Читать книгу Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen - Annabel Herzog - Страница 8
Оглавление2 Epidemiologie
2.1 Prävalenz
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein weit verbreitetes Phänomen. Genaue Schätzungen zur Prävalenz und Inzidenz klinisch relevanter Körperbeschwerden lassen sich nur schwer bestimmen. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, existieren zahlreiche unterschiedliche Begrifflichkeiten und diagnostische Konzepte zur Klassifikation anhaltender und medizinisch unerklärter Körperbeschwerden, somatoformer und funktioneller Störungen und somatischer Belastungsstörungen. Die Prävalenzzahlen lassen sich entsprechend nur bezogen auf die jeweils zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien (Kap. 5) bestimmen und interpretieren.
2.1.1 Allgemeinbevölkerung
In der Allgemeinbevölkerung sind körperliche Beschwerden sehr häufig.
In einer Studie aus dem Jahr 2006 gaben 82 % der befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten sieben Tage zumindest leicht beeinträchtigten, 22 % berichteten sogar mindestens eine Beschwerde, die sie schwer beeinträchtigte (Hiller et al. 2006). Die Teilnehmenden wiesen dabei oft multiple Körperbeschwerden anstatt nur einzelner Symptome auf und berichteten im Durchschnitt sieben verschiedene Symptome. Dabei wurden vor allem Rücken-, Kopf-, Gelenk- und Menstruationsschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, Verdauungsbeschwerden und mit Sexualität assoziierte Beschwerden wie Erektions- und Ejakulationsstörungen genannt. In einer vergleichbaren Studie aus Großbritannien ergaben sich als häufigste über die vergangenen 2 Wochen berichteten Symptome Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen (McAteer et al. 2011), wobei im Durchschnitt vier belastende Symptome pro befragter Person genannt wurden. In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass von 1000 befragten Personen jeden Monat 80 % körperliche Beschwerden verspürten, die sie als beeinträchtigend beschrieben (Green et al. 2001).
Die Häufigkeitsbestimmung der so genannten „medizinisch unerklärten“ oder „somatoformen“ Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung ist dadurch erschwert, dass die somatoforme Symptomatik oftmals nicht als solche erkannt wird und somit auch nicht die passende Diagnose gestellt werden kann. Angaben zur Prävalenz medizinisch unerklärter Körperbeschwerden schwanken daher massiv (Hilderink et al. 2013).
Auch die Häufigkeit somatoformer Störungen nach ICD-10 (WHO 1996) oder DSM-IV (APA 2000) lässt sich in der Allgemeinbevölkerung, außerhalb eines klinischen Kontextes, nur schwer bestimmen. In repräsentativen Bevölkerungsstichproben werden nur selten standardisierte klinische Interviews (Kap. 5) durchgeführt, mit denen sich die Häufigkeit somatoformer Störungen zuverlässig ermitteln lassen könnte.
Prävalenz in Deutschland
Im Bundesgesundheitssurvey 1998 / 1999, einer Umfrage zur Häufigkeit psychischer und körperlicher Erkrankungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung, wurde eine Lebenszeitprävalenz von 16,2 %, eine 12-Monats-Prävalenz von 11 % und eine 4-Wochen-Prävalenz von 7,5 % für die gesamte Diagnosegruppe der somatoformen Störungen nach ICD-10 ermittelt (Jacobi et al. 2004).
Knapp ein Drittel der Patientinnen und Patienten gaben dabei zwei oder mehr Schmerzsymptome an; am häufigsten wurden Kopf-, Unterbauch- und Rückenschmerzen berichtet (Fröhlich et al. 2006). Bezogen auf die Lebenszeitprävalenz sind somatoforme Störungen damit die dritthäufigste Störung nach Suchtstörungen und Angststörungen (Jacobi et al. 2004).
Für die undifferenzierte Somatisierungsstörung (zu den diagnostischen Kriterien (siehe Kap. 5) wurde in einer weiteren Studie aus der deutschen Allgemeinbevölkerung eine Punktprävalenz von 19,7 % festgestellt (Grabe et al. 2003). Für die Somatisierungsstörung, die durch sehr streng definierte diagnostische Kriterien gekennzeichnet ist, wurde in einer repräsentativen Studie aus den USA eine Lebenszeitprävalenz unter 1 % gefunden (Robins / Regier 1991).
Prävalenz in Europa
In der europäischen Bevölkerung wird die 12-Monats-Prävalenz somatoformer Störungen 2011 mit 4,9 % angegeben (Wittchen et al. 2011; Abb. 2.1), was einer Anzahl von ca. 25,1 Millionen Erkrankten in der Europäischen Union entspricht. Mit dieser Prävalenz stellen somatoforme Störungen die vierthäufigsten psychischen Störungen nach Angststörungen, Schlafstörungen und affektiven Störungen dar.
Abb. 2.1: 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in Europa (geschätzte Anzahl an Personen in Mio.; nach Wittchen et al. 2011)
2.1.2 Hausärztliche Versorgung (Allgemeinmedizin)
Insbesondere in der medizinischen Primärversorgung (Hausarztpraxen, Allgemeinmedizin) stellen sich viele Patientinnen und Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden vor, womit auch die Hauptverantwortung für das Erkennen und Diagnostizieren bei Ärztinnen und Ärzten der Primärversorgung liegt.
In 15–19 % der Fälle sind somatische Symptome ohne organische Ursache der Hauptgrund für eine Konsultation in der Hausarztpraxis (Burton 2003). In einer Untersuchung von Nimnuan et al. (2001) fand sich eine Punktprävalenz von 52 % bezogen auf unerklärte Körperbeschwerden. Dabei wurde eine breit gefasste Definition der Symptome zugrunde gelegt, nämlich im Sinne von medizinischen Beschwerden, für die keine definierte medizinische Diagnose im Rahmen einer adäquaten medizinischen Untersuchung gefunden werden konnte. Verhaak et al. (2006) analysierten Daten von Patientinnen und Patienten, die über das vergangene Jahr mindestens vier Arztbesuche bezüglich ihrer Körperbeschwerden in Anspruch genommen hatten. Dabei ergab sich eine Punktprävalenz von 2,5 % unerklärter Körperbeschwerden. Auch hier sind die Schwankungen in den Prävalenzraten in Abhängigkeit von den angewendeten diagnostischen Kriterien zu sehen.
In einem aktuellen und hochwertigen systematischen Review, in das Daten von über 70.000 Patientinnen und Patienten aus 24 Ländern eingeschlossen wurden, zeigte sich, dass bei 40-49 % aller Patientinnen und Patienten aus dem hausärztlichen Setting mehr als eine medizinisch unerklärte Beschwerde diagnostiziert werden konnte (Haller et al. 2015).
In derselben Übersichtsarbeit wurden aus den Studien, in denen klinische strukturierte Interviews bei Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis durchgeführt worden waren, auch die Prävalenzen für die Diagnosen der somatoformen Störungen nach DSM-IV bzw. ICD-10 ermittelt. Dabei ergaben sich Punktprävalenzen für die Somatisierungsstörung von 0,8 % bzw. 5,9 %, für die undifferenzierte somatoforme Störung von 27,0 % bzw. 8,9 % und für die Schmerzstörung von 7,3 % bzw. 9,3 %. (Haller et al. 2015).
2.1.3 Funktionelle Syndrome
Multiple unerklärte Körperbeschwerden treten häufig auch im Rahmen spezifischer funktioneller Syndrome auf. Die Angaben der Punktprävalenz schwanken auch hier, und zwar in Abhängigkeit von der Art eines solchen Syndroms bzw. von den zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien.
Gerade in der ambulanten hausärztlichen Versorgung gehören funktionelle Körperbeschwerden zu einem der häufigsten Beratungsanlässe. Dabei werden für funktionelle Körperbeschwerden Häufigkeiten zwischen 20 % und 50 % in Hausarztpraxen angegeben (Nimnuan et al. 2001). Eine Allgemeinärztin mit 40 Patienten am Tag sieht demnach ca. zwei Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden pro Stunde (Reid et al. 2001; Henningsen et al. 2018).
