte grinsen, als er sich die Schürze vorband und mit der Salatwäsche begann. Seit Monaten hatte seine Corri am Montag von morgens sieben bis nachmittags fünf Uhr Dienst im OP. Danach waren ihr einfach keine heimischen Zwistigkeiten oder lange Debatten am Familientisch mehr zuzumuten. Und weil er seine Frau nicht nur liebte, sondern auch bewunderte und verehrte, nahm er gern einiges auf sich, um einen ruhigen Feierabend zu garantieren.
Eine Stunde später saß die Familie am großen runden Tisch im Eßzimmer gleich hinter der Küche. Durch die Tür, die von hier aus in das hintere Gartenstück führte, fiel noch ein letzter Sonnenstrahl. Weil morgen die Schule und damit der Ernst des Lebens begann, hatte Corri Petersen von unterwegs eine Packung von Dettes Lieblingseis mitgebracht.
Es war still am Tisch, weil alle mit Genuß löffelten. Nur Patti erhob nach einem vorwurfsvollen Seufzer ihre Stimme.
»Den Tag, an dem mir mal einer mein Lieblingseis mitbringt, möcht’ ich mal erleben!« beschwerte sie sich. »Nur, weil Dette der Jüngste ist, gibt’s immer Schokolade mit Nuß!«
»Arme Patti!« bedauerten Dette und Helle ihre Schwester voller Hohn. »Du arme, arme Patti!«
Die Eltern sahen sich an. Pattis vorwurfsvoller Ton hatte Thilo an seine Schwiegermutter erinnert. Jetzt fiel ihm siedend heiß ein, daß Helma Collien um einen Rückruf gebeten hatte.
»Du mußt deine Mutter anrufen, Corri.«
Corri war eine angenehme, aber nicht auffallend attraktive Erscheinung. Dabei gab es Tage, da konnte sie hinreißend schön aussehen, aber nach einem Arbeitstag wie heute bedurfte es schon eines besonderen Anlasses, um ihr Gesicht zum Strahlen zu bringen. Sie hob die Augenbrauen, und ihre Stirn legte sich in müde Falten.
»O je, ich kann mir schon denken, was sie will.«
»Du meinst, sie fühlt sich einsam, nicht wahr? Amelie ist bestimmt schon wieder in Bayern in ihrem Internat«, vermutete Thilo, denn er wußte, daß Helma mit der Tochter von Corris Schwester sechs Ferienwochen auf Sylt verbracht hatte.
»Oder sie will sich über Amelie beklagen. Sechs Wochen mit Amelie auf Sylt haben ihr den Rest gegeben. So verwöhnt wie die ist!« kicherte Dette.
»Ach, hör auf! Amelie ist ganz in Ordnung!« verteidigte Patti ihre kleine Cousine. »Außerdem kann sie ja nichts dafür, daß sie in so einem feinen Internat leben muß.«
»Das stimmt!« Corri erhob sich, um ans Telefon zu gehen. »Es wird wohl nur der Abschiedsschmerz sein, der Oma jetzt drückt.«
Der Schmerz der Großmutter mußte recht quälend sein, denn das Telefongespräch zog sich außergewöhnlich lang hin. Und als Corri endlich zurückkam, sah sie noch müder aus.
Patti, die mit ihren Brüdern den Tisch abgedeckt hatte, und nun die Küche aufräumte, war mit den Gedanken schon wieder bei ihren Freundinnen. Kaum klingelte die, verschwand sie und ließ ihre Eltern allein. Den beiden Jungens hatte Thilo erlaubt, noch bis Einbruch der Dunkelheit draußen auf ihren Rollerblades herumzutoben.
Er blickte seiner Frau besorgt entgegen. Sie trat zu ihm und sofort rückte er auf der Bank zur Seite, so daß sie sich neben ihm setzte und sich an ihn lehnen konnte.
»Und? Wo drückt Oma Helma der Schuh?« fragte er.
Corri seufzte. »Oma und Amelie sind gestern wieder in Bad Homburg eingetroffen. Und heute Morgen in aller Frühe erhielt Oma einen Anruf aus Amelies Internat. Man solle ihre Sachen abholen.«
»Ihre Sachen? Wieso? Sie ist doch seit zwei Jahren dort.«
»Ja, aber Loni hat sie dort abgemeldet. Amelie soll ab morgen eine Privatschule in Frankfurt besuchen.«
»Wie? Das ist doch unmöglich! Loni tickt wohl nicht richtig! Das ist mal wieder typisch für deine Schwester! Warum wußten wir nichts davon?«
»Wir waren bis vor einer Woche in Griechenland, Thilo.«
Corris jüngere Schwester Loni war seit zehn Jahren mit dem weltbekannten Geologen Doktor Stefan Sudhoff verheiratet. Um fast dreißig Jahre älter als seine Frau, brauchte er in den letzten Jahren immer häufiger ihre Unterstützung, wenn er im Ausland seinen Forschungsarbeiten nachging. Und da Amelie seit zwei Jahren zur Schule mußte, hatte Loni sie in einem guten Internat am Starnberger See untergebracht. Dann und wann verlebte sie die Ferien mit ihren Eltern, aber in der letzten Zeit war das nicht mehr möglich. Dem Kind war ein häufiger Aufenthalt in Afrika nicht mehr zuzumuten.
»Helma hat Amelie sehr gern mit nach Sylt genommen«, erklärte Corri. »Sie erfuhr schon vor Wochen, daß Stefan wieder erkrankt ist. Uns hat sie das verschwiegen, damit wir unbesorgt nach Griechenland fahren können.«
»Macht ihm wieder diese alte Virus-Erkrankung zu schaffen?« fragte Thilo.
»Ja. Ihm geht es gar nicht gut. Loni ist ihm nach Gambia gefolgt und kann ihn dort jetzt nicht allein lassen. Deshalb schaffte sie es auch nicht, die neue Wohnung hier in Frankfurt einzurichten. Helma nimmt an, sie wollte dort mit Amelie leben.«
»Wie?« fuhr Thilo auf. »Eine Wohnung in Frankfurt? Deine Schwester hat hier eine Wohnung gekauft? Sie haben doch eine Villa in München. Wozu ein zweiter Wohnsitz in Frankfurt!«
»Pscht!« versuchte Corri ihn zu besänftigen und strich ihm über die bärtige Wange.
Amelies Vater Stefan Sudhoff war ein ungewöhnlicher Mann, der auf seinem beruflichen Gebiet immer noch Großes leistete und vor kurzem von der amerikanischen Regierung einen riesigen Forschungsauftrag erhalten hatte. War er nicht auf einer seiner Reisen, schrieb er Fachbücher, die jedesmal Millionenauflagen erreichten. Daß er seit längerem nicht mehr gesund war, wurde dabei leicht vergessen.
»Ich würde Amelie gern zu uns nehmen, Thilo«, sagte Corri leise. »Das wäre augenblicklich für alle die beste Lösung.« Sie sah ihn bittend an. Thilo schlang sofort die Arme um sie und drückte dabei seine Zustimmung aus.
»Du weißt, wie gern wir Amelie schon mehrmals mit in unseren Sommerurlaub genommen hätten«, erinnerte er sich. »Wenn das nicht klappte, lag‘s gewiß nicht an uns. Immer war deine Schwester dagegen, ohne daß wir wußten, warum. Denkst du, sie läßt Amelie diesmal zu uns?«
»Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, Thilo. Helma versucht sie seit gestern telefonisch zu erreichen. Aber das gelingt ihr nicht. Gambia ist weit weg und Stefan…« Sie schwieg bedrückt.
»Ist Stefan ernsthaft erkrankt und nicht transportfähig? Liegt er in einer Klinik?«
Corri schloß die Augen und nickte. »Helma nimmt auch an, daß es nicht gut um Stefan steht.«
»Also, wie können wir helfen?«
Sie blickte ihn dankbar an. »Helma gab mir die Nummer der Privatschule. Dort rufe ich morgen früh an und sage Bescheid, daß Amelie einige Tage später kommt. Und du? Hast du eilige Termine?«
»Natürlich.«
»Sag sie ab. Bitte, Thilo. Du mußt dich morgen gleich ins Auto setzen und Amelie hierher holen, damit sie zur Schule gehen kann. Bis Loni auftaucht, können allerdings Wochen vergehen.«
»Das mag zutreffen. Gambia ist nicht Mallorca«, murrte er.
Corri überhörte diese spöttische Bemerkung. »Wenn meine Vermutung zutrifft«, überlegte sie laut, »dann steckt hinter Lonis Plänen ihr starkes Bedürfnis nach Veränderung. Aber es geht doch um Amelie, nicht wahr?«
»So? Was vermutest du denn? Hat Loni die Ehe mit Stefan satt? Wenn seine Kräfte schwinden und er keine Bestseller mehr schreiben kann, wundert mich das nicht. Deine Schwester war nie eine Heilige. Stefan dagegen hat sich aus Liebe zu ihr zum Narren gemacht!«
»Aber er ist ein wunderbarer Mensch, Thilo! Nur als Vater eines kleinen Mädchens wie Amelie ist er viel zu weit vom Alltag entfernt. Er liebt sie, aber was Vaterschaft bedeutet, war ihm nie bewußt.« Corri schmiegte sich in Thilos Armbeuge. »Aber das ist nicht der einzige Grund, wenn Lotti und er sich auseinanderlebten. Sie kommt ihrer Pflicht als seiner Ehefrau ja noch nach, aber das Leben an seiner Seite erträgt sie nur noch widerwillig. Das weiß ich seit einem Jahr. Darum…« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und fügte dann kaum hörbar hinzu: »… wenn mich nicht alles täuscht, hat Loni schon vor Monaten eine Affäre mit Ramon Rolando begonnen.«
»Ramon… wie? Wer ist das? Ein Schlägersänger?«
»Nein. Ein Golf-Profi, der in der ganzen Welt zu Hause ist. Ähnlich wie unser Schwager Stefan. Aber hier, unweit von Frankfurt ist Ramon Rolando Ehrenmitglied in einem Golfclub. Ich nehme an, er hat hier auch eine Wohnung.«
»Und du meinst, deshalb hat Loni ihre Amelie hier zur Schule angemeldet? Nur, damit sie sich in Frankfurt aufhalten und sich ungestört mit diesem Golf-Profi treffen kann?« Er stieß den Atem heftig aus. »Ich hab‘s ja schon immer gesagt. Loni denkt nur an sich. Ist es so?«
Darauf antwortete Corri nicht. »Aber jetzt zwingt Stefans schlechter Gesundheitszustand sie dazu, auch mal an ihn zu denken. Damit hat sie wohl nicht gerechnet.« Sie blickte ihn ernst an. »Also, holst du Amelie zu uns?«
Er seufzte. »Natürlich. Aber auf deine Verantwortung, meine Liebste! Den Konflikt, der sich daraus ergeben kann, mußt du ganz allein mit deiner Schwester ausfechten.«
»Ich weiß«, entgegnete Corri leise. Draußen schlug die Haustür zu. Patti war mit ihren Freundinnen abgeschwirrt. »Amelie kann oben bei Patti schlafen. Bestimmt entwischt Patti dann nicht so oft. Es wird ihr gefallen, für ein so kleines Mädchen da zu sein. Du wirst doch dafür sorgen, daß sie lieb zu ihr ist?«
»Noch was?« fragte er scherzhaft. »Dann bitte verrate mir wenigstens, wie Pattis Lieblingseis heißt. Mit irgend etwas muß ich sie doch milde stimmen.«
»Aprikose/Sahne«, schmunzelte Corri.
»Braves Mütterchen«, lobte er sie nach einem Kuß. »Unsere Kinder können stolz auf dich sein. Du weißt immer viel mehr als ich. Und das an einem Montag!«
Und er schloß ihre lächelnden Lippen mit einem sanften Kuß.
*
Helma Collien, die Großmutter von Patti, Helle, Dette und Amelie, war seit sechs Jahren Witwe. Vor vier Jahren hatte sie das Frankfurter Haus verlassen, weil es ihren Töchtern als Erbe zustand. Loni, die ihren Anteil den Petersens verkauft hatte, wurde von nun Corri und Thilo mit monatlichen Raten ausbezahlt. Das fiel ihnen nicht leicht, aber die Nähe zur Klinik, in der Corri arbeitete, und die günstige und doch ruhige Lage des Hauses waren dieses Opfer wert.
Helma Collien war dafür in eine elegante Vier-Zimmer-Wohnung in Bad Homburg gezogen, denn am liebsten verbrachte sie ihre Zeit jetzt mit Freunden und Bekannten beim Bridge- oder Golfspiel. So sollte es nach dem Urlaub mit Amelie auf Sylt auch weitergehen.
Aber der Anruf aus dem Internat in Bayern hatte alles verändert. Helma mußte nun erst entscheiden, was mit Amelie geschehen sollte. Und diese Entscheidung lag ihr jetzt, kurz vor dem Eintreffen ihres Schwiegersohns Thilo, noch immer schwer auf dem Magen.
Seit zwanzig Minuten saß sie auf einem ihrer Biedermeiersessel und beobachtete, wie ihre Enkelin draußen auf der Terrasse welke Blüten von den Geranien zupfte. Helma hatte Amelie während der vergangenen Wochen auf Sylt erst so richtig kennengelernt und von Herzen liebgewonnen. Natürlich sorgte sie sich um die Zukunft der Achtjährigen. Ob sie im Sinne von Stefan und Loni Sudhoff handelte, wenn sie die Kleine den Petersens anvertraute?
Als Amelie sich jetzt umwandte, ins Wohnzimmer trat, ihr die Hand voller welken Blüten entgegenhielt und meinte: »Das hat nichts zu bedeuten, Omi. Die sind nur verregnet. Sag also nicht wieder, jetzt wird’s Herbst«, da wurde das Herz der alten Dame ganz weit. Am liebsten hätte sie ihre Arme ausgebreitet, Amelie hineingezogen und nie wieder losgelassen. Aber das durfte sie nicht.
So lächelte sie nur, aber davon verflogen die Schatten auf ihrem Gesicht kaum. Wie sollte Amelie nur mit denVeränderungen, die ihr so unerwartet zugemutet wurden, fertig werden?
»Wenn die Sonne so kräftig wie heute scheint, ist es noch Sommer«, meinte sie geistesabwesend, als müsse sie sich selbst trösten.
»Das sag’ ich doch!« triumphierte Amelie. »Und wann gibt’s Mittag?«
Nebenan in der riesigen Küche, die wie alle Räume der Wohnung sehr komfortabel eingerichtet war, hatte Frau Emberg schon den langen Tisch vor der Balkontür für drei Personen gedeckt.
»Sowie Onkel Thilo kommt, setzen wir uns zu Tisch, Amelie.«
Amelie blieb mit ernstem Gesicht vor dem Sessel ihrer Großmutter stehen. Ihrer schmalen Brust entrang sich ein Seufzer.
»Kommt Onkel Thilo allein? Ohne Tante Corri, Patti, Dette und Helle?«
»Ja, die Schule hat heute begonnen. Und Tante Corri arbeitet im Krankenhaus.«
Helma sah ihre Enkelin forschend an. Seltsam, daß ihr schon vor vielen Jahren, als sie das winzige Baby zum ersten Mal im Arm hielt, der ernste Ausdruck des Kindes aufgefallen war. Er lag nicht immer auf ihrem zarten Gesicht, aber jetzt, als sie sich unbeobachtet glaubte, trat er sehr deutlich hervor und verriet einen verborgenen Schmerz.
Amelies schmales Gesicht wurde von den mandelförmigen Augen mit der olivfarbenen Iris beherrscht. Senkte sie die Lider, legte sich der dichte Kranz ihrer langen Wimpern wie ein zarter Trauerflor auf die Haut. Das war die Furcht vor dem Neuen, das sie erwartete. Und davon konnten auch die lustigen Sommersprossen, die während der Ferien auf ihrem Näschen entstanden waren, nicht ablenken. Nur der Pferdeschwanz, der an ihrem Hinterkopf herabbaumelte, tat immer noch so, als gehöre er zu einem ganz unbeschwerten, fröhlichen Mädchen.
»Du hast meinen Vater aber viel lieber als Onkel Thilo, nicht, Omi?« fragte Amelie plötzlich.
Helma stutzte. Wie kam das Kind darauf? Hatte sie sich durch unbedachte Bemerkungen verraten? Natürlich brachte sie ihrem Schwiegersohn Stefan Sudhoff mehr Bewunderung entgegen als Thilo Petersen. Wer bewunderte den würdigen und berühmten Forscher denn nicht? Dazu kam sein Ruf als Menschenfreund und unantastbares Vorbild, sein fortgeschrittenes Alter und das nicht unerhebliche Vermögen, das er in langen Jahren angesammelt hatte.
Thilo Petersen galt im Gegensatz dazu als leichtfertig, wankelmütig und damit als typische Künstler-Existenz. An seine saloppe Lebensart und unbeschwertes Auftreten hatte Helma sich immer noch nicht ganz gewöhnt. Nun ja, wenigstens verdiente er jetzt ein wenig und trug damit zum Unterhalt seiner Familie bei. Trotzdem traute sie ihm nicht zu, ihrer Tochter Corri im Lebenskamp zwischen beruflichen und familiären Verpflichtungen treu zur Seite zu stehen. Nur so war doch zu erklären, warum Patti, Dette und Helle immer wie eine verwilderte und viel zu lebhafte Bande auftraten.
»Wie kommst du nur darauf, Amelie? Thilo ist ein guter Mensch«, behauptete sie tapfer, um die Kleine bei Laune zu halten. Und stimmte es nicht auch? Ein Schwiegersohn, der ihren Notruf so schnell erhörte, konnte doch kein übler Bursche sein.
»Mami hat’s gesagt. Sie sagt, du kannst Onkel Thilo nicht leiden, weil Tante Corri einen besseren Mann verdient hat. So einen wie meinen Vati.«
O je! Hatte sie das wirklich gesagt?
Da klopfte es an die Tür. Frau Emberg steckte ihren Kopf herein. »Frau Collien, Herr Petersen ist jetzt da. Soll ich das Essen auftragen?«
Helma erhob sich. »Ja, aber erst in fünf Minuten, Frau Emberg.« Sie nahm Amelies Hand, drückte sie kurz und liebevoll und lächelte ihr ermunternd zu. »Du hast Onkel Thilo nur zweimal kurz gesehen. Er ist wirklich ein guter Mensch. Sonst wäre er doch nicht gleich heute gekommen!«
Sekunden später stand Amelie ihrem Onkel gegenüber. Da sie ihm bis jetzt nur zweimal begegnet war, sah sie voller Argwohn in sein braungebranntes Gesicht mit den strahlend blauen Augen. Sie knickste zur Begrüßung, wie sie es im Internat gelernt hatte, und als Thilo ihre Hand losließ, meinte er lachend: »Du und dein Haar sind aber mächtig gewachsen, Amelie. Du bist so hübsch wie deine Mami. Blond und grünäugig. Wetten, daß Patti ihr Haar nun auch wieder wachsen läßt?«
»Patti hat doch braunes Haar, oder? Ist es nicht dunkler als meins?« Und schon fiel alle Scheu von ihr ab. »Und sie trägt ganz kurz? Uii! Ich freu mich auf Patti. Und wie nennt ihr die Jungens noch?«
»Helle und Dette. Aber die sind richtig freche Bengel geworden.«
»Meinst du, die ärgern mich?«
»Nein! Dann werden Patti und ich denen was erzählen!« Thilo Petersen legte einen Arm um sie und zog sie an sich.
Später, nach dem gemeinsamen Essen, ging Amelie mit Frau Emberg ins kleine Gastzimmer, um letzte Hand an ihr Gepäck zu legen.Thilo war mit seiner Schwiegermutter allein.
»Hast du Loni inzwischen erreicht?« fragte er besorgt.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe mit dem Konsulat in…«
»…in Banjul? So heißt die Hauptstadt von Gambia.«
»Ja. Und man sagte mir dort, Stefan sei noch nicht ins Spital der Hauptstadt eingeliefert worden. Er liegt in einer kleinen Klinik auf dem Land, weil man noch kein geeignetes Transportmittel für ihn ausfindig machen konnte.« Sie seufzte. »Wie gut, daß Loni bei ihm ist. Die arme Loni! Es ist schrecklich. Wie lange muß ich noch auf ihren Anruf warten? Ich muß sie doch von allem informieren. Und wenn sie meine Entscheidung nun nicht gutheißt?«
»Um Amelie mußt du dich nicht sorgen, Helma. Wir werden sie wie unser eigenes Kind bei uns aufnehmen. Ich begleite sie morgen früh auch gleich in ihre neue Schule.«
»Sollte Corri das nicht tun?«
»Wir sind gerade vom Urlaub zurück, Helma. Corri wird in der Klinik gebraucht. Und ich vertrete sie immer bei allen Angelegenheiten, die die schulischen Probleme unserer Kinder betreffen. Glaub mir, alle Lehrerinnen haben mich gern. Du kannst mir vertrauen.«
Helma unterdrückte einen Seufzer. Wahrscheinlich machte er den Lehrerinnen schöne Augen. Das konnte er ja.
»Wenn ich nur wüßte, warum Loni diese Wohnung in Frankfurt kaufte! Bis jetzt erzählte sie mir doch immer, wenn in ihrem Leben Veränderungen entstanden.«
»Sie wird uns schon über ihre Gründe informieren«, versuchte Thilo seine Schwiegermutter zu beruhigen.
Sie sah ihn dankbar an. »Aber das kann Wochen dauern.«
»Bis dahin halten wir einander auf dem laufenden. Und wann immer du magst, besuchst du uns.«
Kurz darauf kam Amelie zu ihnen. Sie sei jetzt bereit, um mit ihm ins Auto zu steigen. Dann umarmte sie ihre Großmutter und küßte sie zärtlich.
»Onkel Thilo ist doch ganz o.k., Omi. Aber so toll wie mein Vati ist er nicht.«
»Natürlich nicht!« stimmte Thilo ihr zu. »Dein Vater ist ein wunderbarer Mensch und ein sehr bekannter Mann, Amelie.«
»Du bist das nicht, Onkel Thilo.«
»Nein. Aber morgen bring ich dich trotzdem zur Schule. Darf ich?«
Amelie sah in das entsetzte Gesicht ihrer Großmutter und nickte sofort. »Ja. Holst du mich auch ab?«
»Klar, denkst du, ich laß dich allein im Regen stehen?«
Damit hatte er die richtigen Worte gefunden, denn Amelie strahlte ihn an, als ahne sie, daß sie es nicht besser hätte treffen können.
*
Drei Wochen waren vergangen, und Amelie fühlte sich wie Patti, Helle und Dette zu den Petersens gehörig. Ganz leicht war es ihr am Anfang nicht gefallen, mit den Höhen und Tiefen, den kleinen Ärgernissen und großen Freuden eines richtigen Familienlebens fertig zu werden. Im Internat war alles von morgens bis abends geregelt, nie gab es Streit, weil keine Milch mehr im Eisschrank stand oder weil die Kinder Besuch von ihren Freunden bekamen, die das Haus erst gegen Mitternacht mit lautem Gekicher verließen.
Aber nie zuvor hatte sich ihr ein solches Glück aus Vertrautheit und nahem Beisammensein geboten. War es nicht immer eine Freude, wenn Onkel Thilo nach dem Unterricht im Auto auf sie wartete und sie ihm alles von den neuen Lehrern und den Mitschülern berichten konnte? Und was für einen Spaß hatte sie, wenn sie mit Helle und Dette zum Supermarkt einkaufen gehen durfte! Am gemütlichsten aber waren die Abendstunden, die sie mit Patti in dem gemeinsamen Zimmer verbringen konnte.
