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KAPITEL EINS

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Mark sah in den Rückspiegel und schaltete den rechten Blinker ein. Er wollte dem Blick seines Alphas ausweichen, doch Newell starrte ihn unablässig aus kalten, grauen Augen an. Seine Wut und seine Enttäuschung waren förmlich greifbar. Mark hatte wirklich nicht die geringste Lust, aus dem Auto zu steigen. Newell würde ihn ganz sicher bestrafen, sobald sie angekommen waren, doch er konnte es nicht mehr hinauszögern. Nur noch einmal rechts abbiegen und sie wären wieder zu Hause beim Hauptquartier.

Mark wandte den Blick rasch nach vorn und konzentrierte sich auf die Straße.

Die Strafe wird sicher nicht so schlimm werden, versuchte er sich zu überzeugen. Er hatte nichts Falsches getan.

Die ganze Fahrt lang, vom „Regents Park“-Rudelhauptquartier bis hierher, hatte angespanntes Schweigen geherrscht. Obwohl der SUV ziemlich groß war, saßen sie eng zusammengedrängt. Er, Alpha Newell und zwei seiner Betas auf dem Rücksitz. Vielleicht fühlte er sich deshalb so unbehaglich.

Fuck, wem mache ich hier eigentlich etwas vor?

Das Treffen mit dem „Regents Park“-Rudel war absolut grauenhaft verlaufen und Mark hatte versehentlich alles noch viel schlimmer gemacht. All das nur wegen dieser verdammten Jacke. Newell war stinksauer geworden, als Mark ohne die Jacke zurück zum Auto gekommen war. Und seitdem hatte er nichts mehr gesagt.

Wes, Newells anderer Beta, saß neben Mark auf dem Beifahrersitz. Ab und zu spürte Mark seine stechenden Blicke auf sich, aber bisher hatte er es geschafft, ihnen auszuweichen. Von Sekunde zu Sekunde zerrte das Schweigen mehr an seinen Nerven. Nervöse Anspannung kribbelte in seinem ganzen Körper. Das Lenkrad würde sicher gleich zerbrechen, so fest, wie er es umklammerte. Das Schlimmste war, dass sicherlich alle im Auto seine Nervosität riechen konnten. Alphas und Betas waren geübt darin, subtile Gerüche zu erkennen. Angst zog seinen Magen zusammen, als er in die Parkgarage des Rudelhauptquartiers einbog. Ihr Hauptquartier bestand aus nur zwei Gebäuden, die um einiges kleiner waren als die Gebäude des Rudels von Regents Park.

Als Mark den Motor abstellte, fühlte sich das Schweigen so erdrückend an, dass es ihm geradezu in den Ohren dröhnte. Allen im Auto war klar, dass sie besser die Klappe halten sollten, bis sie Newells Stimmung besser einschätzen konnten. Als Alpha hatte er eiserne Kontrolle über seine Emotionen. Doch wenn man ihn verärgerte, wurde man vielleicht im nächsten Monat für die miesesten Jobs eingeteilt, oder man kassierte eine Ohrfeige. Bisher hatte Mark es immer geschafft, beides zu vermeiden. Er war in der Rangordnung des Rudels relativ weit unten und hatte daher nicht sehr viel Kontakt zu seinem Alpha. Das war ihm auch lieber so.

Als Newell sich räusperte, zuckte Mark zusammen. »Konferenzraum. Jetzt«, knurrte Newell.

Bevor Mark fragen konnte, ob dieser Befehl auch für ihn galt, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Fünf scharfe Klauen gruben sich durch den Baumwollstoff seines T-Shirts. »Du auch, Appleton.«

Fuck.

Newell wohnte seit einer Weile im obersten Stock. Zwei Wohnungen waren zusammengelegt worden, sodass er ein riesiges Apartment hatte. Mark war noch nie dort gewesen, er hatte nur davon gehört. Durch den Umbau befand sich der Konferenzraum jetzt jedenfalls einen Stock unter Newells Wohnung.

Sie marschierten die Stufen hinauf. Mark ging als Letzter, direkt hinter seinem Beta Jason. Als sie den Konferenzraum erreichten, forderte Jason ihn mit einem Nicken dazu auf, als Erster hineinzugehen.

