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Kapitel 1

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Joel Ashcroft zuckte zusammen, als der Junge schon wieder eine falsche Note spielte. Er deutete mit seinem Bleistift auf die Tonart des Musikstückes, das auf dem Notenständer des Klaviers lag. »Was für eine Tonart ist das, Caleb?«

»G-Dur, Mr. Ashcroft.«

»Und das bedeutet?«, fragte Joel nach, als Caleb nicht weitersprach.

»Uhm…« Caleb drehte sich zu Joel um. »Ich weiß es nicht mehr.« Er dachte einen Moment lang nach. »Es bedeutet, dass alle Noten ein Kreuz haben, oder? Es tut mir leid. Ich hab's vergessen! Deshalb klingt es nicht richtig.«

Joel biss sich auf die Unterlippe und zählte langsam bis fünf, bevor er antwortete. »Du hast fast recht, aber nicht ganz. Willst du es noch einmal versuchen?«

Wie hatte dieser Junge seine Theorieprüfung mit Auszeichnung bestanden? Es war, als hätte er alles vergessen, was er vermeintlich gelernt hatte, sobald die Prüfung vorbei gewesen war.

»Oh richtig!«, rief Caleb aus. »Es bedeutet, dass alle fs ein Kreuz haben, oder?«

Joel umklammerte seinen Bleistift so fest, dass er beinahe erwartete, er würde entzweibrechen. Warum waren diese Schüler immer die letzten an Freitagnachmittagen? Das Universum machte sich lustig über ihn; da war er sich sicher. Eines Tages würde er seinen Terminplan umstellen, sodass er nach einer Woche an der Highschool nicht nach Hause kam, nur um noch ein paar Stunden damit zu verbringen, Klavierunterricht zu geben. Das Schuljahr war erst ein paar Wochen alt und er spürte bereits, wie sehr es ihn anstrengte. »Das ist richtig. Gut gemacht.«

Caleb strahlte ihn an und begann erneut zu spielen, wobei er die Unterhaltung, die sie gerade erst geführt hatten, völlig ignorierte.

Glücklicherweise verschaffte ihm ein Klingeln an der Tür eine kurze Auszeit. »Guten Abend, Mrs. Barker«, sagte Joel höflich, als er sie hereinließ. Sein Versuch, die dissonanten Töne auszublenden, die noch immer aus dem Nebenraum kamen, scheiterte kläglich. »Bitte kommen Sie rein. Wir sind fast fertig.«

»Oh«, sagte Mrs. Barker und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich wollte mich gerade entschuldigen, dass ich zu früh bin. Sind es nicht noch zehn Minuten?«

»Wir hören heute Abend ein bisschen früher auf«, sagte Joel fest. »Wir hatten letzte Woche eine längere Stunde, um es auszugleichen.«

»Oh, ja, das stimmt.« Mrs. Barker lächelte ihn an, wobei sie geschickt ignorierte, dass die Stunde der letzten Woche länger gewesen war, weil sie ihren Sohn so spät abgeholt hatte. »Ich bin so stolz auf ihn, wissen Sie.« Sie senkte ihre Stimme, obwohl es zweifelhaft war, dass Caleb etwas anderes mitbekam als die Musik, auf die er sich konzentrierte.

Joel wünschte, er könnte sich auf etwas anderes konzentrieren.

Normalerweise hatte er viel mehr Geduld mit Caleb und er rief sich ins Gedächtnis, dass der Junge sich wirklich viel Mühe gab. Es war nicht Calebs Schuld, dass seine Mutter ihn dazu gedrängt hatte, ein Instrument zu spielen, für das er sich nicht interessierte.

»Ja, ich weiß«, sagte er. Er hatte schon einmal versucht, dieser vernarrten Mutter zu erklären, dass ihr Sohn nicht für eine Musikerkarriere geeignet war, aber sie weigerte sich stur ihm zuzuhören. »Ich habe gehört, dass die örtliche Theatergruppe gerade ein Vorsprechen für ein neues Stück hat. Sie suchen nach Schülern, die –«

»Mein Caleb wird kein Schauspieler.« Mrs. Barker warf Joel einen wütenden Blick zu. »Er ist Musiker.«

Joel seufzte. Caleb hatte ihm anvertraut, dass er gerne einmal Schauspiel ausprobieren würde. »Vielleicht denken Sie einfach mal darüber nach, hmm?«

Wie aufs Stichwort begann Caleb, die G-Dur-Tonleiter in der Mitte des Stückes zu spielen. Joel zuckte unwillkürlich zusammen, da die Tonleiter einige Töne beinhaltete, die der Komponist nicht vorgesehen hatte.