Meistens lag sie schon im Bett, während Patti noch beim kleinen Licht an ihrem Schreibtisch letzte Schulaufgaben erledigte und dabei die neuesten Hits aus dem Radio hörte. Natürlich mochte Amelie alle Songs, für die ihre große Cousine schwärmte. Nur schlief sie mitten drin immer ein. Manchmal aber, wenn sie aus einem Traum von ihrem Vater erwachte, kroch sie aus dem Bett und an der schlummernden Patti vorbei aus dem Zimmer, über den Flur und ins Ehebett von Tante Corri und Onkel Thilo. Die machten ihr dann schlaftrunken Platz, so daß sie bis zum Morgen zwischen ihnen weiterschlafen konnte. Aber auch das konnte die Harmonie im Haus der Petersens nicht stören. Im Gegenteil, Amelies Anwesenheit sorgte bei Helle und Dette sogar für erste Anzeichen von Rücksichtnahme.
Nur noch selten kam es zwischen den Brüdern zu lauten Streitereien. Die Blöße, sich vor Amelie zu prügeln, gaben sie sich ungern.
»Verflixt!« entfuhr es Thilo Petersen trotzdem an einem Montag nach einem Blick auf seine Armbanduhr, denn der Zeiger wanderte schon wieder auf die fünfte Nachmittagsstunde zu. Corri würde in einer guten halben Stunde zu Hause sein, und noch war nichts Vernünftiges zum Abendessen im Haus.
»Patti!« schrie er aus Leibeskräften, damit es auch überall im Haus zu hören war. »Patti!« Es blieb totenstill. Und das änderte sich auch nicht, als er genau so laut nach Dette und Helle und schließlich sogar nach Amelie brüllte.
In der Hoffnung, eines der vier Kinder könne sich unten in der Küche bei lauter Musik aufhalten, versuchte er es mit dem Haustelefon. Nichts rührte sich. Dann blieb ihm nur noch Pattis Handynummer. Sofort meldete sich Pattys kiksige Stimme auf der Mailbox und versprach, sofort zurückzurufen.
Thilo ächzte vor Zorn. Und da sollte er nicht aus der Haut fahren? Er stellte seinen Computer ab, fuhr leise fluchend in seine Strickjacke und wollte gerade hinunterrennen, um sich mit dem Einkaufsnetz aufs Fahrrad zu schwingen, als er die Tür zuschlagen hörte.
»Patti? Dette? Helle? Amelie? Wer von euch Rasselbande ist das?« fragte er aus dem ersten Stock hinunter, setzte zu einem Abwärts-Spurt an und stand Sekunden später zwei schweigenden Kindern auf Rollerblades gegenüber. Das waren der zehnjährige Dette und Amelie.
Die senkte sofort ihren Blick. Das war das schlechte Gewissen.
»Amelie! Schon wieder auf den Rollerblades!« bemühte er sich um einen strengeren Tonfall. »Das darfst du doch nicht!«
»Sie kann nichts dafür, Papi!« verteidigte Dette seine niedliche Cousine sofort. »Helle hat ihr seine geliehen. Tante Loni und Onkel Stefan sehen es doch nicht. Und ich war ja dabei. Die ganze Zeit!«
»Aber Amelie!« stöhnte Thilo. »Deine Mami hat’s verboten. Tut mir leid, aber so ist es nun mal!«
»Außerdem«, argumentierte Dette ungerührt weiter, »hab ich Amelie beschützt. Ich wollte auch mal mit ihr allein sein, Papi! Sie schläft oben in Pattis Zimmer. Die hocken ja immer zusammen. Und mit Helle redet sie Englisch, wie ich es noch nicht kann.«
Thilo unterdrückte ein Grinsen. Daß Amelie auf ihrem Internat schon einige Brocken Englisch gelernt hatte und auf der Privatschule weiter in der ersten Fremdsprache unterrichtet wurde, bewunderte Helle maßlos. Das mußte Dette ja neidisch machen.
»Aber Rollerbladen kann ich gut, Papi. Das wollte ich ihr mal zeigen. Und das hat ihr echt krass Spaß gemacht.«
Dette hatte die himmelblauen Augen seines Vaters geerbt und konnte damit wie ein Unschuldsengel schauen.
»Also gut«, entschied Thilo schmunzelnd. »Aber zieht die Dinger bloß aus, damit unsere Mami das nicht sieht. Die regt sich wahnsinnig darüber auf, weil sie nicht schwindeln mag, wenn Tante Loni anruft und sich erkundigt.«
»Deshalb sind wir ja jetzt schon heimgekommen, Onkel Thilo. Damit Tante Corri es gar nicht sieht«, gestand Amelie.
»So? Na, dumm seid ihr beiden nicht. Das muß ich zugeben. Und wo sind Helle und Patti?«
»Einkaufen!« kam es zweistimmig zurück.
»Dette und ich haben ihnen diesmal einen Einkaufszettel gemacht, Onkel Thilo.«
Thilo sank auf die unterste Stufe. »Alle Achtung!« lobte er seine kleine Nichte. »Hast du außer Eis auch noch was Vernünftiges draufgeschrieben?«
Kaum hörte Dette das, grinste er über sein breites, freches Bubengesicht. »Zu mir kannst auch alle Achtung sagen, Papi. Ich laß Amelie jetzt bei dir. Dann komm ich schneller voran und kann Patti und Helle beim Tragen helfen. Vielleicht schaffen wir’s noch, bevor Mami hier ist.« Und wutsch! war er auf seinen Rollerblades aus der Haustür geglitten.
Thilo sah zu, wie Amelie sich bemühte, schnell aus den Rollschuhen zu kommen. Er beobachtete sie immer gern, weil ihre Bewegungen so graziös und fast damenhaft wirkten. Darin war kaum noch etwas Kindliches zu bemerken. Und manchmal hatte er sich schon bei der unausgesprochen Frage ertappt, ob Amelie jemals wieder ein so unbekümmertes Kind sein durfte, wie sie es hier bei ihnen war.
»Du sagst Tante Corri doch nichts von den Rollerbladern?« fragte Amelie flüsternd. »Heute ist Montag. Du weißt doch, dann kommt sie immer ganz erledigt aus der Klinik. Sie mag dann keinen Ärger.«
»Das hast du auch schon bemerkt?« fragte er schmunzelnd.
Amelie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nur gedacht. Und dann hat Patti mir erzählt, daß es wirklich so ist.«
»Du bist ein sehr liebes und verständiges Mädchen, Amelie.«
»In der neuen Schule nicht«, seufzte sie. »Da bin ich nur in Englisch gut, weil ich das schon ein bißchen konnte. Aber sonst? Meine Mami hat wohl nicht gewußt, daß hier alles etwas schwerer ist als im Internat.«
»Bestimmt nicht!« behauptete Thilo. Aber während Amelie sich von den Knieschonern befreite und wieder in ihre Sportschuhe schlüpfte, kam er zu einer anderen Überzeugung. Loni hatte sich darüber gar keine Gedanken gemacht. Ihr war es nur um den Ortswechsel und Amelies Umschulung nach Frankfurt gegangen, weil sie hier ihren Freund Ramon Rolando ungestört treffen konnte. Oder tat er der Schwester seiner Frau unrecht?
Amelie wollte an ihm vorbei in die Küche. Sie streifte ihn mit einem ernsten Blick. »Du kannst wieder nach oben an die Arbeit gehen, Onkel Thilo. Ich fang schon mal an und setze Nudelwasser auf. Patti sagt, es gibt heute abend Spaghetti.«
»Kannst du das denn?«
Sie war schon halb in der Küche verschwunden. »Und wie, Onkel Thilo! Patti hat’s mir beigebracht. Das war klasse. Weißt du…«, und schon kam sie zurück und baute sich vor ihm auf, »…wenn ich in München bin, kocht unsere Haushälterin. Im Internat hat keiner der Kinder was in der Küche verloren und ja, bei Omi steht doch Frau Emberg immer in der Küche.«
»Und deshalb hilfst du hier so gern?« staunte er. Amelie nickte ernsthaft. Dann richtete sich ihr Blick fragend auf ihn.
»Meinst du, Onkel Thilo, ich darf auch noch bei euch bleiben, wenn mein Vati wieder gesund ist, und Mami die neue Wohnung eingerichtet hat?«
Thilo zögerte. Sollte er ihrer Frage etwa ein klares ›Nein‹ entgegensetzen? Es war doch abgemacht, daß Amelie nur so lange bei ihnen blieb, wie die Situation es erforderte.
Inzwischen war Stefan Sudhoff von der Provinzklinik in ein Hospital in der gambianischen Hauptstadt Banjul verlegt worden. Aber bis er in eine europäische Spezial-Klinik gebracht wurde, konnten noch einige Wochen vergehen.
So wenigstens hatte Loni es Helma in einem hastigen Gespräch aus Afrika deutlich gemacht. Und auch, daß sie vorerst nicht wage, ihren Mann auch nur einen Tag allein zu lassen.
»Du bleibst so lange, wie es nur möglich ist«, versuchte er Amelie diplomatisch beizubringen. »Du weißt doch, wie sehr sich deine Eltern nach dir sehnen. Vermißt du sie nicht auch?«
Das Nudelwasser mußte warten, denn schon wieder senkte Amelie den Blick. »Doch, ja«, flüsterte sie. »Meinst du eigentlich auch, daß mein Vati mein Opa ist, Onkel Thilo?« kam es dann kaum hörbar von ihren Lippen.
»Wer hat das gesagt?« fuhr er auf, bevor ihm klar wurde, daß diese Frage ihren Schmerz nur vertiefen konnte.
»Moni, die Freundin von Patti. Sie hat ein Foto von meinem Vati in der Zeitung gesehen und gelesen, wie alt er ist.«
»Na und? Moni ist eben dumm. Hat nur Boygroups und Hip Hop im Kopf.«
»Ja, ja, das hat sie!« triumphierte Amelie und für Sekunden verzog sie ihr Gesicht so fröhlich, daß er lachen mußte. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. Ihr Blick ließ ihn nicht los.
»Patti hat auch gleich zu Moni gesagt, daß mein Vati ganz toll klug ist und die ganze Welt kennt.«
Thilo atmete auf. »So ist es. Ja, genau so ist es.«
»Und dann hat Patti noch gesagt, Moni darf nicht wiederkommen, wenn sie so etwas Gemeines sagt. Weil… unser Opa ist nur fünfundsechzig geworden. So alt wie mein Vati jetzt ist. Aber echt alt ist das nicht, oder?« Thilo suchte noch nach Worten, da fügte sie mit furchtsamen Stimmchen hinzu: »Auch nicht, wenn er krank ist?«
Thilo sah in ihre ängstlichen Augen. Nein, kein Mensch durfte die kleine Amelie mit solchen Taktlosigkeiten verletzen, solange ihre Eltern weder Kraft noch Zeit fanden, bei ihr zu sein.
Fast verlegen strich er ihr übers Haar. »Bei einem so klugen, tüchtigen und berühmten Mann wie deinem Vati zählen die Lebensjahre nicht. Verstehst du? Nur seine Liebe zu dir zählt. Und Liebe altert nicht. Moni mag Pattis Freundin sein. Aber sie ist noch zu dumm, um das zu begreifen.«
Sie nickte. »Und meine Mami? Hat die mich auch lieb?«
»Und wie, Amelie! Und wie! Du wirst es erfahren, wenn sie wiederkommt. Lange kann es nicht mehr dauern. Ganz bestimmt nicht.«
»Danke, Onkel Thilo.« Sie schlang ihre Arme um ihn, wandte sich dann um und verschwand in der Küche.
Und Thilo erhob sich, stieg wieder nach oben in sein Atelier und wollte weiterarbeiten. Aber er saß nur da und blickte grübelnd ins Nichts. Hatte er Amelie nicht nur mit halbem Herzen getröstet? Er wußte doch gar nicht, ob sie ihren Vater jemals wiedersah.
Eine halbe Stunde später wurde es unten laut. Das Rufen und Gelächter fröhlicher Kinderstimmen mischte sich mit dem vertrauten Klang von Corris Stimme, die schon zu ihm hochkam, und dabei letzte Anweisungen fürs Abendessen gab. Und dann stand sie im Atelier und sah ihn mit so zornigen Blicken an, daß ihm fast das Herz in die Hose gerutscht wäre.
»Was habe ich angestellt, Corri? Oder haben die Kinder…?«
»Nichts, Thilo.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und berührte sein Haar mit den Lippen. »Ich bin nur verzweifelt.«
»Verzweifelt?« Noch nie hatte er sie so erlebt. Blitzschnell zog er sie auf den Schoß. »Warum, meine Liebste?«
»Loni hat mich aus Gambia angerufen.«
»Stefan? Ist er.…?«
»Ihm geht es besser. Er ist transportfähig. Man fliegt ihn in ein Spezialkrankenhaus nach Paris.«
»Das ist mal eine gute Nachricht. Amelie wird jubeln.«
»O nein, Thilo. Du darfst ihr nichts sagen. Das bringt mich ja so auf! Loni kommt morgen nach Frankfurt. Sie will mich am Flughafen treffen. Aber Amelie darf vorerst nichts davon wissen.«
»Was soll das heißen? Deine Schwester will ihre Tochter nach fast elf Wochen Trennung nicht sehen? Das ist nicht richtig.«
Corri nickte. »Es ist grausam. Aber diesmal werde ich herausbekommen, was sie dazu veranlaßt. Und ich werde sie nicht schonen, Thilo. Das sind wir Amelie schuldig.«
»Dann will Loni gar nicht in Frankfurt bleiben?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie umarmten einander. Von unten krähte Amelie fröhlich, die Eltern sollten jetzt zum Essen kommen.
»Wir müssen sehr lieb zu Amelie sein, Thilo. Vielleicht bleibt sie für länger.«
Er sah sie an. Ein kleines Licht funkelte in ihren braunen Augen. »Mich würde es nicht stören, Corri. Und dich?«
»Natürlich nicht. Sie ist glücklich bei uns. Ihre neue Schule gefällt ihr inzwischen auch.«
»Und uns? Uns allen gefällt Amelie besonders gut! Sogar ganz ausgezeichnet!« freute er sich, ließ sich von ihr unterhaken und so gingen sie hinunter an den Tisch, an dem sich jetzt wie jeden Tag eine große und glückliche Familie versammelte.
*
Es war Mitte Oktober, und an diesem Tag wehte ein herbstlicher Wind, so daß Corri, als sie das Klinikum gegen Mittag verließ, ihren leichten Trench zuknöpfte.
Eine halbe Stunde später, fast genau zu der mit Loni verabredeten Zeit, erreichte sie den großen Flughafen. Aber dann wurde es doch knapp, weil sie eine Weile herumirrte, bis sie den ausgemachten Treffpunkt fand. Von Loni war weit und breit nichts zu sehen. Corri setzte sich und bestellte einen Capuccino. Was wollte sie tun? Sie wußte nicht, von welcher Stadt die Maschine mit Loni gestartet war. Und wohin die Reise von hier aus weitergehen wollte, hatte Loni ihr auch nicht verraten.
Corri seufzte. Um zwei mußte sie wieder in der Klinik sein. Was dachte Loni sich nur? Wozu diese Geheimnistuerei? Ob sie es wagte, sich hier auch mit ihrem Freund Ramon Rolando zu treffen? Dann vergaß sie vielleicht sogar die gemeinsame Verabredung. Bei Loni mußte man immer mit Überraschungen rechnen.
»Huhu, Corri!«
Corri hatte ständig in die falsche Richtung gesehen. Sie schaute sich um und sprang sofort auf, als sie Loni bemerkte. Auf zierlichen Pumps und in ein elfenbeinfarbenes modisches Kostüm gehüllt, eilte ihre jüngere Schwester auf sie zu. Ihr langes Haar hatte einen leicht rötlichen Ton, ihr braungebranntes Gesicht war perfekt geschminkt. Ja, sie war wirklich eine elegante Erscheinung. Corri hatte sich immer ganz neidlos an dem attraktiven Äußeren Lonis erfreut.
Diesmal war es nicht anders. Wie immer streckte sie ihr die Arme entgegen, als trenne sie nichts voneinander.
»Viel Zeit bleibt mir jetzt natürlich nicht mehr!« sagte Loni im vorwurfsvollen Ton, als hätte Corri sich um eine halbe Stunde verspätet. »Ich darf die Maschine nach San Juan nicht verpassen.«
»Nach wohin?«
Loni führte Corri mit geduldigem Lächeln zu ihrem Platz zurück. »San Juan, Puerto Rico, Karibik.«
»Du machst Urlaub, während Stefan in Paris im Krankenhaus liegt?« brach es aus der Älteren heraus.
»Ach, du hast ja keine Ahnung!« seufzte Loni überheblich und winkte dem Kellner, um sich etwas zu trinken zu bestellen. »Stefan wird mir in wenigen Tagen, wenn die Untersuchungen in Paris abgeschlossen sind, folgen. Ich muß nach San Juan, weil uns die US-Regierung ein Domizil in der Nähe zur Verfügung gestellt hat. Eine Fachklinik für Tropenkrankheiten ist nur einen Kilometer entfernt, von dort kommt täglich ein Facharzt, um Stefan zu betreuen. Und außerdem wird ein Wissenschaftler, Tom Storren aus Washington, eintreffen, um Stefans letzte Aufzeichnungen mit ihm zu dokumentieren. Darauf habe ich bestanden, damit Stefans Wissen noch zu einem Buch werden kann.« Sie lächelte flüchtig. »Natürlich kannst du dir keine Vorstellungen von den Schwierigkeiten machen, mit denen ich mich herumschlage! Aber Stefans Buch über die Bodenschätze in Gambia muß wieder ein Knüller werden, verstehst du?«
Corri atmete auf. »Dann geht es Stefan endlich besser?«
»Nein, nein. Man hat jetzt erst festgestellt, daß dieser Virus seine Leber stark angegriffen hat. Aber natürlich ist die US-Regierung auf seine Forschungsergebnisse scharf. Deshalb hat man uns dieses Haus in der Nähe von San Juan angeboten. Dort im milden Klima, so hofft man, wird Stefan die Ergebnisse seiner Forschungen noch niederlegen können.«
»Warum? Läßt man ihm denn keine Zeit, sich zu erholen? Und das duldest du?«
Loni warf ihre Mähne zurück und schüttelte verärgert den Kopf. »Du hast immer noch nicht begriffen, daß Stefan eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist… aber auch hinfällig, ja sehr hinfällig, Corri!« Dann fügte sie schärfer hinzu: »Mein Mann wird sechsundsechzig und leidet seit Monaten an diesem schrecklich heimtückischen Virus. Dieser Virus höhlt ihn aus. Eile tut not.«
Corri fühlte, wie sich ihre Kehle verengte. Unzählige Fragen lagen ihr auf der Zunge, während Loni eifrig in ihrer Handtasche herumwühlte, bis sie einen Umschlag fand und ihn vor Corri auf denTisch legte.
»Das ist das Flugticket für Amelie. In einer Woche wird sie von ihrer neuen Lehrerin am Flughafen von San Juan erwartet. Die Frau heißt Veronique, mehr habe ich noch nicht erfahren. Also, mach sie mit den Umständen vertraut. Aber erst einen Tag vor ihrem Abflug! Hast du verstanden? Viel Zeit darf ihr nicht bleiben, um sich auf den Zustand ihres Vaters einzustellen. Sonst fürchtet sie sich noch, nachdem sie bei euch nur mit gesunden Leuten zusammen war. Und erinnere sie auch daran, wie abgöttisch sie ihren berühmten Vater liebhaben muß. Das wird mir vieles erleichtern.«
Corri lehnte sich vor. Sie blickte in die grünen Augen ihrer schönenSchwester und versuchte, sich zu beherrschen.
»Du willst Amelie mit in die Karibik nehmen? Und sie soll die weite Reise allein antreten? Jetzt, da sie sich gerade in die neue Schule eingelebt und sich an uns gewöhnt hat?«
»Wenn Thilo oder du das Geld übrig habt und euch die Zeit nehmen könnt – bitte, begleitet sie.« Sie sah in Corris fassungsloses Gesicht und fuhr schnell fort: »Ja, denkst du, ich kann auf Amelie verzichten? Glaubst du, ich ertrage so ganz allein den herannahenden Tod im Haus?«
»So… so schlecht steht es um Stefan?«
Loni nickte. »Er ist nicht so ein junger, kräftiger und hübscher Bursche wie dein Thilo.«
Es traf Corri bis ins Mark.
»Wenn dein Thilo also Zeit hat, Amelie zu begleiten, dann soll er es tun. Er muß ja nicht verdienen, oder? Dafür bist du ja da. Aber denke nicht, ich verzichte aus Dankbarkeit auf die Raten meiner Erb-Abfindung. Das Haus unserer Eltern kam auch mit den Kindern gerade recht. Aber geschenkt habe ich euch meine Hälfte nicht.«
»Das wissen wir.« Corri bemühte sich um Beherrschung.
Als sie Thilo vor sechzehn Jahren geheiratet hatte, war er ein unbekannter Künstler gewesen. Sozusagen eine nichtswürdige Existenz in den Augen ihrer Familie. Und von diesem Urteil konnten ihre Angehörigen sich nicht lösen. Dabei verdiente Thilo inzwischen mit seiner Arbeit genau soviel wie sie. Und was er als anwesender Vater zu Hause leistete, war bewundernswert. Die Kinder vermißten nichts und waren gesund und fröhlich.
Fast ängstlich berührte sie mit ihren Fingerspitzen den Umschlag. »Dann wird Amelie in Zukunft in Puerto Rico leben? Und ihre Ausbildung?«
Loni seufzte. »Du hörst doch – ich habe für eine Lehrerin gesorgt. Und das, obwohl mir kaum Zeit blieb, um alles für Stefans Ankunft vorzubereiten. Ich muß doch immer alles allein organisieren. Ich habe nun mal keinem Mann wie Thilo an der Seite.«
Diesmal ließ Corri sich nicht provozieren. »Du hättest dir wenigstens die Zeit nehmen müssen, um Amelie zu sehen und ihr alles zu erklären.«
»Was soll ich noch erklären?« fuhr Loni auf. »Ich habe Stefan nach Gambia begleitet, obwohl ich mich dort noch nie amüsiert habe und seiner Arbeit schon lange nichts mehr abgewinnen kann. Ich habe fünf Wochen mit ihm in einem schrecklichen kleinen Hospital halb in der Wildnis und nur unter Eingeborenen verbracht. Das war ich ihm schuldig. Nun muß auch Amelie ihre Pflichten als Tochter erfüllen. Erklär ihr das.«
»Sie ist doch erst acht, Loni.«
»Na und? Es gibt bösere Kinderschicksale. Sie hat einen berühmten Vater, der mit seinen Büchern gut verdient und ihr eines Tages ein üppiges Erbe hinterläßt. Und sie hat mich. Ich bin jung und gesund.« In ihrem Blick war so etwas wie Mutterstolz zu erkennen.