Zu den klassischen funktionellen Syndromen zählen das chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome), für das Punktprävalenzen von 0,2–0,4 % in der Allgemeinbevölkerung ermittelt wurden (Jason et al. 1999; Nacul et al. 2011; Reyes et al. 2003), oder die Fibromyalgie. Für letztere fand sich in Großbritannien eine Punktprävalenz von 3,3 % (Gallagher et al. 2001). In einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe wurde sie mit 2,1 % angegeben. In einer größeren europäischen epidemiologischen Studie ergab sich in Abhängigkeit von den verwendeten Kriterien eine Punktprävalenz zwischen 2,9 % und 4,7 % (Branco et al. 2010). Funktionelle gastrointestinale Störungen (einschließlich des Reizdarmsyndroms) traten bei 3,6 % der Hausarztpatientinnen und –patienten auf (Thompson et al. 2000). Die Punktprävalenzen schwanken hier je nach zugrunde gelegten Störungskriterien (z. B. Grundmann / Yoon 2010; Rey / Talley 2009: 2,1–22,0 %). Bei Anwendung der so genannten Rome-Kriterien wird die Punktprävalenz des Reizdarmsyndroms auf 7-10 % geschätzt (Wolfe et al. 2013).
Tab. 2.1: Prävalenz diagnostischer Subkategorien in der Allgemeinbevölkerung (nach Wittchen / Hoyer 2011; Kleinstäuber et al. 2011)
Diagnostische Kategorie | Art der Prävalenzbestimmung | Prävalenz |
Somatoforme Störung | 4 Wochen | 7,5 % |
Somatisierungsstörung | Lebenszeit | < 0,01–0,84 % |
Chronic Fatigue Syndrome | Punkt-Prävalenz | 0,4 % |
Fibromyalgie | Punkt-Prävalenz | 3,3 % |
Reizdarmsyndrom | Punkt-Prävalenz | 2,1–22 % |
2.1.4 Spezialisierte Medizin (Fachärztinnen und Fachärzte)
Da somatoforme Symptome oftmals nicht direkt als solche erkannt werden, sind Überweisungen zu medizinischen Spezialistinnen und Spezialisten häufig. In spezielleren klinischen Kontexten (z. B. bei Fachärztinnen und -ärzten für Rheumatologie, Schmerzmedizin oder Gynäkologie) werden Häufigkeiten zwischen 25 % und 66 % für funktionelle oder somatoforme Beschwerden angegeben (Maiden et al. 2003; Snijders et al. 2004; Waal et al. 2004).
In einer Studie von Nimnuan et al. (2001) wurden Patientinnen und Patienten getrennt nach der Fachabteilung, von der sie überwiesen wurden, hinsichtlich der Anzahl ihrer somatoformen Körperbeschwerden untersucht. Die höchsten Prävalenzraten wiesen Patientinnen und Patienten auf, die von gynäkologischen (66 %) sowie neurologischen Abteilungen (62 %) überwiesen wurden, gefolgt von Patientinnen und Patienten von gastroenterologischen (58 %) und kardiologischen (53 %) Stationen. Dabei stellten sich Patientinnen und Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden oft auch in verschiedenen Fachbereichen vor. Nonkardialer Brustschmerz kam beispielsweise häufig in kardiologischen Abteilungen vor (27,2 %), trat aber auch bei Fachärzten für Atemwegserkrankungen (39,0 %), Neurologie (21,4 %), Gastroenterologie (13,5 %) oder in rheumatologischen Sprechstunden (14,3 %) auf (Nimnuan et al. 2001). In einer Studie von Mehl-Madrona (2008) wurden Patientinnen und Patienten untersucht, die mehr als fünf Mal im Jahr die Notaufnahme aufsuchten. 11 % von ihnen erfüllten die Kriterien einer Somatisierungsstörung nach DSM-IV.
häufiger Syndrom-Overlap bei funktionellen Störungen
Bei unterschiedlichen, aber gleichzeitig bestehenden Beschwerden werden oft auch die Kriterien für verschiedene Diagnosen, wie mehrere umschriebene funktionelle Syndrome gleichzeitig erfüllt. Man spricht dann von einem Syndrom-Overlap, bei dem entsprechend bei der Diagnostik und Therapie nicht nur ein Organsystem oder eine Fachrichtung im Fokus stehen sollte, sondern eine interdisziplinäre Behandlung zielführend ist (Kanaan et al. 2007; Fink / Schröder 2010; Henningsen et al. 2018).
2.1.5 Somatische Belastungsstörung
Da die somatische Belastungsstörung (Kap. 5) erst mit Erscheinen der 5. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5, APA 2013) eingeführt wurde, ist die Prävalenz dieser relativ neuen Diagnose noch weitestgehend unbekannt. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor die Diagnose einer somatoformen Störung erhalten haben, werden gemäß DSM-5 mit einer somatischen Belastungsstörung diagnostiziert; z. T. werden durch die beiden Diagnosen aber natürlich auch verschiedene Patientinnen und Patienten erfasst.
Die Prävalenz der somatischen Belastungsstörung lässt sich entsprechend nur auf Basis früherer epidemiologischer Studien zu somatoformen Störungen schätzen (Creed / Barsky 2004), wobei vieles darauf hindeutet, dass auch die somatische Belastungsstörung eine weit verbreitete Störung ist, die am häufigsten bei Patientinnen und Patienten in der Primärversorgung auftritt (Rief et al. 2011).
Das DSM-5 legt als neues obligates Diagnosekriterium kognitiv-emotionale und Verhaltensmerkmale im Umgang mit den körperlichen Symptomen fest (B-Kriterium). Dabei wird nicht mehr zwischen medizinisch unerklärten und erklärten körperlichen Symptomen unterschieden. Es gab in diesem Zusammenhang zahlreiche Bedenken darüber, dass die neu definierten Kriterien der somatischen Belastungsstörung zu einer „Überdiagnostik“ anhaltender Körperbeschwerden führen könnten, da die Diagnose nun auch medizinisch erklärte Symptome berücksichtigt(Kap. 5). Tatsächlich ist es aber gerade die Kombination aus somatischen Symptomen und assoziierten psychologischen Belastungen, die mit dem höchsten Leidensdruck und entsprechend mit einer Verschlechterung der Lebensqualität und einer erhöhten Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verbunden ist, sodass davon auszugehen ist, dass die neue Diagnose weiterhin relevante Fälle identifiziert (Rief et al. 2010).
Eine Studie, in der Prävalenzdaten aus einer populationsbasierten Stichprobe zugrunde gelegt wurden, untersuchte daher im Jahr 2012 folgende drei Personengruppen zur Häufigkeitsschätzung der somatischen Belastungsstörung (Creed et al. 2012): Gesunde, Patientinnen und Patienten mit medizinischen Erkrankungen wie Herzerkrankungen und Arthritis sowie Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden jeweils zum Vorhandensein belastender Körpersymptome (A-Kriterium) befragt, sowie zu damit einhergehenden psychischen Belastungen (B-Kriterium). 5 % der Gesamtstichprobe bejahte dabei die Frage, ob sie sich oft Sorgen machten, möglicherweise unter einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden. 10 % hatten das Gefühl, dass ihre Symptomatik von ihrer Umgebung (Familie, Freunde, Gesundheitssystem) nicht ernst genommen würde. 5 % aller Befragten gaben an, dass es ihnen schwer falle, ihre Symptomatik für eine Weile zu vergessen und über andere wichtige Dinge in ihrem Leben nachzudenken.