»Es gibt nichts, worüber ich nachdenken müsste.« Mrs. Barker schob sich an ihm vorbei in das Musikzimmer; ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie ihren Sohn am Klavier sitzen sah.

»Deine Mum ist hier«, sagte Joel. »Wir sehen uns nächste Woche, Caleb.«

Der Junge begann, seine Noten einzupacken, und Joel machte sich ein paar Notizen zur Stunde dieses Tages in sein Notizbuch. Sein Freund Darin hatte ihm einmal gesagt, dass es gut war, dass niemand seine Handschrift lesen konnte, wenn man manche Kommentare bedachte, die er sich notierte.

»Danke für die Stunde, Mr. Ashcroft«, sagte Caleb höflich. »Bis nächste Woche.«

»Bis nächste Woche, Joel«, sagte Mrs. Barker, als hätte ihre kurze Unterhaltung nie stattgefunden. »Sie wissen, dass ich mich sehr gerne mit Ihnen treffe, wenn Sie seine Fortschritte besprechen möchten, oder?« Sie zwinkerte ihm zu.

Joel biss sich auf die Lippe, bevor er antwortete. »Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche, Mrs. Barker«, sagte er.

»Adelaide, bitte«, beharrte sie. »Immerhin kennen wir uns jetzt schon eine ganze Weile.«

»Uhm, ja, das stimmt, aber –«

»Fertig für heute, Joel?« Darin Prior steckte seinen Kopf durch die Tür. »Hi, Adelaide, wie geht's?«

»Ich wollte gerade gehen.« Adelaide Barker warf Darin einen genervten Blick zu. »Wir sehen uns später«, sagte sie zu Joel und scheuchte ihren Sohn zur Wohnungstür hinaus.

»Ich habe nicht gehört, dass du reingekommen bist«, murmelte Joel und schlug sein Notizbuch zu.

»Ich perfektioniere meine Ninja-Fähigkeiten.« Darin grinste.

»Und du hast einen Wohnungsschlüssel«, fügte Joel hinzu. Nachdem ihn im vergangenen Jahr eine schlimme Grippe erwischt und er Schwierigkeiten gehabt hatte, das Bett zu verlassen, um die Tür zu öffnen, hatten Darin und seine Frau Ella entschieden, dass jemand bei einem Notfall seine Wohnung betreten können musste.

»Nun, ja. Das auch.« Darin schüttelte den Kopf. »Irgendwann wirst du es ihr sagen müssen, weißt du. Diese Frau flirtet schon mit dir, seit du angefangen hast, an der Highschool zu arbeiten.«

»Ja, und wenn ich ihr sage, dass ich schwul bin, könnte ich ebenso gut eine Anzeige in der Zeitung aufgeben und es der ganzen Gegend verkünden.« Joel war nicht direkt ungeoutet, aber er machte seine Sexualität auch nicht zum Gesprächsthema. Nicht, wenn er es vermeiden konnte. Er hatte auf die harte Tour gelernt, dass manche Dinge besser privat blieben.

»Nicht alle werden so reagieren wie dein Dad«, sagte Darin leise.

»Das weiß ich, aber wenn ich mich oute, möchte ich derjenige sein, der es den Leuten erzählt, nicht irgendeine Frau, die versucht, mit mir zu flirten.« Um das Thema zu beenden, nahm Joel seine Katze auf den Arm, die sich an ihm rieb. »Du bist hungrig, nicht wahr, Mädchen? Keine Sorge, es ist wieder sicher, hier drin zu sein. Der schreckliche Lärm ist wieder für eine Woche vorbei.«

»Vielleicht wird es Zeit, dass du wieder anfängst dich zu verabreden«, schlug Darin vor. Er streichelte Nannerls Fell und die Katze schnurrte. »Es ist fünf Jahre her, dass du dich von Reed getrennt hast. Er hat weitergemacht. Das solltest du auch tun.«

»Vielleicht habe ich den richtigen Mann noch nicht getroffen.« Joel gab die Katze an Darin weiter und klappte den Deckel der Klaviertastatur zu. Wenn er es nicht jetzt tat, würde er es später vergessen und Nannerl liebte es, über die Tasten zu laufen, am liebsten mitten in der Nacht. Nicht nur das, sie haarte außerdem ganz fürchterlich und er wollte am nächsten Morgen keine orangefarbenen Fellbüschel auf der Tastatur finden. Ein wenig davon rutschte immer zwischen die Tasten und es war furchtbar schwer, es wieder herauszufischen.

»Das hast du schon beim letzten Mal gesagt, als wir diese Unterhaltung geführt haben.« Darin trug Nannerl in die Küche und Joel hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde.