»Als ich die Wohnung in Frankfurt kaufte«, fuhr sie lebhaft fort, »und Amelie im Internat am Starnberger See abmeldete, habe ich mich auf das Leben mit meiner Tochter gefreut. Ja, ich war fest entschlossen, ganz für sie zu leben. Konnte ich wissen, daß Stefan diesen Virus immer noch nicht los war?« Sie seufzte. »Als ich das vor Monaten erfuhr, habe ich gleich einen Makler beauftragt, damit das Münchener Haus verkauft wird.«
»Aber Loni, das war Amelies Geburtshaus! Wollt ihr dort nie mehr leben?«
»Ich? Amelie? Wir beiden allein in dem großen Haus – und das ohne Stefan? Dort hat er in den letzten zehn Jahren seine erfolgreichsten Bücher geschrieben. Alles würde mich doch nur an ihn erinnern. Nein, das ist vorbei. Auch ich bin jetzt heimatlos. Wie meine kleine Amelie. So etwas schweißt Mutter und Kind zusammen. Du wirst schon sehen, sie wird nichts vermissen. Sie kennt ja kein Elternhaus wie andere Kinder ihres Alters.«
Corri spürte wieder diese seltsame Regung in sich. Lonis Gedanken kreisten ja schon um die Zeit nach Stefans Tod. Durfte sie ihr das verübeln? Wer einen um dreißig Jahre älteren Mann heiratet, muß sich auf eine, wenn auch entfernte Zukunft ohne ihn einstellen. Aber durfte Loni alles entscheiden, ohne auf Amelies Bedürfnisse einzugehen?
»Du solltest uns in den nächsten Tagen anrufen und selbst mit Amelie sprechen, Loni«, bat sie eindringlich. »Thilo und ich können sie doch nicht ohne Vorwarnung am Tag vor ihrer Abreise vor die vollendeten Tatsachen stellen! Es wird ihr wehtun.«
»Unsinn! Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit mir wird ihr den Abschied erleichtern. Meine Tochter liebt mich, Corri. Wenn ich ihr erkläre, was ich durchgemacht habe und noch erleiden werde, läßt sie mich nicht im Stich. Nein, Amelie weiß genau, wozu sie mir und auch Stefan gegenüber verpflichtet ist.«
Loni sah zur Uhr, dann legte sie ihre schmale Hand mit den rotlackierten Fingernägeln auf den Umschlag. »Sollte sie es vergessen haben, weil bei euch alles drunter und drüber geht und angeblich nichts als sonnige Fröhlichkeit herrscht, dann müßt ihr sie jetzt daran erinnern. Dafür seid ihr da. Und keine Angst! Solltet ihr Amelie damit Kummer zufügen… den wird sie bald vergessen. Denn zu einem Wiedersehen mit euch kommt es ja nicht so schnell.«
»Aber Loni!« Fassungslos sah Corri in das lachende Gesicht ihrer Schwester. Nur ließ sie keinen Einwand zu.
»Für eine Stewardeß, die Amelie auf dem langen Flug betreut, ist gesorgt. An Geld herrscht kein Mangel. Außerdem drüben erwartet Amelie ein tropisches Klima. Pack ihre Sommersachen gut ein. Ja, und danke für alles, was du für sie getan hast.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich werde es nicht vergessen.«
»Davon bin ich überzeugt«, konnte Corri ihr noch entgegenhalten. »Und wenn du uns noch einmal brauchst, wirst du dich bestimmt wieder an uns erinnern.«
Loni erhob sich. Sie sah wirklich phantastisch aus. Corri, ungeschminkt und mit vom Wind zerzausten Haaren, kam sich neben ihr wie eine graue Maus vor.
»Die Erinnerung ist eine kostbare, wenn auch zerbrechliche Brücke.« Loni lachte übermütig. »Ich werde sie behutsam betreten. Aber erst, wenn mir nichts anderes übrigbleibt.«
Damit nahm sie den Umschlag und stopfte ihn energisch in Corris Schulterbeutel. »Verlier ihn nicht, wirf gleich heute einen Blick in Amelies Pass. Aber ich denke, der ist noch nicht abgelaufen. Ja, und schweige… bis nächste Woche am Donnerstagabend, einen Tag, bevor sie euch verlassen muß.«
In Corri stiegen Tränen hoch.
Loni sah es ihr an. »Sei nicht albern, Corri. Du hast alles, was sich eine Frau wünschen kann. Drei bezaubernde Kinder, Erfolg im Beruf, ein gutes Auskommen und dazu noch einen kerngesunden Ehemann. Also erspar mir deine Sentimentalitäten.«
Da preßte Corri die Lippen aufeinander. Und als Loni sie kurz und heftig an sich drückte, noch schnell etwas von ›viel Glück‹ murmelte und dann auf ihren hohen Absätzen davonstakste, blieb sie wie erstarrt und mit zwei Tränen auf den Wangen zurück, als sei sie ganz allein auf der Welt. Aber nein, das traf ja nicht zu. Sie hatte Thilo, ihre drei geliebten Kinder und für kurze Zeit blieb die kleine entzückende Amelie ja auch noch bei ihnen.
*
Vier Monate waren vergangen. In Europa herrschte fast noch der Winter, aber hier an der nördlichen Küste von Puerto Rico sehnten die Menschen um diese Zeit den Nord-Ost-Passat herbei, weil er täglich ein wenig Kühlung in das feuchtwarme Klima brachte.
Amelie hockte mit hochgezogenen Beinen auf einem der breiten Rattan-Sessel im unteren Zimmer des Hauses. Es lag am Rand der kleinen Stadt Fajado, direkt am Meer und nur eine halbe Stunde Fahrt von San Juan entfernt.
Sie trug ein weißes T-Shirt und bunte Bermudas, die ihren braungebrannten Armen und Beinen viel Freiheit ließen. Die Knie dienten ihr jetzt als Stütze für eins der Bücher, die die Petersens ihr zu Weihnachten geschickt hatten. Und wie immer, wenn sie am Bett ihres Vaters wachte, las sie eine Geschichte darin. Diesmal ging es um eine Pony-Farm in Irland, auf der drei Geschwister tolle Abenteuer bestanden.
Trotzdem blickte Amelie jedes Mal, wenn sie eine Seite umblätterte, zu ihrem Vati hinüber. Er war eingeschlummert, wie immer, wenn er am Vormittag einige Stunden mit Tom Storren an seinem Buch gearbeitet hatte.
Sein Atem ging ruhig, aber gelegentlich zog er ihn sehr lang wie ein Stöhnen, das ihm helfen sollte, etwas mehr Sauerstoff in sich hineinzuatmen. Dann richtete Amelie sich auf und sah genauer durch das zarte Moskitonetz, um erkennen zu können, ob sich unter seinen Augen auch nicht diese bedrohlichen dunklen Schatten bildeten.
Doctor Souloque, der zweimal täglich nach dem Patienten sah, hatte ihr das beigebracht. Und sie nahm jeden Hinweis des netten dunkelhäutigen Arztes sehr ernst. Schließlich glaubte sie fest daran, daß ihr Vater bei fürsorglicher Beobachtung bald wieder ganz gesund wurde.
In dem großen Haus, das die Familie seit vier Monaten bewohnte, war es selten ganz still. Auch jetzt sangen Mira und Jama, die beiden Hausangestellten, wieder in der Küche. Amelie hörte es gern. Blieb ihr Zeit, huschte sie zu den beiden, stellte sich vor ihnen auf und wiegte sich in den Hüften, bis Mira und Jama darüber zu lachen begannen und ihre Lieder sehr deutlich und langsam sangen, so daß sie die Worte wiederholen konnte.
Jetzt konnte sie nicht zu ihnen. Um diese Zeit bewachte sie den Schlaf ihres Vaters. Das gehörte, wie ihre Mami es nannte, zu ihren Pflichten. Erst, wenn Doctor Souloque am frühen Nachmittag zum zweiten Mal kam, durfte sie ins Freie schlüpfen.
Amelie ahnte nicht, wie schlecht es ihrem Vater ging. Einmal mußte er das Bett doch wieder verlassen können! Und dann würde sie ihn an der Hand nehmen und ihn zum Strand führen. Er hatte ja noch gar nicht gesehen, wie herrlich es dort war.
Sie seufzte, schloß ihr Buch und lehnte den Kopf zurück. Bis zum Meer waren es nur wenige Schritte. Dort im Schatten unter den Palmen würde sie ihm eine der Bastmatte zurechtlegen, ihn mit den vielen Kissen von der Terrasse einen bequemen Sitz bauen und ihn dann für kurze Zeit allein zurücklassen, um ins flache, klare Wasser zu rennen, bis sie den Boden unter den Füßen verlor und ihm zeigen konnte, wie prima sie inzwischen schwamm. Aber wann war es soweit?
»Pscht!« machte es. Amelie ruckte hoch. Dabei wußte sie schon, wer unter der Tür zum Zimmer stand. Das war Jano, der junge Mann, der jeden Morgen mit seinem uralten hellblauen Cadillac heranratterte, um für Sauberkeit in Haus und Garten zu sorgen. Dabei gab es eigentlich keinen Garten. Wenn man sich nicht um das Mangrovengebüsch kümmerte, zog sich das Grün bis zum Strandweg hin.
Amelie legte ihren Finger auf den Mund. Dieses viel zu laute »Pscht!« war Jano leider nicht abzugewöhnen.
»Was ist denn, Jano?« flüsterte sie.
»Madame ruft nach dir.« Wie immer, wenn er eine Situation als bedrohlich empfand, rollte er mit seinen schwarzen Augen.
»Ich hab nichts gehört.«
»Madame hat‘s in die Küche telefoniert. Geh nur schnell.«
Mit einem Seufzer streckte Amelie ihre Füße zum Boden. Sie trug selten Schuhe im Haus. Ihre Fußnägel waren blau-metallic lackiert, und die zu verstecken, fand sie viel zu schade. Den Lack hatte Mira ihr aus der Stadt mitgebracht, und sowie er vom Sand am Strand schadhaft wurde, pinselte sie eine neue Schicht darüber. Wenn Patti das sehen könnte! Die würde Augen machen!
»Bleibst du bei Vati?« hauchte sie im Vorübergehen Jano zu. Er nickte.
Sie tapste schnell die Stufen in den ersten Stock hoch. Vier geräumige Zimmer lagen hier hintereinander. Ihre Mutter bewohnte zwei davon, eins gehörte ihr, das vierte sollte ihrem Vater einmal, wenn er endlich wieder gesund war, als Schlafzimmer dienen. Aber soweit war es ja noch nicht. Und für Doctor Souloque und Tom Sorren war es einfacher, ihn unten zu besuchen.
»Wo bleibst du denn?« fragte Loni unwillig, als Amelie leise ins Zimmer trat. Sie trug eine schneeweiße Hose und ein luftiges Hemd und war gerade dabei, ihr Haar hochzustecken.
»Ich bin doch da. Jano hat mir gerade Bescheid gesagt.«
»Jano ist immer so langsam«, seufzte Loni, griff nach einem Lippenstift und malte sich einen schönen knallroten Mund. Dann sah sie auf Amelies Füße herab und schüttelte verärgert den Kopf.
»Wie oft habe ich dich schon gebeten, diesen schrecklichen Lack zu entfernen? Es sieht ziemlich ordinär aus.«
»Bei Mira sieht’s klasse aus, Mami.«
Loni legte den Lippenstift in ihre große Tasche. »Widersprich nicht immer, Amelie. Mira und Jama sind Mulatten. Die haben nun mal keine Kultur.«
»Jano ist Mestize. Seine Vorfahren waren Indianer.«
»Ach, was du schon weißt!«
»Veronique hat’s mir erklärt.«
»Veronique soll lieber Englisch und Spanisch mit dir pauken, als dir immer solche Rosinen in den Kopf zu setzen.«
Amelie lümmelte sich auf das große Bett ihrer Mami, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte nach oben zum Ventilator. Seine gleichmäßigen Drehungen beruhigten sie immer, wenn sie mit ihrer Mami stritt. Und eigentlich stritt sie meistens mit ihrer Mami. Warum das so war, wußte sie allerdings nicht. Vielleicht, weil ihre Mami so ganz anders als Tante Corri war. Amelie seufzte.
»Ich fahre nach San Juan zum Golfspielen…«
»Schon wieder?« entfuhr es Amelie.
»Was soll das heißen? Es ist heute nicht so warm. Ich muß trainieren, sonst verlerne ich alles wieder. Meine Golfstunden waren schon teuer genug. Außer dem Golfspiel bietet sich mir hier doch gar nichts an Abwechslung. Danach gehe ich noch mein Kostüm abholen. Zum Abendessen bin ich zurück. Brauchst du noch was aus San Juan oder Fajardo?«
Amelie überlegte. »Neue Buntstifte und Schokolade.«
»Gut, bring ich dir mit. Aber du wirst dich nur von Vatis Bett entfernen, solange Doctor Souloque da ist, verstanden? Ich habe ihn heute vormittag gebeten, nachmittags eine gute Stunde zu bleiben. Während der Zeit kannst du an den Strand. Aber bring bloß nicht wieder Paco mit ins Haus.«
Da setzte Amelie sich auf. »Paco ist mein Freund, Mami.«
»Das will ich nicht gehört haben! Du weißt doch, was Veronique über Pacos Familie herausgefunden hat! Seine Mutter ist eine Vodoo-Hexe. Sein Vater züchtet Kampfhähne. Sie gehen alle in die Messe, aber ihr Glauben hat nichts mit dem Christentum zu tun. Und außerdem… Paco ist schrecklich schmutzig.«
»Wir schwimmen doch immer zusammen!«
»Ja, aber er duscht danach nie.«
Diesmal widersprach Amelie nicht. Aber sie dachte auch nicht daran, sich an die Anweisungen ihrer Mutter zu halten. Einen anderen Freund als Paco hatte sie nun mal nicht.
»Ich geh wieder zu Vati. Bis heute abend, Mami. Schüß!«
»Schüß.«
Amelie und ihre Mutter pflegten sich längst nicht mehr zärtlich von einander zu verabschieden oder zu begrüßen. Diese nette Gewohnheit war ihnen wie vieles andere abhanden gekommen, seitdem sie hier lebten.
Dabei wußte Amelie nur zu gut, wie sehr auch ihre Mutter unter dem Zustand des Vaters litt. Der Alltag vollzog sich nach immer dem gleichen Ritus, das Leben war eintönig geworden. Viel zu selten wurde ihre Mutter zu einer Party geladen. War es ein Wunder, wie oft es sie in den Golfclub von San Juan zog?
Amelie schlich wieder hinunter, scheuchte Jama vom Sessel und warf, kaum saß sie, erneut einen wachsamen Blick auf ihren Vater.
Stefan Sudhoff war mager geworden. Auf seinem eingefallenen Gesicht wuchs der weiße Bart auf wächsern bleicher, fleckiger Haut. Wenn Jano ihn einmal wöchentlich rasierte, wurden die bläulichen Verfärbungen auf den Wangen deutlich sichtbar. Amelie legte dann immer ihre kleinen Hände um sein Gesicht, um sie nicht anschauen zu müssen. So wurde es ihr leichter, auf seine Genesung zu hoffen.
Sie las nicht weiter, weil sie über das nachdenken mußte, was Veronique über Paco gesagt hatte. Ihre Lehrerin war Mitte Dreißig, ziemlich dick, schön kaffeebraun und immer lustig. Sie hielt sich etwas auf ihren amerikanischen Vater zugute, der für ein Jahr mit ihrer Mutter verheiratet gewesen war und jetzt schon lange wieder in Florida lebte. Daß sie sich Privatlehrerin nennen durfte, verdankte sie ihm, denn er hatte dafür gesorgt, daß sie für einige Jahre die Universität von San Juan besuchen konnte.
Veronique kam jeden Morgen wie Jano angerattert. Aber sie fuhr einen Jeep, der noch klappriger war als Janos Cadillac. Amelie hatte sie schnell ins Herz geschlossen. Keiner außer vielleicht Paco konnte sie so schnell zum Lachen bringen wie Veronique mit ihren grusligen Geschichten. Und dabei lernte sie noch eine Menge von ihr, auch wenn ihre Mami fürchtete, das sei nicht die Richtige.
Manchmal, wenn es ihrem Vater gegen Abend etwas besser ging, erzählte Amelie ihm davon. Und er wußte ihrem Wissen immer etwas hinzufügen, auch, wenn seine Stimme leise und brüchig war. Und diese Stunden an seiner Seite liebte Amelie mehr, als seinen Schlaf zu beobachten. Sie seufzte. Einmal mußte er doch wieder gesund werden! Wenn es schon so ewig lang dauerte, warum begriff ihre Mami dann nicht wenigstens, wieviel Paco ihr bedeutete?
Fff!« machte Amelie und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. An Pacos Seite ertrug sich die Sehnsucht nach Patti, Dette, Helle, Tante Corri und Onkel Thilo wenigstens stundenweise!
Kurz darauf hörte Amelie, wie der Wagen ihrer Mutter anfuhr. Das Geräusch des Motors entfernte sich, bis es vom lauten Rauschen der Brandung verschluckt wurde.
Amelie rutschte lautlos aus ihrerm Sessel, schlich an dem Tischchen mit den vielen Medikamenten für ihren Vater vorbei und trat an die offene Tür, die hinaus auf die Terrasse führte. Weiter wagte sie sich nicht vom Bett ihres Vaters zu entfernen. Sie schob die durchsichtigen Vorhänge und die Jalousie beiseite und kniff die Augen zusammen, weil das grelle Sonnenlicht sie im ersten Moment blendete.
Wie entzückt Patti wohl quietschen würde, wenn sie diesen Blick genießen könnte? Ob Dette und Helle jemals aus dem Meer wieder herauskamen, wenn sie mal hereinplanschten? Und ob Tante Corri und Onkel Thilo es lange in der Sonne am Strand aushielten?
Wie lange Amelie sich der Sehnsucht nach ihren Verwandten in Frankfurt hingegeben hatte, wußte sie nicht. Sie bemerkte den schwarzen Wagen von Doctor Souloque, der sich langsam auf der Uferstraße aus dem Schatten der Palmen aufs Haus zubewegte und wischte sich unbewußt übers Gesicht. Ja, das waren wohl einige Tränen. Sie hatte ja auch an ihre Omi gedacht. Warum nur waren alle so unendlich weit weg?
»Hallo, Amelie! Geht es gut?« begrüßte der dunkelhäutige Doctor Souloque sie. Er hatte schlohweißes krauses Haar, eine breite Nase und einen Mund, der von einem Ohr zum anderen reichte.
Amelie knickste. »Ja, geht schon.«
»O.k. kleine Miss.« Er ergriff ihre Hand und ging mit ihr über die Terrasse ins Zimmer. »Seit wann schläft dein Vater?«
»Seit drei Stunden.«
Da wiegte er den Kopf hin und her, stellte einen Karton auf den Tisch und entnahm ihm ein seltsames Gerät.
»Was ist das?« fragte Amelie sofort.
»Das ist eine Vorrichtung, mit der ich deinem Vater Sauerstoff zuführen kann.« Er sah ihr erschrockenes Gesicht und fügte leise hinzu: »Ob er es braucht, ist ja noch nicht raus. Aber wenn, wird es ihm Erleichterung verschaffen. Sei nicht traurig, kleine Miss.«
Er strich ihr kurz über die Wange und spürte etwas Feuchtes an seinen Fingern. »Du hast doch nicht etwa geweint?«
»Nein!« flüsterte Amelie sofort. »Nein. Ich weine nie.«
Er nickte zögernd. »Das ist gut. Dein Vater soll keine Tränen sehen.« Nachdem er das Moskitonetz zur Seite geschoben hatte, nahm er Stefan Sudhoffs Hand und fühlte den Puls.
Aus der Küche klang der Sing-sang von Mira zu ihnen. Draußen stellte Jano den Rasenmäher an. Doctor Souloque sah sich nach Amelie um.
»Wie lange hat dein Vater heute früh mit Mister Sorren gearbeitet? Er kam um neun Uhr, als ich das Haus verließ.«
»Bis zwölf Uhr«, erwiderte Amelie leise. »Er fuhr weg, als Veronique auch wegfuhr.«
»Drei Stunden«, stellte der Doctor besorgt fest. »Das ist zu anstrengend. Deiner Mutter habe ich es schon gesagt.«
»Aber wenn Vati nicht mit Tom arbeiten kann, wird er traurig.«
»Das sagt deine Mutter, nicht wahr?«
Amelie nickte. Das Gesicht des Doctors verriet hilflosen Ärger. Aber ein Blick in Amelies Augen, und sofort lächelte er wieder. »Du kannst jetzt schwimmen gehen, kleine Miß. Grüß Paco von mir. Genieße dein Leben. Ist es nicht schön?«
Sie schluckte, nickte und lächelte. Dann rannte sie hinaus, eilte zu der kleinen Kabine neben der Terrasse, riß sich darin ihre Kleider vom Leib und schlüpfte in ihren winzigen knallgelben Bikini. So flitzte sie über den Rasen, durch die Öffnung im Mangrovengebüsch, machte einen Satz über den Sandweg und huschte unter den Palmen hindurch auf den makellos weißen Strand. Das Wasser spritzte auf, bis es ihr an den Bauch reichte. Sie ließ sich fallen, spaddelte mit Armen und Beinen und wandte sich erst um, als sie den Boden nicht mehr erreichen konnte.
Wie ein helles Band, das das üppige Grün begrenzte, breitete sich der Strand vor ihr aus. Dahinter konnte sie das Dach ihres Hauses erkennen. Es war grau. Und weiter links, wo sich die Straße in Richtung Fajardo schlängelte, tauchte nun ein kleiner, schwarz gelockter Junge auf.
»Hallo, Paco!« schrie Amelie. »Hier bin ich. Komm doch!«
Paco war zehn und der Älteste von sechs Kindern. Seine jüngste Schwester war gerade zwei Wochen alt. Er mußte zu Hause oft helfen. Aber um diese Zeit konnte er sich für Stunden davonschleichen.
Er winkte ihr fröhlich zu, packte ein altes Brett, das er dort immer unter einer Palme versteckte, schleppte es einige Meter, schob es mit Wucht ins Wasser und landete bäuchlings darauf. Sofort begann er mit den Armen zu rudern und näherte sich ihr in einer Geschwindigkeit, die sie immer bewunderte.
Amelie schloß die Augen. Die Sonne brannte ihr aufs Gesicht. Ja, das Leben war schön. Für eine Stunde und vielleicht noch länger. Ihre Mami kam ja erst bei Anbruch der Dunkelheit wieder. Vielleicht konnte ihr Paco ihr heute sogar im Haus Gesellschaft leisten. Mira und Jama würden nicht petzen. Ja, das Leben war wirklich schön.
*
Gegen Abend dieses Tages saßen Loni und Ramon Rolando in einer Ecke der Bar ›Rotonde‹. Sie befand sich in einer winzigen Gasse in der Altstadt von San Juan. Viel war nicht los, weil es den Strom amerikanischen Touristen eher zum Fort el Morro, zum Friedhof, zum Kloster und zur Stadtmauer trieb.
Loni lehnte sich seufzend zurück, um das hohe Glas mit dem Fruchtcocktail anzuheben. Genießerisch schloß sie die Augen, als ihre Lippen den Strohhalm berührten. Sie hatte heute eine miserable Leistung auf dem Golfplatz geliefert. Aber das geriet jetzt in Vergessenheit. Die kurze Zeit, die sie mit Ramon verbringen konnte, durfte darunter nicht leiden.