Wurde die Diagnose dabei nur auf Grundlage der Anzahl vorhandener somatischer Beschwerden (A-Kriterium) gestellt, waren die Prävalenzschätzungen für die somatische Belastungsstörung deutlich höher, als wenn zusätzlich auch die psychologischen Kriterien (B-Kriterien: kognitive, affektive, behaviorale Belastung durch die Symptome) erfüllt sein mussten (Tab. 2.2). Beispielsweise gaben die Patientinnen und Patienten aus der Gruppe mit den medizinischen Erkrankungen zahlreiche belastende somatische Symptome an, aber die Mehrheit der Befragten mit einer hohen Symptomanzahl erfüllte dabei nur eines oder gar keines der B-Kriterien. In der Gesamtstichprobe (n=952) berichteten 6,7 % sowohl über eine hohe Anzahl belastender somatischer Symptome als auch über ein oder mehrere psychische Kriterien vom Typ B, womit die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung erfüllt wäre. Die Prävalenz ist demnach höher als die der Somatisierungsstörung nach DSM-IV oder ICD-10, aber weitaus geringer als die der undifferenzierten somatoformen Störung mit ca. 20 %.
783 der Befragten erklärten sich in der Studie außerdem damit einverstanden, dass ihre Krankenakten im Hinblick auf medizinische Diagnosen überprüft wurden. Dabei fanden sich n=339 Befragte mit medizinischen Erkrankungen wie einer Herzerkrankung oder Arthritis und n=107 Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Aus diesen beiden Gruppen berichteten insgesamt mehr Befragte sowohl belastende Symptome als auch begleitende psychologische Kriterien (A- und B-Kriterien) als in der gesunden Vergleichsgruppe. Doch selbst in diesen Patientengruppen, bei denen eine hohe medizinische Belastung und chronische Körperbeschwerden vorliegen, sind nicht immer die Diagnosekriterien einer somatischen Belastungsstörung erfüllt. Nicht alle Patientinnen und Patienten geben eine psychologische Belastung durch ihre Körperbeschwerden an (Tab. 2.2).
Tab. 2.2: Prävalenzschätzungen der somatischen Belastungsstörung unter Zugrundelegung verschiedener Diagnosekriterien in unterschiedlichen Teilstichproben (nach Creed et al. 2012)
Anmerkung: A-Kriterium: mind. 1 belastende Körperbeschwerde; B-Kriterien: damit einhergehende übermäßige Gedanken, Sorgen oder Verhaltensweisen
Die Daten aus dieser Studie deuten darauf hin, dass die Verwendung der neuen Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung nicht zu einer stark erhöhten Prävalenz der Diagnose im Vergleich zum Status quo nach DSM-IV oder ICD-10 führt. In weiteren aktuellen Studien werden etwas höhere Prävalenzzahlen berichtet als bei Creed et al. (2012).
In einer Studie, die 156 Patientinnen und Patienten mit Fibromyalgie untersuchte, ergab sich in mehr als 25 % der Fälle die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (diagnostiziert nach den Kriterien des DSM-5; Häuser et al. 2015). Dessel et al. (2016) fanden in einer Stichprobe mit Patientinnen und Patienten mit medizinisch unerklärten Körperbeschwerden, dass bei 92,9 % die DSM-IV Kriterien einer somatoformen Störung erfüllt waren, aber nur 45,5 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Kriterien der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 erfüllten. Eine Studie aus einem psychiatrischen Setting in China (Huang et al. 2016) berichtet im Unterschied dazu, dass 40,3 % der Patientinnen und Patienten die DSM-5-Kriterien erfüllten und lediglich 24,6 % die Kriterien der somatoformen Störungen nach DSM-IV.
Forschungsbedarf zur Prävalenz
Auch die Prävalenzangaben der somatischen Belastungsstörung schwanken also stark je nach untersuchtem Setting. Es bedarf weiterer epidemiologischer Studien, um die neuen Diagnosekriterien nach DSM-5, aber auch ganz aktuell nach ICD-11, systematisch zu untersuchen.
2.1.6 Kulturelle Aspekte
Somatoforme Störungen sind in allen Kulturen bekannt und auch die häufigsten körperlichen Symptome scheinen, unabhängig von der Kultur, gleich zu sein. Dennoch findet sich eine Häufung somatoformer Beschwerden in bestimmten Kulturkreisen (APA 2013; Lee et al. 2011; Rief et al. 2001). Über verschiedene Kulturen variiert vor allem die Art und Weise, wie somatische Symptome ausgedrückt werden (Kirmayer / Sartorius 2007). Somatische Symptome können in einer bestimmten Kultur eine spezifische Bedeutung haben. Die kulturelle Umgebung hat auch einen Einfluss darauf, wie somatische Symptome interpretiert werden und welche Ursache den Symptomen zugeschrieben werden. Darüber hinaus kann die Kultur beeinflussen, wie und wann Patientinnen und Patienten medizinische Versorgung in Anspruch nehmen und den Krankheitsverlauf zu beeinflussen versuchen.
Häufigkeit bei Flüchtlingen erhöht
In einem aktuellen Review zeigte sich, dass die Häufigkeit somatoformer und funktioneller Symptome bei Flüchtlingen aus nichtwestlichen Ländern im Vergleich zu nicht geflüchteten Personen aus der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht ist. Damit ist Somatisierung ein gesundheitspolitisch relevantes, aber selten adressiertes Problem in Flüchtlingspopulationen. Mögliche Erklärungen für die erhöhten Prävalenzangaben sind aufgrund der Heterogenität der in den Studien verwendeten Methodik schwer zu treffen. Sie liegen aber vermutlich in einer bei dieser Gruppe allgemein erhöhten Psychopathologie infolge von Traumatisierung, aber auch infolge eines erhöhten Stigmatisierungserlebens gegenüber psychischen Diagnosen und Behandlungen (Rohlof et al. 2014).
2.2 Komorbidität
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Angsterkrankungen und Depressionen die häufigsten Komorbiditäten bei somatoformen Störungen (und somatischen Belastungsstörungen) darstellen. Vor allem bei schweren Verlaufsformen funktioneller und somatoformer Körperbeschwerden bestehen außerdem oft komorbide Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen (v. a. Alkohol- und Medikamentenabusus).
Am Ende des aktuellen Kapitels wird auf Suizidalität als schwerste begleitende Komplikation bei somatoformen Störungen eingegangen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen werden in Kap. 5 dargestellt.
2.2.1 Psychische Komorbidität bei somatoformen Störungen
psychische Komorbidität häufig
Eine ganze Reihe von Studien belegt die hohe Komorbidität von somatoformen Körperbeschwerden und verschiedenen anderen psychischen Erkrankungen (Fröhlich et al. 2006). Eine „reine“ somatoforme Störung ist selten und die psychische Komorbidität stellt eher die Regel als die Ausnahme dar. Komorbide psychische Erkrankungen können dabei in einem (möglicherweise wechselseitigen) ursächlichen Zusammenhang mit den Körperbeschwerden stehen. Die einzelnen Störungsbilder entstehen aber nicht notwendigerweise gleichzeitig oder verlaufen parallel. Manchmal liegen viele Jahre zwischen dem Erstauftreten der somatoformen und einer weiteren komorbiden psychischen Symptomatik, wobei sich in einigen Fällen zuerst die somatoforme Störung und in anderen Fällen zuerst die andere psychische Störung entwickelt (Hiller / Rief 1997).
Am häufigsten berichten Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen zusätzlich belastende angstbezogene oder depressive Symptome (Kohlmann et al. 2016), wobei dies nicht bedeutet, dass immer die vollen Diagnosekriterien für eine Angststörung oder Depression erfüllt sind. Die Komorbidität ist so hoch, dass lange diskutiert wurde, ob funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden überhaupt eigene Krankheitsentitäten sind oder eigentlich nur Manifestationen einer depressiven oder Angststörung darstellen (Kleinstäuber et al. 2016). Dagegen spricht, dass sich, trotz hoher Komorbiditätsrate, bei ca. 20 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Körperbeschwerden keine affektive Symptomatik findet, wobei die Raten hier je nach Art, Dauer und Schweregrad der Beschwerden und dem jeweiligen Versorgungssetting schwanken (Henningsen et al. 2007). Darüber hinaus sprechen hohe Komorbiditätsraten zwischen psychischen Störungen nicht grundsätzlich gegen das Vorliegen distinkter klinischer Entitäten, sondern können auch durch die zum Teil wenig spezifisch formulierten Diagnosekriterien selbst verursacht werden (Maj 2005).