Seit dem eskalierten Treffen mit dem „Regents Park“-Rudel hatte Mark noch keine Gelegenheit gehabt, mit Jason über alles zu sprechen. Jason konnte doch unmöglich etwas mit der Sache zu tun haben, die Alpha Harley ihnen vorwarf. Oder? Mark wollte einfach nicht glauben, dass jemand aus seinem Rudel etwas damit zu tun hatte. Aber Jason war sein Beta, Marks erste Ansprechperson für Probleme aller Art. Hatte Jason ihn wirklich bewusst zu diesem Treffen geschickt? Obwohl ihm gewesen klar war, dass er Mark dadurch vielleicht in Gefahr brachte? Der Gedanke hinterließ einen schalen Geschmack in seinem Mund und seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

Das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden schlitterte, riss Mark aus seinen Gedanken. Rasch hob er den Kopf und sah, wie Newell nun einen zweiten Stuhl quer durch den Raum kickte. Er zersplitterte an der gegenüberliegenden Wand, Holzstücke fielen zu Boden. Newell stieß ein lautes Brüllen aus. Mark sog scharf die Luft ein. Das war übel. Das war richtig übel. Am liebsten hätte er sich einfach schnellstmöglich aus dem Staub gemacht. Doch Jason legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn fest. Der feste Druck seiner Finger beruhigte Mark ein wenig, zumindest genug, um an Ort und Stelle stehen zu bleiben.

»Dieser verdammte Alpha lügt wie gedruckt«, knurrte Newell und begann im Raum auf und ab zu laufen. »Wofür hält er sich eigentlich? Er meldet mich ernsthaft beim Rat der Alphas, obwohl die Hälfte seines Rudels illegal verwandelt wurde? Und was zur Hölle hatte Nathan Kohl dort zu suchen? Wenn er zu meinem Rudel gehören würde, hätte ich ihm diesen illegalen Biss niemals durchgehen lassen. Aber nein, sein Alpha belohnt ihn mit gefälschten Papieren und einem verdammten Gefährten.«

Jason zog Mark aus Newells Reichweite, während die anderen beiden Betas sich im Hintergrund hielten. Keiner von ihnen schien besonders überrascht von Newells Verhalten zu sein.

Newells Blick landete auf Mark und er blieb abrupt stehen. Die Bindung zwischen einem Alpha und seinen Rudelmitgliedern wurde durch einen Biss besiegelt und durch gegenseitigen Respekt und Vertrauen aufrechterhalten. Nicht durch die panische Angst, die Mark jetzt durchströmte, als sein Alpha zwei Schritte auf ihn zuging und direkt vor ihm stehen blieb. Er versuchte, die Angst zu unterdrücken, doch es war sinnlos; sicher konnte jeder im Raum sie riechen. Aus dem Augenwinkel sah Mark, wie Wes feixte.

Newell legte die Hand seitlich auf Marks Hals. Sein Griff war fest, aber nicht bedrohlich. Noch nicht. »Ich hoffe, ich muss dir nicht erklären, dass Harley gelogen hat. Ich habe nie versucht, jemanden aus seinem Rudel zu töten oder in Gefahr zu bringen.«

Sofort musste Mark an Nathan denken. Newell hatte ihn beim Kampf gegen das abtrünnige Rudel als Köder benutzt. Ohne zu zögern. Doch diesen Gedanken behielt er für sich, während Newell mit seiner Tirade fortfuhr.

»Er misst dem Wort eines Abtrünnigen mehr Bedeutung bei als dem eines anderen Alphas … Obwohl der Abtrünnige Mitglieder aus seinem und meinem Rudel attackiert und getötet hat! Das ist eine Beleidigung, die ich nicht hinnehmen werde.« Er wartete, als würde er eine Reaktion erwarten.

Mark durchforstete fieberhaft sein Gehirn nach der richtigen Antwort. »Ja, Alpha«, sagte er schließlich.

Newell nickte nur kurz. »Und ich werde dir deinen Fehltritt mit der Jacke verzeihen. Dieses Mal. Doch in Zukunft wirst du keine Rudelangelegenheiten mehr ausplaudern. Hast du das verstanden?«

Mark hatte Seb, dem neuesten Mitglied des R-Rudels, von seiner neuen Jacke erzählt. Aber ihm war nicht klar gewesen, dass das als ‚Ausplaudern von Rudelangelegenheiten’ galt. »Ja, Alpha. Danke.«

Newell lächelte, doch es sah nicht besonders freundlich aus. »Ich habe dir und Will diese Jacken als Zeichen der Dankbarkeit unseres Rudels geschenkt. Wenn den Jacken irgendwelche Gerüche anhafteten, wusste ich nichts davon. Ich konnte nicht voraussehen, dass jemand aus Harleys Rudel dich wegen dieser Jacke attackieren würde. Das ist Harleys Problem, nicht meines. Und der Rat der Alphas wird das sicherlich auch so sehen.« Er hielt inne und sah zu Wes. Sie tauschten einen Blick aus, dann lächelte Newell wieder. »Wem hast du sonst noch davon erzählt?«

»Von den Jacken?«

Newell nickte.