Loni hatte das weiße Flatterhemd mit einem leichten Baumwollpulli in dunkelblau vertauscht und ein rotes Tuch mit weißen Punkten um den Hals geschlungen. Ihr Haar war beim Hantieren mit dem Golfschläger in Unordnung geraten. Zeit, es im Clubhaus zu frisieren, hatte Ramon ihr nicht gelassen. Er wollte fort mit ihr, hierhin in die Bar Rotonde, wo sie ganz unbeobachtet miteinander reden konnten.
»Du mußt nicht unzufrieden mit dir sein«, tröstete er sie. »Nach Loch acht hättest du viel besser gespielt, wenn der Platz nicht in diesem bejammernswerten Zustand wäre.«
Loni sah ihn zweifelnd an. »Du träumst also immer noch davon, hier einen neuen Golfplatz einzurichten? Ja, das wäre phantastisch und auch bestimmt ein gutes Geschäft. Die Touristen würden ihn nutzen und länger in San Juan bleiben, das wäre für die Hotels hier sehr lukrativ.«
Beide gaben sich gern solchen Zukunftsträumen hin. Denn wenn Ramon nach San Juan kam und bei ihr war, ertrug sie ihre Situation einfach leichter. Loni berührte seine braungebrannte Hand und lächelte dankbar.
»Sowie ich über genügend Kapital verfüge, steige ich in das Geschäft mit ein. Ich glaube an deine Pläne und vertraue auf ihren Erfolg.«
Ramon lachte leise. Dabei sah er verdammt gut aus. Er war kein Jüngling mehr, aber er strahlte eine starke Vitalität aus. Daß er jemals kränklich im Bett liegen würde wie Stefan war unvorstellbar.
»Du darfst den Kopf nicht hängen lassen, Loni. Lange kann es ja nicht mehr dauern. Schone deine Kräfte, sorge dich nicht um meine Pläne. Du hast genug andere Sorgen.«
Sie schluckte. »Manchmal denke ich, ich werde verrückt. Natürlich liegt das auch an Amelie. Sie sollte hier eine richtige Schule besuchen, aber mit den Sprachen hapert es noch. Und dann gibt sie sich mit schmutzigen und ärmlichen Kindern aus der Nachbarschaft ab. Es ist furchtbar.«
»Meine arme Loni! Du bist zur Zeit in jeder Hinsicht überfordert. Aber das wird vorübergehen.«
Mit einem Schulterzucken sah Loni zur Seite. Neben ihrem Stuhl lehnte die große Papiertasche mit dem schwarzen Kostüm, das sie vor Stunden aus dem feinen Geschäft an der Calle Marina geholt hatte. Sie wollte es tragen, wenn der Verlagsvertreter aus New York zu Besuch kam, um die Verhandlungen für Stefans nächstes Buch zu führen. Ob sie dann schon Witwe war? Auf jeden Fall verlieh ihr das Schwarz schon vor Stefans Tod eine strenge Würde, die ihr bei den Verhandlungen eine gewisse Autorität verschaffte. Nur so konnte sie durchsetzen, daß Tom Sorren sich nicht den größten Anteil vom Honorar unter den Nagel riß.
»Wie lange, meinst du, hält Stefan noch durch?« flüsterte Ramon. Er flüsterte immer, wenn er den Namen ihres Mannes nannte. Ob es die Ehrfurcht vor dem Tod oder einfach nur eine Vorsichtsmaßnahme war, wußte sie nicht. Aber dieses Flüstern gefiel ihr wie alles an Ramon. Bewies es nicht, wie klug und taktvoll er war?
»Zwei, drei Wochen oder sogar Monate«, hauchte sie zurück. In ihrem Blick war eine uneingestandene Ungeduld zu erkennen. »Er weiß ja, wie es um ihn steht. Darum will er nicht mehr in die Klinik. Amelies Gegenwart bedeutet ihm soviel. In jeder wachen Minute versucht er mit ihr zu sprechen. Es ist furchtbar.«
»Solange dieser Tom Sorren zu euch ins Haus kommt, entgeht doch nichts deiner Kontrolle, Loni. Sei froh, daß Stefan nicht in die Klinik will. Wie erträgt deine Tochter diesen Zustand?«
»Amelie? Die begreift ja noch nichts. Sie genießt es, an seinem Bett zu sitzen. Du darfst nicht vergessen, was für ein herrliches Leben sie trotzdem führt. Gegen das Internat in Bayern und die Wochen, die sie in Frankfurt in der Familie meiner Schwester verbrachte, tobt sie sich doch in grenzenloser Freiheit aus. Die paar Stunden, die sie an Stefans Bett wacht, können da nicht schaden.«
Ramon nickte. Eigentlich war ihm Amelie recht gleichgültig. Er wußte nur, daß das kleine Mädchen später einmal zu einem Problem werden könnte. Ihr würde die Hälfte von Stefans Erbe zustehen. Wahrscheinlich hatte der kranke Geologe längst einen Vormund für sie bestimmt, so daß Loni nicht mal das Vermögen ihrer Tochter verwalten konnte.
»Warum willst du eigentlich auf den Besuch des Verlagsvertreters warten?« fragte er plötzlich. »Als Stefans Frau bist du doch berechtigt, die Verhandlungen selbst zu führen. An deiner Stelle würde ich nach New York fliegen, ohne daß Tom Sorren davon Wind bekommt. Stelle deine Forderungen beim Verlag, bevor er hier an dem Gespräch mit dem Verlagsvertreter teilnehmen kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Einen mehrtägigen Aufenthalt in New York kann ich doch nicht geheimhalten. Stefan wird es nicht gutheißen. Amelie wird plappern. Sie hat Tom Sorren recht gern. Er kann mit Kindern umgehen und nutzt diese Fähigkeit schamlos aus.«
»Stefan muß ja nicht erfahren, wohin du fliegst. In seinem Zustand wird ihm das gleichgültig sein. Du mußt eben zum Einkaufen. Sag, du willst nach Florida, weil es dort hübschere Geschäfte gibt und du neue Kleider brauchst.«
Lonis Schweigen verriet ihre Unentschlossenheit. »Als du das Haus in München verkaufen wolltest, hat er dir auch nicht reingeredet, Loni«, fuhr er fort. »Und weiß er überhaupt von der Frankfurter Wohnung?«
Loni schüttelte den Kopf.
»Dann wird er auch nicht merken, wenn du von dir aus zum Verlag nach New York fliegst, um den Honorar-Vertrag vorzubereiten. Es geht doch um eine Menge Geld.«
»Es wäre in jedem Fall ein geschickter Schachzug«, gab sie mit einem Seufzer zu.
»Nur, wenn du ihn rechtzeitig ausführst, Loni. Und dazu hast du ein Recht. Bedenke, es gibt noch ein Leben nach Stefans Tod.«
Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an. Das schwache Licht, das durch die Jalousien fiel, ließ das Grün faszinierend schillern.
»Ja, Ramon, unser Leben«, flüsterte sie verheißungsvoll. »Und nun möchte ich noch einen Ananas-Drink. Und einen Kuß. Beides wird mir die Heimkehr an Stefans Krankenbett erleichtern.«
Ramon lächelte, als er dem Boy herbeiwinkte. Sowie der den Drink gebracht hatte, stand er auf, ging um den Tisch und nahm Loni in die Arme. Er küßte sie kurz, aber sehr leidenschaftlich, damit sie eine verlockende Vorstellung auf ihre gemeinsame Zukunft mit auf den Rückweg in ihr trauriges Heim nehmen konnte.
*
Für die Familie Petersen hatte das neue Jahr gut begonnen. Gleich in den ersten Tagen des Januar war Corri davon informiert worden, daß ihr Chef sie als Stationsärztin vorgeschlagen hatte. Das war ein Wunder, denn durch die schnell aufeinanderfolgenden Geburten von Dette und Helle hatte sich ihre Facharztausbildung um Jahre hinausgeschoben, so daß sie sich schon mit dem Stillstand ihrer beruflichen Entwicklung abgefunden hatte.
Auch Thilo war eine Stufe auf der Karriere-Leiter hochgeklettert. Die Bank, für die er seit längerem ein Teil der Werbung entwarf, hatte ihn für die nächsten drei Jahre verpflichtet und ihm weitaus größere Aufgaben anvertraut. Dazu hatte er zwei andere Kunden für seine Arbeit begeistern können. Nun häuften sich die Aufträge bei ihm. Zum ersten Mal mußte auch er von seinen Kindern Rücksicht und Geduld einfordern.
An einem sonnenklaren, aber kalten Tag Anfang März saß er oben mit einem seiner neuen Kunden vor dem Computer. Ausnahmsweise herrschte mal Ruhe im Haus. Dette und Helle waren zum Schulsport, und Patti kaufte ein. So schnell würde sie nicht zurückkehren, denn in letzter Zeit verband sie den täglichen Lebensmittel-Einkauf immer mt einem ausgedehnten Schaufensterbummel. Patti war jetzt fünfzehn und schwärmte endlich, wie Thilo es nannte, für einen netten Jungen aus ihrer Schule.
Als es unten an der Haustür klingelte, murmelte er dem Kunden ein: »Moment mal – das sind wieder irgendwelche Freunde der Kinder« zu, erhob sich und rannte die Treppe hinunter.
Er erschrak nicht wenig, als er seine Schwiegermutter vor der Tür stehen sah. Helma Collien hatte sich in ihren dicken Nerz gehüllt und trug eine unförmige Mütze auf dem Kopf. Natürlich ließ er sie gern herein.
Sie prustete den Atem aus. »Ich kann doch über Nacht bleiben, Thilo? Ich muß mit dir und Corri sprechen. Wo sind die Kinder?«
Nachdem er Auskunft gegeben hatte, fragte er sie sofort, was denn los sei.
»Das fragst du?! Seit Wochen kein Lebenszeichen von Loni und Amelie. Ich hab’s nicht mehr ertragen und heute nacht angerufen. Aber nur Amelie war da. Seitdem habe ich kein Auge mehr zugetan.«
»Stefan?« Das war immer die gleiche hastige Frage. Jeden bewegte der Zustand des großen alten Mannes.
»Unverändert«, antwortete sie knapp, zog die Mütze vom Kopf und ließ sich von ihm aus dem Nerz schälen. Den verbarg Thilo lieber gleich im Flurschrank. Wenn die Kinder den Pelz sahen, verstiegen sie sich nur zu frechen Bemerkungen.
»Meine arme Amelie!« stöhnte sie, während sie sich durchs Haar fuhr. »Stell dir vor, Thilo, Loni ist nach Florida zum Einkaufen geflogen und hat die Kleine mit ihrem sterbenden Vater allein zurückgelassen.«
Er erstarrte. »Allein? Bist du sicher?«
»Nein, diese Mira ist da. Aber das ist eine Hausangestellte. Und natürlich kommt ihre Lehrerin. Der Arzt hält sich den Tag über stundenlang bei Stefan auf. Aber weißt du, Amelie fühlt sich doch schrecklich. Was für ein Druck lastet auf einer noch nicht mal Zehnjährigen, die sich ohne ihre Mutter für den sterbenskranken Vater verantwortlich fühlt. Manchmal braucht er eine Sauerstoff-Maske, Thilo. Ich hab’s geahnt, ja geahnt. Dem Kind geht’s da drüben nicht gut.« Ihre Brust hob sich, weil sie Atem holte und ihn dabei vorwurfsvoll ansah. »Hättet ihr Amelie nicht ein halbes oder ganzes Jahr bei euch behalten können? Das Haus ist doch groß genug.«
»Du sagst es!« murrte Thilo mit unterdrücktem Zorn und schob seine Schwiegermutter die vier Stufen zum Wohnzimmer hoch, bot ihr einen Sherry an und holte schon mal Glas und Karaffe aus dem Schrank.
»Loni mußte nach Florida?« fragte er.
»Ja, zum Einkaufen. Von Puerto Rico ist das nur ein Katzensprung mit dem Flugzeug. Das wenigstens behauptet Amelie.«
»Einkaufen? Kann sie das nicht in San Juan?«
»Ich denke nicht. Und wenn Loni neue Kleider braucht«, erwiderte Helma wie eine Lehrerin, »hat das immer einen Grund. Ich nehme an, sie will sich für Stefan schön machen, damit er Lebensmut schöpft und wieder gesund wird.«
Thilo sah seine Schwiegermutter an, vermied es aber im letzten Moment, entsetzt den Kopf zu schütteln.
»Amelie hat am Telefon fast geschluchzt!« fügte sie besorgt hinzu.
»Wahrscheinlich, weil sie sich einsam fühlt. Unverständlich, daß Loni ausgerechnet jetzt durch die Welt reist.«
»Loni hat es sehr, sehr schwer, Thilo.«
»Kann sein. Aber soll Amelie auch leiden?«
Er war ganz froh, daß er darauf keine Antwort erhielt, entschuldigte sich, da er wieder hinauf zu seinem Kunden mußte und ließ sie mit ihrem Sherry allein zurück.
Stunden später saß die Familie am Eßtisch vereint. Die Freude über Helmas überraschenden Besuch war groß, denn seit dem sie Witwe war, wagte sie sich nur noch selten in den Frankfurter Trubel.
Patti, Dette und Helle ahnten sofort, daß es um Amelie ging. Oma Helma mußte nur einige Andeutungen loslassen, und schon begannen sie, ihr alles zu erzählen, was sie ihnen in ihren Briefen mitgeteilt hatte.
»Ihr einziger Freund heißt Paco!« wußte Dette zu berichten.
»Ja, und seine Mutter ist eine Hexe!« fügte Helle sofort hinzu.
»Quatsch mit Soße!« fuhr Patti dazwischen. »Das versucht Tante Loni ihr doch nur einzureden. Sie will bestimmt einen Keil zwischen Paco und Amelie treiben, damit Amelie keinen Menschen mehr hat, wenn Onkel Stefan eines Tages mal nicht mehr lebt. Dann ist Amelie ihr ganz ausgeliefert und tut alles, was sie will. Wißt ihr nicht, was das bedeutet?! Sie darf nie mehr zu uns kommen. Aber das geht nicht, sag’ ich euch. Ich suche mir einenFerienjob, spare das Geld und fliege zu ihr, um sie zurückzuholen.«
Mit fassungslosen Gesichtern hatte ihr die am Tisch versammelte Familie zugehört. Wer hätte Patti diese Gedanken und diesen Ausbruch zugetraut?
Corri wandte sich an ihre große Tochter. Sie strich ihr beruhigend über die Hand und setzte gerade zu einer milden Ermahnung an, als Dette mit einem tiefen Seufzer vorschlug: »Wenn Amelie keinen Vater mehr hat, braucht sie unseren. Das ist doch klar wie Kloßbrühe. Und wir sind dann ihre Geschwister.«
»Vergiß nicht, daß Amelie auch noch eine sehr gute, liebevolle Mutter hat!« ermahnte Helma ihn streng. Da schwiegen alle, bis Corri sich plötzlich erhob.
»Komm, Mutti, wir beide gehen jetzt nach oben. Ich werde dir dein Bett beziehen.«
Sofort sprang Patti auf. »Ich beziehe Omis Bett. Sie war so lange nicht mehr hier. Ich tu’s wirklich gern.«
»Danke, Patti!« Weil Helma Collien begriffen hatte, wie gern Corri mit ihr allein sein wollte, wehrte sie freundlich ab. »Aber ich möchte jetzt mit eurer Mami allein sein. Sie ist doch zur Zeit meine einzige Tochter. Loni ist so unendlich weit fort.«
Schon als Corri das Bettzeug aus dem Schrank holte, begann Helma ihr Herz zu erleichtern. So erfuhr ihre Älteste alles, was Thilo schon seit Stunden wußte.
Minuten später saßen die beiden nebeneinander auf dem Gästebett in dem kleinen gemütlichen Raum neben Thilos Atelier.
»Mutti«, seufzte Corri, »du mußt deinem Herzen einen Stoß geben und sofort nach Puerto Rico fliegen. Ich spüre ja nahezu, daß es mit Stefan zu Ende geht. Kannst du verantworten, daß deine kleine Enkelin Amelie in dieser schweren Zeit allein bleibt?«
»Aber wie denkst du dir das denn?« erregte Helma sich. »Soll ich bei Loni vor der Tür stehen und fröhlich sagen, Huhu, wie gehts? Deine Schwester hat mich noch nie dazu aufgefordert. Soll ich eingestehen, daß mein Gespräch mit Amelie mich so beunruhigt hat? Wirkt es nicht so, als käme ich nur, um Stefans letztes Stündchen mitzuerleben? Nein!« Sie strich über das frisch bezogene Kopfkissen. »Außerdem war ich nie so weit weg. Ich kann nicht glauben, daß mir ein Aufenthalt in den Tropen gut bekommt. Was ist, wenn ich auch noch krank werde? Hat Loni nicht schon genug Sorgen?«
»Weil sie zum Einkaufen nach Florida fliegt und Amelie deshalb allein zurücklassen mußte?!« Es klang bitter.
»Du darfst nicht immer so hart über Loni urteilen«, verteidigte Helma ihre jüngere Tochter. »Sie hat es viel schwerer als du. Leicht ist es nicht, die Frau von Stefan Sudhoff zu sein. Lonis Leben ist zerstört, wenn Stefan mal nicht mehr da ist. Auf eine große Liebe folgt eine lange, tiefe Trauer. Schon jetzt könnte Loni eure Hilfe brauchen.«
»Loni? Nein. Amelie ist es, die jetzt einen Halt braucht, Mutti.«
»Hm, ja. Darum dachte ich ja, Thilo kann zu ihr. Sie liebt ihren Onkel. Sie bewundert ihn. Wer hätte das nur gedacht? Aber ich sehe es ja ein. Thilo ist ein wunderbarer Vater.«
Corri sah ihre Mutter dankbar an. Noch nie hatte sie so lobende Worte über den Schwiegersohn verloren. »Du erwartest doch nicht, daß Thilo nach Puerto Rico fährt – mal eben so, als mache er einen Ausflug nach Bad Homburg?« fragte sie trotzdem.
Helma richtete sich auf. »Warum denn nicht? Für eure Kinder werde ich dasein.«
»Danke, Mutti. Aber darum geht es nicht. Seit Jahren habt Loni und du meinen Mann immer verunglimpft, weil er weniger verdiente als ich. Jetzt gerade hat er so viel zu tun wie nie. Soll er das alles aufs Spiel setzen, nur weil Loni in Florida neue Kleider kauft?«
»Wie herzlos du bist, Corri. Und das als Ärztin. Es geht doch um Amelie.«
Corri seufzte wie immer, wenn sie ihre Mutter nicht ganz ernst nehmen konnte. »Darum haben wir ja schon eine Reise zu ihr geplant und sind eifrig dabei, Geld zurückzulegen. Wir wollen nämlich unsere Kinder mitnehmen, und das wird teuer. Thilo kann nicht aufs Geratewohl bei Loni und Amelie vor der Tür stehen. Loni würde das als Kontrolle empfinden. Sie war noch nie gut auf ihn zu sprechen.«
»So!« seufzte Helma. »Na wenigstens bringst du noch einige Gefühle für die arme Amelie auf.«
»Das werden wir alle immer tun, Mutti!« Sie beugte sich herab und hauchte ihr einen Kuß aufs weiße Haar. »Mit deinen Sorgen bist du gewiß nicht allein. Komm, wir werden unten zusammen ein Glas Wein trinken, dann schläfst du diese Nacht wenigstens gut.«
*
Draußen rauschte der Regen herab. Das Geräusch drang in alle Räume und ließ seit einer Stunde nicht nach. Amelie wußte immer genau, wieviel Zeit seit Beginn des Rauschens vergangen war, denn als Veronique gegen Mittag in ihren Jeep gestiegen war, hatten sie die ersten dicken Tropfen erfrischt.
Amelie saß wieder am Bett ihres Vaters. Doctor Souloque hatte sie herbeigeholt und sie dabei auf so eine seltsam sorgenvolle Art angesehen, die ihr Angst einflößte. Da war das Rauschen des Regens beruhigend, nur brachte es nicht ihre Mami zurück.
»Vati?« Sie nahm seine Hand. Obwohl sich auf Stefan Sudhoffs Gesicht Flecken wie bei einem Fieberkranken zeigten, war sie eiskalt.
»Warte ein wenig. Er braucht Zeit, um noch Kraft für einige Worte zu finden«, flüsterte der Doctor ihr zu.
Amelie wartete. Dabei sah sie sich zweimal nach Tom Sorren um, der einige Meter hinter ihr auf einem Stuhl saß und die Hände vor sein sommersprossiges Gesicht geschlagen hatte. Über der Stirn kräuselte sich das wenige rote Haar, das er noch hatte.
Amelie hatte den Mitarbeiter ihres Vaters gern. Gerade jetzt, während ihre Mami weit weg war, strahlte er eine gelassene Ruhe aus. nur sollte er seine Augen nicht so verstecken. Sie seufzte. Ein noch stärkeres Unbehagen bemächtigte sich ihr. Wie gut, daß sich Mira und Jama lautlos genähert hatten. Sie standen stumm unter der Tür.
In diesem Moment spürte sie einen schwachen Druck an ihrer Hand. Sie wandte den Kopf zu ihrem Vater. Er hatte die Augen geöffnet.
»Tom und der Doctor sollen neben dich treten, Amelie. Ich will Zeugen.«
»Was?« hauchte sie erschrocken, begriff aber gleichzeitig, daß sie jetzt keine Schwäche zeigen durfte.
»Er will dir etwas sagen, Amelie«, erklärte Doctor Souloque. »Und er wünscht, daß Mister Sorren und ich es auch hören.«
Schon erhob der Amerikaner sich und trat neben den Doctor und Amelie. Das gab ihr Kraft. Sie erwiderte den Händedruck ihres Vaters und lächelte ihm zu, denn sie begriff allmählich, daß hier etwas vor sich ging, dessen Bedeutung nur ihr galt.
»Doctor«, flüsterte sie ängstlich. »Können wir Mami nicht schnell anrufen, damit sie kommt?«
Während er sich noch einmal zu ihrem Vater beugte, hörte sie ihn nuscheln: »Das geht nicht, Amelie.«
Eine hand legte sich auf ihre Schulter. Sie gehörte Tom Sorren.
»Deine Mutter hat uns keine Adresse und keine Nummer hinterlassen, unter der wir sie in Florida erreichen können, Amelie. Aber wir sind ja bei dir.«
Sie hätte gern danke zurückgeflüstert, aber ihr Herz klopfte so, daß sie nichts mehr sagen konnte. Dafür schämte sie sich. Bestimmt fand ihr Vati das unhöflich. Und sie wollte ihn doch nicht enttäuschen. Ob sie ihm wenigstens antworten konnte, wenn er ihr eine Frage stellte?
»Amelie…«, begann er mühselig. »Mein Kind, mein einziges Kind.«
»Ja, ich bin hier bei dir, Vati!« Sie hörte ihre Stimme und war richtig erleichtert. Und weil sie ihn aufmuntern wollten, nickte sie ihm schnell noch zu.
»Willst du deiner Mutter einen Gruß voller Liebe von mir ausrichten?«
»Ja, Vati. Aber sie kommt doch bald zurück.«
Plötzlich war es furchtbar still im Raum. Warum zogen Mira und Jama sich nicht in die Küche zurück und begannen dort wieder zu singen? Diese Stille war so furchtbar. Amelie schloß die Augen.