Das vermehrte gleichzeitige Auftreten von somatoformen, angstbezogenen und depressiven Symptomen wird in der Primärversorgung auch als so genannte „Somatisierungs-Angst-Depressions-Triade“ beschrieben (Hänel et al. 2009).
Abb. 2.2: Überlappung von Depression, Angst und Somatisierung (n=2091 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung; nach Löwe et al. 2008)
Somatisierungs-Angst-Depressions-Triade
Es wird geschätzt, dass jede / r zweite Patient / in mit einem der SAD-Syndrome (Somatisierung, Angst oder Depression) unter mindestens einem weiteren leidet (Löwe et al. 2008; Abb. 2.2). Da die entsprechenden Untersuchungen zwar einerseits eine hohe Überlappung dieser Phänomene, gleichzeitig aber auch deren Unabhängigkeit belegen (Henningsen et al. 2003; Löwe et al. 2008), wird weiterhin davon ausgegangen, dass es sich bei somatoformen Störungen, Angststörungen und Depressionen jeweils um eigenständige Krankheitsentitäten handelt. Diagnostisch wird dabei vorgeschlagen, Komorbiditäten ohne Hierarchien nebeneinander zu diagnostizieren (und auch zu verschlüsseln; Stein / Müller 2008; Kap. 5).
Eine große epidemiologische Studie aus der deutschen Allgemeinbevölkerung kam zu dem Schluss, dass Komorbidität bei insgesamt 44 % aller Fälle bei Patientinnen und Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose vorhanden ist. Die Kombination aus somatoformen, Angst- und depressiven Störungen fand sich dabei in 4,7 % der Fälle (Jacobi et al. 2014).
In einer Studie von Rief et al. (1992) fand sich bei 47 % der untersuchten Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung zusätzlich auch eine depressive Störung (Lebenszeit-Diagnosen). Seltener fand sich eine Komorbidität mit einer Agoraphobie (17 %), Panikstörung (13 %), Zwangsstörung (10 %), Essstörung (17 %) oder Alkoholabusus (20 %). Nur bei 7 % der Patienten mit somatoformer Störung bestand in dieser Studie keine andere zusätzliche Störung (Hiller / Rief 1997). Auch Traumafolgestörungen treten gehäuft zusammen mit somatoformen Störungen auf. Für die Posttraumatischen Belastungsstörungen finden sich Zahlen zwischen 8 % bis 19 % (Spitzer et al. 2009; Lieb et al. 2007). In einer Studie, die im Hausarztsetting durchgeführt wurde (n >10.000), zeigten diejenigen Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung sechsmal häufiger ein erhöhtes Maß an Angst oder depressiven Symptomen als diejenigen ohne Somatisierung (30 % versus 5 %; Clarke et al. 2008).
Risikofaktoren für Komorbidität
Für das Vorliegen einer komorbiden Angstsymptomatik und / oder Depression bei somatoformen Störungen wurden zahlreiche Risikofaktoren identifiziert. Ein konsistent belegter Risikofaktor ist eine hohe Anzahl an somatischen Symptomen. So steigt mit zunehmender Anzahl körperlicher Symptome auch die Symptombelastung durch Angst- oder depressive Symptome. Die Art der körperlichen Symptome spielt dabei eine untergeordnete Rolle (Kroenke / Rosmalen 2006).
Als weitere Risikofaktoren gelten eine erhöhte psychische Belastung im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen, im Sinne von übermäßigen und dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen in Bezug auf die Symptome (Dessel et al. 2016), aktuelles Stresserleben, sowie ein subjektiv als schlecht eingeschätzter eigener Gesundheitszustand (Croicu et al. 2014).
Bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen scheinen gleichzeitig vorliegende Angstsymptome und depressive Beschwerden auch mit einer größeren Funktionseinschränkung im Alltag (Leeuw et al. 2015) sowie mit einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (Barsky et al. 2005) verbunden zu sein. Die komorbide Angst selbst kann außerdem ebenfalls weitere belastende somatische Symptome hervorrufen. Panikattacken sind beispielsweise durch Bauchschmerzen, Brustschmerzen, Diaphorese, Schwindel, Dyspnoe, Herzklopfen, Parästhesien und Zittern gekennzeichnet (Tavel 2015).
Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen zeigen auch ein erhöhtes Risiko für Persönlichkeitsstörungen.
komorbide Persönlichkeitsstörungen
Eine Untersuchung ergab, dass bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen komorbide Persönlichkeitsstörungen bei 66 % auftraten (Bass / Murphy 1995). In einer weiteren Studie wurden 94 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung anhand strukturierter Interviews untersucht. Dabei erfüllten 61 % die Kriterien für mindestens eine Persönlichkeitsstörung. Die häufigsten Persönlichkeitsstörungen waren dabei die selbstunsicher-vermeidende, die paranoide und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Rost et al. 1992).
Bezüglich der psychischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass das Ausmaß bislang weitestgehend unbekannt ist, da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden und daher Untersuchungen zu Komorbiditätsraten bislang weitestgehend fehlen. Zum aktuellen Zeitpunkt sind ähnliche Komorbiditätsraten wie bei den somatoformen Störungen anzunehmen.
2.2.2 Psychische Komorbidität bei funktionellen Syndromen
Auch bei den meisten funktionellen Syndromen wurde die psychische Komorbidität untersucht. Für die Rate von Depressionen bei Chronic Fatigue Syndrome finden sich Werte zwischen 19-37 % (Prins et al. 2005), bei Fibromyalgie sind es 62—86 % (Arnold 2008) und beim Reizdarmsyndrom 27-60 % (Folks 2004). Bei den komorbiden Angststörungen sind es entsprechend 13–20 % bei Chronic Fatigue Syndrome (Prins et al. 2005), 26-60 % bei Fibromyalgie (Arnold 2008), 44 % beim Reizdarmsyndrom (Folks 2004).
Interessanterweise findet sich eine psychische Komorbidität bei den funktionellen Syndromen insgesamt häufiger als bei vergleichbaren somatisch definierten Erkrankungen (z. B. Fibromyalgie vs. rheumatoide Arthritis, Reizdarm vs. Morbus Crohn / Colitis ulcerosa; Arnold 2008; Henningsen et al. 2003; Henningsen et al. 2007). Bezüglich der eingeschränkten Funktionalität im Alltag sowie der niedrigeren Lebensqualität sind die Gruppen jedoch gleichermaßen betroffen (Joustra et al. 2015).
Die Komorbidität einzelner funktioneller Syndrome untereinander, d. h. das gleichzeitige Erfüllen der Kriterien mehrerer Einzelsyndrome, ist mit ca. 50 % (10-80 %) ebenfalls als hoch anzusehen. Die Zahlen sind stark von den jeweiligen Syndromdefinitionen und Patientenstichproben abhängig, aber auch in Bevölkerungsstichproben nachweisbar.
2.2.3 Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen
Die Frage nach somatischen Komorbiditäten erhält im Zusammenhang mit den DSM-5- und ICD-11-Diagnosen der somatischen Belastungsstörung, bei der die Ätiologie der Körperbeschwerden für die Diagnosestellung keine Rolle mehr spielt, eine neue Wichtigkeit.
somatoforme Störungen als „Ausschlussdiagnosen“
Die somatoformen Störungen nach DSM-IV und ICD-10 wurden als „Ausschlussdiagnosen“ angesehen, d. h., eine vorliegende organische Erkrankung schließt die Diagnose einer somatoformen Störung mehr oder weniger aus, zumindest wenn dieselben oder ähnliche Beschwerden im Vordergrund stehen. Ein wesentliches Merkmal der somatoformen Störungen sind unklare körperliche Beschwerden, wobei „unklar“ bedeutet, dass durch medizinische Untersuchungen keine körperliche Ursache festgestellt werden konnte, die das Ausmaß der Beschwerden ausreichend erklärt. Von einer klaren Dichotomie „organisch“ versus „nichtorganisch bedingt“ kann jedoch auch hier nicht ausgegangen werden, da auch bei den somatoformen Störungen nach DSM-IV oder ICD-10 die betreffenden Symptome organisch mitverursacht sein können. Nach der ICD-10 sind Symptome z. B. auch dann als „somatoform“ zu werten, wenn die zugrunde liegende körperliche Erkrankung nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundenen sozialen Einschränkungen erklären kann (Kleinstäuber et al., 2016).