»Äh … niemandem, glaube ich.« Sie hatten die Jacken erst heute Morgen bekommen. Dann waren sie direkt zum R-Rudel gefahren.

»Und Will? Hat Will etwas erzählt?«

»Ich …« Mark sah zu Jason. Woher sollte er wissen, ob Will jemandem davon erzählt hatte?

Jason trat neben ihn, sodass ihre Schultern sich berührten. »Will arbeitet heute Nacht in einem der Clubs. Er wird wahrscheinlich gerade schlafen, also hatte er vermutlich keine Gelegenheit, irgendjemandem davon zu erzählen.«

»Gut.« Newell richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Jason. »Sieh zu, dass das so bleibt.«

»Ja, Alpha.«

»Das gilt auch für dich.« Als Newell Mark ansah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkte nicht unbedingt freundlich, aber zumindest etwas weniger schroff. »Es ist nicht so, als habe ich etwas zu verbergen. Ja, anscheinend roch die Jacke nach dem abtrünnigen Rudel, aber das war ein unglücklicher Zufall. Zum Glück ist nichts passiert.«

Ich wäre fast getötet worden.

»Und zum Glück ist zumindest einer aus Harleys Rudel nicht völlig nutzlos.«

Alec.

Er hatte Mark das Leben gerettet.

»Der Rat der Alphas wird mit dem ganzen Rudel reden wollen. Je weniger Leute über diese Angelegenheit Bescheid wissen, desto besser ist das für uns.« Er wandte ihnen den Rücken zu. Das hieß sicher, dass sie entlassen waren.

Jason schien das ebenfalls so zu deuten, denn er bugsierte Mark in Richtung Tür.

Als Mark die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, fügte Newell noch etwas hinzu. »Jason, sieh zu, dass Mark sicher zu seiner Wohnung gelangt. Nach den Ereignissen heute wird er sicher Ruhe brauchen.«

Jason nickte. »Ja, Alpha.«

»Und dann komm zurück hierher. Wir haben viel zu besprechen.«

Mark und Jason verließen den Konferenzraum und gingen schweigend die Treppen hinunter. Die Wände hier waren zwar schallgedämpft, aber es bestand trotzdem die Möglichkeit, dass jemand sie hörte. Eigentlich wusste Mark sowieso nicht, was er sagen sollte.

Seine Wohnung lag im anderen Gebäude und sobald sie nach draußen traten, blieb Jason stehen, sah sich auf der Straße um und schien sich schließlich zu entspannen. Mark spürte ebenfalls, wie sich seine verkrampften Muskeln etwas lockerten. Die frische Luft tat gut nach der angespannten Atmosphäre drinnen. Doch er hatte so viele Fragen und Zweifel. Hier würde es zumindest niemand hören, wenn er den Mut fand, seine Fragen zu stellen.

Jason setzte sich in Bewegung und ging auf das andere Gebäude zu, jedoch langsamer als üblich. »Ich habe nicht viel Zeit. Er könnte Verdacht schöpfen, wenn ich zu lange brauche.«

Mark musste nicht fragen, wen er damit meinte. Doch … »Ist es also wahr? Was Alpha Harley ihnen vorwirft?« Ihnen. Er weigerte sich, Jason ebenfalls zu einem der Schuldigen zu erklären. Noch.

Jason seufzte und massierte sich die Schläfen. »Ich weiß es nicht. Fuck, ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Wir sollten gar nicht darüber sprechen. Erwähne es niemandem gegenüber, ja? Es geht um die Sicherheit des Rudels. Okay?« Er hielt Mark am Arm zurück. »Sprich auch nicht mit Will darüber.«

Mark schluckte. Will war sein bester Freund und sie erzählten sich normalerweise alles. »Okay.«

»Nur eine Sache: Falls an all dem wirklich etwas Wahres dran ist, musst du wissen, dass ich nicht mit drinstecke. Du kannst mir vertrauen, Mark. Ich würde dich nie in Gefahr bringen.« Er legte Mark eine Hand auf den Nacken und zog ihn an sich.