»Du wirst eine neue Dose öffnen müssen.« Er und Darin hatten seit ihren Tagen an der Universität zusammengewohnt – oder besser gesagt, während Joel zur Universität gegangen war und Darin seine Ausbildung gemacht hatte. Sobald ihre Ausbildungen abgeschlossen gewesen waren, waren sie beide mit der Person zusammengezogen, mit der sie den Rest ihres Lebens verbringen wollten.

Der einzige Unterschied war, dass Darin und Ella noch immer zusammen waren, während Joel und Reed getrennte Wege gegangen waren. Es war eine freundschaftliche Trennung gewesen und sie waren immer noch befreundet, aber als Reed ein Stellenangebot in Australien bekommen hatte, hatte Joel entschieden, dass er nicht mit ihm gehen wollte. Wellington war sein Zuhause und er hatte zu viel Aufruhr in seinem Leben gehabt, um seine Freunde und diejenigen, die ihn noch als Teil ihrer Familie ansahen, zurückzulassen.

»Alles klar, danke.«

Als Joel die Küche erreichte, fraß Nannerl und Darin hatte sich eine Tasse Kaffee eingeschenkt, wie er es immer tat, während Joel aufräumte, nachdem er seinen Unterricht beendet hatte. Joel kochte an Freitagen deshalb immer mehr Kaffee. Er und Darin verbrachten eine Stunde im Pub und landeten dann bei Darin, um mit seiner Familie zu Abend zu essen. Die meisten Traditionen aus der Zeit, als sie sich eine Wohnung geteilt hatten, hatten nicht überdauert, aber diese schon, und Joel freute sich jede Woche darauf. Ella war eine hervorragende Köchin und sie hatten sich immer gut verstanden. Er vermutete, dass sie es zu schätzen gewusst hatte, dass er derjenige gewesen war, der vorgeschlagen hatte auszuziehen, als sie eingezogen war.

Es war keine Frage gewesen. Ella und Darin waren schrecklich verliebt gewesen und Joel hatte keine Absicht gehabt, den Anstandswauwau zu spielen. Außerdem hatte er ein wenig Geld gespart und ihm gefiel die Vorstellung, sich eine eigene Wohnung zu kaufen. Glücklicherweise hatte er dieses Stadthaus mit zwei Schlafzimmern gefunden, bevor die Preise durch die Decke gegangen waren, sodass seine Ratenzahlungen günstiger waren als eine eventuelle Miete. Er und Reed hatten darüber gesprochen, es gemeinsam zu kaufen, aber Reed war sich nicht so sicher gewesen. Vielleicht hatte er schon geahnt, dass ihre Beziehung nicht halten würde. Joel zog es vor, darüber nicht allzu viel nachzudenken.

Joel vermisste es, mit jemandem zusammenzuwohnen. Er hatte Freunde – vor allem Darin –, aber es war nicht dasselbe. Manchmal wäre es schön, sich nachts an jemanden zu kuscheln, der nicht wie Nannerl Haare auf ihm verteilte, und auch wenn Ella nichts dagegen hatte, dass Joel und Darin Zeit miteinander verbrachten, musste Darins Fokus auf seiner Familie liegen. Joel mochte vielleicht ein Onkel ehrenhalber für Darins Tochter Isabel sein, aber er war kein Teil der Familie.

»Ella hat Anfang der Woche von Marcus gehört.« Darin warf Joel einen Blick zu. »Du hörst mir zu, oder? Du hast diesen Gesichtsausdruck, als wärst du meilenweit entfernt, den du so gut draufhast.« Er verdrehte die Augen. »Musiker.«

Joel schnaubte. »Mechaniker«, gab er zurück. »Ich habe den Blick bei dir auch schon gesehen und in neun von zehn Fällen denkst du an Ella.«

»Und? Ich vermute, in neun von zehn Fällen denkst du an irgendeinen heißen Kerl. Kein Unterschied.«

»Was auch immer.«

»Was auch immer.« Darin beugte sich vor und pikste Joel in die Schulter. »Also, wie gesagt. Marcus. Du erinnerst dich an Marcus, oder?«

»Ja, ich erinnere mich an Marcus.« Joel konzentrierte sich darauf, einen sauberen Plastikdeckel für das frische Katzenfutter zu finden. »Ellas Bruder, richtig?«

Sie hatten sich fünfzehn Jahre zuvor bei Ellas und Darins Hochzeit das erste Mal getroffen. Joel war der Trauzeuge gewesen und Ella hatte Marcus – der es vorzog, nicht im Rampenlicht zu stehen – überzeugt, die Rolle des Platzanweisers zu übernehmen. Es war Joels erste und einzige Reise nach Hokitika gewesen. Reed war nicht mitgekommen, da sie gerade eine schwere Zeit durchgemacht hatten, aber dennoch hatte Joel den Besuch an der Westküste der Südinsel genossen. Trotz allem hatte er nie den Wunsch verspürt zu reisen.