Beispiel für eine somatoforme Symptomatik mit somatischen und psychischen Faktoren
Die Patientin beschreibt einen seit etwa 20 Jahren bestehenden und stark ausgeprägten „Ganzkörperschmerz“. Vorbeschrieben sind diagnostisch eine zervikale Stenose mit Zervikalsyndrom (Einengung des Wirbelkanals im Halsbereich, die mit Beschwerden einhergeht) und eine chronische Lumbago (chronische Schmerzen im unteren Rücken). Es bestehen diverse psychosoziale Belastungsfaktoren (Tod des Vaters, Eheprobleme) sowie biografisch belastende Lebensereignisse. Die Stimmungslage der Patientin ist gedrückt, sie fokussiert stark auf die Schmerzen und orientiert ihren Alltag daran. Bisherige orthopädische und physiotherapeutische Behandlungen waren wenig entlastend.
Die angemessene organmedizinische Abklärung der Symptomatik ist dabei Aufgabe des Haus- oder Facharztes. Da die Interpretation medizinischer Befunde vom Fachwissen, der Erfahrung und der Einschätzung und Interpretation der Ärztinnen und Ärzte abhängig ist und sich zudem das medizinische Wissen durch neue Forschungsergebnisse ständig aktualisiert und erweitert, ist die Unterscheidung „organisch bedingter“ versus „nicht organisch bedingter“ Körperbeschwerden tatsächlich nur schwer zu treffen (Kap. 5). Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit der Diagnosekategorie der somatoformen Störungen immer wieder bemängelt, dass eine klare Trennung zwischen „körperlich“ und „psychisch“ auch angesichts der schwachen Zusammenhänge zwischen pathophysiologischen Veränderungen und subjektiven Beschwerden wenig haltbar ist (Mayou et al. 2005).
In den aktuellen Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 wurde mit der Diagnose der somatischen Belastungsstörung diese Dichotomie entsprechend verlassen; die Ätiologie der Körpersymptome spielt nun für die Diagnosestellung keine Rolle mehr.
somatische Erklärbarkeit nicht mehr relevant
In Fällen, bei denen Patientinnen und Patienten mit einer somatisch definierten Diagnose auch die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung erfüllen, können beide Erkrankungen parallel diagnostiziert werden (APA 2013). Der Schlüssel zur Entscheidung, ob bei einem Patienten oder einer Patientin mit einer definierten somatischen Erkrankung auch eine somatische Belastungsstörung vorliegt, liegt in der Feststellung, ob die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen auf die medizinische Erkrankung bzw. die damit assoziierten Symptome im Vergleich zu den meisten anderen Patientinnen und Patienten mit dieser medizinischen Erkrankung übertrieben, übermäßig oder dysfunktional erscheinen.
Relevanz psychischer Reaktionen auf Symptome
Funktionseinschränkungen (z. B. zwischenmenschliche, berufliche und körperliche Beeinträchtigungen) sind bei Patientinnen und Patienten mit einer medizinischen Erkrankung und zusätzlich vorliegender somatischer Belastungsstörung in der Regel größer als bei Patientinnen und Patienten, bei denen alleine die medizinische Erkrankung vorliegt (Levenson et al. 2018).
Beispiel für eine somatische Belastungsstörung bei organmedizinischer Komorbidität
Bei der Patientin (43 J.) wurde vor drei Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Sie wurde leitliniengerecht durch eine Operation, Strahlen- und Chemotherapie behandelt und befindet sich aktuell in einer antihormonellen Anschlusstherapie mit einem Aromatasehemmer. Dabei beklagt sie Gelenkschmerzen, die Nebenwirkungen dieser Medikation sein könnten, aber auch andere Körperbeschwerden wie starke Kopfschmerzen. Gleichzeitig hat sie große Sorge bezüglich einer Wiedererkrankung. Die Krankheitsängste sind nahezu immer vorhanden und belasten ihren Alltag.
Bezüglich der somatischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen lassen sich bisher keine gesicherten Angaben machen. Da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden, gibt es bisher noch keine ausreichende Datenbasis für die Schätzung von Komorbiditätsraten. Aus dem Bereich der somatoformen Störungen lassen sich Ergebnisse nur schwer übertragen, weil diese noch auf dem Prinzip der „Ausschlussdiagnostik“ organischer Erkrankungen beruhen.
Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass die Zuverlässigkeit der von Patientinnen und Patienten selbst angegeben Diagnosen bezogen auf ihre aktuellen Beschwerden wie auch von Erkrankungen in der Vorgeschichte kaum untersucht ist.
Einer ersten kleineren Studie mit Patientinnen und Patienten aus der Neurologie zufolge, konnten nur 22 % der angegebenen früheren Vorerkrankungen bestätigt werden, wenn die Patienten an „unerklärten Beschwerden“ litten, aber 80 %, wenn die Beschwerden tatsächlich organmedizinisch erklärt werden konnten (Schrag et al. 2004).
Möglicherweise sind also eigenanamnestische Angaben von Patientinnen und Patienten mit „unerklärten Körperbeschwerden“ eher unpräzise.
körperliche und psychische Belastungen erfragen
Die aktuelle AWMF-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) empfehlen Behandlerinnen und Behandlern daher, während der Anamnese immer auch gegenüber versteckten Hinweisen auf körperlich oder psychisch wirkende Belastungen aufmerksam zu sein und gegebenenfalls aktiv nachzufragen (Müller et al. 2000; Salmon et al. 2004; Epstein et al. 2006). Damit gilt es nicht zuletzt zu vermeiden, dass komorbide psychische Erkrankungen übersehen werden und Fehldiagnosen gestellt werden, die zu weiteren Belastungen und gefährlichen Krankheitsverläufen führen können (Kouyanou et al. 1997; Page / Wessely 2003).
2.2.4 Suizidalität bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden
Vor allem bei Patientinnen und Patienten mit einer schwereren Belastung durch funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden sollte ein erhöhtes Suizidrisiko beachtet werden. Lange Zeit wurde das Risiko dieser Patientinnen und Patienten für Suizidgedanken und eine latente oder manifeste Suizidalität eher unterschätzt.
Aktuelle Studienergebnisse belegen aber, dass bei etwa 50 % der Patientinnen und Patienten passive Todeswünsche vorkommen, konkrete Suizidgendanken bei rund einem Drittel und sogar 13-18 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen einen früheren Suizidversuch berichten (Wiborg et al. 2013; Kämpfer et al. 2016; Guipponi et al. 2017).
Risikofaktoren für Suizidalität
Als spezifische Risikofaktoren gelten dabei eine lange Beschwerdedauer, eine hohe Beschwerdeintensität, eine hohe Belastung durch die Beschwerden und die Art und Anzahl der Beschwerden und Komorbiditäten, wobei Patientinnen und Patienten mit depressiven Begleiterkrankungen besonders gefährdet sind (Wiborg et al. 2013). Auch Einschlafstörung und ein Katastrophisieren der Symptome gelten als Risikofaktoren (Tang / Crane 2006). Am besten untersucht ist der Zusammenhang zwischen Suizidalität und chronischen Schmerzen. Diese stellen für sich genommen einen Risikofaktor für Suizidalität dar (Fishbain 1999; Ilgen et al. 2010). Neben diesen spezifischen Risikofaktoren gelten selbstverständlich auch bei funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden die allgemeinen Risikofaktoren für Suizidalität. Dazu gehören weibliches Geschlecht, eine schwere Depression, Hoffnungslosigkeit, Konkretheit der suizidalen Vorstellungen, Vorbereitungen zur Suizidhandlung, ein vorangehender Suizidversuch, Suchtverhalten sowie Suizidalität in der Familienanamnese (Fishbain et al. 2009; Tang / Crane 2006; Smith et al. 2004).