Jasons beruhigender Geruch hüllte ihn ein und beruhigte sofort seine flatternden Nerven. Wenn sein Alpha dasselbe getan hätte, wäre das Gefühl sicher völlig anders gewesen … Mark wusste, dass das nicht so sein sollte, ganz abgesehen davon, dass er noch so viele weitere Zweifel hatte. Er behielt diese Gedanken lieber für sich. »Was machen wir jetzt?«

»Du tust gar nichts, außer in deine Wohnung zu gehen und dort zu bleiben. Wie dein Alpha es gesagt hat.«

»Aber …«

»Deine Wohnung ist gerade der sicherste Ort für dich. Der Rat der Alphas wird bald mit den Ermittlungen beginnen, und wenn an Harleys Anschuldigungen wirklich etwas dran ist, dann werden sie es herausfinden. Niemand kann dem Rat etwas vormachen.«

Mark schüttelte sich. Wenn der Rat der Alphas jemanden eines Verbrechens überführte, konnten sie denjenigen so bestrafen, wie sie es für richtig hielten. Sogar mit der Todesstrafe.

Jason brachte ihn bis zu seiner Wohnung und verabschiedete sich mit dem Versprechen, morgen vorbeizuschauen und nach ihm zu sehen.

Mark war so erleichtert, wieder zu Hause zu sein, dass er an der Wand zusammensackte. Zum ersten Mal seit Stunden konnte er sich wieder einigermaßen entspannen. Was für ein beschissener Tag. Erst jetzt wurde ihm wirklich klar, dass er fast draufgegangen wäre. Seine Hände begannen zu zittern und er ballte sie angestrengt zu Fäusten. Das Adrenalin, das schon lange verebbt war, jagte nun wieder durch seine Adern. Er hatte die Gedanken die ganze Zeit weggeschoben.

Es ist nichts Persönliches.

Das hatte er sich die ganze Zeit gesagt. Der Geruch des feindlichen Rudels auf seiner Lederjacke hatte Tim Walters, den normalerweise stets gelassenen Arzt des R-Rudels, durchdrehen lassen. Das war nur ein Instinkt gewesen, der Instinkt, seinen Gefährten Seb zu beschützen. All das hatte nichts mit Mark zu tun.

Aber war es nur ein unglücklicher Zufall?

Newell konnte manchmal ein ziemlicher Arsch sein und die Hälfte des Rudels wusste insgeheim, dass er alles andere als ein guter Alpha war. Aber würde er wirklich das Leben eines Rudelmitglieds einfach so aufs Spiel setzen? Mark wollte es nicht glauben, aber warum sollte Alpha Harley lügen? Warum sollte er die Sache vor den Rat bringen, wenn er keine handfesten Beweise hatte? Der Rat kümmerte sich normalerweise nicht um Streitereien zwischen Rudeln, außer, es ging um sehr ernste Anschuldigungen. Falsche Anschuldigungen wurden ebenfalls hart bestraft. Niemand wollte den Rat der Alphas wütend machen. Nur ein Gedanke bewahrte Mark davor, durchzudrehen: Jason hatte mit der Sache nichts zu tun. Sein Beta war auf seiner Seite. Erst, als er sich das erneut vor Augen rief, hörten seine Hände endlich auf zu zittern.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Sein Herz begann wie wild zu rasen. Doch dann erkannte er den Geruch eines Familienmitglieds.

Harry.

Mark öffnete die Tür und erblickte seinen Cousin. Sein dunkelblondes Haar war wie immer völlig durcheinander, seine blauen Augen glänzten, als er lächelte und Mark eine Einkaufstüte entgegenhielt.

Mark zog ihn in eine Umarmung. »Solltest du nicht bei der Arbeit sein?«, fragte er. Ein weiterer Duft wehte ihm um die Nase und augenblicklich begann sein Magen zu knurren.

»Ich fahre gleich zur Arbeit, aber zuerst wollte ich dir das hier vorbeibringen.« Wieder streckte er Mark die Tüte entgegen. Sein Grinsen wurde breiter. »Er schmeckt einfach besser, wenn er noch warm ist.«

Mark griff nach der Tüte und schnupperte genüsslich. Der Apfelkuchen seiner Tante war sein absolutes Lieblingsdessert. Er sah zu Harry auf. »Ich bin überrascht, dass du ihn nicht aufgefuttert hast.«

»Ach, halt die Klappe. So etwas würde ich doch nie tun.«

Mark lachte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Harry genau das getan hatte.