»Richtig.« Darin wurde still, etwas, das nicht oft passierte, also unterbrach Joel seine Suche und warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

»Und?« Joel hätte schwören können, dass er winzige Zahnrädchen sehen konnte, die sich in Darins Gehirn drehten. Subtilität hatte noch nie zu den Stärken seines Freundes gehört.

Ja, er erinnerte sich an Marcus. Der Mann war groß, durchtrainiert und hatte umwerfende graue Augen. Joel hatte einen Blick auf ihn geworfen und die geistreiche Bemerkung, die er hatte machen wollen, war ihm im Hals steckengeblieben; stattdessen hatte er etwas vor sich hingemurmelt und die Zähne nicht mehr auseinanderbekommen. Dann hatte Marcus Joels Hand geschüttelt und, um das Ganze noch demütigender zu machen, ihm den Mann vorgestellt, der neben ihm gestanden hatte – seinen Partner.

Joel hatte sich für seine Reaktion geschämt, schließlich waren sowohl er als auch Markus in einer Beziehung. Er hatte sich instinktiv nach Reed umgesehen, um sich bei ihm zu entschuldigen und ihn vorzustellen, aber dann war ihm wieder eingefallen, dass er nicht da war.

An diesem Tag hatte er sich in jeder Hinsicht wie ein Idiot gefühlt. Marcus während dessen unregelmäßigen Besuchen in Wellington bei den freitäglichen Abendessen der Priors wiederzusehen, war nicht viel besser gewesen und Joel hatte abwechselnd unbeholfen geschwiegen oder ohne Punkt und Komma geredet. Der Mann war verdammt heiß, aber Joel würde sich nicht an einen Mann heranmachen, der bereits eine Beziehung führte.

»Und?« Darin klang amüsiert. »Oh, ja. Marcus zieht von Hokitika hierher und wird bei uns wohnen, bis er eine eigene Wohnung findet. Du wirst ihn also spätestens nächsten Freitag wiedersehen.

Josh schlug die Tür des Kühlschranks zu. »Wie schön«, murmelte er. Seit ihrer letzten Begegnung waren mehrere Jahre vergangen, also würden Joels Hormone hoffentlich nicht wieder verrücktspielen. »Zieht sein Freund mit ihm her?«

»Oh, habe ich das nicht erwähnt?« Darin öffnete die Hintertür, um die Katze hinauszulassen. »Er ist single, schon seit ungefähr sechs Monaten.«

Marcus Verden schaltete den Flugmodus seines Handys aus, sobald er das Flugzeug verließ. Keine Nachrichten, abgesehen von einer, die sein Ex-Freund Garth ihm geschickt hatte. Marcus seufzte und löschte die Nachricht, ohne sie zu lesen. Obwohl Garth einer Meinung mit ihm gewesen war, dass es Zeit war, ihre Beziehung zu beenden, schrieb er Marcus viel zu oft. Marcus versuchte, mit seinem Leben weiterzumachen. Es wurde Zeit, dass Garth dasselbe tat.

Die Landung war unsanft gewesen, aber die Frau neben ihm hatte ihm versichert, dass das normal für Wellington war. Starkwinde waren selbst im Sommer üblich und sie mussten viel heftiger werden, bevor irgendjemand begann, sich deshalb Sorgen zu machen. Sie würde sich viel mehr Gedanken machen, wenn es windstill wäre. Erdbebenwetter und all das.

Marcus hatte höflich genickt. Er flog nicht gerne, aber Ella hatte ihn überredet, einen Flug zu buchen, statt einen Bus nach Picton und die Fähre nach Wellington zu nehmen. Es hatte nicht viel gebraucht, um ihn zu überzeugen. Sein Magen mochte die Meerenge zwischen den neuseeländischen Inseln noch weniger als Turbulenzen in der Luft und er hatte entschieden, seinen SUV zusammen mit seinem Geschäft zu verkaufen, um sich ein neues Fahrzeug anzuschaffen, nachdem er sich eingelebt hatte.

Die schlimme Reisekrankheit, die ihn als Kind geplagt hatte, hatte er mit dem Erwachsenwerden größtenteils überwunden. Marcus schauderte immer noch, wenn er sich an die Übelkeit und das Unwohlsein erinnerte, unter denen er während aller Familienausflüge gelitten hatte, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Und kaum waren sie angekommen, hatte er sich schon wieder für die Rückfahrt wappnen müssen. Seit er erwachsen war, machten ihm Autofahrten nichts mehr aus, aber er zog es dennoch vor, selbst hinter dem Steuer zu sitzen.

»Onkel Marcus!« Isabel winkte wie wild hinter der Tür zum Ankunftsterminal. Er winkte zurück und sprintete zu ihr hinüber.

»Du bist gewachsen, Issy«, rief Marcus und umarmte sie. Er trat einen Schritt zurück, um sie besser ansehen zu können. Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie ein kleines Mädchen gewesen. Jetzt sah sie eher aus wie eine junge Dame. Ihr langes Haar, das sie immer in zwei Zöpfen getragen hatte, war offen und reichte ihr fast bis zur Taille. Sie kam definitiv nach der Priorschen Seite der Familie, sie hatte das rotbraune Haar ihres Vaters und seinen oft seltsamen Sinn für Humor geerbt. Ihre grauen Augen erinnerten Marcus jedoch an Grandma Verden, genau wie ihr Lächeln; Marcus hatte sich sagen lassen, dass er es ebenfalls geerbt hatte.

Er nahm an, dass Menschen immer das in anderen wiederfanden, was sie sehen wollten.

»Wachstumsschub«, sagte Darin. Er streckte seine Hand aus. Sie schüttelten sich die Hände und umarmten einander kurz.

Darin war ein guter Mann und er hatte sich immer gut um Ella und Isabel gekümmert. Er und Marcus sahen einander nicht oft, aber wenn sie es taten, machten sie dort weiter, wo sie aufgehört hatten, als wäre gar keine Zeit vergangen.

Die Veränderung in Isabel zeigte jedoch recht deutlich, dass ihr letztes Treffen länger her war, als er gedacht hatte. Er rechnete schnell nach – sie würde in ein paar Monaten vierzehn werden. Wie hatte er das vergessen können? Er schickte ihr jeden April Geburtstagsgeschenke und Ella und ihre Familie hatten regelmäßige Reisen zur Südinsel unternommen, bis ihre Eltern in Rente gegangen waren und entschieden hatten, dass sie gern mehr vom Land sehen würden und stattdessen die Reisen unternahmen. Marcus war ebenfalls eingeladen worden, sie zu besuchen, aber es war einfacher gewesen abzulehnen. Seine Abneigung gegen das Reisen war nur eine Ausrede gewesen.

Anfangs hatte er sich gesagt, dass er mehr Zeit mit Garth verbringen musste. Sie arbeiteten beide viel, gemeinsame Zeit war wertvoll und beim letzten Mal...

Er hatte seinen Partner seiner Familie vorgezogen und jetzt konnte man ja sehen, wohin ihn das gebracht hatte. Er war allein, trotz seiner Anstrengungen, für Garth da zu sein.

Marcus spürte einen Stich der Schuld. Familie war wichtig und Ella war seine einzige Schwester. Es hätte ihm nicht geschadet, wenn er die Reise nach Wellington öfter auf sich genommen hätte. Zuerst hatte er Garth als Vorwand genutzt, und nachdem das nicht mehr möglich gewesen war, hatte er sich in einem Versuch, seinen Ex zu vergessen, in der Arbeit vergraben.

Isabel hakte sich bei Marcus unter. »Komm schon. Wir müssen deine Koffer bei der Gepäckausgabe abholen, bevor richtig viel los ist. »

Darin lachte. »Erinnert sie dich an jemanden?«, fragte er.

»Oh ja«, sagte Marcus und ignorierte Isabels finsteren Blick. »Genau wie ihre Mum in dem Alter.«

»Nur in dem Alter?« Darin setzte einen Hundeblick auf, den Marcus ihm keine Sekunde abkaufte. »Siehst du, was ich alles ertragen muss? Es wird großartig sein, eine Weile noch einen Mann im Haus zu haben.«

»Mhm.« Marcus konnte zwischen den Zeilen lesen. Jemand, der ihm den Rücken freihielt und ihn bemitleidete, auch wenn Darin offensichtlich jeden Moment davon genoss. Er liebte seine Mädchen und es war nicht zu übersehen.

»Ich bin hier und ich kann euch hören, wisst ihr?« Isabel seufzte dramatisch und warf sich das Haar über die Schulter, aber das Funkeln in ihren Augen strafte sie Lügen.

»Natürlich kannst du das.« Darin verdrehte die Augen und zerzauste das Haar seiner Tochter, was ihm dieselbe Reaktion einbrachte.

Marcus lachte leise. Die beiden würden ein großartiges Comedy-Duo abgeben. Es würden ein paar interessante Monate werden, bis er eine eigene Wohnung fand. Definitiv die Ablenkung, die er brauchte.

Er sah sie an und begegnete zwei besorgten Blicken, auch wenn beide ihre Sorge schnell verbargen. Wie viel hatte Ella ihnen erzählt?

Glücklicherweise war sein Koffer einer der ersten auf dem Fließband und es dauerte nicht lange, bis sie auf den Hutt Valley Expressway in Richtung Petone fuhren und sich auf den Weg zu Marcus' neuem Zuhause machten.

Marcus lehnte sich in seinem Sitz zurück und ignorierte das Geplauder zwischen Isabel und ihrem Vater. Er starrte auf den Hafen hinaus, beobachtete die Wellen, die gegen die Küste brandeten und ließ seine Gedanken wandern. Er hatte das Richtige getan, als er sich für den Umzug entschieden hatte, oder? Seine Eltern waren nicht glücklich darüber gewesen, dass jetzt beide Kinder in einem anderen Teil des Landes lebten, aber sie verstanden, wieso er weggehen musste, um einen neuen Anfang zu wagen.

Er liebte Hokitika und hatte sein ganzes Leben dort verbracht, aber wie in allen kleineren Städten wusste jeder über alles Bescheid. Nicht nur das, es war unmöglich, Garth aus dem Weg zu gehen. Er hatte mehrfach gespürt, wie er ob des Flüsterns und der mitleidigen Blicke knallrot geworden war. Die Anwohner hatten sie nicht verurteilt und waren weiterhin so freundlich zu ihnen wie immer, aber auf eine Art war das noch schlimmer. Er würde nie mit seinem Leben weitermachen, bis er an einem Ort lebte, an dem ihn niemand kannte und wo er Erinnerungen an sein Leben mit Garth aus dem Weg gehen konnte.

Ella hatte ihm den Umzug nach Wellington vorgeschlagen. Ein Freund eines Freundes plante, irgendwann in den nächsten zwei Jahren in Rente zu gehen und würde sehr gern jemanden in seiner Firma für Gartenpflege einstellen, der bereit war, sie zu übernehmen, wenn er aufhörte. Marcus hatte die Dienstleistung in seiner Heimatstadt jahrelang angeboten und kein Problem damit, die nötigen Referenzen zu bekommen. Nicht nur das, er hatte sein Unternehmen ausgeweitet, sodass es Gartenbau, Gelegenheitsarbeiten und Ähnliches mit einschloss. Er hatte ein paar Mal mit Brendan telefoniert und der ältere Mann schien begeistert von der Idee, sein Angebot auszuweiten. Da das Wetter seine Mäharbeiten über das Jahr hinweg mehrfach an aufeinanderfolgenden Tagen unmöglich machte, würde es dem Unternehmen ein stabileres Einkommen in den Ausfallzeiten gewährleisten. Wellington hatte im Vergleich zu anderen Teilen des Landes zwar ein mildes Klima, aber es regnete auch oft und das nicht nur im Winter.

»Noch zehn Minuten und dann sind wir daheim.« Darin zog auf die linke Spur hinüber und fuhr von der Autobahn herunter. »Wir haben ein bisschen umgeräumt, seit du das letzte Mal da warst. Ella ist auf einem Entrümpeltrip, pass besser auf, wo du etwas ablegst, sonst verschwindet es, bevor du blinzeln kannst. Sie hat dieses Buch gelesen.« Er wandte sich an Isabel. »Wie heißt es noch mal?«

»Magic Cleaning. Es geht ums Aufräumen«, sagte Isabel. »Ich finde es toll.«

»Ich habe ihr schon gesagt, dass sie nicht mal in die Nähe meiner Garage gehen darf«, murmelte Darin. Er räusperte sich. »Ja, es ist toll.«

Marcus war beeindruckt, wie Darin es schaffte, dass sein Kommentar beinahe ernst gemeint klang.

»Das sagt mir nichts.« Marcus hatte den aktuellen Roman von Lee Child in seinem Handgepäck. Er hatte geplant, ihn auf dem Flug zu lesen, um sich von der Reise abzulenken, aber als die Flugbegleiterin Tee und Anzac-Kekse serviert hatte, hatte es nicht mehr lang bis zum Landeanflug gedauert. »Vermutlich sowieso nicht mein Ding.«

»Guter Plan.«

Etwa fünf Minuten später bog Darin nach links auf die Cuba Street ab und dann nach rechts, bevor er in die Einfahrt des älteren Hauses im Bungalow-Stil fuhr.

»Ihr habt den Garten in Ordnung gebracht und der Rasen sieht toll aus«, sagte Marcus. Das war immer das Erste, was ihm an einem Grundstück auffiel. Eine Nebenwirkung seines Berufs, vermutete er.

Der Garten war viel größer als in seiner Erinnerung, aber bei seinem letzten Besuch war der Vorgarten ein Dschungel aus einer willkürlichen Zusammenstellung von Sträuchern gewesen, und es hatte überwältigend nach Lavendel gerochen.

Der Lavendel war immer noch da, aber er war zurechtgestutzt worden. Rosenbüsche säumten eine Seite der Einfahrt und Kletterrosen in verschiedenen Farben wanden sich am Zaun entlang. Der Rasen war ordentlich gemäht und es war weit und breit kein Unkraut zu sehen.

»Wir haben unsere ganze Freizeit darauf verwendet, diesen Teil des Gartens ordentlich aussehen zu lassen.« Darin öffnete den Kofferraum, um Marcus' Koffer herauszunehmen, aber Marcus war schneller. »Hinter dem Haus sieht es immer noch aus wie im Dschungel.«

»Ich würde gern dabei helfen, wenn das okay ist«, sagte Marcus.

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest!« Ella tauchte hinter ihnen auf.

Marcus drehte sich um und zog seine Schwester in eine Umarmung. »Ella! Es ist schön, dich zu sehen.« Sie hatten sich immer nahegestanden und der Altersunterschied zwischen ihnen betrug nur ein Jahr.

»Lass dich ansehen, kleiner Bruder.« Ella sah ihn selbstzufrieden an, als Marcus angewidert das Gesicht verzog.

»Hör auf mit dem klein, große Schwester«, murmelte er. »Du siehst gut aus, Ella.«

Ella nickte abwesend. »Hmm«, sagte sie. »Du hast abgenommen und du hast dunkle Augenringe. Dagegen müssen wir was tun.«

»Ihr habt mir schon eine Bleibe gegeben, bis ich eine eigene Wohnung finde«, protestierte Marcus, mehr um sich selbst zu schützen als alles andere. Er kannte diesen Blick. Sie hatte bereits einen Plan geschmiedet. Er sah sich um, bereit, Darin um Unterstützung zu bitten, aber er und Isabel waren passenderweise bereits im Haus verschwunden.

»Das macht Familie so«, sagte Ella. Sie senkte die Stimme. »Keine Sorge, ich habe ihnen nicht viel erzählt. Keine Details, nur dass du für einen Neuanfang herkommst. Wir sind für dich da, Marcus. Du bist nicht allein.«

»Ich weiß. Danke.«

Seine Eltern hatten ihn ebenfalls unterstützt, aber sie hatten Garth immer gemocht, daher wollte Marcus ihre Beziehung zu ihm nicht verschlechtern. Die Milchfarm, die Garth mit seinem Bruder bewirtschaftete, war seit zwei Generationen im Besitz der Kenways, er würde die Gegend also in naher Zukunft nicht verlassen. Marcus hatte entschieden, dass es sinnvoll war, wenn er derjenige war, der umzog – er konnte nicht von Garth erwarten, dass er aufgab, was er und seine Familie aufgebaut hatten, während Marcus überall tun konnte, was er liebte.

Außer mit der Person zusammen zu sein, die er einmal geliebt hatte und von der er gedacht hatte, dass sie ihn ebenfalls liebte.

Um die Dinge noch schlimmer zu machen, schien Garth sehr interessiert daran zu sein, weiter Anteil an Marcus' Leben zu haben, wenn nicht als Partner, dann als Freund. Er hatte Garth gesagt, dass er ein wenig Abstand zwischen ihnen brauchte, aber Garth schien es nicht zu verstehen. Marcus hatte versucht, es zu erklären, aber er war wirklich schlecht in diesen Dingen, also war es einfacher, alles hinter sich zu lassen und Garths Versuche, ihn zu kontaktieren, zu ignorieren. Zumindest vorerst.

»Du denkst schon wieder darüber nach.« Ella schob ihn ins Haus. »Ich denke, ein bisschen Ablenkung ist genau das, was du brauchst.«

Darin erwartete sie an der Tür. »Ich bringe Marcus zu seinem Zimmer«, schlug er vor. »Ich habe nach dem Abendessen gesehen und es dauert noch etwa zehn Minuten, also habe ich Wasser aufgesetzt. Marcus, bist du immer noch so süchtig nach Kaffee?«

»Manche Dinge ändern sich nie.« Marcus schnupperte. »Hmmm, das Chili riecht wunderbar. Kann ich irgendwie helfen?«

»Keine Sorge«, sagte Ella. »Du wirst dir deinen Unterhalt verdienen, indem du meinen Garten in Ordnung bringst. Der Teil hinter dem Haus ist so groß, dass ich nicht hinterherkomme.« Sie zwinkerte ihm zu, aber er wusste, dass sie ihn nur neckte. Er hatte auf jeden Fall vor auszuhelfen, wo immer er konnte, und ihr Garten war genau die Ablenkung, die er brauchte.

»Ich bring dich zu deinem Zimmer, Onkel Marcus, und dann kann Daddy dir den Rest zeigen. Ich lerne jetzt Klavier.« Isabel führte Marcus den Flur entlang und holte kaum Luft, bevor sie weitersprach. »Ich mag es total und Onkel Joel ist ein guter Lehrer.«

»Joel? Der Trauzeuge deines Vaters?«, fragte Marcus. Das Hochzeitswochenende war in seiner Erinnerung etwas verschwommen und an diesem Abend hatte er sich total betrunken. Die beiden kannten sich seit Jahren oder so. Der Mann war süß, aber Marcus hatte ihm nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem Garth sich in die Unterhaltung eingemischt hatte, und sie beendet, kaum dass sie angefangen hatte. Wenn Marcus nach Wellington gekommen war, hatte er Joel noch ein paar Mal getroffen und seine Gesellschaft bei den gemeinsamen Abendessen der Familie genossen. Joel hatte sehr offen auf ihn gewirkt und schien leidenschaftlich zu sein. Nachdem Marcus seinen ersten Eindruck von süß zu heiß korrigiert hatte, hatte er schnell einen emotionalen Schritt rückwärts gemacht und sich in Erinnerung gerufen, dass er Garth liebte und ihre Beziehung ihm wichtig war.

»Ja, genau der. Er kommt immer noch jeden Freitag zum Abendessen, du wirst ihn also sowieso bald wiedersehen.« Isabel öffnete die Tür am Ende des Flurs und Marcus spähte hinein. »Oder vielleicht sogar noch früher, wenn du mich morgen zu meiner Klavierstunde bringst. Mum muss etwas für den Elternabend vorbereiten und Daddy hat einen Auftrag, den er beenden muss, deshalb wird er lang arbeiten.«

»Hmm«, sagte Marcus abwesend und musterte den Raum, der einige Monate lang sein Zimmer sein würde. Er wollte ganz sicher sein, dass es die richtige Entscheidung gewesen war hierherzuziehen und dass sein neues Unternehmen funktionieren würde, bevor er sich entschloss, ein Zuhause zu suchen.

Bei seinem letzten Besuch war das Ellas Näh- und Bastelzimmer gewesen, in dem Materialien sich übereinander gestapelt und eine Nähmaschine in der Ecke gestanden hatte. Regenbögen und pinke Einhörner hatten die Wände geziert, da die Vorbesitzer den Raum als Kinderzimmer genutzt hatten.

Jetzt war er geschmackvoll eingerichtet; die Wände waren cremeweiß gestrichen und ein paar Leinwanddrucke, die, wie er vermutete, die Landschaft der Gegend zeigten, hingen an den Wänden. Er sah sie sich genauer an und erkannte den Blick auf den Hafen und das Settlers Museum, das an der rechten Seite in das Foto ragte. Das Zimmer fühlte sich sehr friedlich an und er konnte nicht anders als laut zu seufzen und zu nicken. Er stellte seine Tasche in der Ecke neben dem Bett ab. Er konnte sich vorstellen, hier zu wohnen. Das würde gut passen.

»Oh, gut«, sagte Isabel. »Dann ist das abgemacht. Danke, Onkel Marcus. Ich wusste, dass du Ja sagen würdest!«

»Uhm, was?« Marcus könnte schwören, dass er keine Zustimmung zu irgendwas gegeben hatte.

Isabel lächelte ihn an und er wusste, dass er definitiv etwas verpasst hatte. »Ich sollte heute Abend besser üben. Schließlich wäre es mir schrecklich peinlich, wenn ich morgen in meiner Klavierstunde nicht gut spielen würde, wo du doch dabei sein wirst.« Sie umarmte ihn fest. »Danke, Onkel Marcus!«

Marcus kratzte sich am Kopf, während er ihr hinterher sah. Er war sich nicht sicher, ob er amüsiert oder schockiert darüber sein sollte, wie einfach sie ihn manipuliert hatte. Sie war ihrer Mutter ein wenig zu ähnlich, das war sicher.

Er zuckte mit den Schultern und folgte dem willkommenen Duft des Kaffees in der Küche. Es konnte nicht schaden, seine Nichte zu ihrem Musikunterricht zu bringen. Bei allem, was sie und ihre Eltern für ihn taten, war das das Mindeste, was er tun konnte.

Die Melodie unserer Zukunft

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