Grundsätzlich sollte bei allen Patientinnen und Patienten mit somatoformen oder spezifischen funktionellen Syndromen immer eine mögliche Suizidalität im Rahmen ärztlicher / therapeutischer Konsultationen beachtet werden.
Retrospektive Daten von n=29 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach strukturiertem klinischen Interview für DSM-IV (SKID-I); Kap. 5) aus einer psychiatrischen Ambulanz in Norwegen zeigten bei 28 % eigenanamnestischen Angaben zufolge einen Suizidversuch in der Vergangenheit. Bei n=91 Patientinnen und Patienten ohne somatoforme Diagnose lag diese Rate bei 11 %, und zwar auch nach Kontrolle für depressive Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen (Chioqueta / Stiles 2004). In einer amerikanischen Studie aus einer psychiatrischen Praxis, die n=54 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach DSM-III-Kriterien) und sekundärer Depression im Vergleich mit n=29 Patientinnen und Patienten mit primärer Depression verglich, fanden sich bezogen auf die Lebenszeit bei 83 % versus 59 % passive Suizidgedanken, bei 80 % versus 55 % aktive Suizidgedanken und bei 65 % versus 31 % Suizidversuche. Multiple Suizidversuche lagen dabei bei 41 % der Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung und lediglich 3 % der Patientinnen und Patienten mit primärer Depression vor (Morrison / Herbstein 1988).
Bevölkerungsbasierte Studien belegen auch bei Fibromyalgie ein erhöhtes Risiko für Suizidgedanken, -versuche und tatsächlich vollzogene Suizide (Calati et al. 2015; Lan et al. 2016). Zwei prospektive Kohortenstudien konnten zeigen, dass die somatische Mortalität bei Patientinnen und Patienten mit Fibromyalgie nicht erhöht ist, jedoch die Suizidrate. Im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung war bei Fibromyalgie die Odds Ratio (OR, Chancenverhältnis) für die altersstandardisierte Suizidmortalität erhöht; hier finden sich Zahlen aus Dänemark (n=1361; OR=10,5; 95 % CI: 4,5–20,7; Dreyer et al. 2010), und den USA (n=8186; OR=3,31; 95 % CI: 2,15–5,11; Wolfe et al. 2011).
Im Bereich Chronic Fatigue Syndrome lassen sich ähnliche Ergebnisse finden. Bei n=166 Verstorbenen mit der Diagnose eines Chronic Fatigue Syndrome in der Vorgeschichte wurde neben den Todesursachen Herzversagen (20 %) und Krebs (19 %) als häufige Todesursache auch der Suizid mit 20 % beschrieben (Jason et al. 2006). In einer Follow-up-Erhebung von bis zu 14 Jahren erhöhte eine gleichzeitig vorliegende Major Depression die Suizidrate bei Chronic Fatigue Syndrome signifikant (Smith et al. 2006).
Beim Reizdarmsyndrom besteht ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Suizidalität, wobei dieses teilweise etwas geringer ist als bei anderen chronischen abdominellen Schmerzen (Spiegel et al. 2007). In einer retrospektiven Kohortenstudie aus Großbritannien, in der Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom mit Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung verglichen wurden, fanden sich jedoch bezogen auf die Lebenszeit bei insgesamt 19 % der Patientinnen und Patienten mit Reizdarm im Vergleich zu 15 % der Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen aktive Suizidgedanken. Suizidversuche berichteten insgesamt 2 % aller Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom und 1 % der Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung (Miller et al. 2004).
mögliche Erklärungen erhöhter Suizidalität
Als mögliche Erklärungen der Suizidalität lassen sich vor allem eine beschriebene Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit bezüglich der Symptomatik nennen, aber auch der Wunsch, den Symptomen zu entkommen, sowie ein dysfunktionales Problemlöseverhalten, wie z. B. Vermeidungstendenzen (Miller et al. 2004, Tang / Crane 2006).
Generell sucht die Mehrzahl der Patientinnen und Patienten vor einem Suizid Kontakt zum Gesundheitssystem (Luoma et al. 2002). Um diese gefährlichste Komplikation also auch bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden nicht zu übersehen und die Patientinnen und Patienten gut zu schützen, muss Suizidalität bedacht, durch Screeningfragen erfasst und in einem Gespräch überprüft werden. Gegebenenfalls müssen Handlungsmaßnahmen abgeleitet werden (Empfehlung der AWMF-Leitlinie; Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018).
hilfreiche Maßnahmen bei Suizidalität
Dabei können verschiedene Maßnahmen hilfreich sein. Zunächst gilt es, die aktuelle Phase und Ausprägung der Suizidalität bei einem Patienten / einer Patientin abzuschätzen. Das Spektrum reicht dabei von passiven Todeswünschen, über aktive Suizidgedanken, Suizidpläne, Suizidvorbereitungen und Suizidversuche bis hin zum Suizid.
Stadien der Suizidalität
Wichtig ist, diese Stadien der Suizidalität zu kennen und konkrete Nachfragen zu stellen, um sie eruieren zu können (Tab. 2.3).
Tab. 2.3: Phasen (nach Pöldinger 1968) und geeignete Fragen zur Abklärung (nach Leitlinie, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) von Suizidalität
Phasen / Ausprägung der Suizidalität | Fragen zur Abklärung |
1.Passive Suizidalität Wunsch nach Ruhe, Pause, Unterbrechung im Leben (mit bewusstem Risiko bzw. Inkaufnahme von Versterben) | ■Hatten Sie in letzter Zeit das Gefühl, dass das Leben nicht lebenswert ist?■Wären Sie lieber tot? |
2.Suizidphantasien (zunehmender Handlungsdruck) Todeswunsch (jetzt oder in Zukunft lieber tot sein zu wollen) | ■Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen?■Haben Sie in dieser Situation schon einmal lebensmüde Gedanken gehabt?■Haben Sie daran gedacht, sich etwas anzutun? |
3.Suizidideen (zunehmendes Handlungsrisiko) | ■Haben Sie schon daran gedacht, ihre Gedanken umzusetzen, sich also wirklich das Leben zu nehmen? |
4.Suizidabsicht (akute Suizidalität) (mit / ohne konkrete Planung, mit / ohne Ankündigung) | ■Klarheit und Persistenz der Suizidgedanken: Drängen sich diese Gedanken bisweilen auf, ohne dass Sie das möchten? (sich aufdrängende unkontrollierbare Gedanken sind bedrohlich)■Wie groß schätzen Sie selbst die Gefahr im Moment ein, diese Gedanken umsetzen zu müssen? (Eine momentane Distanzierung führt zu mehr Behandlungsspielraum; liegt keine Distanzierung vor, muss die Behandlung und der Schutz der Patientin / des Patienten unmittelbar eingeleitet werden)■Konkrete Vorbereitungen: Haben Sie sich überlegt, wie Sie es tun würden? Haben Sie bereits Vorbereitungen getroffen? Wenn ja, welche? (Das Risiko ist umso größer, je konkreter diese Vorstellungen und Planungen sind, daher auch Verfügbarkeit der Mittel wie Medikamente oder Waffen prüfen) |
5.Suizidhandlung | |
Abklärung weiterer Risikofaktoren■Halten Sie Ihre Situation für aussichts- und hoffnungslos?■Gab es Suizidversuche in der Vorgeschichte?■Gibt es eine Familienanamnese von Suizidhandlungen?■Ankündigung: Haben Sie schon mit jemandem über Ihre Suizidabsichten gesprochen? (Suizide werden zumeist angekündigt; solche Ankündigungen müssen ernst genommen werden)■Sind sie sozial eingebunden oder aktuell sehr zurückgezogen?■Sie sagen, dass zurzeit keine Gefahr besteht, was hält sie konkret davon ab? Was spricht dafür, weiterzuleben? (Bei konkreten Suizidabsichten wirken übliche Haltestrukturen nicht mehr; wie etwa familiäre Bindungen, religiöse Überzeugungen etc.) |
Bei latenter Suizidalität ohne drängende bzw. konkrete Suizidabsicht kann ein so genannter Anti-Suizid-Pakt hilfreich sein. Bei diesem vereinbart der Patient / die Patientin per Handschlag mit dem Arzt / der Ärztin, bis zu einem nächsten, zeitnah vereinbarten Termin nichts zu unternehmen, was das eigene Leben in Gefahr bringen könnte, bzw. sich bei akuter werdenden Suizidgedanken an eine Psychiatrie oder einen Kriseninterventionsdienst zu wenden. Hilfreich sind dabei der Einbezug zwischenmenschlicher Kontakte (Angehörige und / oder Freundinnen und Freunde), aber auch das Informieren und ggf. Bereitstellen von Informationsmaterial über lokale und überregionale Krisenhilfen. Häufig bringt dies schon eine deutliche Entlastung für die Patientinnen und Patienten.