Harry zuckte mit den Schultern. »Außerdem hat sie extra zwei Kuchen gebacken und mir gesagt, sie werde sich nächstes Mal vergewissern, dass du deinen auch wirklich bekommen hast.«

Das klang schon glaubwürdiger. »Wenn sie fragt, werde ich ihr sagen, dass du ein wundervoller Cousin bist.« Er trat zur Seite und bat Harry mit einer Geste hinein. »Hast du Zeit für einen Kaffee?«

Harry seufzte und sah zerknirscht aus. »Ich würde töten für einen Kaffee. Aber ich bin schon zu spät dran und will nicht, dass Wes es herausfindet.«

Fuck, nein. Mark gefiel es überhaupt nicht, dass Wes Harrys Beta war, aber man konnte es nicht ändern. Er zog Harry für eine weitere Umarmung zu sich heran und schob ihn dann sanft von sich. »Dann geh mal besser. Aber ruf mich doch später an, wir machen etwas aus. Vielleicht könnte ich ja mal wieder versuchen, uns etwas zu kochen.«

Harry lachte und wandte sich zum Gehen. »Ich bin mir nicht sicher, ob das so einladend klingt«, rief er noch über seine Schulter.

Mark sah ihm dabei zu, wie er um die Ecke bog, dann schloss er die Wohnungstür und versperrte sie.

Obwohl es erst vierzehn Uhr war, gähnte er. Sofort fielen ihm Newells Anweisungen wieder ein. Er hatte gesagt, dass Mark mit niemandem reden sollte. Shit, hoffentlich fand er nicht heraus, dass Harry da gewesen war. Mark wollte auf keinen Fall, dass Harry in die Sache hineingezogen wurde. In einem Punkt hatte Newell jedenfalls recht: Er brauchte dringend Ruhe. Da er ihm quasi befohlen hatte, die Wohnung nicht zu verlassen, konnte er ja ebenso gut das Beste draus machen.

Mark legte sein Handy auf den Nachttisch, zog sich die Jeans aus und verkroch sich unter der Bettdecke. Sein Kopf hatte kaum das Kissen berührt, als ihn der Schlaf auch schon überwältigte.

Als sein Handy vibrierte, schreckte Mark hoch. Immer noch halb schlafend, griff er danach. Er machte sich nicht die Mühe, aufs Display zu sehen. Nur wenige Leute hatten seine Nummer. Wenn jemand anrief, war es ziemlich sicher wichtig. Er drückte sich das Handy ans Ohr. »Hallo?«, fragte er, rollte sich auf den Rücken und gähnte.

»Liegst du im Bett?« Wills Stimme dröhnte so laut in seinem Ohr, dass Mark das Handy ein Stück weiter weg hielt.

»Ja.«

»Du fauler Sack.«

Mark gähnte erneut. Wenn er am Nachmittag einschlief, fühlte er sich nach dem Aufwachen immer richtig mies. Zumindest eine Weile. »Hey, dieser Morgen war einfach nur beschissen. Ich habe mir ein bisschen Ruhe verdient.« Die Worte waren ihm einfach entglitten, bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte.

Verdammte Scheiße.

Vielleicht würde Will nicht nachhaken.

»Deshalb rufe ich an. Ich habe ein paar Leute gefragt, was passiert ist. Aber niemand scheint es zu wissen. Normalerweise hört Newell gar nicht mehr auf zu labern, wenn er von einem Meeting mit Harley zurückkommt …«

»Pssst. Wo zur Hölle bist du?« Newell würde Will eine Woche lang Clubtoiletten putzen lassen, wenn er ihn so reden hörte. Und diesen Job hasste wirklich jeder.

»Ganz ruhig. Guck mal auf den Überwachungsmonitor, dann weißt du, wo ich bin.«

Mark warf einen Blick auf den Bildschirm, der an der Wand hing. Will stand vor seiner Wohnungstür und winkte in die Kamera.

»Warum hast du nicht an der Tür geklingelt?«

»Hab ich doch.«

»Oh.« Mark sah zu seiner geschlossenen Schlafzimmertür. »Shit, ich habe die Tür zugemacht. Kein Wunder, dass ich dich nicht gehört habe.« Die Schlafzimmer und die Badezimmer waren die einzigen völlig schalldichten Räume in den Wandlerwohnungen. Mark schloss die Schlafzimmertür normalerweise nur, wenn er Gesellschaft hatte oder wenn er sich einen runterholte.

Will lachte. »Ich will es gar nicht so genau wissen. Steh einfach auf und lass mich rein.«

Mit einem Ächzen rollte sich Mark aus dem Bett, trottete zur Wohnungstür und öffnete sie.

»Danke.« Will grinste und tätschelte ihm die Schulter, als er eintrat.

Sobald Mark die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, packte er Will am Arm und zog ihn durch seine Wohnung ins Schlafzimmer. Nur hier blieb ihr Gespräch auch tatsächlich privat.

Will nahm auf Marks ungemachtem Bett Platz und sah ihn halb verwirrt, halb neugierig an. »Du weißt, dass du nicht mein Typ bist, oder?«

Mark ignorierte das. »Du musst vorsichtiger sein. Wenn du solche Sachen sagst, obwohl dich jemand hören könnte, wirst du eines Tages richtige Probleme kriegen.«

Will verzog das Gesicht. »Wer soll mich schon hören? Die meisten Leute im Haus sind auf der Arbeit. Und den anderen ist es scheißegal, was ich sage. Es ist ja nicht so, als würde Wes hier wohnen. Oder jemand aus seiner Einheit.«

Gott, Mark hätte so gerne mit Will darüber geredet, ihm alles erzählt, was Alpha Harley heute Morgen gesagt hatte. Aber Jason hatte es ihm verboten. Es ging nicht nur um Wills Sicherheit, sondern auch um seine eigene. Außerdem wollte Mark nicht gegen die Befehle seines Betas handeln. »Bitte pass einfach auf, was du sagst, Will. Du weißt nie, wer dich hören könnte.«

Diesmal stand Will auf und ging auf Mark zu, der immer noch an der Tür lehnte. Er legte Mark eine Hand auf die Schulter. »Was ist denn los? Was ist heute Morgen beim Treffen mit dem R-Rudel passiert?«

Mark schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht darüber sprechen. Bitte frag nicht.«

»Ich habe vorhin Jason getroffen. Er hat mir gesagt, dass ich nichts über die Jacken erzählen solle, die Newell uns geschenkt hat. Angeblich, weil Newell normalerweise niemandem etwas schenkt und weil keiner es erfahren soll.« Er drückte Marks Schulter und suchte seinen Blick. »Ich fand das irgendwie seltsam. Jason war ungewöhnlich wortkarg. Ganz anders als sonst; er ist ja normalerweise so entspannt. Hat das etwas damit zu tun, was heute passiert ist?«

»Fuck, ich würde es dir so gerne erzählen, aber …«

»Aber du kannst nicht, ich verstehe schon.«

Es ist zu deiner eigenen Sicherheit. Ich will dich nicht in Gefahr bringen.

Will wandte sich um, ging zu Marks Bett und nahm wieder Platz. Dann rollte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Ich weiß nicht, was Newell damit erreichen will. Ich meine, das R-Rudel wird es doch sowieso erzählen, also wird es am Ende ohnehin rauskommen. Er sollte ein Rudeltreffen einberufen und seinem eigenen Rudel verdammt noch mal erzählen, was los ist, damit wir es nicht von jemand anderes erfahren müssen.«

Es war innerhalb ihrer Einheit kein Geheimnis, dass Will seinem Alpha keinen Respekt entgegenbrachte. Die sechs Wandler unter Jason waren miteinander eng befreundet und Mark hätte allen von ihnen sein Leben anvertraut. Zum Glück war Will aber schlau genug, niemandem außerhalb ihrer Einheit auf die Nase zu binden, was er von Newell hielt.

Mark setzte sich neben ihn und stützte sich auf den Ellbogen. Er rief sich in Erinnerung, welche Mitglieder des R-Rudels heute da gewesen waren, wer Alpha Harleys Anschuldigungen mitbekommen hatte. Nathan würde sicher kein Stillschweigen über die Sache bewahren, außer man befahl es ihm. Er hasste Newell, aus gutem Grund. »Es war Jason, der mir befohlen hat, nicht darüber zu reden.«

»Oh?«

»Ja. Ich weiß nicht, wieso. Es ist, wie du gesagt hast: Am Ende wird ja sowieso alles rauskommen.«

Besonders, wenn der Rat der Alphas hier auftaucht und Fragen stellt.

»Aber ich bin mir sicher, Jason hat seine Gründe.«

»Schon gut.« Will schwieg für einen Moment, dann pikste er Mark in die Seite. »Das heißt, was auch immer passiert ist, es war richtig übel?«

Mark seufzte und versuchte erneut, nicht daran zu denken, dass er heute fast gestorben wäre. »Ja, das war es.« Sein Gedankengang endete unweigerlich wieder bei dem Wandler aus dem R-Rudel, der ihm das Leben gerettet hatte: Alec Knight. Groß, finster, bedrohlich. Mark war 1,80 m, also nicht gerade klein. Dennoch war Alec sicher einen Kopf größer als er. Alec war zwar nicht so durchtrainiert wie andere Wandler, sondern eher schlank, aber seine breiten Schultern ließen keinen Zweifel daran, wie stark er war. Unweigerlich begann Mark wieder zu beben, als er sich an die Situation erinnerte. Alec hatte keinen Augenblick gezögert. Er hatte sich so blitzschnell bewegt … Und er hatte es wirklich geschafft, einen frisch verbundenen Wandler aufzuhalten, dessen Beschützerinstinkt zugeschlagen hatte. Ja, er hatte Hilfe gehabt, aber trotzdem …

»Woran zur Hölle denkst du gerade?«

Mark blickte zu Will und sah, dass er missbilligend die Nase kräuselte. »Was denn?«

»In unserem Rudel geht alles drunter und drüber, wie kannst du da an Sex denken?«

»Ich habe nicht an Sex gedacht!« Doch Marks Proteste stießen auf taube Ohren.

Will tippte sich an die Nase. »Lügner. Als ob ich das nach all den Jahren nicht merken würde. Es ist zwar ein subtiler Geruch, aber ich rieche es trotzdem.«

Mark zuckte mit den Schultern. »Dann solltest du auch wissen, dass ich nichts dafür kann, was mir so durch den Kopf geht.«

Will musterte ihn eingehend. »Wir haben nicht unbedingt über ein Thema geredet, das solche Gedanken rechtfertigen würde. Außer …« Seine Augen leuchteten auf, als hätte er gerade eine Erkenntnis. »Aaah, jetzt verstehe ich.«

»Was? Da gibt es nichts zu verstehen.«

Will streckte Mark den Zeigefinger entgegen und grinste breiter. »Auch wenn du mir nicht erzählen darfst, was heute passiert ist, ich kann ja trotzdem raten, wer da war.«

Mark bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, doch Will redete einfach weiter.

»Also, ich denke, dass Harleys Betas da waren, alle vier. Wahrscheinlich auch Seb, es ging ja um ihn. Und wo Seb ist, ist der sexy Arzt des Rudels nicht weit. Ich schätze, Nathan Kohl war auch dabei, er scheint derzeit irgendwie immer mit Newell zusammen zu sein. Das würde heißen, dass Jared auch da war.«

Mark verengte die Augen. »Auch wenn du recht hättest, worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Du hast heute ein Auge auf jemanden geworfen. So sehr, dass du eben diesen schmachtenden Gesichtsausdruck hattest. Und …«

»Ich schmachte doch nicht!«

»Und außerdem riechst du, als gäbe es da jemanden, den du dringend flachlegen willst.« Will wartete, als ob er Mark Zeit zum Widersprechen geben wollte. Als Mark nichts sagte, lachte er. Es war ja nicht so, als hätte Will unrecht. »Ich weiß, dass du auf niemanden aus unserem Rudel stehst. Von den Leuten, die ich eben erwähnt habe, sind vier glücklich miteinander verbunden. Also bleiben Harleys Betas.« Will begann sie an seinen Fingern abzuzählen. »Daryl. Ja, er ist heiß, aber auch ziemlich furchteinflößend. Ich denke nicht, dass er dein Typ ist.« Das stimmte. »Mike. Ist er nicht mit diesem Rothaarigen zusammen? Der im Lagerhaus des R-Rudels arbeitet?«

Mark hob ungläubig die Augenbrauen. »Woher weißt du denn so etwas?«

»Ich habe dort ausgeholfen, als unsere Rudel zusammengearbeitet haben. Damals, als all der Scheiß mit dem abtrünnigen Rudel passiert ist. Da habe ich eben einiges aufgeschnappt. Wie auch immer, wo waren wir?«

»Ja, genau, bitte komm zum Punkt«, sagte Mark, obwohl er genau wusste, worauf Will hinauswollte.

»Gareth. Der ist auch nicht dein Typ und außerdem glaube ich, dass er heimlich auf Harley steht.«

»Auf seinen eigenen Alpha?«

»Jepp.« Als Mark die Augen verdrehte, fügte Will hinzu: »So etwas kommt doch öfter vor. Außerdem ist Cam Harley heiß. Und behaupte jetzt nicht, das sei dir nicht aufgefallen. Das wäre gelogen.«

Mark zuckte mit den Schultern. »Okay, ja, ich schätze, schon. Aber trotzdem. Er ist sein Alpha.«

»Wie auch immer.« Er grinste und Mark unterdrückte ein Seufzen, als er das vergnügte Funkeln in seinen Augen bemerkte. »Also bleibt nur noch Alec Knight übrig. Groß, stark, mutig und durch und durch loyal. Außerdem furchteinflößend, aber exakt dein Typ. Diese dunkelbraunen Augen, das dunkle Haar, leicht von Silber durchzogen … Außerdem dieses markante Kinn …« Er tat so, als würde er in Ohnmacht fallen und fächelte sich Luft zu.

Mark akzeptierte seine Niederlage und musste nun auch grinsen. »Vergiss den Dreitagebart nicht.«

Will boxte ihm gegen den Oberarm und lachte. Mark ließ sich neben ihm aufs Bett fallen. »Ich wusste es«, sagte er. »Die Kacke ist am Dampfen und du verknallst dich in einen aus dem feindlichen Rudel. Wie in Romeo und Julia.«

»Sie sind kein feindliches Rudel.«

Aber wahrscheinlich werden sie das bald sein.

»Ach, komm schon. Jeder weiß, dass Newell Harley nie verziehen hat, weil er ein kleineres Revier bekommen hat, als die Rudel sich aufgesplittet haben. Und der ganze Scheiß mit Nathan Kohl und dem abtrünnigen Rudel hat alles noch zehnmal schlimmer gemacht. Es herrscht vielleicht kein Krieg zwischen den Rudeln, aber Newell und Harley verabscheuen einander.«

Mark musste unweigerlich an den Rat der Alphas denken. »Und es wird wahrscheinlich noch schlimmer werden«, fügte er hinzu.

»Fuck, wirklich?«

»Jepp.«

Will seufzte. Sie lagen schweigend nebeneinander und starrten an die Decke. »Dann ist alles klar«, sagte Will schließlich.

»Was ist klar?«

»Du kommst heute mit in den Club.«

»Ich habe, ehrlich gesagt, wirklich keine Lust, heute …«

Will drehte sich auf die Seite und hielt Mark den Mund zu. »Keine Widerrede. Wenn alles bald den Bach runtergeht, sollten wir Spaß haben, solange wir noch können. Ich arbeite heute an der Bar, also kannst du einfach am Tresen sitzen und wir plaudern. Zumindest kommst du so ein bisschen raus und es lenkt dich vielleicht von der Sache ab, die du mir nicht erzählen darfst.«

Mark dachte darüber nach, aber … »Ich soll meine Wohnung nicht verlassen.«

»Wer sagt das?«

»Newell hat Jason befohlen, mich nach Hause zu bringen. Er meinte, ich solle mich ausruhen.«

Wills Lächeln wurde hinterhältig. »Nun, du hast dich jetzt ausgeruht. Hat einer von den beiden gesagt, dass du die ganze Nacht zu Hause bleiben sollst?«

»Nein, aber ich hatte den Eindruck, dass sie es so meinten.«

»Das ist aber nicht dasselbe wie ein Befehl. Komm schon Mark, hab doch mal ein bisschen Spaß.« Er setzte sich auf und zog Mark mit sich. »Wer weiß? Morgen um diese Zeit herrscht vielleicht ein Rudelkrieg und dann wirst du es bereuen, dass du nicht ausgegangen bist, als du noch die Chance hattest.«

Will lachte, doch Mark kam nicht umhin, sich zu fragen, wie nahe das wohl an der Wahrheit war. Er sollte das wirklich nicht tun, aber … »Welcher Club?«

»Lycanis.«

Dieser Name hatte ihn schon immer amüsiert. Er war nicht sonderlich subtil. Wie er nahelegte, war es ein reiner Wandlerclub. Also war er meist voller verbundener Paare oder voller Wandler, die einen Gefährten suchten. Viele Wandler gingen lieber in gemischte Clubs. Mit Menschen war die Gefahr einer versehentlichen Bindung geringer. Mark hatte wahrscheinlich wenig Chancen, in diesem Club jemanden aufzureißen. Aber andererseits war er sowieso nicht in der Stimmung dafür. Es klang trotzdem ziemlich verlockend, mal ein bisschen rauszukommen und seine Sorgen für eine Weile zu vergessen. Obwohl er wusste, dass es keine gute Idee war, nickte Mark. »Okay, ich komme mit.« Hoffentlich würde Jason nicht allzu sauer auf ihn sein.

Bitten by Desire

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