»Wenn ich nicht mehr bei dir bin, Amelie, möchtest du dann hierbleiben oder zurück nach Deutschland, zu den Petersens und zu deiner Omi? Oder wünschst du etwas anderes?«
Wieder verstärkte sich der Druck seiner Hand. Amelie öffnete die Augen. Was sollte sie diesmal antworten? Was bedeutete seine Frage? Was gab es zu wünschen, wenn er nicht bei ihr war? Wohin führte sie die Sehnsucht ihres kleinen Herzens, wenn sie nicht mehr an seinem Bett sitzen konnte? Und wie konnte sie sich entscheiden, wenn ihre Mami so weit fort war?
»Du mußt es mir verraten«, röchelte er schwach. »Es ist wichtig, weil ich nicht mehr viel Zeit habe und es schriftlich niederlegen will. Also, nimm dich zusammen, Amelie. Ich tut’s auch. Wir müssen es schaffen. Verstehst du?«
Tränen verschleierten ihren Blick. Die Furcht, etwas falsches zu sagen, lähmte jede Faser ihres Körpers. Da neigte sich Tom Sorren zu ihr. Und dabei sagte er etwas, das einen zusätzlichen Druck auf ihr Herz auslöste.
»Du mußt entscheiden, wo du in Zukunft leben willst, Amelie. Hier auf Puerto Rico oder an einem anderen Ort, wo du eine richtige Schule besuchen kannst und wieder Freunde findest. Du wirst sie brauchen.«
Sie nickte flüchtig, weil sie den Blick ihres Vaters nicht außer acht lassen wollte. Gleichzeitig rasten Bilder und Gedanken durch ihren Kopf. Schule, eine richtige Schule. Und Freunde. Alles war so weit weg.
Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie in dieser Minute. Und immer noch regnete es draußen. Wenn sie fortlief, wurde sie naß. Aber hatte Onkel Thilo nicht einmal versichert, er würde sie nicht im Regen stehen lassen, wenn sie aus der Schule kam?
»Frankfurt…«, kam es kaum hörbar von ihren Lippen. »Ja, Frankfurt in Deutschland.«
Für Sekunden verdunkelte sich der Blick ihres Vaters. »Du willst zu den Verwandten deiner Mutter?«
Aber die Menschen dort drüben waren ihr doch so vertraut, daß es nicht darauf ankam, mit wem sie verwandt waren. Sie nickte entschlossen. »Ja, und auch zu Omi Helma…«
»Und du willst nicht mit deiner Mutter hierbleiben?«
»Sie mag Paco doch nicht, Vati! Sie wird mitkommen…«
Er lächelte müde. »Und wenn sie dir nicht nach Frankfurt folgt? Willst du trotzdem zu den Petersens?«
Amelie wußte es nicht. Warum mußte sie ihm antworten? Und warum würde ihre Mutter sie allein nach Frankfurt reisen lassen? War ihr der Flug hierher ohne ihre Mami nicht schwer genug gefallen?
»Antworte doch!« zischte Tom Sorren in ihr Ohr. »Deine Antwort bedeutet ihm so viel. Er will Ordnung und Klarheit.«
Ordnung und Klarheit, dachte Amelie, und fühlte, wie die Tränen rannen. Aber ich bin doch ziemlich ordentlich, und wenn der Regen wieder aufhört und ich auch nicht mehr weine, wird alles wieder klar. Nicht nur der Himmel.
»Nein, ich will nicht hierbleiben«, preßte sie hervor. »Ich will zu Onkel Thilo nach Frankfurt.«
Da lächelte ihr Vater. Er umfaßte ihre Hand und zog sie ganz nah an sich heran. »Gib mir einen Kuß, meine geliebte Amelie.«
Sie legte ihre Lippen auf seine glühend heiße Wange. Dabei schloß sie die Augen, damit keine ihrer Tränen auf ihn herabtropfte. Das konnte ihn nur traurig machen. Und sie wollte doch, daß er mit ihr zufrieden und damit auch glücklich war.
»Ich habe dich sehr lieb, Vati!« konnte sie nur sagen. »Ja, unendlich lieb.«
»…und Onkel Thilo hast du auch lieb?« Wie ein Hauch erreichte diese Frage sie. Da blickte sie ihn an und nickte. Nun fiel doch eine Träne auf sein Gesicht. Aber seine Lippen lächelte. Nein, sie hatte ihn nicht enttäuscht.
»Es ist gut, mein Kind. Geh jetzt!«
Sie zog seine Hand aus seiner und trat einen Schritt zurück. Aber weiter fort wagte sie es nicht. Ob er jetzt wieder einschlief? Konnte es dann nicht sein, er wurde wieder gesund? Sie blickte unsicher zu Doctor Souloque hoch.
»Mira!« sagte der leise zu der Hausangestellten. »Komm her und nimm Amelie mit dir.«
Sekunden später stand Mira bei ihr, umarmte sie und führte sie aus dem Raum. Gleich darauf saß sie bei ihr in der Küche. Jano tauchte auch auf. Er stand am Tisch und beobachtete sie.
»Trink eine Limonade, Amelie. Dann geht es dir besser.«
Mira machte sich am Tisch zu schaffen. Amelie hörte das Messer die Limonen zerschneiden. Eiswürfel klirrten im Glas. Und immer noch sah Jano sie an, als suche er in ihrem Gesicht nach den Spuren der Verzweiflung.
»Vati hat keine Lust mehr, hier zu liegen. Mami ist nicht da. Und er weiß auch, daß ihm den Strand nie mehr zeigen kann. Und wenn er mich nicht mehr braucht, dann fliege ich nach Frankfurt. Er hat’s doch erlaubt, nicht, Jano?«
Die Gesichter der beiden Dunkelhäutigen waren erstarrt.
»Ja, Amelie«, antwortete Mira nach einer Weile. Dann stellte sie ihr das hohe Glas mit der grünlichen Flüssigkeit hin, holte sich einen Stuhl heran, setzte sich zu ihr und nahm sie fest in die Arme.
Amelie trank nicht von der Limonade. Sie verbarg ihr Gesicht an Miras Schulter und gab sich nun endlich ihrer Verzweiflung und einem wilden Schluchzen hin.
*
Zwei Wochen später landete Thilo Petersen auf dem Flughafen von San Juan. Die feuchtwarme Luft, die ihn hier empfing, nahm ihm den Atem. Er hatte fast zwanzig Stunden Flug hinter sich, weil er in New York in eine Maschine nach New Orleans umsteigen und dort drei weitere Stunden warten mußte, bis er Anschluß nach San Juan erhielt.
Loni hatte ihm das Flugticket für diese umständliche, aber sehr preisgünstige Route zukommen lassen, was bei Corri wahre Entrüstungstürme ausgelöst hatte. Trotzdem war er fest entschlossen, sich mit keinem Wort über die unnötige Anstrengung des langen Flugs zu beschweren. Loni hatte es jetzt gewiß nicht leicht, denn nach dem Tod ihres Mannes warteten so viele Aufgaben auf sie, daß sie unmöglich zurück nach Deutschland konnte. Und nun mußte sie ja auch noch von Amelie Abschied nehmen. Ob es ihr leicht fiel?
Minuten später entdeckte er seine Schwägerin in der Halle. Sie trug einen blendend weißen Hosenanzug aus leichtem Stoff. Ans Jackenrevers war ein Trauerflor in Form einer Schleife befestigt. Ein schwarzes Band schlang sich um ihr üppiges kupferblondes Haar. Nur ihre Gesichtszüge stimmten nicht zu der Eleganz ihrer Erscheinung. Denn kaum sah sie ihn, blickte sie ihm vorwurfsvoll entgegen.
»Ich warte hier seit anderthalb Stunden, Thilo!«
»Die Maschine stieg später als geplant in New Orleans auf. Angeblich tobte irgendwo in der Karibik ein Hurrikan.«
»Ach!« stieß sie verärgert aus. »Es ist doch immer wieder dasselbe. Hoffentlich gibt es morgen auf dem Direktflug nach Frankfurt keine ähnlichen Verspätungen.«
»Schon morgen? Amelie und ich sollen schon morgen zurückfliegen?«
Thilo hatte mit einem Aufenthalt von drei oder vier Tagen gerechnet. Er wollte Stefans Grab besuchen, sich ein wenig ausschlafen und sich danach von Amelie etwas von der Umgebung zeigen lassen. Unwillig stellte er seine Reisetasche auf den Rücksitz von Lonis Auto.
»Was dachtest du denn, Thilo? Du bist doch nicht als Urlauber hier. Und denkst du, es macht mir Spaß, den Abschied von Amelie noch weiter hinauszuzögern. Weißt du nicht, wie schwer mir die Trennung von ihr fällt? Ich habe in den letzten Wochen und Tagen genug mitgemacht. Nur, weil ich Stefan so unendlich liebe, muß ich auch seinen Willen achten. Er wußte, was für unser Kind gut ist.«
Sie fuhr scharf an und vom Flughafengelände herunter. An der nächsten Kreuzung bemerkte Thilo, daß sie die Richtung nach San Juan einschlug und nicht die Straße nach Fajardo nahm. Da Loni unentwegt weitersprach, kam er gar nicht dazu, eine Frage zu stellen.
»Es gibt nur einen Grund, warum ich euch meine Tochter anvertraue. Das ist ihr kleiner schmutziger Freund Paco. Soll sie unter verwahrlosten Kindern aufwachsen? Noch kann sie nicht auf die Klosterschule in San Juan. Ihre Lehrerin Veronique ist nicht streng genug und vom Köpfchen her absolutes Mittelmaß. Sie erzählt lauter Unsinn von den Ureinwohnern, paukt aber nicht genug Englisch und Spanisch mit ihr. Aber merk dir: Amelie ist und bleibt mein Kind!«
»Selbstverständlich, Loni. Du bist doch jederzeit bei uns in Frankfurt willkommen. Ich weiß ja nicht, was du für deine Zukunft planst. Aber besitzt du nicht eine Wohnung in Frankfurt?«
»Die und die Villa in München sind längst verkauft. Ich mußte doch das Haus bei Fajardo erwerben, weil Stefan letztes Jahr noch die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragte. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Mir bleibt nun der ganze Ärger. Ich habe nichts wie Probleme, seit dem er nicht mehr lebt. Das kannst du mir glauben.«
»Sicher, du hast es gewiß nicht leicht, Loni.«
Sie sah ihn kurz an. »Dabei war ich doch noch bei Stefans Verlag in New York, um den Vertrag zu Ungunsten von Tom Sorren ändern zu lassen. Zu spät, zu spät. Als ich zurückkehrte, war Stefan bereits zwei Tage tot.« Sie pfiff die Luft durch die Zähne.
»Das muß sehr schmerzlich für dich gewesen sein. Und wir wähnten dich dabei in Florida!«
»Florida! Florida«, schimpfte sie. »Natürlich war ich nicht in Florida! Das habe ich nur angegeben, damit keiner – auch Stefan nicht – auf die Idee kommt, ich besuche den Verlag in New York. Es hätte ihn zu sehr aufgeregt.«
Thilo sah sie erstaunt an. Und kaum bemerkte sie es, verteidigte sie ihr Verhalten schon wieder.
»Was sollte ich denn tun? Für Stefans Bücher, die schon erschienen sind, habe ich Handlungsvollmacht. Aber nicht für dieses letzte, das Tom Sorren nun in aller Ruhe fertiggestellt und deshalb fünfzig Prozent des Honorars und der Tantiemen erhält. Es ist einfach unglaublich! Ich muß doch auch an meine Zukunft denken!«
»Du und Amelie werden doch keine Not leiden, Loni!«
Sie fuhr noch schneller, so daß sie jetzt San Juan erreichten. Thilo entdeckte einige wunderschöne, historische Bauten und war froh, daß er auf diese Weise doch noch etwas von der Hauptstadt zu sehen bekam. Aber was Loni hier wollte, wußte er nicht. Es drängte ihn doch zu Amelie.
»Apropos Geld, Thilo. Du und Corri zahlt ja noch immer an der Summe für meine Abfindung unseres Elternhauses ab. Wenn Amelie nun bei euch lebt, verzichte ich nicht auf diese Raten. Wir werden Amelies Unterhaltskosten auf Mark und Pfennig mit den Raten verrechnen.«
»Das muß Corri entscheiden.«
»Was heißt das? Du bist ihr Ehemann. Oder doch ein Waschlappen? Ich denke außerdem, für die Kosten der Privatschule wird die Summe auch reichen.«
»Wir haben Amelie auf Helmas Vorschlag an der öffentlichen Schule angemeldet, Loni. Dette ist noch ein Jahr da. Sie wird die Klasse unter ihm besuchen. Helma meinte, die beiden können dann gemeinsam zur Schule gehen. Die Schule hat außerdem einen hervorragenden Ruf.«
»Helma ist eine alte Frau. Auf deren Rat hört ihr? Wißt ihr nicht, daß meine Tochter eine vermögende junge Dame ist?«
»Wir vermuten es, aber sie wird sich dort wohler fühlen als auf der Privatschule.«
Loni hielt an einem wunderschönen Platz direkt vor einem Hotel, das außerordentlich luxuriös wirkte. Sie holte einen dicken Umschlag aus dem Handschuhfach und sah Thilo an.
»Über die Schule reden wir noch. Ich denke nicht daran, auch noch Helma über mein Kind bestimmen zu lassen!« Sie seufzte und fügte dann etwas milder und mit einem Blick auf den Umschlag hinzu: »Ich muß diese Unterlagen nur für einen Bekannten im Hotel hinterlegen. Ich bin gleich wieder da.«
Thilo war allein. Er lehnte sich zurück. Die Enttäuschung über den angespannten Empfang verging schnell, als er seinen Blick über den wunderschönen Platz schweifen ließ. Alte Bauten begrenzten ihn. Zahllose Palmen erhoben sich auf einer Grünanlage, auf der lange Blumenrabatten ihre bunte Pracht darboten. Er hatte gelesen, daß die Stadt San Juan eine der Perlen in der Karibik genannt wurde. Schade, daß Loni ihm keinen Tag länger zugestand. Wie gern wäre er hier mit Amelie promeniert und hätte sie vom ersten, heftigen Schmerz über den Tod ihres Vaters abgelenkt.
Während er an Amelie dachte, spürte er schon jetzt das Unbehagen, das sie als Zeugin während der Auseinandersetzung über ihre schulische Zukunft erleiden mußte. Mußte das sein? Sollten er und Loni nicht gleich alle Mißverständnisse ausräumen, so daß Amelie nichts davon mitbekam?
Kurzentschlossen nahm er seine Brieftasche aus dem Gepäck, zog den Autoschlüssel ab, sperrte Lonis Wagen zu und folgte ihr ins Hotel. Er wollte sie zu einem kühlen Drink einladen, um hier alles das zu besprechen, was noch vor der Rückreise geregelt werden sollte.
Überzeugt, daß Loni seinen Vorschlag begeistert aufnehmen würde, betrat er die Halle. Sie war im spanischen Kolonial-Stil gestaltet. Einige der tragenden Säulen schimmerten golden, was dem Raum wirklich etwas Luxuriöses verlieh. Gedämpfte Stimmen und leise Schritte der Ober mischten sich mit dezenter Musik aus Lautsprechern.
Dies war ein erstklassiges Hotel. Schon kam einer der livrierten Boys auf ihn zu, um nach seinen Wünschen zu fragen, da hörte er Lonis Stimme. Sie stand an der Empfangsloge und gestikulierte heftig. Thilo trat näher. Ob sie männlichen Beistand brauchte.
»Senor Rolando? Er hat angerufen und trifft erst in einem Monat hier ein?« fragte sie gereizt. »Das ist ja unmöglich.«
Sofort erinnerte er sich an den Tag im letzten Jahr, als Corri den Namen des Golf-Profis erwähnt hatte. Loni hielt den Umschlag fest und machte eine Geste der Hilflosigkeit, wobei sie sich in die Halle wandte und Thilo bemerkte.
»Thilo? Was ist denn? Warum folgst du mir?«
Er bat sie, einen Drink mit ihr an der Bar zu nehmen, um bei einemGespräch alle Unklarheiten über Amelies Zukunft auszuräumen.
»Warum?«
»Es könnte ihr weh tun, wenn sie spürt, daß es noch gewisse Unklarheiten zwischen uns gibt.«
»Quatsch! Warum soll es ihr weh tun?«
»Weil sie dich für einige Zeit nicht sehen wird. Keine bittere Erinnerung soll sie auf die Reise dorthin begleiten.«
Sie ließ den Umschlag in ihrer Tasche verschwinden, berührte seinen Arm und drängte ihn ins Freie. »Ich will keinen Drink! Ich muß mit neuen Schwierigkeiten fertig werden. Das reicht für heute. Außerdem weiß ich gar nicht mehr, ob ich Amelie mit dir fortlasse.«
Kurz darauf saß sie wieder hinterm Steuer. Thilo setzte sich neben sie. Kannst du mir erklären, was geschehen ist, Loni?«
Sie gab ein unwilliges Geräusch von sich. »Ein alter Bekannter, der mir immer gern zur Seite stand, wollte in meine Nähe ziehen. Ich habe ein Haus für ihn gemietet und eine Vorauszahlung geleistet, weil er heute abend hier erwartet wurde. Jetzt höre ich im Hotel, daß er angerufen hat. Er wird erst in einem Monat eintreffen.«
»Tut mir leid. Aber ein Monat geht schnell vorbei.«
»Das ist es ja! Ich habe für einen Monat Miete vorausgezahlt. Für nichts und wieder nichts.«
Thilo verstand. Die nächste halbe Stunde, in der sie die dreißig Kilometer nach Fajado zurücklegten, schwieg er beharrlich. Loni hatte sich wahrscheinlich mit der bevorstehenden Trennung von Amelie abgefunden, weil Ramon Rolandos Ankunft ihr darüber hinweghelfen konnte. Er empfand sogar mit ihr.«
Stefan Sudhoff war seit zwei Jahren krank gewesen. Und als er noch als gesund galt, hatte er sich monatelang im Ausland aufgehalten. Viel Zeit und Muße für Frau und Kind waren ihm nicht geblieben. Dabei war Loni eine schöne Frau. Zu schön, um lange allein zu bleiben.
»Herrlich!« rief Thilo begeistert aus, als die Straße einen sanften Hügel hinabführte, und den Blick auf die Stadt Fajado und das dunkelblaue Meer dahinter freigab.
»Ja, das ist es!« stimmte Loni ihm zu. »Und auf das alles soll mein Kind verzichten, nur, weil Stefan am Ende zu schwach war, um sich gegen ihre Wünsche aufzulehnen?«
Thilo schwieg. Woher dieser Stimmungsumschwung? Noch vor einer halben Stunde hatte sie die weise Entscheidung ihres verstorbenen Mannes doch gelobt.
So konnte er den wechselnden Blick auf die Hügel und den von Palmen umsäumten Strand nicht mehr so genießen. Schließlich wurde er von den ersten Häuserreihen verstellt. Gepflegte Bungalows wechselten sich mit bescheidenen Häuschen und weißen, von parkähnlichen Gärten umgebenen Villen ab. Vieles kündete noch von dem sorglosen Leben, das die feinen Herrschaften der Händler, Pflanzer und Kolonial-Offiziere hier mal geführt hatten.
Loni bog nach links in eine stille Straße ein, die auf einen Mangrovenwald zuführte. Dahinter reckte sich ihnen der weiße Turm einer kleinen Barockkirche in den Himmel. Sie hielt vor einem Haus mit einer geräumigen vorgebauten Terrasse. Im Garten standen sogar einige behäbige Rotbuchen, deren dunkles Laub sich von dem senfgelben Anstrich der Mauern abhob.
»Hier ist es, Thilo!«
Er sprang aus dem Auto, eilte herum, um ihr den Schlag zu öffnen. Und da hörte er schon Amelie rufen.
»Onkel Thilo! Onkel Thilo! Endlich!«
Sie rannte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, seine zarte Nichte Amelie, die so gewachsen war und doch ein helles, duftiges Kleidchen wie ein ganz kleines Mädchen trug.
Er riß sie an sich, und alles, was er an Liebe von Corri, Patti, Helle und Dette mit sich über den Atlantik gebracht hatte, strömte nun aus ihm heraus. Amelie sah es an seinem Lächeln, an der Wärme in seinen Augen und sie spürte es an seiner behutsamen und doch so zärtlichen Umarmung.
»Du bist endlich da, Onkel Thilo. Und wir fliegen morgen zurück nach Frankfurt. Freuen sich alle auf mich? Auch Omi?«
»Klar. Sie backt dir bestimmt einen Kuchen.«
»Von dem dürfen Patti, Helle und Dette aber auch was. Und du und Tante Corri?«
»Wirklich?« lachte er. »Du bist aber großzügig. Und wenn es nur so ein klitzekleiner Kuchen ist?«
»Das macht doch nix!« Amelie strahlte keck übers ganze Gesicht. Thilo bemerkte Lonis Blick. Offensichtlich ging ihr deren Freude zu weit.
»Vergiß nicht, dass wir vor zwei Wochen unseren Vater verloren haben, Thilo. Das war für Amelie und mich ein großer Verlust. Es ist taktlos, so gute Laune zu verbreiten«, warf sie ihm auch prompt vor.
»Entschuldige. Das war die Wiedersehensfreude.«
Amelie sah ihn verlegen an. »Wollen wir gleich zu Vatis Grab gehen, Onkel Thilo? Mami kommt bestimmt mit. Wir wollen es dir gemeinsam zeigen.«
Loni schien nicht mit diesem Vorschlag gerechnet zu haben. Sie wirkte abwesend. »Begleitest du uns nicht, Loni?«
Sie schüttelte den Kopf und sah Amelie strafend an. »Mute deinem Onkel doch nicht gleich zuviel zu, Amelie. Thilo braucht Ruhe.«
Mußte sie immer das letzte Wort haben? Er stellte seine Tasche auf die Terrasse. »Ich fühle mich ganz gut. Komm, Amelie.«
Bevor sie das Grundstück verließen, sah er sich noch einmal um. Loni stand hochaufgerichtet im Schatten des Vordachs. In ihrem weißen Anzug wirkte sie kühl und abweisend wie eine Fremde.
»Weißt du, Onkel Thilo«, vertraute Amelie sich ihm an, nachdem sie einige Minuten stumm vor dem blumenüberhäuften Grabhügel ihres Vaters gestanden hatten, »mein Vati hat mich wirklich sehr, sehr liebgehabt. Deshalb läßt er mich mit dir nach Frankfurt. Und Patti, Helle und Dette werden wieder meine besten Freunde sein. Alles wird so wie früher. Versprichst du mir das?«
»Ja, Amelie.« Er legte den Arm um sie. »Und dein Vater hat dich immer noch lieb. Für immer und ewig. Nur wirst du sein Grab nicht so bald wieder besuchen können.«
»Ich weiß. Nur noch in den großen Ferien und zu Weihnachten. Dann werde ich hiersein. Unser Haus ist doch schön, oder?«
»Das ist es«, beteuerte er, obwohl er es kaum kannte.
»Amelie drückte seine Hand, als beweise sein Lob, daß nicht alles in ihrem Leben brüchig und problematisch war. Und dann blickte sie zum Himmel.
»Bald fängt’s an zu gießen, Onkel Thilo«, prophezeite sie.
»Wie bitte! Ich sehe keine einzige Regenwolke.«
»Die kommen gleich. Das ist hier immer so. Aber es rauscht nur eine Stunde, danach, am Nachmittag ist alles ganz frisch. Soll ich dir dann den Strand zeigen?«
»Klar. Ich kann’s kaum erwarten, Amelie.«
Das kam von Herzen, denn als sie den Friedhof an der Barockkirche verließen, ahnte er noch nicht, daß er diese Zusage nicht einhalten würde und froh sein konnte, wenigstens dem Grab seines Schwagers einen Besuch abgestattet zu haben.
Loni erwartete ihn am Tisch auf der Terrasse, wo Mira alles für einen köstlichen Imbiß bereit gestellt hatte. Weil es ihm ausgezeichnet schmeckte, strahlte ihn die dunkelhäutige Hausangestellte voller Stolz an. Nur senkte sich mit jedem der delikaten Bissen eine bleierne Müdigkeit in Glieder und Kopf. Nicht mal gegen das Gähnen konnte er sich wehren.
Darüber kicherte Amelie amüsiert, bis Loni sie ermahnte, und sie schließlich aufforderte, den Gast in sein Zimmer zu führen.
Oben ließ Amelie gleich fürsorglich die Jalousien herunter und half ihm aus den Schuhen. Daß sie ihm noch eine Karaffe mit Eistee ans Bett stellte, nahm er kaum wahr. Aber er sah ihr Lächeln und wie sie mit einer leichten Kopfbewegung schmunzelnd zum Fenster deutete. Ja, draußen hatte es zu regnen begonnen. Fast auf die Minute genau. Es rauschte wie aus hundert Duschen herab. Thilo erwiderte ihr Lächeln und schlief ein.
*
»Onkel Thilo! Onkel Thilo! Wach auf! Du verpaßt dein Flugzeug!«
Thilo schreckte auf. Er wußte zuerst gar nicht, wo er sich befand. Nur die Sonnenstreifen, die schräg durch die Jalousien fielen und das Kitzeln von Amelies langem Haar auf seinem Gesicht brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück. Wie ein Bär mußte er geschlafen haben!
»Wie spät ist es?« Er griff nach seiner Uhr. »Halb acht? Morgens oder abends?« Er hatte seine Uhr doch schon am Flughafen der Zeitverschiebung angepaßt. Und trotzdem hatte er jedes Gefühl für die Tageszeiten verloren.
»Halb acht Uhr morgens. Du mußt gleich los, wenn du dein Flugzeug noch kriegen willst. Meine Mami steht schon bereit.«
Er schüttelte sich heftig, um endlich wach zu werden.
»Und du? Bist du schon fertig?«
Er wollte aufspringen, aber Amelie bleib auf seiner Bettkante sitzen und zog ein Gesicht, das Trauer und Scham verriet. Natürlich, so kurz vor der Trennung von allem, was ihr hier vertraut geworden war, fiel ihr der Abschied gewiß sehr schwer.
»Onkel Thilo…«
»Ja, Amelie? Dir fällt’s schwer, fortzugehen, nicht wahr?«
Sie wich seinem Blick aus. »Du hast so tief und fest geschlafen. Mami hat gesagt, ich darf dich nicht wecken, nach alldem, was du auf dem Flug hierher durchgemacht hast.«
»Das ist vorbei, Amelie.« Er mußte sie beiseite schieben, ins Bad rennen, duschen, Zähne putzen, rasieren – nicht mehr als zehn Minuten gestand er sich dafür zu. Danach genügte eine Tasse Kaffee. So konnten sie in einer knappen Stunde am Flughafen sein. Ja, das würde gerade noch hinkommen. Wenn Amelie ihm nur endlich Platz machte! Und tatsächlich rutschte sie beiseite.
»Du bist soweit reisefertig, Amelie?« Er setzte schon die Füße auf den Boden.
»Ich… ich komme nicht mit, Onkel Thilo. Leider.« Sie verkündete es so unsäglich traurig, daß ihm das Blut in den Adern erstarrte.
»Was?! Wer sagt das?«
Sie senkte den Blick. »Mami sagt es. Sie hat mich so lieb. Wenn ich fort bin, weiß sie nicht weiter. Sie wird so schrecklich allein sein.«
Thilo schluckte. »Warum, Amelie? Alles war schon geplant. Und es war doch auch der Wunsch deines Vaters, daß du in Deutschland zur Schule gehen solltest.«
Sie seufzte. »Veronique wird mich im nächsten Jahr auf die Prüfungen vorbereiten. Wenn ich sie bestehe, kann ich in San Juan auf die alte Klosterschule gehen«, haspelte sie schnell. »Die hat einen hervorragenden Ruf, sagt Mami. Auch meinem Vati würde das gefallen. Ich muß nur besser Englisch und Spanisch können. Aber weißt du, Onkel Thilo, Mami und ich werden das gemeinsam schaffen…, sagt sie«, und hielt dann ein, um Atem zu schöpfen.
»Deine Mami sagt sehr viel«, ächzte er. Es ging doch gar nicht um die Klosterschule. Es ging um etwas anderes. In Amelies Augen glaubte er den wahren Grund ihres Stimmungsumschwungs zu erkennen.
»Du hast deine Mami sehr lieb, nicht wahr?«
Kein Mensch, auch nicht ein geliebter Onkel wie er, durfte ein Kind von seiner Mutter trennen.
»Ja. Weil sie doch jetzt so allein ist…«
»So lange Herr Ramon Rolando noch nicht auftaucht?« entfuhr es ihm da.
»Wer?« hauchte Amelie verwirrt.
Natürlich. Sie kannte diesen Herrn genausowenig wie er. Gegen Lonis Heimlichkeiten war kein Kraut gewachsen. Wut wallte in ihm auf, aber er wußte auch, Amelie trug daran keine Schuld.
»Mami sagt, ich muß sie mehr liebhaben als dich, Tante Corri, Patti, Helle und Dette und auch Omi…«
»Ja, das mußt du.« Er legte die Arme um sie und spürte ihr kleines Herz klopfen. Durfte er ihr den Abschied noch schwerer machen? Wie würde ihr Leben denn aussehen, wenn dieser Ramon Rolando in einem Monat auftauchte und Loni ein neues Glück fand? Das stand ihr ja zu, dieser jungen und schönen Frau. Nur, ob sie dann noch so viel Rücksicht auf ihr Kind nahm, wie sie es jetzt von Amelie forderte?
Für Sekunden hielt Thilo die Türklinke zum Bad fest, als brauche er Halt.
»Wir in Frankfurt sind immer für dich da, Amelie. Vergiß es nicht. Auch, wenn ich gleich das Haus verlasse, um mein Flugzeug noch zu erreichen. Versprichst du mir das?«
»Ja, Onkel Thilo.« Sie preßte es mit Tränen in den Augen heraus. Er konnte es nicht mit ansehen. Und so gab er sich einen Stoß und verschwand im Bad. Zum ersten Mal flüchtete er vor der Verantwortung einem Menschen gegenüber. Dabei hätte er sie gern getragen. Aus Liebe zu seiner Frau und zu seinen Kindern und zu diesem kleinen Mädchen, das so viel Schweres durchgemacht hatte.
*
In den nächsten Monaten flatterten weniger Briefe von Amelie ins Frankfurter Haus. Und wenn sie ihrer Omi oder den Petersens schrieb, drang aus den spärlichen, kurzen Sätzen niemals eine Klage. Es schien so, als habe sie sich ganz an das zurückgezogene Leben an der Seite ihrer Mutter im herrlichen Haus am Strand gewöhnt. Dort gab es jetzt ja keinen Schwerkranken mehr zu hüten. Konnte es nicht sein, daß Mutter und Tochter ohne die Sorge um Stefan zu einem festeren Zusammenhalt und stiller Zufriedenheit gefunden hatten?
Der Todestag von Stefan Sudhoff hatte sich noch nicht gejährt, da lag ein großer, mit vielen, bunten Marken beklebter Umschlag im Postkasten der Petersens. Alle staunten, denn er enthielt zwei wunderschöne Farb-Fotos. Das eine zeigte das glückliche Paar Loni und Ramon Rolando in eleganter Festkleidung, auf dem anderen stand Amelie zwischen den beiden, als wäre sie deren gemeinsames Kind.
»Sag bloß!« ächzte Patti verblüfft. »Tante Loni hat geheiratet? So schnell? Na, der Typ sieht wenigstens nicht alt und krank aus. Da hat sie wohl schnell zugegriffen.«
»Bitte, Patti!« sagte Corri streng. »Loni ist nicht zum Alleinsein geschaffen. Und wenn dieser Ramon Rolando Amelie ein guter Vater ist, sollten wir uns für alle drei freuen.«
Auf dem Foto trug Amelie ein Kleid aus den gleichen weißen Spitzen wie ihre Mutter, eine üppige Schleife im Haar und einen kleinen Strauß in den Händen. Nur ihr Lächeln paßte nicht zu der duftigen Rüschenpracht. Ihre zusammengepreßten Lippen verzogen sich eher zu einer komischen Grimasse.
Dette meinte, vielleicht habe sie eine Zahnspange wie andere Mädchen in seiner Klasse.
»Blödsinn!« schnaufte Patti zornig, obwohl sie sich in letzter Zeit immer sehr erwachsen und sogar damenhaft gab. »Amelie will doch gar nicht lächeln oder zufrieden grinsen. Wahrscheinlich gefällt ihr auch dieses kitschige Kleid nicht. Sie sieht aus wie eine altmodische Tee-Puppe. Tante Loni spinnt ja wohl.«
»Tante Loni ist glücklich, das ist die Hauptsache«, ermahnte Corri sie erneut. »Und Amelie muß dieses Kleid bestimmt nur einmal tragen.«
»Klar!« grinste Helle frech. »Tante Loni wird ja nicht so schnell zum dritten Mal heiraten. Und wenn… ist Amelie bis dahin hoffentlich aus dem Fummel herausgewachsen.«
Wieder vergingen einige Monate. Wie jedes Jahr planten die Petersens ihre Urlaubsreise nach Griechenland. Dadurch geriet Amelie, auch wenn sie es niemals zugegeben hätten, ein wenig in Vergessenheit.
Eines Tages, an einem herrlichen Frühsommerabend, an dem Dette sich zum Rasenmähen überwunden hatte und Patti mit ihren Freundinnen für ein gemeinsames Essen Spargel schälte, klingelte das Telefon. Helle rannte hin und kam zurück. Tante Loni sei am Apparat und wünsche Corri zu sprechen.
»Oho!« freute sie sich und ließ den Salat, den sie gerade putzen wollte, im Wasser liegen. Das Gespräch dauerte ziemlich lange. Helle ließ seine Mutter dabei nicht aus den Augen. Und jedes Mal, wenn sie Amelie erwähnte, spannte sich sein Gesicht vor Neugier an, als sei die kleine Cousine vom anderen Ende der Welt nicht für eine Minute aus den Gedanken der Familie Petersen verschwunden.
Endlich lege Corri den Hörer zurück.
»Nu’ sag schon, Mami. Was ist mit Amelie? Fehlt ihr was?«
Corri sah ihn an, streckte den Arm nach ihm aus, um ihn an sich zu ziehen und sagte mit einem tiefen Atemzug: »Komm mit nach oben zu Papi. Ich brauch dich jetzt, Helle. Denn ich denke, wir müssen unsere Griechenlandreise verschieben, und dafür nach Puerto Rico. Loni bittet uns zu kommen. Wir können Amelie zu uns holen. Aber du mußt mir helfen, Papi dazu zu überreden.«
Helle stieß ein röchelndes, recht bubenhaftes Geräusch aus, um seinen Jubel kundzutun. Aber schon auf der Treppe blieb er stehen.
»Ob Papi das mitmacht?« fragte er seine Mutter. »Du weißt doch, wie enttäuscht er letztes Mal von dort zurückkam.«
»Diesmal«, versprach Corri ihrem Sohn, »wird keiner traurig sein. Amelie wird wieder bei uns leben. Das ist Lonis Wunsch. Sie hat es eben unmißverständlich ausgedrückt.«
»Hurra!« jubelte Helle diesmal ebenso unmißverständlich und rannte vor seiner Mami nach oben ins Atelier seines Vaters.
*
In den folgenden vier Wochen war die Stimmung im Hause Petersen abwechselnd gereizt oder gedrückt. Denn Thilo weigerte sich hartnäckig, ein zweites Mal zu einer Reise nach Puerto Rico aufzubrechen. Er wollte sich eine weitere Enttäuschung ersparen, hatte aber nichts dagegen, wenn Corri, Patti, Helle und Dette sich ins Flugzeug setzten, um die Halbwaise aus den Tropen zurück nach Frankfurt zu holen. So einfach wie er würde Corri sich von Lonis Hin und Her nicht beeindrucken lassen.
Deshalb kam es immer wieder zu endlosen Auseinandersetzungen zwischen Thilo und seinem Nachwuchs. Patti, Helle und Dette warfen ihm Verantwortungslosigkeit und sogar Feigheit vor dem Feind vor. Mit dem Feind war natürlich Tante Loni gemeint. Und als Oma Helma mal wieder hereinschneite und hörte, was Corris Kinder von ihrer zweiten Tochter hielten, kam es beinah zu einer Familienkrise.
Mit der Drohung, sie würde das Haus erst wieder zu Weihnachten betreten und auch das müsse sie sich noch überlegen, fuhr sie verbittert in ihr friedliches Heim nach Bad Homburg zurück.
Drei Wochen später stand sie wieder vor der Tür und wurde natürlich mit offenen Armen empfangen, als sei nichts passiert. Sie hatte sich nämlich allzu gern bereit erklärt, während der Abwesenheit der Petersens das Haus zu hüten. Im letzten Moment hatte Thilo sich doch noch entschlossen, Frau und Kinder auf ihrer Reise in die Tropen zu begleiten.
Er behauptete zwar, dazu hätten ihn nur die guten Jahreszeugnisse seiner Kinder veranlaßt, aber so toll waren die gar nicht. Es lag wohl eher an Corris Überredungskünsten und an Pattis stundenlangem Flehen und Bitten, wenn er sich doch noch von seiner Unentbehrlichkeit bei diesem Unternehmen überzeugen ließ.
So verabschiedete Helma schon am nächsten Morgen die ganze Bande Richtung Flughafen.
Alle waren viel zu aufgeregt, um sich nach dem langen Flug so etwas wie Müdigkeit anmerken zu lassen, denn Amelie stand zwischen ihrer Mutter und Ramon Rolando schon erwartungsvoll am Flughafen bereit. Ihre Freude und die so herzliche Begrüßung des verliebten Paares sorgten bei den Petersens gleich für zuversichtliche Stimmung. Patti wußte gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. In Tante Lonis strahlendes Gesicht oder zum galanten Ramon Rolando, der ein richtig sportlicher Typ war und sich den Verwandten gegenüber so unkompliziert und locker gab, als kenne er sie seit Ewigkeiten.
Aber mußten sie nicht erst mal Amelie prüfend betrachten, um beurteilen zu können, ob die sich verändert hatte? Amelie trug kein Rüschenkleid mehr. In ihrem gelben T-Shirt und ihren karierten Bermudas zappelte sie ausgelassen vor Wiedersehensfreude um Dette und Helle herum und benahm sich wie ein ganz normales Mädchen. Patti konnte beruhigt sein.
Man fuhr in zwei Autos Richtung Fajardo. Ramon steuerte den kleineren Sportwagen mit Amelie und den Jungens, Loni lenkte die Limousine mit Corri, Thilo und Patti. Im Kofferraum staute sich das Gepäck der Gäste.
Loni war prima aufgelegt. Dreimal wiederholte sie, wie ungeduldig sie der Ankunft der lieben Verwandten entgegengesehen habe und wie glücklich sie sei, endlich mal wieder ihre Schwester bei sich zu haben.
»Nicht wahr, Corri, einen Tag verbringen wir beide ganz allein? Wie lange habe ich das vermißt!«
Corri nickte geschmeichelt, was Thilo schon wieder ärgerte.
»Und wenn ich euch für die drei Wochen das Haus am Strand mit dem Personal zur Verfügung stelle, dürft ihr kein schlechtes Gewissen haben!« fuhr Amelies Mutter munter fort. »Nur Amelie wird euch Gesellschaft leisten. So kann sie sich wieder an euch gewöhnen. Ramon und ich mußten schon in das Haus ziehen, das ich gerade gekauft habe. Natürlich werdet ihr das auch besichtigen können. Es befindet sich mitten in der Altstadt von San Juan und wird, wenn es erst ganz renoviert ist, ein Schmuckkästchen sein.«
»Wahnsinn!« staunte Patti.
»In zwei Etagen arbeiten noch die Handwerker. Ramon und ich können sie nicht lange allein lassen. Sonst werden sie dort nie fertig. Und wir wollen doch als frischgetrautes Ehepaar in alle Räume ziehen.«
Corri schob ihren Strohhut aus der Stirn und sah ihre Schwester verblüfft an. »Ich dachte, ihr seid schon verheiratet?«
»Nein, nein!« Loni schien Corris Naivität zu belustigen. »Mit Ramons Papieren dauert es noch. Die Fotos haben wir nur für die Presse anfertigen lassen. Ramon und ich wollen einen neuen Golfplatz bei San Juan anlegen und stießen bei der Verwaltung auf Probleme. Weil es bei den Regierungsbeamten hier einen besseren Eindruck hinterläßt, wenn wir als Geschäftspartner auch ein Ehepaar sind, ließen wir diese Verlobungsfotos anfertigen.«
»Ach soo!« Corri starrte stur geradeaus. Und Loni fuhr unbekümmert fort:
»Ramon war das Haus am Strand zu klein. Er liebt es, in der Stadt zu wohnen, weil er dort ja auch ein Büro brauchen wird. Sowie Amelie mit euch in Deutschland ist, werde ich nach einem Käufer für das Haus am Strand Ausschau halten. Es instand zu halten und das Personal zu bezahlen, wird zu teuer. Da Ramon doch so oft auf Turnieren ist und ich ihn meistens begleite, brauchen wir es wirklich nicht mehr.«
Thilo saß hinter Loni. Er sah aus dem Fenster. Daß Patti neben ihm seinen Blick einfangen wollte, schien er nicht zu bemerken.
»Heute abend essen wir alle zusammen«, verkündigte Loni als nächstes. »Mira hat bestimmt hervorragend gekocht. Wie ihr seht, ist für alles gesorgt. Sowie Ramon morgen nach Rio zum Turnier abgeflogen ist, nehme ich mir viel Zeit für euch. Ihr sollt euren Urlaub richtig genießen. An eurer Freude will ich auch teilhaben.«
»Das wird nicht nötig sein«, murrte Thilo.
»Doch, das wird es, Thilo!« entgegnete Loni scharf. »Ich will noch soviel Zeit wie möglich mit meinem Kind verbringen. Ich liebe meine kleine Amelie doch. Und wer weiß, wann ich sie bei euch besuchen kann. Ihr ahnt ja nicht, wieviel Schwierigkeiten und Probleme hier auf mich warten. Die Politiker überhäufen uns wegen des Golfplatzes natürlich mit Schwierigkeiten. Aber damit werd’ ich schon fertig. Das alles ist eine Frage der Zeit. Die werden schon merken, wie hartnäckig ich sein kann.«
»Daran zweifle ich nicht«, bemerkte Thilo trocken und bekam dafür einen Stups in die Seite von Patti.
Ramon war mit seinem Sportwagen als Erster am Haus. Helle, Dette und Amelie stürmten auf die anderen zu und wollten beim Hereintragen des Gepäcks helfen. Da zog Loni Amelie von Patti fort.
»Hast du Ramon auch wieder gesagt, wie lieb du ihn hast?« hörte Patti ihre Tante fragen und beobachtete, wie Amelie den Kopf schüttelte.
»Schon wieder Mami? Das habe ich doch schon gestern«,
»Tu’s sofort, Amelie!« herrschte Loni sie an. »Er muß es immer wieder hören, damit er weiß, wie wir ihn brauchen. Und ist er nicht mit zum Flughafen gekommen und hat deine Vettern hergefahren?«
Patti wurde ganz flau im Magen. Aber das kam bestimmt vom langen Flug. Amelie ging also tatsächlich zu dem schicken Ramon, knickste und sagte ihr Sprüchlein auf.
Danach ließ sie es sich aber nicht nehmen, ihre Gäste höchstpersönlich durchs schöne Haus zu führen. Tief beeindruckt folgten ihr alle – außer Onkel Thilo. Er verband mit diesem Haus immer noch unangenehme Erinnerungen, und Lonis überdrehtes Geschwätz von den Verlobungsfotos für die Presse verstärkte seinen Argwohn noch. Ihre Großzügigkeit imponierte ihm schon gar nicht.
Corri, die ihrem Mann das Unbehagen ansah, stieß ein Gebet zum Himmel. Hoffentlich ging das nicht so weiter. Er würde den Kindern und ihr den ganzen Urlaub verderben.
»Hier wohnen Helle und Dette!« verkündete Amelie fröhlich.
Die beiden Jungens würden im ehemaligen Gästezimmer schlafen. Corri und Thilo sollten sich auf Lonis ausdrücklichen Wunsch in ihren beiden ehemaligen Luxus-Gemächern wie Flitterwöchner fühlen. Corri strahlte, Thilo schien unbeeindruckt. Patti stupste ihn wieder in die Seite.
Dann aber, als sie hörte, daß sie wieder mit Amelie in einem Zimmer hausen durfte, jubelte sie laut und entschied sofort, sich nicht mehr von der mürrischen Stimmung ihres Vaters die Laune verderben zu lassen.
Die Taschen und Koffer waren schnell ausgepackt. Von unten aus der Küche drang Miras Gesang herauf.
»Ihr müßt Mira und Jama begrüßen«, rief Amelie. »Bis zum Abendessen ist noch Zeit. Wir können noch an den Strand. Wollt ihr?«
Was für eine Frage! Fünf Minuten später folgten Patti, Helle und Dette ihr aus dem Haus, über den Rasen, durch die Mangrovenhecke, huschten über den Weg bis unter die Palmen und blieben dann wie verzaubert vor dem klarblauen Meer stehen. Der weiße Strand schien endlos. Die Sonne brannte herunter, leise bewegten sich die Palmen im lauten Wind.
»Mensch, Amelie!« der kleine Dette fand seine Sprache zuerst wieder. »Wenn ich du wär’s, also, ich bleibe hier… für immer!«
Amelie hatte Patti innig umfaßt. Sie sah zu ihr hoch.
»Jetzt, hier mit euch, könnte es mir auch gefallen. Aber das Haus wird doch verkauft. Wenn ich nicht mit euch gehe, muß ich mit Mami und Ramon im neuen Haus in San Juan leben. Furchtbar!«
»Willst du etwa nur deshalb mit nach Frankfurt zurück?« wollte Helle sofort wissen.
»Nein. Ich komme zu euch und Omi, weil Mami jetzt Ramon hat. Sie muß jetzt oft mit ihm zu den Golfturnieren verreisen. Außerdem…« Amelie blies den Atem hoch zur Stirn und rollte verlegen mit den Augen.
»Also, ich finde Ramon ist ein cooler Typ!« meinte Patti.
»Es ist ganz in Ordnung«, stimmte Amelie ihr zu. »Er ist ja auch meistens unterwegs.« Nach einem kurzen Schweigen sah sie ihre Freunde ganz ernst an. »Ich freu mich aber riesig auf euch und Frankfurt. Ich will doch wieder auf eine richtige Schule. Das mit der Klosterschule in San Juan hab’ ich doch nicht geschafft.«
»Warum denn nicht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Veronique war nicht streng genug«, redete sie sich heraus, um dann verschmitzt zu lächeln, als wisse sie genau, daß das nicht der einzige Grund war.
Helle nickte wie ein Alter und deutete mit einer Armbewegung auf Strand und Meer. »Naja, hier zu lernen, das muß ja auch krass schwierig sein. Hier ist es doch viel zu schön.«
»Schön?« Amelie hob die Schultern und zog eine Schnute. »Nirgends ist es schön, wenn du allein bist.« Sie seufzte. »Na ja, also Mira und Jama sind im Haus. Aber die haben mir jetzt nichts mehr zu sagen. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
»Das ist ja echt klasse!« freute sich der kleine Dette.
»Nur auf Veronique sollte ich noch hören!« schmunzelte Amelie. »Sie ist ja meine Lehrerin. Aber…«
»Hast du die um den kleinen Finger gewickelt?« erkundigte Helle sich. »Das kann ich auch.«
»Oder einfach nicht zugehört?« wollte Dette wissen, der sich auch schon mit Lernproblemen auskannte.
»Weißt du«, Amelie seufzte diesmal aus tiefstem Herzen, »Mami war oft weg. Und wenn sie weg ist, dann nimmt Veronique es nicht so ernst mit dem Unterricht. Sie hat sich… also Veronique hat sich nämlich in einen Mann aus den Bergen verliebt. Sie kam nur immer für Minuten und hat mir Aufgaben gestellt. Dann ist sie fort. Und dann war es ihr ziemlich wurscht, ob ich lerne oder nicht. Manchmal ist sie gar nicht zum Unterricht gekommen. Ich war dann den ganzen Tag hier am Strand. Aber bei Mami petzen wollte ich nicht, weil es doch schön war. Und eine andere Lehrerin wollte ich erst recht nicht.«
»Du hast lieber mit deinem Freund Paco gespielt?« Patti als Älteste zeigte großes Verständnis. »Kann ich mir gut vorstellen, weil du hier ja sonst keinen Freund hast.«
»Ph!« machte Amelie und deutete mit dem Finger an ihre Stirn. »Paco! Der ist doch schon lange weg.«
»Und seine Mutter, die Hexe?« Das hatte Dette nicht vergessen.
»Ach, das ist doch Quatsch! Paco ist mit seinen Eltern und Geschwistern auf eine kleine Insel weiter westwärts gezogen. Sein Vater hat dort Arbeit bekommen. Und seine Mutter wird da Putzfrau. Ihr denkt doch nicht, daß eine Hexe richtig putzen kann?«
»Nein!« entgegnete Patti nachdenklich. »Aber was hat sie denn eigentlich gehext? Deine Mami konnte sie doch nicht leiden.«
Wieder lächelte Amelie, dann winkte sie lässig ab, als nehme sie die Ermahnungen ihrer Mami schon lange nicht mehr ernst. Dafür gefiel ihr die Neugier in den vertrauten Gesichtern um so besser.
»Könnt ihr schweigen?« erkundigte sie sich.
»Was für eine Frage!«
»Ist doch klar, Amelie!«
»Gut, dann verrat ich euch, was jetzt in Pacos Hütte vor sich geht! Da gibt es immer noch so einen Zauber.« Aber erst mal mußte sie gegen ein aufsteigendes Lachen ankämpfen. »Es ist so… wenn der Mond scheint, schleicht Veronique da rein und macht irgendwelchen Hokuspokus, wie es Pacos Mutter auch gemacht hat. Sie will ihren Freund verhexen, damit er sie heiratet und sie nicht mehr Lehrerin sein muß.« Amelie schien das zu amüsieren. »So sind die Frauen hier. Mira hat Jano sogar mal einen Sud aus toten Mäusen gekocht. Sie hat gesagt, es ist Mangroventee. Wenn er ihn trinkt, rostet sein Cadillac nicht mehr…!« Und schon prustete sie vor Lachen los, ließ sich in den Sand fallen und zappelte vor Vergnügen mit Armen und Beinen, bis sie die entsetzten Blicke der anderen zur Besinnung brachten.
»Ja, findet ihr das nicht komisch?« fragte sie empört.
»Komisch? Also, ich weiß nicht. Es ist doch eher eklig und ziemlich ungewöhnlich«, erwiderte Patti nach reiflicher Überlegung.
Amelie drehte sich auf den Bauch. Sie stützte den Kopf auf ihre gefalteten Hände und sah Patti beleidigt an.
»Och, Patti! Früher warst du nicht so langweilig. Wirst du jetzt etwa so zickig wie meine Mami, seit sie Ramon hat?«
Keiner der drei konnte antworten. Amelies Urteil über ihre Mutter ließ sie verstummen. Keiner konnte sich nicht in den kühnsten Träumen vorstellen, ähnliche Worte für ihre eigene Mami anzuwenden. Ob Amelie die tropische Sonne und die lange Zeit in diesem Paradies zu Kopf gestiegen waren?
Langsam wandte Amelie den Blick von Patti ab, drehte sich zu den Jungens und sah sie genauso abwartend an. Dettes Mund stand noch immer offen. Aber da plötzlich kam Leben in ihn.
»Hast du deine Mami denn nicht lieb?« fragte er.
Amelie senkte den Kopf, um mit dem Finger Linien in den Sand zu malen. »Doch, hab’ ich. Aber jetzt braucht sie mich nicht mehr. Und da hab’ ich lieber euch, Tante Corri und Onkel Thilo lieb. Die sind doch fast auch meine Eltern. Oder wollt ihr das nicht?«
»Doch, das wollen wir!« beteuerte Dette sofort.
»Es macht uns echt nichts aus, wenn du unsere Eltern richtig liebhast«, stimmte Helle zu.
Nur Patti schwieg. Sie dachte an die kleine Szene vor einer Stunde, als Amelie Ramon sagen mußte, daß sie ihn liebt. Eine Last, von der sie nicht wußte, warum sie so schwer war, legte sich der Fünfzehnjährigen aufs Herz. Dann erhob sie sich plötzlich.
»Komm, Amelie, laß uns schwimmen«, schlug sie vor. Amelie sprang sofort auf.
»Ihr seid hier bei mir!« juchzte sie. »Und ich zeig auch noch die Bretter von Paco. Er hat einige versteckt. Ich bring euch bei, wie man damit auf den Wellen gleitet!«
»Super!« schrie Helle. »Das werden ja super Ferien! Und das drei Wochen lang!« Er nahm Amelie bei der Hand, Dette ergriff ihre andere und so spurteten sie los. Nur Patti blieb zögernd stehen. Ja, es wurde bestimmt eine herrliche Zeit. Sollte sie etwa wie ihr Vater alles voller Argwohn beobachten? Nein, das kam nicht in Frage!
*
Es wurden wirklich wunderschöne Ferien. Sogar Thilo mußte das nach einigen Tagen anerkennen, obwohl er unumwunden zugab, daß er die Zeit, die er mit Corri und den Kindern allein verbrachte, am meisten genoß.
Andererseits mußte er aber auch erkennen, daß Loni ihr Versprechen wahrmachte und jeden zweiten Tag heranrauschte, um etwas mit ihnen zu unternehmen. So lernten er und seine Familie die riesige Insel genauer kennen. Loni spielte den Fremdenführer in San Juan und chauffierte sie in die Berge. Sie unternahm eine Schiffsreise mit ihnen und zeigte ihnen die Kaffeeplantagen, und jeden Abend, wenn sie gemeinsam heimkehrten und sie zurück nach San Juan wollte, erinnerte sie Amelie daran, dem Grab ihres Vaters noch einen Besuch abzustatten. Das war überflüssig. Denn schon gleich zu Anfang der Ferien hatten die Petersens es sich zur Gewohnheit gemacht, Amelie zu zweit oder zu dritt auf den Friedhof zu begleiten.
Die anderen Tage verbrachten die Petersens am Strand. Helle und Dette hatten das Wellengleiten schnell gelernt und brachten es jetzt ihrem Vater bei. Amelie versuchte Tante Corri und Patti fürs Schnorcheln zu begeistern, und wenn sie vom Wasser genug hatten, spielte sie gemeinsam Boule im Sand, bis Mira das mittägliche Picknick zum Strand brachte und damit die Zeit gekommen war, den Schatten aufzusuchen. Ja, es waren herrliche Tage. Und sie endeten abends immer mit einem gemeinsamen Essen bei Kerzenlicht auf der Terrasse, zu dem Corri und Thilo auch Mira und Jama aufforderten. Den beiden Hausangestellten war doch anzusehen, wie ihnen der Abschied von Amelie bevorstand.
Eines Mittags, als Thilo sich mit einem Buch in den Schatten der Terrasse zurückgezogen hatte, tauchte Veronique auf. Sie stand plötzlich in ihrer rundlichen, kaffeebraunen und von grellbunten Flatterkleidern verhüllten Pracht vor ihm, lachte über das ganze Gesicht und verlangte Amelie zu sprechen. Thilo war so beeindruckt, daß er schon aufspringen und zum Strand wollte, um Amelie zu holen. Aber sie hielt ihn davon ab und ging selbst.
Amelie kam im Kreis ihrer neugierigen Freunde zurück. Patti, Helle und Dette und sogar Corri waren ebenfalls von Veronique fasziniert. Sie hatte für Amelie zum Abschied ein kleines Silberkreuz als Talismann mitgebracht. Dann verriet sie prustend vor Lachen, daß ihr Zauber gewirkt habe und sie nun heiraten würde.
»Ja, Amelie«, nickte sie eifrig. »Nun wirst du bessere Lehrer als mich bekommen. Sie werden streng sein und dir was beibringen.«
Und schon lachte sie wieder übers ganze Gesicht. »Leider, leider… und tanzen werden sie gewiß nicht mit dir.«
»Ich weiß, aber ich freu’ mich trotzdem, Veronique.«
»Was habt ihr denn getanzt?« wollte Patti wissen.
Sofort sprang Veronique auf. »Latino. Mambo und Bossanova!« rief sie, rannte zu ihrem Jeep und kam mit einem Cassettenrecorder zurück. Binnen Minuten brach auf der Terrasse die Hölle los. Veronique klatschte mit schaukelnden Hüften und animierte alle zum Mitmachen. Und das ging so bis nach Mitternacht. Da hatte Thilo seine Corri fest in den Armen, schwang mit ihr im Rhythmus wie ein Berufstänzer und flüsterte ihr schelmisch zu:
»Ein Glück, daß Loni nicht da ist. Die hätte uns den Spaß verdorben.«
»Ach, fang doch nicht wieder davon an, Thilo. Ich werde ihr morgen davon erzählen. Bestimmt freut sie sich, daß wir einen so tollen Abend mit Veronique verbringen konnten.«
»Du bist morgen mit ihr verabredet?«
»Ja, das ist unser vorletzter Tag hier, Thilo. Du weißt, ich habe es ihr versprochen.«
Er nickte. »Gut. Und ich habe unseren Kindern versprochen, noch ein Bäumchen in Fajado zu kaufen und es mit ihnen an Stefans Grab einzupflanzen. Ob Jano mir seinen Cadillac leicht?«
Corri schmunzelte. »Dir? Niemals. Aber bestimmt chauffiert er auch gern.«
»Du meinst, er vertraut mir seine Rostlaube nicht an? Na, warte, Corri!«
Da lehnte sie den Kopof an seine Schulter und schaute wie eine Frischverliebte zu ihm auf, bis er sie küßte. So eine herrliche Tropennacht sollte nicht für eheliche Neckereien herhalten. Zu bald neigte sich der Traum, den sie hier in diesem Paradies erleben durften, seinem Ende zu.
*
»Jano, wirst du das Bäumchen auch gießen, wenn es im Herbst nicht mehr täglich regnet?« fragte Amelie gegen Abend des folgenden Tages, als sie es alle gemeinsam am Grab ihres Vaters eingepflanzt hatten.
Natürlich hatte Jano Thilo nicht ans Steuer seiner Rostlaube gelassen. Jetzt rollte er schon wieder mit den Augen. »O kleine Miss, das werde ich. Aber er braucht kein Wasser. Topo hat es gesagt.«
Helle und Dette grinsten. Denn Topo, der Gärtner in Fajado, zu dem sie mit Jano in dessen klappernden Cadillac gerattert waren, hatte in einem unverständlichen Kauderwelsch auf sie eingeredet. Nur Jano hatte ihn verstanden, und war sich mit ihm schnell über den Preis des Bäumchen einig geworden.
Es war ein Zwerg-Jasmin, der ganzjährig blühen und trotz seiner geringen Höhe Schatten spenden sollte.
»Also gut«, seufzte Amelie sorgenvoll. »Mami und Ramon werden schon nach ihm sehen, wenn das Haus verkauft ist.«
»O nein, kleine Miß, ich selbst werde jede Woche ans Grab kommen. Wie immer. Das hierher verspreche ich, kleine Miß.«
Da streckte sie die Arme hoch und umarmte ihn, bis Tränen in seinen Augen standen. Patti konnte gar nicht hinschauen. Sie hatte Angst, ebenfalls loszuheulen und wandte sich ab. Dabei bemerkte sie, daß ihre Mami um die kleine Barockkirche auf sie zueilte. Corri winkte schon von weitem aufgeregt mit den Armen.
»Amelie!« rief sie. »Amelie, komm schnell.«
Amelie löste sich von Jano, sah die anderen verstört an, eilte ihrer Tante dann aber entgegen. Und nachdem beide einige Worte gewechselt hatten, rannte sie wie gehetzt vom Friedhof herunter.
»Was ist los, Mami?« Patti, Helle und Dette wollten hinter ihr her. Das Bäumchen war ja eingepflanzt. Und bevor Abendessenzeit war, gingen alle immer noch mal schwimmen. Jede Stunde mußte jetzt, zwei Tage vor dem Rückflug nach Deutschland noch ausgekostet werden.
»Jano, da vorn steht dein Cadillac«, wandte Corri sich an den Schwarzen. »Bitte, nimm meine Kinder mit. Aber sie sollen Amelie nicht gleich an den Strand folgen. Madame Sudhoff will dort mit ihr allein sein.«
Patti, Helle und Dette ließen sich keine Fahrt mit dem Cadillac entgegen. Ohne noch Fragen zu stellen, folgten sie Jano zum Auto. Und gleich darauf standen Corri und Thilo sich allein auf dem Friedhof gegenüber.
Corri war wie alle anderen in den letzten Wochen richtig braun geworden. Aber jetzt schien ihr Gesicht aschfahl. Thilo ahnte aber schon seit Minuten, daß etwas Unvermutetes geschehen sein mußte.
»Hast du Loni etwa doch von dem Abend mit Veronique erzählt und deshalb mit ihr gestritten? Warum will sie plötzlich mit Amelie allein sein? Sonst zeigt sie ihre Liebe doch nie.«
»Nein, von Veronique habe ich nichts gesagt. Es ist viel schlimmer, Thilo. Ramon… Also Ramon Rolando ist verheiratet.«
»Was? Das ist doch unmöglich!«
Thilo zog seine Frau mit sich auf die kleine Bank am Weg. Und dort berichtete Corri ihm von dem amüsanten Nachmittag mit Loni, den sie nach einem ausgedehnten Shopping-Bummel in einem Café ausklingen lassen wollten. Sie habe Loni eine Freude machen wollen, als ein Zeitungsboy vorbei kam, ein Exemplar gekauft und ihrer Schwester den Sportteil aufgeblättert.
»Ich nahm an, sie würde darin eine Notiz über das Golfturnier in Rio finden.«
»Und?«
»Darin war ein Foto. Von Ramon auf dem Eröffnungsball für das Turnier in Rio. Er stand Arm in Arm mit einer schönen jungen Frau und strahlte selig in die Kamera.«
»Na ja, der Typ ist ein Frauenheld. Der Eindruck drängte sich mir gleich auf. Aber verheiratet?«
Corri seufzte. »Unter dem Foto stand, daß der Golf-Profi Ramon Rolando schwere Turniere nur in Anwesenheit seiner jungen venezolanischen Frau beginne. Denn da sie Nachwuchs erwarte, sei sie so etwas wie ein Glücksbringer für ihn.«
Thilo starrte verbissen schweigend vor sich hin.
»Tut Loni dir auch so leid?« wollte Corri wissen. »Nun weiß sie, warum er seine Papiere für die Hochzeit nicht vorlegen konnte. Sie hat fast ihr halbes Vermögen für den Kauf des Golfgeländes und des kleinen hübschen Palazzo in San Juan hingeblättert und steht nun wieder allein vor den Problemen, die sich daraus ergeben.«
Thilo blickte an ihr vorbei. Seine Gedanken waren bei Amelie. Er wußte aus Erfahrung, wie schnell und unbedacht Loni mit den Gefühlen ihrer Tochter umging.
»Warum mußtest du Amelie an den Strand zu Loni schicken? Wenn Ramon wirklich verheiratet ist, wird sie nichts daran ändern können. Auch nicht, wenn sie ihm wieder vorschwindeln muß, daß sie ihn liebhat.«
Corris Antwort ließ auf sich warten. Ihr Atem ging schwer. Noch wirkte die Aufregung der letzten Stunde in ihr nach.
»Loni braucht ihr Kind jetzt«, rückte sie endlich zögernd heraus. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, so will sie Amelie noch heute abend mit zurück nach San Juan nehmen.«
»Warum?« fuhr Thilo entsetzt auf.
»Um sich lange Auseinandersetzungen zu ersparen, denn sie wird Amelie nicht mit uns fortlassen. Ich kenne meine Schwester.«
Thilo beugte sich vor und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Sie macht im letzten Moment also wieder einen Rückzieher? Nur, weil ihr Liebhaber sie ausgenutzt hat? Nein! Nicht schon wieder, Corri. Das dulde ich nicht. Du mußt auf sie einwirken. Du weißt doch, wie Amelie sich auf die Zukunft mit uns freut.«
»Auf Loni einwirken? Wie stellst du dir das vor, Thilo? Ich hab‘s schon einmal vergeblich versucht. Wenn sie sich so enttäuscht und verlassen fühlt wie jetzt, wirft sie mir nur vor, daß ich einen jungen und gesunden Ehemann wie dich habe und deshalb nicht mitreden kann.«
Er nickte. »Ja, mein Liebling, wir haben uns. Das stimmt. Aber ist das ein Grund, die kleine Amelie ihrem Schicksal zu überlassen? Darf Loni ihre Tochter immer an sich binden, wenn sie sich gerade mal einsam fühlt, und ihr damit die Zukunft verbauen?«
»Loni fragt nicht, ob sie etwas darf, Thilo. Sie tut es einfach.«
»Dann wird Amelie ihr auf Verdeih und Verderb ausgeliefert sein.«
Corri küsste ihn. »Ja, bis sie Loni durchschaut und die Kraft findet, sich von ihr zu lösen. Und das wird erst geschehen, wenn meine Schwester ein neues Glück findet.«
»…und damit eine Chance auf die Vermehrung ihres Vermögens wittert. Aber wann wird es soweit sein, Corri? Bis dahin können Jahre vergehen. Jahre, in denen Amelie als total vernachlässigtes Kind aufwächst.«
Er legte den Arm um seine Frau. Gemeinsam blickten sie zu dem kleinen Bäumchen an Stefan Sudhoffs Grab hinüber.
»Stefan war der einzige Mensch, der es von Herzen gut mit seinem Kind meinte«, murmelte Thilo.
»Wir meinen es auch gut mit ihr«, fügte Corri traurig hinzu. »Ich kann nur hoffen, daß sie es eines Tages begreift.«
*
Langsam senkte sich der glühende Ball der Sonne gen Westen. Ihr starkes Licht ließ die Tränen auf Loni Sudhoffs Gesicht aufblitzen. Nicht ein einziges Mal versuchte sie, sie fortzuwischen. Nur Amelie fuhr sich immer wieder über die Augen, aus denen es wie aus Sturzbächen rann.
»Wenn du mit den Petersens fortgehst, sterbe ich, Amelie!« wiederholte Loni zum dritten Mal. »Ein Kind läßt seine Mutter nicht im Stich. Bei deinem Vater hast du auch ausgeharrt.«
»Er war doch lange krank, Mami«, wagte Amelie zwischen zwei Schluchzern einzuwenden.
»Ich bin jetzt auch krank. Krank vor Bitterkeit und Kummer. Eine Frau wie ich kann auch an gebrochenem Herzen sterben. Du weißt ja nicht, was dieser Mann mir angetan hat. Ich muß kämpfen, um mein Kapital zu retten. Dazu brauche ich dich an meiner Seite.«
»Was ist das? Kapital?«
»Ach, Amelie! Stell dich nicht so dumm. Es ist auch dein Erbteil. Ich muß das Haus in San Juan sofort loswerden. Wir werden wieder hier leben. Veronique soll zurückkommen und mit dir lernen.«
»Aber ich will doch auf eine Schule, Mami! In Frankfurt!«
»Du willst… du willst! Ist es hier nicht herrlich? Lebst du nicht wie im Paradies? Daß du so undankbar sein kannst, hätte ich nicht von dir erwartet!«
Amelie schlang die Arme um ihre Knie und verbarg ihr Gesicht darauf. So weinte sie still vor sich hin, bis Loni schließlich aufsprang. Sie riß eine Hand Amelies an sich und befahl ihr, sofort aufzustehen und ihre Tränen zu trocknen.
»Ein Kind gehört zu seinen Eltern. Wenn der Vater nicht mehr lebt, muß es seiner Mutter beistehen. So, und nun komm. Mira hat gewiß schon eine Tasche für dich gepackt. Wir fahren sofort nach San Juan. Jede Stunde, die du noch mit den Petersens verbringst, macht dir deine Entscheidung nur schwerer.«
»Aber … aber ich habe doch gar nichts entschieden, Mami!«
Da sah Loni ihre Tochter verdutzt an. Sollte sich tatsächlich Widerstand in ihr regen? Dem mußte sie sofort Einhalt gebieten.
»Du kannst ja auch noch keine Entscheidungen treffen, Amelie. Viel zu jung, und dumm bist du. Als dein Vater kurz vor seinem Tod für dich entschied, glaubte er eben, ich liebe dich nicht. Aber ich liebe dich über alles. Und darum ist seine Entscheidung sowieso hinfällig. Du wirst bei mir bleiben. Und warte nur, in wenigen Wochen wirst du merken, wie glücklich wir sein werden.«
Amelie schluckte. Was hätte sie dafür gegeben, wenn sich in ihr auch nur ein wenig Hoffnung regte! »Meinst du denn, Ramon kommt zu uns zurück?«
Der Blick ihrer Mutter traf sie mit kaltem Vorwurf. »Vielleicht. Aber wenn er nicht zurückkommt, dann ist es deine Schuld. Du hast ihm nicht oft genug gesagt, wie lieb du ihn hast.«
»…aber ich hatte ihn doch nur gern, wenn er fort war, Mami!« versuchte Amelie sich zu verteidigen. Aber das wollte Loni nun wirklich nicht hören. Mit hartem Griff zog sie ihr Kind mit sich, unter den Palmen hindurch zum Haus, wo nun doch eine harte Auseinandersetzung mit den Petersens auf sie wartete. Die würden schon erfahren, wie hartnäckig sie sein konnte, wenn sie einen Entschluß gefaßt hatte. Dann konnte sie in einer Viertelstunde mit Amelie im Auto auf der Straße nach San Juan sitzen.
*
Ramon Rolando kehrte nicht mehr zu Loni Sudhoff zurück, und Amelie mußte sich nicht mehr zu falschen Liebesgeständnissen überwinden. Das machte ihr das Leben an der Seite ihrer Mutter etwas leichter. Mit der Freiheit, die sie nun wieder genoß, konnte sie aber immer weniger anfangen. Veronique, die jetzt als verheiratete Frau in den Bergen lebte, kam nicht mehr zum Unterricht. Das kleine silberne Kreuz, das sie Amelie zum Abschied geschenkt hat, blieb die einzige Erinnerung an sie. Und Loni hatte viel zuviel mit der Rettung ihres Vermögens am Hals, um sich um einen neuen Lehrer für ihre Tochter zu bemühen.
So verbrachte Amelie ihre Tage unbeaufsichtigt in der Altstadt von San Juan. Manchmal schloß sie sich heimlich Touristengruppen an oder versuchte neue Freunde unter den Straßenkindern zu finden. Aber wo sie auch war, die Sehnsucht nach den Petersens ließ sich nicht aus ihrem Herzen vertreiben.
Eines Tages, als es unerträglich heiß war, kaufte sie sich ein Eis und kauerte sich damit in einen schattenspendenden Winkel in der Altstadt. Ihr Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Es war seit Tagen nicht gewaschen oder frisiert worden. Ihr Kleidchen war fleckig, ihre Sandalen lagen unbenutzt neben ihr. Sie trug manchmal tagelang keine Schuhe mehr, um sich nicht so von den herumlungernden Kindern der armen Leute zu unterscheiden.
»Hallo, kleine Miss!«
Amelie fühlte sich ertappt, als sie aufsah und Jano vor ihr stand. Sie schaute nach rechts und links, aber sein Cadillac war nirgends zu entdecken.
»Was tust du denn hier?« fragte sie.
Jano erzählte ihr, daß er im kleinen Palazzo für Ordnung gesorgt habe, weil die Handwerker Hals über Kopf ihre Baustelle verlassen hätten. Und da ihre Mutter die Immobilie ja nun verkaufen müsse, habe sie ihn herbestellt.
»Fährst du jetzt zurück nach Fajado?« fragte Amelie, stopfte die Eiswaffel in den Mund und erhob sich.
Jano nickte. Sein Cadillac parke um die Ecke. Er habe nur noch etwas für Mira besorgt.
»Nimm mich mit, Jano!« forderte Amelie und ahmte damit den herrschsüchtigen Ton ihrer Mutter nach. Jano schwankte. Er rollte mit den Augen und wiegte seinen Kopf hin und her.
»Ich will zum Grab meines Vaters, Jano!« erklärte Amelie forsch. »Oder soll ich den Bus nehmen? Wenn Mami das erfährt, gibt’s Krach, und daran bist du dann schuld.«
Jano wagte einen musternden Blick in ihr Gesicht. Schmal und herb war es geworden. Aber lauerte in ihren schönen Kinderaugen trotzdem nicht der Wunsch nach Zuneigung? Oder war es die Erinnerung an längst vergangene Zeiten, als sie noch am Bett ihres Vaters wachen mußte, aber sich nie so einsam gefühlt hatte wie jetzt?
»Jano versteht, kleine Miss. Du willst zu deinem Daddy. Also gut, komm mit.«
Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Friedhof. Neben dem Tor parkte eine große schwarze Limousine. Jano riß voller Ehrfurcht die Augen auf. »Ein deutsches Superauto, kleine Miss. Sogar mit Chauffeur.«
»Ph!« machte Amelie. »So was kriegen Mami und ich auch noch, wenn wir erst mal wieder unser gutes Kapital haben!« Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stieg sie aus und stakste auf den Friedhof.
Jano seufzte. »Die kleine Miss redet wie eine große Dame. Das gefällt mir nicht«, sagte er zu sich selbst, als er umkehrte.
Am Grab ihres Vaters faltete Amelie kurz die Hände, dann kauerte sie sich unter das kleine Bäumchen, sah durch das Grün in den Himmel, und wartete auf die Dämmerung. Sie wollte nicht zurück nach San Juan. Ob Mira sie ins Haus am Strand ließ? Dort fühlte sie sich nicht ganz so verloren wie bei ihrer Mutter. Aber Mira rief dann bestimmt gleich in San Juan an. Amelie hörte schon die Vorwürfe, die sie dann von ihrer Mutter zu hören bekam. Sie sollte zu ihr halten, aber wozu und warum?
Es mußte eine Viertelstunde vergangen sein, als sie auf ein Geräusch aufmerksam wurde. Sie schreckte hoch und sah, daß sich zwei Männer langsam in ihre Richtung bewegten. Der eine Mann benutzte einen Stock. Er hatte schlohweißes Haar, trug einen weißen Anzug und in der freien Hand einen Hut. Der andere war dunkel gekleidet und nicht ganz so alt.
Sie duckte sich, weil sie nicht bemerkt werden wollte. Aber sie hörte jedes Wort der Unterhaltung, die die beiden nur zwei Meter vor ihr entfernt führten. Beide sprachen Englisch, aber Amelie verstand, daß der weißhaarige Herr ein ähnliches Bäumchen wie ihrs am Grab seiner Frau einzupflanzen wünsche. Weil er eine sanfte, freundliche Stimme hatte, regte sich plötzlich in ihr eine ganz aufrichtige Hilfsbereitschaft. Sie steckte den Kopf unter dem Grün hervor.
»Ich weiß, wo es solche Bäumchen gibt. Beim Gärtner Topo, in Fajado, fünf Minuten Fahrt von hier«, sagte sie auf Englisch.
Der Mann, dem dieser Einkaufstip galt, hieß Burt Winslow. Weil seine verstorbene Ehefrau puertoricanische Vorfahren hatte, war es ihr Wunsch gewesen, auf diesem Friedhof die letzte Ruhe zu finden. Seit ihrem Tod kam er jedes Jahr hierher. Nur waren seit seinem letzten Besuch zwei Jahre vergangen. Nach einer komplizierten Hüftoperation hatte er lange nicht die Kraft gefunden, die Flurgreise von New York hierher anzutreten. Auch jetzt noch fiel ihm das Gehen schwer.
Er betrachtete Amelie verwundert. Sie war keine Einheimische, dazu war ihre Haut zu hell. Und doch schien sie verwahrlost wie ein Kind armer Eltern auf dieser Insel. Kaum entdeckte er den Namen Stefan Sudhoff auf dem Grabstein, ergab eine Frage die andere. Zunächst konnte Burt Winslow kaum glauben, daß dieses magere Mädchen die Tochter des bekannten Geologen und Schriftstellers Sudhoff war. Aber was er auch fragte, ihre Antworten in unbeholfenem Englisch klangen sehr aufrichtig.
Amelie genoß die Aufmerksamkeit des freundlichen alten Herrn. Und als er seinen Chauffeur tatsächlich zu Topo nach einem Bäumchen schickte und sie dann bat, mit ihm auf der Bank zu warten, da fühlte sie sich ernst genommen wie lange nicht mehr.
Daß sie beide zwei geliebte Menschen auf diesem Friedhof besuchen konnten, verband sie und schuf Nähe. Amelie erzählte von ihrem Vater, Burt Winslow sprach von seiner Frau, mit der er drei Kinder habe. Leider sei es ihr nicht vergönnt gewesen, noch Freude an den Enkeln zu haben. Sein Gesicht war bleich und aufgedunsen, aber seine blauen Augen verrieten eine müde Sanftmut.
»Ich habe meinen Betrieb verkauft«, verriet er ihr. »Ich konnte ihn nicht mehr leiten. Das machen jetzt meine Söhne. Ich wohne seit kurzem in New York.«
»Da war ich noch nie. Es ist weit, weit weg«, sagte Amelie, und er nickte versonnen.
»Wenn du mal dort bist, mußt du mich besuchen.«
»Mach ich«, erwiderte Amelie ohne zu begreifen, was sie da versprach.
Minuten später hörte sie eine Autotür vor dem Friedhof zuklappen. Dann näherten sich energische Schritte. Und Sekunden später bog ihre Mutter um die Hecke. Da wußte Amelie, daß Jano doch gepetzt hatte. Na, nun konnte sie was erleben!
Loni blieb stehen, sah ihre Tochter mit einem alten Herrn auf der Bank sitzen und stürzte mit erregtem Gesicht auf die beiden zu.
Aber bevor ihre Mutter mit der Standpauke beginnen konnte, stellte Burt Winslow sich vor und sprach von seiner Bewunderung für Stefan Sudhoff. Er erwähnte das Grab seiner Frau und lobte Amelies Englisch und ihren Verstand.
Loni setzte sich zu ihnen. Binnen kurzem gelang es ihr, näheres über die Lebensumstände des Amerikaners zu erfragen. Sie gab sich plötzlich sehr aufgeschlossen und freundlich, klagte über ihre Probleme mit den beiden Häusern und dem Golfplatz, den die Stadtverwaltung zu verhindern versuchte.
»Wohnen Sie in San Juan, Mister Winslow?«
»Ja, im Hotel Metropol.«
Wer dort wohnte, mußte reich sein. Amelie wußte das Blitzen in den Augen ihrer Mutter richtig zu deuten.
»Wenn Sie täglich zum Grab Ihrer Frau wollen, sollten Sie in der Nähe wohnen, Mister Winslow«, schlug sie ihm vor. »Ich besitze ganz in der Nähe ein herrliches Haus am Strand. Wollen Sie nicht mein Gast sein?«
Noch schwankte der freundliche Herr. Sein Chauffeur kehrte mit dem Bäumchen zurück, und nun erbot Loni sich sogar, beim Einpflanzen zu helfen. Noch hatte Mister Winslow das Angebot ihrer Mutter nicht angenommen, da stand für Amelie bereits fest, daß mit ihm eine neue Zeit für sie begann. Ihr war, als beginne ein Licht in ihrem Herzen zu brennen. Es schmerzte ein wenig, aber dieses Licht entwickelte eine seltsame Kraft, so daß es sogar etwas in ihrem Köpfchen erhellte.
Monate vergingen. Burt Winslow und sein Chauffeur waren im Haus am Strand als Dauergäste einquartiert. Und als Loni endlich einen Käufer für den Palazzo in San Juan gefunden hatte, zogen sie und Amelie wieder dorthin.
Von nun an las ihre Mutter Burt Winslow jeden Wunsch von den Augen ab und umsorgte ihn mit einer Aufmerksamkeit, die sie für Stefan nie aufgebracht hatte.
Amelie war das recht. Burt war hinfällig, aber immer großzügig. Er bestand darauf, daß Veronique wenigstens einmal wöchentlich wieder zum Unterricht kam. Meistens aber konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Und so kam es, daß Amelie erneut alle Freiheiten genoß, ohne sich aber so einsam zu fühlen wie zuvor.
Eines Tages rief ihre Mutter wieder Doctor Souloque ins Haus, der Mister Winslow untersuchen mußte und feststellte, daß der reiche Amerikaner schwer zuckerkrank war. Loni zog Amelie ins Vertrauen, weinte ein wenig und kündigte an, alles Menschenmögliche für ihren Freund und Beschützer Burt tun zu wollen.
»Du mußt ihm unbedingt sagen, wie lieb du ihn hast, Amelie«, drang sie dann auf ihre Tochter ein. Amelie nickte. Aber ihr war, als drücke ihr jemand die Kehle zu.
Tage später, es war Ende November, zwang Loni ihre Tochter, sie zum Einkaufen nach San Juan zu begleiten. Dort in einer teuren Kinderboutique, in der sich hauptsächlich amerikanische Touristen tummelten, mußte Amelie stundenlang wollene Kleidchen und Samtmäntelchen anprobieren.
»Das ist doch alles viel zu warm!« begehrte sie auf.
»Du wirst es brauchen, Amelie!« herrschte Loni ihre Tochter an.
Nach dem Einkauf führte sie sie zur Belohnung in ein Eis-Café und erklärte ihr endlich aber mit geheimnisvollen Lächeln, was es mit der teuren Wintergarderobe auf sich habe. Sie würden Weihnachten in der Nähe von New York mit Burt Winslows Söhnen und deren Familien verbringen.
»Er will, daß wir sie kennenlernen. Und wenn es ihm auch noch gelingt, ohne viel Ärger sein Testament zu ändern, bleiben wir bei ihm!« Sie lächelte so strahlend wie lange nicht mehr und fügte augenzwinkernd hinzu: »Ich werde, wenn es sein Gesundheitszustand erlaubt, Parties geben und vielen interessanten Leuten begegnen. Du wirst neue Freunde treffen.«
Amelie starrte auf die bunten Früchte auf ihrem Eisbecher. Was für ein seltsames Gefühl begann sich nur in ihr zu regen?
»Willst du Burt etwa heiraten?« hörte sie sich wie aus weiter Ferne fragen.
»Natürlich. Es wird uns doch nur nützen, Amelie. Weißt du, Burt gehört dieses Unternehmen immer noch. Er ist mehrfacher Millionär, aber seine Krankheit macht ihn einsam. Er braucht mich.«
Amelie starrte ihre Mutter an. »Er ist doch so alt, Mami.«
»Ja und? Er ist freundlich und großzügig. Und sehr nett zu dir.«
Amelie sah ihren Vater hinter dem Moskitonetz vor sich. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem Doctor Souloque sie ans Bett ihres Vaters rieg und wie Tom Sorren ihr die Hand auf die Schulter gelegt und sie danach in der Küche in Miras Armen in wildes Schluchzen ausgebrochen war.
Loni lächelte ihr ermunternd zu und nahm ihre Hand. »Es wird nicht immer leicht werden, Amelie. Aber ich brauche deine Hilfe. Und später einmal…«
»…wenn Burt gestorben ist?«
Da ließ Loni ihre Hand los. »Unsinn! Daran denken wir doch gar nicht. Hauptsache, wir sind zusammen und leben wieder unter interessanten Menschen. Das Leben wird uns einiges zu bieten haben, mein Liebling. Also fang jetzt bloß nicht zu bocken an. Ein Kind gehört zu seiner Mutter. Da kann kommen, was will.«
Ruhig begann Amelie ihr Eis zu löffeln. »Ja, Mami«, sagte sie brav und blickte angestrengt auf die Früchte in ihrem Becher. Ihre Mutter sollte nicht sehen, wie sehr sie mit den Tränen kämpfte. Wenn sie das Eis etwas schneller aß, würde sie sie bestimmt unterdrücken können. Denn noch durfte ihre Mami nicht merken, wie elend ihr zumute war. Aber eines Tages, das wußte Amelie in diesem Augenblick, würde sie die Kraft finden, es ihr zu sagen. Ja, und ihr gleichzeitig ein liebes ›Lebewohl‹ zu wünschen.
*
»Die goldenen Sterne gehören weiter nach oben, Papi. Letztes Jahr haben wir den Baum auch so geschmückt«, bestimmte Patti und kontrollierte genau, ob Thilo ihrer Anordnung auch folgte. »Wenn du endlich von der Leiter runterkommst, mach ich das lieber.«
»Das möchtest du wohl, wie?« Thilo sah auf seine Älteste hinab, die mit der Schachtel Christbaumschmuck unter ihm stand. »Ich hab Mami versprochen, daß der Baum fertig geschmückt ist, wenn sie mit Dette und Helle vom Einkaufen kommt.«
Patti grinste frech zu ihm rauf. »Damit wir das Zimmer verschließen können, wie? Weil ihr immer noch denkt, Helle und Dette glauben noch ans Christkind, wie?«
»Na und? So ein Glauben gehört nun mal zum Weihnachtsfest. Und auch, daß Wünsche wahr werden.«
»Und was wünschst du dir?« Sie nahm den nächsten Stern hervor, reckte sich und reichte ihn nach oben.
»Liebe Kinder und eine krosse Gans.«
»Schäm dich, Papi. Jedes Jahr das Gleiche.« Da klingelte das Telefon. »Das ist Tom«, wußte Patti sofort. »Wir gehen heute abend ins Kino.« Sie ließ die Leiter los. »Du hast doch nichts dagegen?«
»Doch, habe ich.« rief Thilo ihr nach. Aber sie war schon draußen. Sekunden später, er fummelte gerade den Stern direkt unter der Spitze an einen winzigen Tannenzweig, begann die Leiter zu wanken. Patti rüttelte daran und blickte aus weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch.
»Tante Loni ist dran. Sie ruft aus New York an.«
Thilo zuckte zusammen. »Tante Loni? Jetzt? aus New York? Was macht sie denn da? Es ist doch hoffentlich nichts mit Amelie?«
»Und wenn? Lassen wir Weihnachten dann sausen?« fragte Patti frech zurück, trat zur Seite, als er von der Leiter stieg und erklomm, kaum hatte er das Zimmer verlassen nun selbst Sprosse für Sprosse.
»Ja, Loni, hier ist Thilo.«
»Ist Corri nicht da?« kam es recht brüsk zurück.
»Sie macht mit den Jungens den Weihnachtseinkauf.« Danach blieb es seltsam still. »Hallo, Loni? Bist du noch da?«
»Ja, Amelie will dich sprechen.«
Thilo mahnte sich zur Ruhe. Er wollte sich konzentrieren, die richtigen Fragen stellen und seiner kleinen Nichte keinesfalls das Gefühl vermitteln, sie hätten sie im letzten Jahr abgeschrieben oder vergessen.
»Onkel Thilo?« hörte er ihre Stimme. Sie klang herber als sonst und auch etwas belegt.
»Ja, Amelie. Ich bin’s. Wie geht’s dir?« Wieder war es still. »Frohe Weih…«
»Onkel Thilo, ich will zu euch kommen. Mami und ich sind hier in in Stanford bei New York. Sie bringt mich gleich zum Flughafen. Morgen früh um sieben bin ich in Frankfurt. Holst du mich ab?«
»Du… du kommst allein?«
»Ja, ich hab’s so gewollt, Onkel Thilo. Mami bleibt hier bei Mister Winslow. Sie heiraten gleich nach Weihnachten.«
»So. Sie heiratet. Ja, natürlich hole ich dich ab. Kann ich noch mal deine Mutter sprechen?«
Während der nächsten Sekunden blickte er durch die offene Tür auf den Christbaum. Patti stand jetzt oben auf der Leiter. Viel zu viele Sterne hatte sie an der Spitze angebracht. Aber während er das dachte, wußte er, daß sich doch in diesen Sekunden die Zukunft Amelies entschied. Warum ließ er sich von den Goldsternen ablenken?
»Ja, Thilo«, hörte er endlich Lonis Stimme. »Amelie hat wirklich eine für mich schmerzliche Entscheidung getroffen. Sie verläßt mich ausgerechnet am Tag meines größten Glücks…«
»Na, so was!« stieß er aus und kam sich ziemlich blöde vor.
»Ich bin dem Mann meines Lebens begegnet. Ausgerechnet an Stefans Grab. Das erschien mir wie ein Wink des Schicksals. Amelie und mir steht eine wundervolle Zukunft bevor. Aber sie will ja nicht. Du, Corri und eure Kinder werden doch gut zu Amelie sein?«
»Ja, Loni. Großes Ehrenwort.«
»Kommt Helma zu Weihnachten?«
»Ja, Loni.«
»Gut. Bestelle ihr schöne Grüße. Wenn Burts Zustand es erlaubt, besuchen wir sie im Frühjahr.«
Kurz darauf war das Gespräch beendet. Thilo war nicht in der Stimmung, weitere Goldsterne am Tannenbaum zu befestigen. Das überließ er seiner Ältesten. Er trat vors Haus und hielt nach dem Auto Ausschau, das Corri und die Jungens mitsamt den Weihnachtseinkäufen heimbringen würde. Und während er in die neblige Luft blickte, wurde ihm ganz weihnachtlich zumute. Corri hatte recht behalten. Lonis neue Glück befreite Amelie von einer schweren Last. Wenn das keine echte Weihnachtsüberraschung war!
Am nächsten Morgen in aller Frühe fuhr das Ehepaar Petersen zum Flughafen. Sie hielten sich an den Händen, als sie Amelie hinter der Glasscheibe am Gepäckband entdeckten. War sie ihnen nicht ganz fremd in dem dunkelgrünen Samtmäntelchen und den fein gedrehten Korkenzieherlocken? Oder sah sie nur aus wie ein waschechtes New Yorker Püppchen aus schwerreicher Familie?
Sie war blaß und übermüdet. Viel sagte sie nicht, aber ihre Augen verrieten eine Erleichterung und Dankbarkeit, die Corri tief bewegte. Auf der langen Fahrt hielt sie ihre Nichte fest im Arm. Keiner sagte etwas, als ob nur ein einziges Wort dieses Glück verjagen könnte.
Da, es wurde endlich hell an diesem Wintermorgen, warf Amelie sich plötzlich an Corries Brust.
»Mami hat jetzt Mister Winslow, Tante Corri.«
»Wenn sie glücklich ist, Amelie, dann freuen wir uns doch für sie.«
»Er ist ziemlich nett und reich. Und alt. Aber Mami braucht mich jetzt nicht mehr.«
Corri suchte den Blick ihres Mannes im Innenspiegel.
»Dafür brauchen wir dich, Amelie!« sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Du bist eine Weihnachtsüberraschung, die noch für Jahre für Freude im Haus Petersen sorgt.«
Amelie blieb still. Da war es gut, daß Thilo an einer Ampel halten mußte. Er drehte sich nach hinten um und entdeckte endlich wieder ein schelmisches Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Habt ihr denn keine Geschenke?«
»Doch, aber nicht so etwas Kostbares wie dich. Du kennst uns doch. Im Geld schwammen wir noch nie!«
Da lachte Amelie. »Macht nix, Onkel Thilo. Ich hab ja einen ganzen Koffer voll mitgebracht.«
So zogen die Petersens die Bescherung des Heiligen Abends auf den Vormittag vor. Ihre Kinder waren sprachlos vor Freude. Mit Amelie als Weihnachtsüberraschung hatten sie wirklich nicht gerechnet. Nur die Sache mit Oma Helma wurde etwas schwierig, denn als die gegen Mittag mit Geschenken beladen aus Bad Homburg anrückte, war die Bescherung ja schon vorbei.
Beleidigt wie sie tat, drohte sie gleich, noch vor Silvester wieder abzufahren. Aber da sah sie plötzlich Amelie unter der Tür stehen. Sie breitete die Arme aus, zog sie an sich, herzte und küßte sie und fragte plötzlich: »Und deine Mutter?`Wo ist Loni?«
Amelie sah hilfesuchend zu ihrer Tante. Erst, als Corri ihr munter zunickte, rückte sie mit der Wahrheit heraus.
»In Stanford bei New York, Omi. Sie heiratet wieder.«
»Wie schön, wie schön!« freute Helma sich. »Dann hat Loni es endlich nicht mehr so schwer! Und dich hat sie trotzdem zu uns gelassen? Wie lieb von ihr. Loni ist doch eine sehr gute Mutter, nicht wahr, Corri? Das mußt du doch jetzt zugeben. Und Thilo sollte es auch anerkennen.«
Corri blickte jedes ihrer Kinder und dann Thilo sprachlos vor Staunen an. Erst als er ihren Arm drückte, konnte sie lächeln.
»Ja, das ist Loni«, bestätigte Amelie da schon, um keine Zweifel am gutgemeinten Urteil ihrer Großmutter aufkommen zu lassen. »Beim Abschied hat sie diesmal gar nicht geweint. Und dich läßt meine Mami auch schön grüßen, Omi!«
Und dann hakte sie die Omi unter und führte sie mit keckem Lächeln an Patti, Dette und Helle vorbei ins Weihnachtszimmer, wie ein Kind, das nach langer Wanderung endlich wieder daheim ist und nun erst recht ein schönes Zuhause zu schätzen weiß.