Im Notfall (bei akuter Selbstgefährdung) sollte eine fachpsychiatrische oder auch richterliche Einschätzung erfolgen. Gegebenenfalls, wenn auch eher selten, kann dies zu einer psychiatrischen Unterbringung auf einer geschützten Station auch gegen den Willen des Patienten / der Patientin führen.
2.3 Verlauf und Prognose
Die Art bzw. Lokalisation körperlicher Beschwerden ist äußerst vielgestaltig (Schmerzen, Herzrasen, Schwindel, Durchfall, Schwächegefühl, Müdigkeit etc.). Manche Patientinnen und Patienten klagen über eine einzelne, andere über mehrere verschiedene Körperbeschwerden. Das Ausmaß der Symptome reicht von leichten Befindlichkeitsstörungen mit geringer Funktionseinschränkung bis hin zu ausgeprägten Beschwerden mit bleibenden Einschränkungen und Behinderungen. Die Beschwerden können episodisch, mit oder ohne direkten Auslöser, auftreten oder anhaltend sein und chronifizieren (Olde Hartman et al. 2009; Henningsen et al. 2018).
Viele Beschwerden sind selbstlimitierend, d. h., sie verschwinden im Sinne von vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen von selbst, oder es genügen einfache Verhaltensänderungen oder Hausmittel zur Besserung. Bei ca. 20–50 % der Patientinnen und Patienten, die mehrere Körperbeschwerden aufweisen und bei denen bereits die diagnostischen Kriterien für eine somatoforme Störung erfüllt sind, sind die Beschwerden jedoch anhaltend (Lieb et al. 2002; Jackson / Kroenke 2008; Steinbrecher / Hiller 2011; Budtz-Lilly et al. 2015). Die Beschwerden bestehen dann auch ein Jahr nach der ersten Präsentation weiter und führen zu dauerhaften Beeinträchtigungen. 34 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Schmerzen erfüllten auch nach 11 Jahren noch die Kriterien der Störung (Leiknes et al. 2007).
In einem systematischen Review zu Studien mit Patientinnen und Patienten mit Chronic Fatigue Syndrome fand sich ein Median von 39,5 % (CI: 8–63 %), die sich im Verlauf der Zeit (max. 44 Monate) in ihrer Symptomatik verbesserten und lediglich 5 % (CI: 0–31 %) erreichten ihr früheres Leistungsniveau (Cairns / Hotopf 2005).
Prädiktoren für chronische Verläufe
Unabhängig von der konkreten Diagnose (somatoforme Störung oder funktionelles Syndrom) sind die Anzahl der Beschwerden und gleichzeitig bestehende katastrophisierende Interpretationen die wichtigsten Prädiktoren für einen chronischen Verlauf.
Eine hohe Anzahl von Beschwerden ist mit psychiatrischer Komorbidität, funktioneller Beeinträchtigung und vermehrter medizinischer Inanspruchnahme verbunden (Kroenke et al. 1994; Jackson et al. 2006; Olde Hartman et al. 2009; Escobar et al. 2010; Tomenson et al. 2013; Creed et al. 2012; Kingma et al. 2013; Woud et al. 2016; Boeft et al. 2016; Rosendal et al. 2017). Rosendal und Kollegen schlagen anhand der Menge, der Lokalisation und der Häufigkeit / Dauer der Beschwerden („multiple symptoms, multiple systems, multiple times“) eine einfache Prognoseeinschätzung vor (Rosendal et al. 2017).
Typischerweise entwickeln sich somatoforme Beschwerden bereits in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und halten dann oft über die gesamte Lebensdauer an (Scher et al. 2014). In einer bevölkerungsbasierten Studie mit jungen Erwachsenen fanden sich bei 5 % der Befragten anhaltende Körperbeschwerden und mit diesen verbundene katastrophisierende Gedanken und Ängste (Geelen et al. 2015).
Risikofaktoren für die Entwicklung somatoformer Störungen
Als Risikofaktoren, die wahrscheinlich eine Rolle bei der Entwicklung somatoformer Störungen spielen, weil es zumindest einige empirische Evidenz gibt, gelten (APA 2013; Creed / Barsky 2004; Scher et al. 2014; Eberhard-Gran et al. 2007; Roelofs / Spinhoven 2007; Paras et al. 2009; Creed et al. 2012; Afari et al. 2014):
■weibliches Geschlecht,
■wenige Ausbildungsjahre,
■ein niedriger sozioökonomischer Status oder andere soziale Stressfaktoren,
■chronische Erkrankungen in der Vorgeschichte (im Kindesalter),
■eine Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch oder andere Traumata in Kindheit oder Erwachsenenalter,
■gleichzeitig bestehende allgemeinmedizinische Erkrankungen (insbesondere bei älteren Patienten),
■gleichzeitig bestehende psychische Störungen (insbesondere depressive oder Angststörungen),
■eine familiäre Häufung chronischer Erkrankungen.
Die Lebenserwartung scheint dabei, abgesehen von einem erhöhten Suizidrisiko (Abschn. 2.2.4) bei somatoformen Störungen normal zu sein, einzelne Studien berichten sogar von einer niedrigeren Mortalität (Hatcher et al. 2011).
Obwohl der Krankheitsverlauf bei somatoformen Störungen oft chronisch ist, ist die Symptomatik durchaus variabel und schwankend, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Art und Lokalisation als auch im Hinblick auf ihr Ausmaß, ihren Schweregrad und ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Bei ca. 50 % der Patientinnen und Patienten tritt im Verlauf des ersten Jahres nach Diagnosestellung eine Besserung oder Remission der Körperbeschwerden auf (Levenson et al. 2018).
Remissionsraten
Laut einer systematischen Übersichtsarbeit aus dem Hausarztsetting mit Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung (insgesamt n=762) berichteten im Verlauf von 6–15 Monaten rund 50–75 % der Patientinnen und Patienten über eine Besserung ihrer Beschwerden, bei 10-30 % kam es jedoch zu einer Verschlechterung (Olde Hartman et al. 2009). Auch eine weitere Untersuchung ergab, dass sich 50 % oder mehr der Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung innerhalb eines Jahres von der Diagnose erholten (Creed / Barsky 2004).
Eine prospektive Studie mit n=32 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung mit einer Somatisierungsstörung ergab, dass 78 % die Kriterien für die Erkrankung nach fünf Jahren nicht mehr erfüllten, wobei einige Patientinnen und Patienten weiterhin ein oder zwei belastende Symptome berichteten (Jackson / Kroenke 2008).
Dazu ist generell anzumerken, dass Verbesserung oder Remission in diesen Studien nicht bedeutet, dass sich alle Symptome vollständig gebessert haben. Darüber hinaus können Patientinnen und Patienten auch nach Besserung später einen Rückfall erleiden und dann erneut die Störungskriterien erfüllen (Levensen et al. 2018). Manchmal treten nach Besserung oder Überwindung bestimmter Beschwerden stattdessen andere Symptome auf.
Alle Studienergebnisse deuten darauf hin, dass eine größere Anzahl von somatischen Symptomen zu Beginn der Beobachtung im weiteren Verlauf weniger wahrscheinlich mit einer Verbesserung einhergeht (Creed / Barsky 2004; Jackson / Kroenke 2008). Andere Faktoren, die möglicherweise einer Verbesserung entgegenstehen, sind ein höheres Alter, eine ausgeprägte Beeinträchtigung und komorbide Angst und Depression (Creed / Barsky 2004), sowie maladaptive Persönlichkeitszüge wie Vermeidungsverhalten und eine geringe Kooperationsbereitschaft (Jackson / Kroenke 2008).
2.4 Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen (und somatischen Belastungsstörungen) haben körperliche Symptome, die von übermäßigen oder unverhältnismäßigen emotionalen und verhaltensbedingten Reaktionen begleitet werden. Sie nehmen daher häufig mehr Gesundheitsversorgung in Anspruch als andere Patientinnen und Patienten (APA 2013).
Eine Sichtung von Patientendaten aus neun bevölkerungsbasierten Studien (insgesamt n >28.000) ergab, dass auch nach der Kontrolle von Alter, allgemeinen medizinischen Erkrankungen, Angst und Depression eine höhere Anzahl belastender somatischer Symptomen mit einer vermehrten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems verbunden war (Tomenson et al. 2013).
Eine retrospektive Studie untersuchte die Nutzung von Gesundheitsleistungen bei mehr als 1500 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung und kontrollierte sie ebenfalls auf potenziell konfundierende Faktoren wie Alter, Angststörungen, depressive Störungen und allgemeine medizinische Erkrankungen. Krankenhausaufenthalte, Besuche in der Notaufnahme, Besuche beim Hausarzt, Facharztbesuche und ambulante Eingriffe in den letzten 12 Monaten waren bei Patientinnen und Patienten mit belastenden Körperbeschwerden jeweils höher als bei Patientinnen und Patienten ohne belastende somatische Symptome (Barsky et al. 2005).
In einer repräsentativen Stichprobe aus Hongkong (n >3000) war eine höhere Anzahl beunruhigender Körperbeschwerden und erhöhter Krankheitsangst jeweils unabhängig voneinander mit einer höheren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen verbunden (Lee et al. 2015). Personen mit hoher somatischer Symptombelastung und zusätzlich hoher Gesundheitsangst zeigten dabei die höchste Inanspruchnahme und auch die größten Einbußen bezüglich des Funktionsniveaus. Daten aus einer repräsentativen Stichprobe aus Australien (n >8000) ergaben ebenfalls einen hohen Zusammenhang zwischen Krankheitsangst und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Sunderland et al. 2013).
In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass innerhalb eines Monats 800 von 1000 Menschen körperliche Beschwerden verspürten, 327 irgendeine Art medizinischer Hilfe aufsuchten, 217 sich ärztlich vorstellten (113 davon bei einem Allgemeinmediziner und 104 bei einem anderen Facharzt), 65 einen komplementär oder alternativmedizinischen Behandler aufsuchten, 21 sich in der Ambulanz eines Krankenhauses vorstellten, 14 zu Hause von Behandlern versorgt wurden, 13 sich in einer Notaufnahme vorstellten und 8 stationär in ein Krankenhaus aufgenommen wurden (Green et al. 2001; Hausteiner-Wiehle et al. 2013).
viele Patientinnen und Patienten bleiben lange unbehandelt
Patientinnen und Patienten mit funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden leiden bis zu 25 Jahre lang, bevor sie eine angemessene Behandlung erhalten (Herzog et al. 2018). Eine überwiegende Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden bleibt (zunächst) unbehandelt oder wird nicht entsprechend aktueller klinischer Leitlinien behandelt.
Viele Patientinnen und Patienten mit somatoformen Symptomen nehmen auch alternativmedizinische Leistungen in Anspruch, die sie z. T. als wirksam erleben, für die sich aber wenig wissenschaftliche Evidenz findet (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018). Obwohl Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen sowohl auf psychotherapeutische als auch auf pharmakologische Interventionen ansprechen, sind die Effekte aktueller Behandlungsmaßnahmen im Allgemeinen geringer als bei anderen psychischen Erkrankungen.
hohe direkte und indirekte Kosten
Hinsichtlich Prävention oder Früherkennung somatoformer Störungen finden sich aktuell leider nur wenige Ansätze. In der Folge führen beispielsweise Mehrfachdiagnostik, häufige Hospitalisierung und zahlreiche Krankheitstage zu hohen Kosten für die Sozialversicherungssysteme.
Da somatoforme oder funktionelle Körperbeschwerden trotz eines meist fehlenden körperlichen Befundes häufig mit Einschränkungen von Lebensqualität und Leistungsfähigkeit sowie einer hohen Komorbidität mit Depressionen und Angststörungen verbunden sind, gehen sie auch mit hohen indirekten Gesundheitskosten durch Krankheitstage und Produktivitätsverluste einher. Auch die direkten Gesundheitskosten sind bei diesen Patientinnen und Patienten deutlich erhöht: so verursachen sie im ambulanten Bereich im Mittel 14-fach höhere Kosten als die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Die stationären Kosten belaufen sich auf das Sechsfache (Abb. 2.3). Vor allem Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung gehören zu den so genannten „high utilizern“ des Gesundheitssystems (Hatcher et al. 2011; Konnopka et al. 2012; Mack et al. 2015; Boeft et al. 2016; Rask et al. 2017; Henningsen et al. 2018). Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten, die sich keiner multimodalen Behandlung unterziehen, werden nach drei Jahren aufgrund ihrer Symptome arbeitsunfähig (Kwan / Friel 2002). Im Jahr 2010 betrugen die Kosten für somatoforme Störungen (in Mrd. € Kaufkraftparitäten) in Europa 21,20 €. So ist die gesundheitliche Belastung durch somatoforme Störungen in Europa vergleichbar mit derjenigen durch Angst- und depressive Störungen (Jacobi et al. 2014).
Abb. 2.3: Somatoforme Störungen verursachen hohe Gesundheitskosten (Statistisches Bundesamt für das Jahr 2008)
2.5 Zusammenfassung
Anhaltende Körperbeschwerden sind weit verbreitet und stellen eine große Herausforderung für alle medizinischen Fachrichtungen dar. Unabhängig von ihrer Verursachung hat diese Art von Beschwerden erhebliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Patientinnen und Patienten sowie auf das Versorgungssystem, da es häufig zu Beeinträchtigungen im Alltag, zu begleitenden Krankheitsängsten und hohen Kosten durch medizinische Inanspruchnahme kommt.
2.6 Fragen zum 2. Kapitel
6. Wie hoch wird die 12-Monats-Prävalenz für somatoforme Störungen in der europäischen Allgemeinbevölkerung geschätzt (z. B. nach Wittchen et al., 2011)?
7. Welches sind die beiden häufigsten psychischen Komorbiditäten bei somatoformen Störungen?
8. Bei den somatoformen Störungen galt das diagnostische Kriterium der „medizinischen Unerklärbarkeit“ der belastenden Körperbeschwerden. Warum wurde dieses Kriterium bei der somatischen Belastungsstörung aufgehoben?
9. Welche Bedeutung hat Suizidalität bei Patientinnen und Patienten mit funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden?
10. Was sind Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf von belastenden Körperbeschwerden?
11. Was kennzeichnet das medizinische Inanspruchnahmeverhalten von Patientinnen und Patienten mit somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden?
12. Wodurch entstehen indirekte Gesundheitskosten durch Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen?