Читать книгу Meeresraunen - Anne Bradley - Страница 3
1. Kapitel
ОглавлениеEs war einer der ersten Frühlingstage im Jahr. Die Sonne strahlte am wolkenlosen Himmel und es schien kaum noch Menschen zu geben, die nicht mit einer Eistüte in der Hand herumliefen oder dabei waren, nach ihren Sonnenbrillen zu suchen.
Bunte Blumenkübel säumten die Eingänge zu diversen Geschäften, Cafés oder Restaurants mit Außenterrasse. Die Musik, die in den Geschäften leise im Hintergrund spielte, hatte sich ebenfalls verändert. Während vorher sanfte, melodische Rhythmen die Kunden zum Kaufen verleiten sollten, forderten jetzt peppige, südamerikanische Klänge sie eher zum Tanzen und Lachen auf. Aber der Umsatz stieg dennoch.
Auf den Gehwegen wimmelte es von vielen bunten Taschen und Tüten, in denen die Leute die neueste Mode mit nach Hause trugen. T-Shirts in leuchtenden Farben, Shorts, Bademoden.
Es war erst Frühling, doch der Sommer war nicht mehr weit.
Die Straßencafés, noch vor wenigen Tagen leer und verlassen, hatten plötzlich die Tische voller Gäste. Sonnenschirme spendeten Schatten und luden zum Verweilen ein, und hektisch herumeilende Bedienungen trugen Tabletts mit Eisbechern und Fruchtcocktails.
Einer dieser Kellner ließ ein Tablett etwas zu laut auf einem Tisch aufsetzen. Milchkaffee Gläser und Eisbecher klackerten laut aneinander und lenkten einen Moment lang Katies Aufmerksamkeit vom bedrückten Gesicht ihrer besten Freundin ab.
Der Rotschopf beobachtete, wie der Kellner hastig die Pfützen von Tisch und Tablett wischte und dabei unverschämt mit zwei sexy Blondinen flirtete, während ihre Begleiter grummelnd daneben saßen. Die Frauen antworteten ihm und lachten fröhlich. Als die Pfützen beseitigt waren, blieb der Kellner am Tisch stehen und redete weiter, solange bis sich einer der Männer langsam vorbeugte und irgendetwas sagte. Eine Welle von Testosteron und Adrenalin schwappte förmlich bis zu Katies Tisch hinüber und sie konnte belustigt zusehen, wie der Kellner eilig sein Tablett hoch nahm und verschwand. Die eine Blondine strich ihrem Begleiter sanft über den Arm und neckte ihn. Als er sich zu ihr neigte, um sie zu küssen, wandte Katie den Kopf rasch ab.
Aber ihr Gegenüber blickte immer noch teilnahmslos vor sich hin.
Katie seufzte leise. Dabei hatte alles so gut angefangen. Sarah hatte endlich mal wieder Zeit für sie gehabt. Katie konnte schon gar nicht mehr sagen, wann sie das letzte Mal einfach nur so zusammen gesessen hatten und sie hatte sich darauf gefreut mit ihrer Freundin einfach mal wieder zu plaudern, aber dann hatte sich alles verändert.
“Ach, Mensch, Sarah...”, murmelte sie halblaut. Ihre Freundin sah kurz auf und versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihr nicht. Sie hob die Mundwinkel, doch die Augen blickten weiterhin so traurig, dass ihre betont fröhliche Miene eher einer Grimasse glich.
“Ist schon gut, Katie”, nickte Sarah trotzdem und hob ihren Becher Kaffee an die Lippen. Das Getränk war kalt und verströmte schon lange nicht mehr seinen angenehmen Geruch. “Ich wollte dir das gar nicht erzählen... es ist nur... es ist... ich weiß nicht.” Sarah seufzte leise. Sie wusste wirklich nicht, warum sie Katie alles erzählt hatte. Es war einfach so aus ihr herausgeströmt wie ein Fluss, der seinen Damm sprengte, rasch und ungezügelt, chaotisch und durcheinander, zusammenhanglos, aber auch unaufhaltsam.
Katie legte eine Hand auf Sarahs Hände, die ihren Becher umschlossen hatten. Sie fühlten sich kalt an. Unter Katies Fingern war das Zittern spürbar, das nahezu unsichtbar von der Freundin ausging. Eine Sekunde lang wollte Katie einen weiteren Kaffee bestellen, aber sie ahnte, dass diese Art der stillen Revolte Sarah keine Hilfe war.
“Es war gut, dass du es mir erzählt hast, Sarah. Du hättest schon früher darüber reden sollen.” sagte Katie leise. “Viel früher.”
“Nein”, Sarah schüttelte den Kopf. “Hätte ich nicht. Es ist alles Quatsch. Ich spiele mich auf. Es ist, wie Tom immer sagt. Genauso. Ich bin einfach nur...”
“Nein!” Diesmal klang Katies Stimme so entschieden, dass Sarah tatsächlich sofort mit dem Reden aufhörte und ihre Freundin überrascht ansah. “Sag es nicht! Sag niemals, dass es deine Schuld ist! Niemals!”
Sarah hob an, etwas zu sagen, aber dann brachte sie doch keinen Ton hervor. Ihre Augen füllten sich wie auch schon vorher mit ungeweinten Tränen, die sie auch jetzt wieder nicht fließen lassen würde. Sie schluckte heftig und blinzelte, bis das brennende Gefühl in ihr erträglicher wurde.
“Es ist nicht deine Schuld, Sarah, hörst du?” Katies Hand drückte fest Sarahs und die Rothaarige sah sehr entschlossen aus. “Wenn du es noch einmal sagst, steh’ ich auf und geh’. Ich werde sofort gehen und Tom in den Hintern treten. Verstanden? Willst du das? Soll ich das tun? Du weißt, dass ich das tun werde, oder?”
Wider Erwarten hatte Sarah tatsächlich das Bild von Katie, die Tom in den Hintern trat, vor Augen. Aber sie sah auch, wie Tom sein Gesicht verzog. Angewidert würde er Katie ansehen. Wie etwas Ekeliges, ein Insekt, einen Schädling, lästig, störend, aber nicht weiter beachtenswert. Er würde wahrscheinlich sofort die Hose wechseln, eine von seinen ordentlich gebügelten Jeans anziehen und die Sache auf der Stelle vergessen.
Wieder seufzte Sarah.
Ja, so würde Tom sich verhalten, solange Katie dabei wäre. Es würde ihm nie im Traum einfallen, etwas gegen Katie zu sagen. Niemals. Aber Katie wäre nicht immer da. Es würde irgendwann Abend werden. Die Lichter in den Straßen würden angehen und Katie würde zu ihrer Freundin in die gemeinsame, gemütliche Wohnung zurückgehen. Sarah jedoch... Sarah würde mit Tom in das Haus seiner Mutter zurück müssen.
Unwillkürlich veränderte sich Sarahs Gesichtsausdruck. Das bemühte Lächeln machte tiefer Traurigkeit Platz. Eine Traurigkeit, die Katie erschreckte, weil sie zeigte, wie allein und hoffnungslos Sarah sich fühlte.
“Ach, Kleine”, murmelte Katie beruhigend und drückte ein weiteres Mal Sarahs zitternde Finger. “Du hättest schon viel früher mit mir reden sollen. Viel früher.”
Die Tränen waren wieder da. Sie brannten in Sarahs Augen, die schniefte, um sie zu verdrängen. Ihr Magen fühlte sich leer und wund an und sie versuchte mit glasigem Blick den Kaffee zu fixieren. Irgendwo in ihrem Kopf begann das leichte Dröhnen, welches sich, wie sie genau wusste, in wenigen Momenten in rasende Kopfschmerzen verwandeln würde. Sarah kannte das schon. Sie hatte es kommen sehen, schließlich verging in letzter Zeit kaum ein Tag, an dem sie nicht von mörderischen Kopfschmerzen geplagt war.
Schnell griff sie in ihre Tasche und fischte die Tabletten hervor, die ihr wenigstens ein wenig Linderung verschafften.
Katie beobachtete wortlos, wie Sarah sich zwei Tabletten in die Hand schüttete, das Röhrchen wieder in die Tasche gleiten ließ und dann die Tabletten schluckte.
“Wieder diese Kopfschmerzen?” fragte Katie mitfühlend.
Sarah sagte einige Sekunden nichts. Sie schloss die Augen und versuchte sich selber einzureden, dass das Mittel schon wirkte. Das Klopfen in ihrem Kopf wurde drängender. Sie sollte jetzt gehen, ehe die Schmerzen unerträglich werden würden, das wusste Sarah, aber sie wollte noch nicht. Zu kostbar war die wenige Zeit, die sie mit Katie verbringen konnte.
“Es ist gleich vorbei”, versuchte Sarah sich und Katie zu überzeugen.
“Du hast diese Schmerzen ziemlich oft, oder?”
Sarah nickte kurz, aber sofort schoss der Schmerz wie ein Stich durch ihren Kopf.
“Ja, Tom sagt, es kommt von der vielen Arbeit. Der Stress.” Die Tabletten sorgten dafür, dass Sarahs Magen sich verkrampfte, aber sie verhinderten auch die Kopfschmerzen. Sie konnte spüren, wie heißes Feuer sie von innen zu verbrennen schien. Unwillkürlich biss sie die Zähne aufeinander, um nicht aufzustöhnen. “Tom hat Recht gehabt. Ich hätte den Kaffee nicht trinken dürfen...”
Katie verdrehte die Augen.
“Du hast den Kaffee nicht getrunken, Sarah. Der Becher steht noch voll und kalt vor dir. Und Tom hat nicht Recht gehabt. Soweit ich weiß, hat Tom eigentlich noch nie Recht gehabt.”
“Ach, Katie”, Sarah öffnete tapfer die Augen und musterte kurz ihre Freundin. “Er ist nicht so, wie du denkst...”
“Ach nein?” Katie zog eine Braue hoch. “Ist er nicht? Lass mich raten: Zu dir ist er ganz anders als zu mir, richtig? Er ist nett, liebevoll, besorgt, freundlich, höflich, charmant...”
Sarahs Lächeln wurde nicht echter, aber sie versuchte es trotzdem.
“Er ist wirklich ganz anders, Katie. Du müsstest ihn nur so kennen wie ich...”
Katie hob abwehrend die Hand.
“Nein, danke, ich verzichte!” Sie schüttelte entschieden den Kopf. “Und ich wünschte, du würdest auch verzichten!”
“Ich liebe ihn!”
“Ach ja?” Katie stieß einen abfälligen Ton aus. “Und darum sitzt du jetzt hier, mit weißem Gesicht, fast heulend, traust dich nicht, Kaffee zu trinken, weil er es verboten hat, schaust ständig auf die Uhr damit du nicht zu spät kommst, musstest darum bitten, mich sehen zu dürfen... ” Katie verdrehte die Augen. “Kleine, das ist keine Liebe! Das ist Dummheit!”
Sarah schloss gepeinigt die Augen, aber dieses Mal waren es nicht die Kopfschmerzen, die sie quälten. Katie hatte Recht, und dann auch wieder nicht. Sie sah es einfach nicht so, wie es war. Tom meinte es nur gut. Er liebte sie. Er sorgte sich um sie. Es war wirklich ganz allein Sarahs Schuld.
“Denk es nicht einmal!” knurrte Katie unvermittelt gereizt.
Sarahs Augen flogen auf und sie blickte Katie fragend an.
“Wie bitte?”
“Du hast gerade gedacht, dass es deine Schuld ist, stimmt’s?”
Ertappt fühlte Sarah, wie sie rot wurde. Sie musste nichts sagen, Katie wusste Bescheid und legte erneut eine Hand auf Sarahs Finger, die sich wieder an den kalten Becher geklammert hatten. Sanft drückte Katie sie.
“Sarah, ich kenne Geschichten wie deine. Ich höre sie täglich im Frauenhaus. Ich weiß genau, was du jetzt sagst und denkst. Er liebt dich. Er sorgt für dich und er sorgt sich um dich. Er ist der Einzige, der sich um dich kümmert...”
Ein Kloß bildete sich in Sarahs Hals, so dass sie nicht sprechen konnte, aber sie nickte langsam.
“Das ist nicht wahr, Sarah!” widersprach Katie.
“Doch, das ist es!” Sarahs Stimme klang komisch in ihren Ohren, fast trotzig.
Du willst immer Recht haben, Sarah! Ertönte Toms Stimme in ihren Gedanken.
Gott, er hatte Recht! Er hatte ja so Recht. Warum war ihr das nur nie aufgefallen?
“Ich sorge mich auch um dich”, sprach Katie in Sarahs Gedanken hinein. Wieder drückte Katie die Hände ihrer Freundin. “Ich mag dich. Tara mag dich. Liz und Alec. Sogar Anna. Es gibt viele Leute, die dich mögen. Du musst nur die Augen aufmachen!”
“Ich mache doch die Augen auf”, versuchte Sarah einen kleinen Scherz und riss tatsächlich die Augen weit auf. Doch die helle Sonne blendete ihre empfindlichen Augen und so spürte sie sofort, wie die Tränen zurückkehrten. Seufzend schloss sie rasch die Lider.
“Nein, machst du nicht. Du tust nur so.” Katie schüttelte ratlos den Kopf. Warum konnte sie ihrer Freundin nur nicht helfen? Warum fielen ihr diesmal nicht die richtigen Worte ein? Bei all den anderen Frauen gelang es ihr doch? “Sarah, wirklich, ich mach mir Sorgen um dich. Große Sorgen.”
“Das musst du nicht, Katie. Es geht mir gut.” Sarah lächelte Katie kurz an. “Wirklich. Es ist nur zurzeit alles sehr hektisch und stressig. Darum hatte ich auch keine Zeit für dich oder die anderen. Das wird schon wieder.”
Katie schüttelte den Kopf.
“Wird es nicht, Sarah. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich das schon gehört habe. Was für Frauen zu mir kommen und sich dafür zu rechtfertigen versuchen, warum sie an der Situation Schuld sind und wie ihr Freund, ihr Partner, gar nicht anders reagieren konnte. Es ist jedes Mal dasselbe. Der einzige Unterschied zu dir ist der, das sie es sehen und ändern wollen. Sie wollen meine Hilfe. Du siehst nicht mal, was er mit dir tut.”
“Er macht gar nichts. Er ist gut zu mir!”
“Ist er nicht!” Katies Stimme drang auf einmal laut durch das kleine Café und an einigen Tischen drehten sich Leute zu ihnen herum.
Unwillkürlich machte Sarah sich kleiner. Hoffentlich sah sie keiner. Hoffentlich erkannte sie niemand. Und hoffentlich erzählte niemand Tom, wie sie sich benommen hatte!
“Katie, bitte!”
Katies Blick wurde ruhig und sie musterte ihre Freundin besorgt, aber gleichzeitig auch kühl. Katie wusste, dass sie Sarah nicht helfen konnte, solange sie wie eine Freundin dachte. Das war der Unterschied zu den Frauen im Zentrum. Dort kamen anonyme Frauen zu ihr, sprachen über ihre Probleme und bekamen Hilfe. Sie hörten zu und duckten sich nicht.
Sarah jedoch war ihre Freundin. Wie lange hatte es gedauert, bis Sarah überhaupt von ihren Problemen mit Tom sprach? Wie oft hatten sie im letzten Jahr hier schon gesessen und über Nichtigkeiten geredet? Über den Hund, den Anna gekauft hatte, über Liz’ Urlaubsreise und Alecs neuen Job. Nichtigkeiten. Und die ganze Zeit über hatte Katie den Schmerz und die Angst in Sarahs Augen gesehen, aber sie hatte nicht nachgefragt. Sie hatte sich darauf verlassen, dass Sarah ihre Freundin war und mit ihr reden würde, wenn sie bereit wäre. Aber das war offensichtlich ein Fehler gewesen.
Nein, Katies Freundschaft half Sarah jetzt nicht.
“Sarah, hör zu”, begann Katie. Im selben Augenblick ertönte Sarahs Pieper. Hektisch nahm sie das kleine Gerät, das die ganze Zeit neben ihr auf dem Tisch gelegen hatte, zur Hand und las die Nachricht. Katie beobachtete, wie sich Sarahs Gesichtsausdruck veränderte, wie er gehetzter und schuldbewusster wurde und wie sie mit einer Hand unwillkürlich ihre pochende Schläfe massierte.
Sarah musste nichts sagen und dennoch wusste Katie, dass die Kopfschmerzen trotz der Tabletten wieder zurückgekehrt waren, unvermindert heftig und stark.
“Katie, ich muss gehen. Es ist später, als ich gedacht habe...”, begann Sarah und suchte eilig ihre Sachen zusammen. Ihre Hände flogen über den Tisch, um die Urlaubsprospekte wieder in ihre Tasche zu schieben. Eine Hand griff nach dem Schlüssel.
Rasch legte Katie ihre Hand auf Sarahs.
“Warte einen Moment, Sarah...”, bat sie.
“Nein, ich kann nicht”, antwortete Sarah mit fast panischer Stimme. Sie stand schon halb und war bereit aus dem Café zu hetzen. “Ich muss los... Toms Mutter... du weißt, ich muss sie abholen...”
Katie hielt einfach nur Sarahs Hand fest und fixierte die Blondine. Zögernd setzte Sarah sich wieder.
“Aber nur kurz. Ich komme sonst zu spät, weißt du?”
“Sarah, dieser Urlaub von dem du gesprochen hast. Wer hat das Reiseziel ausgesucht?”
Verwirrt blinzelte Sarah.
“Die Canyon-Tour? Tom wollte das schon immer einmal machen...”
“Und warum nicht New York? Du wolltest schon immer einmal den Broadway sehen!”
Sarah sah Katie überrascht an.
“Ich versteh nicht, Katie. Tom wollte schon immer mal diese Canyon Tour machen. Der Broadway läuft doch nicht weg.”
“Nein, aber der Grand Canyon auch nicht. Warum muss es dieses Jahr sein? Du hast ständig diese Kopfschmerzen. Sogar Tom sagt, du hast zuviel Stress. Warum also dieses Jahr diese Gewalttour durch die Berge? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du deine Liebe für die Kletterei entdeckt hast!”
Sarah schüttelte irritiert den Kopf.
“Nein, hab ich nicht. Tom meint, es würde nett werden. Eine Abwechslung zum Alltag. Ich verstehe nicht, was du meinst, Katie, und ich muss auch los, wenn Toms Mutter warten muss, dann...”
“Wird sie warten müssen. Ich will das jetzt klären. Du bist meine älteste und beste Freundin. Ich will jetzt von dir hören, warum es letztes Jahr dieser Naturtrip in die Rockys sein musste und dieses Jahr die Kletterei im Canyon. Warum sucht immer Tom eure Ziele aus?”
“Das ist Zufall. Er mag die Großstadt nicht so. Theater ist nichts für ihn und...”
“... und Berge sind was für dich? Du liebst es, zu klettern? Mit Mücken im Zelt zu übernachten? Fast zu ertrinken?”
“Das war mein Fehler!” Mit Grauen erinnerte Sarah sich an die Kanutour, bei der sie über Bord gefallen und fast in den Stromschnellen ertrunken war. “Tom wusste nicht, dass...”
“... dass Wasser nass ist?” Katie schnaubte wütend. “Sarah, Tom ist nicht gut für dich! Er geht Risiken ein, die dich verletzen können. Er hätte dich letztes Jahr sichern müssen! Nicht du hast den Fehler gemacht, sondern er...”
“Ich muss wirklich los, Katie.” Sarah zappelte unruhig herum. Sie wollte nicht mit Katie über Tom reden. Sie hatte schon viel zu viel gesagt und ihrer Freundin einen komplett falschen Eindruck von der Situation gegeben, dabei hätte sie es besser wissen müssen. Natürlich blieb Katie schon allein wegen ihrer Arbeit im Frauenhaus nichts anderes übrig, als nur das Schlimmste zu sehen. Aber das war nicht so. Ihre Probleme waren nicht einmal richtige Probleme. Alles nur eine Frage der Überarbeitung. Jeder hatte mal eine Pause nötig, nicht wahr? Und dieser Urlaub wäre genau das. Tom hatte Recht. Er sorgte sich um sie und es war sicherlich nicht zu viel von ihr verlangt, sich auch um ihn zu kümmern. Oder um seine Mutter. Ihre Augen flogen zur Uhr, die an ihrem Arm hing. Mahnend marschierten die Zeigen vorwärts, die Uhr tickte überlaut.
“Ich will, dass du diesen Urlaub nicht mitmachst!” erklärte Katie auf einmal.
“Was?” Sarah sah von dem Ziffernblatt ihrer Uhr zu Katie hinüber. „Ich soll...“
“Du sollst nicht in die Berge fahren!”
Fassungslos sah Sarah Katie an.
“Ich soll... nicht?”
Katie nickte entschieden.
“Aber... der Urlaub ist geplant! Tom freut sich darauf!”
“Ist mir egal. Ich will, dass du ihm heute Abend sagst, dass du nicht mitfährst!”
“Das kann ich nicht tun. Tom...”
“... ist mir immer noch egal. Du sagst ihm, dass du mit mir, Tara und Liz nach Hawaii fliegst. Zwei Wochen Sonne tanken wird deine Kopfschmerzen vertreiben.”
Es war verlockend, gestand Sarah sich insgeheim ein. Sie konnte es regelrecht vor sich sehen. Nur sie vier und ein weißer Strand, das klare blaue Meer und Palmen. Sie würden viel lachen und Spaß haben. Es wäre wie früher.
Sarah seufzte verträumt.
Dann fiel ihr ein, was Tom von Hawaii hielt und sie erwachte aus ihrem Traum.
“Nein”, schüttelte sie den Kopf. “Das würde Tom nicht gefallen. Er mag Hawaii nicht. Zuviel Kommerz und Konsum. Die Natur wird beschädigt und niemand achtet darauf...”
Katie fluchte.
Sarah starrte ihre Freundin an und überlegte erschrocken, wann sie Katie das letzte Mal hatte fluchen hören. Hatte sie Katie überhaupt schon mal fluchen gehört?
“Es ist mir verdammt egal, ob Tom sich Sorgen um die Natur macht! Ich mach mir Sorgen um dich!”
Sarah schwieg überrascht von diesem Ausbruch und Katie atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich wieder zu beruhigen. Dann lächelte sie vorsichtig Sarah an.
“Hör zu. Dir hat das doch immer Spaß gemacht, oder? Unsere Treffen? Nur wir Frauen und die Sonne und der Strand?”
Zögernd nickte Sarah. Ja, es hatte ihr gefallen, aber hatte sie jemals an die Natur gedacht? An die Insel und die Inselbewohner? Den Schaden, den die Touristen der Flora und Fauna zufügten? Tom dachte immer an so etwas. Tom sorgte sich immer um diese Dinge. Er wusste, was wichtig war und was nicht. Tom...
“Dann möchte ich, dass du Tom heute Abend sagst, dass du mit uns fährst. Wenn nicht zwei Wochen, dann wenigstens eine, ja? Wir spenden auch alle was für den Artenschutz oder so... Das wird lustig, Sarah, wie in alten Zeiten...”
Sarah war immer noch unsicher und sah Katie nachdenklich an. Katie verdrehte kurz die Augen. Sie fluchte innerlich, als ihr nur eine Möglichkeit einfiel, mit der sie Sarah zu diesem Kurztrip überreden konnte. Eine Ausrede, gegen die selbst Tom machtlos war.
“Und außerdem könnten wir dann über Liz und ihr Drogenproblem reden.”
Sarah erstarrte und riss die Augen auf. Wie Katie geahnt hatte, konnte Sarah sich plötzlich nicht mehr bewegen. Liz war ihre kleine Schwester, eine Mischung aus bester Freundin und eigenem Baby. Egal was Sarah tat oder unterließ, sie würde immer für ihre kleine Schwester da sein und sich um sie sorgen.
“Liz hat was?”
Erneut ging Sarahs Pieper und dieses Mal hatte Sarah keinen Blick für das Gerät. Sie fixierte Katie entsetzt.
“Du musst gehen, Kleine”, lächelte Katie sie freundlich an. “Nicht, dass Toms Mutter warten muss...”
“Was soll das mit Liz und einem Drogenproblem?” wollte Sarah wissen.
“Wir reden auf Hawaii darüber”, erklärte Katie und drückte noch einmal Sarahs Hand. “Bis dahin kümmern Tara und ich uns darum. Mach dir keinen Sorgen.” Aber Sarah würde sich Sorgen machen, dass wusste Katie und sie hoffte es sogar. Sie würde sich so große Sorgen machen, dass sie mit den Freundinnen nach Hawaii fliegen würde und dort etwas Abstand zu Tom gewinnen konnte. Und Abstand war in so einem Fall das Beste, wusste Katie.
Jetzt musste sie nur noch Liz von ihrem Drogenproblem unterrichten, aber Liz würde diese kleine Notlüge bestimmt verstehen. Sie machte sich schließlich die gleichen Sorgen um ihre große Schwester.
Bisher war es ein ruhiger Abend gewesen und so saß Michael gemütlich über seinen Büchern, prüfte eingegangene Spenden und bezahlte Rechnungen, stellte Quittungen aus und Überlegungen an, was als Nächstes angeschafft werden musste.
Er saß fast jeden Abend im Frauenverein und beschäftigte sich ehrenamtlich mit den Büchern. Zahlen lagen ihm einfach ebenso am Herzen wie die Frauen, die das Haus mit sehr viel Initiative leiteten. Eine von diesen Frauen, Carol, saß nur wenige Meter von ihm entfernt, aber sie war gleichzeitig unerreichbar fern. Seufzend sah er von seinen Büchern auf und warf einen Blick auf die dunkle Schönheit, die sein Herz erobert hatte.
Sie schlief. Ihr Kopf war einfach nur nach vorne auf ihre Brust gesackt und die Zeitschrift hing noch zwischen ihren Fingern. Für sie war es ein harter Tag gewesen. Jetzt herrschte im Haus überall Ruhe, aber er wusste aus den wenigen Augenblicken, die er tagsüber hier verbracht hatte, dass die Ruhe der Nacht nur der Ausgleich zum Lärm des Tages war. Überall spielten lautstark Kinder aller Altersklassen, die mit ihren Müttern ins Haus geflohen waren. Radios und Fernseher liefen und servierten ungefragt jede Art von Unterhaltung. Dazu kamen noch die Frauen, die sich entweder miteinander unterhielten, stritten oder sich bei einer der Helferinnen ausweinten.
Michael hatte festgestellt, dass Probleme jeglicher Art verdrängt werden konnten, die Frauen “funktionierten” viele Tage, Wochen, Monate lang als wäre nichts passiert, um dann plötzlich und unerwartet über einem Teller Nudeln in Tränen auszubrechen. Tränen, die nicht versiegen wollten.
Die Kinder waren erschrocken und hilflos, wenn dies geschah. Darum waren immer Ehrenamtliche im Haus, die entweder die Kinder oder die betroffenen Frauen auffangen konnten, und so herrschte auch stets eine ungezwungene, chaotische Lautstärke auf jeder Etage des großen Backsteingebäudes. Es gab kaum einen Platz im Haus, den man nutzen konnte, wenn man mal allein und ungestört sein wollte, doch die Frauen schienen das auch nicht zu vermissen. Fast so, als fühlten sie sich sicherer, wenn sie die anderen zu jeder Zeit hören konnten. Sie waren nicht allein. Nicht mehr.
Seine ersten Augenblicke im Haus hatten ihn regelrecht erstarren lassen. Sein alter Freund James Weston hatte ihn gebeten, die Bücher zu übernehmen, weil er selber nicht mehr soviel Zeit dafür hatte. Damals hatte Michael es als Gelegenheit angesehen, Gutes zu tun. Doch als er sich bei der Leiterin des Hauses, Katie Rosenberg, vorstellen wollte, kam ihr ein Notfall dazwischen und so hatte er fast eine Stunde allein mitten im Haus gesessen, um ihn herum der normale Alltag des Frauenhauses. Schreiende oder laut spielende Kinder. Eine Gameshow im Gemeinschaftsfernseher und mehrere Frauen, die davor saßen und sich gegenseitig mit Popcorn bewarfen. So etwas hatte Michael bis dahin nicht gekannt und er war sich auch nicht sicher gewesen, ob er so etwas kennen wollte. Dann war Katie wieder aufgetaucht.
Sie hatte eine Frau namens Carol mitgebracht, die Opfer einer häuslichen Auseinandersetzung geworden war. Eine junge, sehr zierliche dunkelhaarige Frau mit Augen, die ihn so scheu und ängstlich angesehen hatten, dass er das Gefühl hatte, in Rehaugen zu blicken. Sein Herz hatte rascher geschlagen und er hatte sofort gewusst, dass er sich verliebt hatte. Auf völlig eigenartige, unsinnige Weise. Liebe auf den ersten Blick, nannte man das wohl. Ihm war es egal gewesen. Er hatte in diesem völlig unordentlichen, überlauten Haus gestanden und nichts anderes mehr gesehen und gehört. Seine Augen hatten die Dunkelhaarige fixiert, die sich Halt suchend an Katie geklammert hatte und seitdem arbeitete er in jeder freien Minute ehrenamtlich im Haus.
Carol erholte sich gut und schon bald bot sie an, ebenfalls den Verein zu unterstützen. Über ihr vorheriges Leben erfuhr er nicht viel, aber in ihrem jetzigen war sie eine faszinierende Frau, die gerne lachte und der er stundenlang beim Abtippen von irgendwelchen Briefen zusehen konnte. Sie schob immer ihre Unterlippe vor und nagte an ihr herum, wenn sie nachdachte. Ein paar Finger spielten mit den Strähnen ihres Haares und schon war es um seine Konzentration geschehen. Bemerkte sie, dass er sie beobachtete, entfloh sie ihm immer und so genoss er die kostbaren Momente wie diesen, in denen er sie ungestört beobachten konnte.
“Hör bitte auf mich anzustarren, Michael”, flüsterte Carol im selben Moment, in dem er gedankenverloren auf seinen Bleistift biss.
Erstaunt musterte er sie. Sie saß immer noch schlafend auf dem Stuhl. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Brust hob sich gleichmäßig. Hatte er geträumt?
“Ich... äh... Carol?”
“Du sollst mich nicht anstarren.”
Sie war tatsächlich wach. Er verschluckte sich an Bröckchen von dem Bleistiftholz und verzog das Gesicht.
“Ich habe dich nicht angestarrt”, behauptete er so ruhig wie möglich.
“Doch, das hast du. Du tust es immer”, antwortete sie ohne aufzusehen. “Ich merke das. Es macht mich nervös.”
Jetzt wurde er rot und war dankbar darüber, dass sie die Augen nicht öffnete.
“Entschuldige. Das ist mir gar nicht aufgefallen..” Er schenkte ihr einen letzten Blick, ehe er sich wieder auf seine Bücher konzentrierte. Es fiel ihm merklich schwer, sich auf die Zahlen einzulassen, aber er bemühte sich entschlossen. Neben ihm raschelte Carol mit der Zeitschrift, als sie aufstand und sie wegräumte. Dann begann sie, den Raum wie immer in einen ordentlichen Zustand zu bringen, einen Zustand, der wohl nur bis zum Frühstück des folgenden Tages anhalten würde.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie weiterhin und so sah er, wie sie plötzlich in der Bewegung verharrte und zur Tür starrte. Er begriff sofort und erhob sich. Die Aufenthaltsraum/Büro-Mischung befand sich im Erdgeschoss des Hauses, ebenso wie die große Küche, Katies Privatbüro und das Krankenzimmer. Das Haus hatte keinen Eingangsflur, sondern nur einen kleinen quadratischen Anbau, der eher so etwas wie eine zweite Front war, die man abriegeln konnte, falls jemand unerlaubt Zutritt verlangte.
Die Tür, die diesen kleinen Raum vom Rest des Hauses trennte, war aus schwerem Holz, die eigentliche Haustür dagegen aus hellem, freundlichen Glas. Bestand keine Gefahr oder erwartete man Besuch, wurde die Holztür offen gelassen, so dass Carol und Michael ohne Probleme auf den Eingangsbereich sehen konnten, vor dem eine junge Frau verwirrt stehenblieb.
Kaum hatte Carol der Fremden die Tür geöffnet, trat diese ohne zu zögern über die Schwelle. Sie rannte regelrecht in den Aufenthaltsraum und blieb erst stehen, als sie den Blick auf Katies Büro werfen konnten.
Katies Bürotür stand auf und im Raum war es dunkel. Fragend drehte die Blondine sich um. Michael biss die Zähne fest aufeinander, als er die Schwellung auf ihrer Wange sah, die sich bereits bläulich verfärbte. Auf ihrer Unterlippe klebte geronnenes Blut und eines ihrer Augen ließ sich nicht mehr richtig öffnen.
“Wo ist Katie?” fragte die Blondine mit eigenartig ruhiger Stimme. “Sie war nicht zu Hause!”
Carol ging zu ihr und nahm sie sacht am Arm. Gemeinsam gingen die beiden Frauen zur großen, gemütlichen Couch.
“Ich suche Katie”, wiederholte die Unbekannte. “Katie Rosenberg. Sie arbeitet hier. Sie ist immer hier. Ich weiß das. Ich meine, ich war noch nie hier, aber sie ist immer hier. Immer. Wirklich. Wo ist Katie?”
“Sie ist in einer Ausstellung”, antwortete Carol ganz ruhig und setzte sich neben die Blondine. “Du bist Sarah, richtig?”
Michael zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Carol kannte diese Frau?
“Ja, ich suche Katie.”
Carol nickte beruhigend und strich der Blonden sacht über die Haare, ehe sie sich zu Michael umwandte.
“Im Büro hängt Katies Pieper-Nummer. Rufst du bitte dort an?”
Er zögerte keinen Moment, ob er Katie an einem der wenigen freien Abende stören sollte. Als er rasch ins Büro hinüber ging, hörte er hinter sich Carol, die beruhigend auf Sarah einsprach und dabei mit vorsichtigen Bewegungen die Wunden untersuchte.
Eine halbe Stunde später stürmte Katie gefolgt von ihrer Freundin Tara, in die Eingangshalle und nur wenige Sekunden danach lag eine bis dahin ruhige und erschreckend gefasste Sarah ihrer Freundin in den Armen und schluchzte.
Tara setzte sich zu Carol und Michael und nickte ihnen zu, während die beiden Freundinnen sich einfach nur in den Armen hielten. Dann jedoch verwandelte Katie sich von der erschrockenen Freundin in ein Mitglied des Frauenhauses. Fachmännisch begutachtete auch sie die Verletzungen Sarahs und fragte sie genauer, wie es dazu gekommen war.
“Ich bin gefallen... ich meine, das Schlimmste war schon vorher, weißt du? Ich bin doch heute Nachmittag so spät gewesen und da hab ich mich beeilt und dann bin ich gestolpert und auf unseren Tisch gefallen. Du weißt schon, den kleinen Tisch bei der Couch. Und eben... eben hat mich Tom eigentlich nur geschubst. – Nein, nicht mal geschubst. Eigentlich wollte er mich festhalten, als ich gestolpert bin. Aber ich bin ihm weggerutscht. Es war ein Unfall.”
Carol und Michael sagten nichts, aber erstaunlicherweise rutschte plötzlich Carols Finger unter Michaels Hand und er konnte spüren, wie sie bebte. Er schwieg und hörte seinen Herzschlag, während er in das Gesicht der Blondine starrte, das immer mehr anschwoll. In den nächsten Tagen würde es wie ein Regenbogen schimmern.
“Er hat also versucht, dich vor dem Fallen zu beschützen”, fragte Katie ruhig nach.
Sarah nickte, aber ihre Augen flatterten unsicher zu Boden. Sie traute sich nicht, ihrer besten Freundin in die Augen zu sehen und so sah sie nicht, wie diese einen traurigen, wütenden Blick mit ihrer Gefährtin tauschte.
“Sarah?” flüsterte Katie dann. “Du bist nicht gefallen.”
“Doch, bin ich.”
“Nein, du bist gestürzt, weil er dich geschlagen hat. Das ist keine Schande, Sarah. Das passiert vielen Frauen. Du bist hier und das ist das Wichtigste. Wir helfen dir.”
Sarah schwieg. Es schien, als bräuchte sie einen Moment, um zu begreifen, was sie getan hatte. Jeder im Raum konnte sehen, wie sie gedanklich die Geschehnisse noch einmal durchging. Sie war aus ihrer gemeinsamen Wohnung weggelaufen. Sie hatte nicht mal gesagt, wohin sie ging. Sie war einfach aufgesprungen und gerannt. Planlos. Panisch. Was sollte sie jetzt nur tun?
“Ich bin gestürzt”, wiederholte sie verwirrt. Er hatte sie nicht geschlagen. Tom würde so etwas nie tun. Er sorgte sich um sie. Er liebte sie. Er würde niemals etwas tun, was ihr schaden könnte. Niemals.
“Nein, bist du nicht”, widersprach Katie. “Du hast ihm gesagt, dass er allein den Canyon besuchen soll, oder?”
Das war richtig. Sie war unsicher gewesen, wie er darauf reagieren würde, aber dann hatte sie es doch getan. Schließlich ging es um Liz, oder nicht? Es war richtig, den Urlaub für die kleine Schwester zu opfern. Sogar Tom fand, dass Familie das Wichtigste war.
“Ich habe es ihm gesagt. Ja.”
“Und da ist er ausgerastet?” fragte Tara von ihrem Platz auf der Couch aus ruhig. In ihren Augen konnte Sarah, als sie aufsah, genauso viel Verständnis und Sorge lesen wie in Katies.
“Nein, ist er nicht. Er hat... wir haben... geredet. Wir haben geredet.”
“Und dann?”
“Nichts. Ich bin gefallen. Ich wollte ins Bett. Es war spät. Ich muss morgen früh zur Arbeit. Ich war müde. Er wollte mich noch auffangen, aber irgendwie... ”
“Bist du in seine Faust gefallen”, knurrte Carol leise an Michaels Seite und ihre Finger krallten sich in seine Hand. Er genoss das Gefühl und wünschte sich gleichzeitig, einmal demjenigen gegenüber zu stehen, der sie dazu brachte sich festzukrallen.
“Nein, so war es nicht!” Sarahs Blick flog von Tara zu Carol und dann wieder zu Katie.
“Es war ganz anders. Wirklich!”
Katie nickte beruhigend.
“Ist auch egal, Sarah. Du hast erst einmal die Möglichkeit hier zu übernachten. Ein Bett für die Nacht ist wichtig in so einem Fall. Du kannst auch mit zu mir und Tara kommen, aber ich fürchte, da würde er dich suchen und du brauchst erst mal Ruhe. Ruhe und Zeit. Einen Ort, an dem du über alles nachdenken kannst. Ganz ruhig und entspannt.”
Sarahs Augen hielten Katies fest. Es klang so vernünftig, was die Rothaarige sagte, so richtig. Aber war es das auch? Sie wünschte sich unwillkürlich, sie könnte Tom fragen, was er darüber dachte. Er wusste immer alles.
Sie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Sie war so verwirrt. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Gedanken und Gefühle überstürzten sich. Sie hörte Schreie und erst nach einem Moment erkannte sie Toms und ihre Stimme. Sie blinzelte überrascht mit den Augen. War Tom hier? Wusste er, wo sie war? Hatte er sie hergebracht? Alles war so durcheinander.
“Sarah?” Katie drückte sacht ihre Schulter und löste damit ein leises Aufstöhnen aus. Sie warf einen zornigen Blick zur Decke hoch, ehe sie wieder Sarah ein freundliches Lächeln schenkte. “Wir müssen dich wohl erst ins Krankenhaus bringen.”
“Nein!” Sarah schüttelte den Kopf. Eine Hand flog zu der schmerzenden Schulter. “Wirklich. Ich bin gestürzt. Es geht mir gut.”
Katie holte tief Luft, um die Fassung zu bewahren. Dann nickte sie zustimmend.
“Gut, aber ich möchte wissen, wo du dich überall verletzt hast, als du gestürzt bist, okay?”
Sarah nickte erleichtert.
“Nur an der Schulter, und vielleicht, am Rücken ein wenig. Ich bin wirklich böse gestolpert.” Sie versuchte ein klägliches Lächeln. “Ich weiß nicht einmal, warum ich zu dir gekommen bin. Keine Ahnung, was Tom jetzt denken muss. Wahrscheinlich macht er sich Sorgen. Ich sollte nach Hause gehen...”
“Nein, solltest du nicht! - Michael? Würdest du bitte kurz raus gehen? Ich will mir Sarah genau ansehen.”
Michael nickte rasch und erhob sich. Nur ungern ließ er es zu, dass Carols Hand aus seiner glitt, doch er sah die Notwendigkeit ein und so schenkte er Carol einen letzten Blick, den nur Tara bemerkte, und verließ Katies Büro.
Katie bat Sarah, sich das Oberteil auszuziehen und wenig später konnten die drei Frauen den prächtigen blauen Fleck bewundern, der sich von Sarahs rechter Schulter bis hinunter zu ihrer Hüfte zog.
“Gefallen, ja?” fragte Carol nach und holte tief Luft.
Sarah verdrehte den Kopf, aber sie stellte fest, dass sie nicht mehr so gelenkig war wie früher. Irgendwie konnte sie den Kopf nicht mal richtig drehen.
“Ist es schlimm?”
“Du kannst dich wieder anziehen”, murmelte Katie und verwünschte sich im Geiste selber. Sie hätte es kommen sehen können. Sie hätte es sehen müssen! “Nein, es ist nicht so schlimm. Ein riesiger blauer Fleck, der dir eine ganze Weile Schwierigkeiten machen wird.”
“Schwierigkeiten?” echote Sarah überrascht, während sie ihre Bluse wieder anzog. “Ich will in nächster Zeit an keiner Schönheitskonkurrenz teilnehmen, Katie.”
Katie schnaubte verächtlich.
“Das wirst du auch nicht können, Sarah, ebenso wenig wie du dir wahrscheinlich deine Schuhe allein anziehen wirst oder morgen früh problemlos aus dem Bett kommen...”
Sarahs Augen wurden groß.
“Wie bitte?” Eine Hand tastete zu ihrer schmerzenden Schulter. “Ich bin doch nur gestürzt.”
“Du hast Prellungen, einen riesigen Bluterguss und wahrscheinlich bist du so ungeschickt „gestürzt”, dass du dir die Wirbelsäule verrenkt hast. Das wird eine ganze Weile schmerzen”, erklärte Tara mitfühlend. “Wie ein übler Muskelkater, wenn du Glück hast.”
“Wenn ich Glück habe?” Sarah schluckte entsetzt. “Und wenn nicht?”
“Wirst du ins Krankenhaus müssen, weil du eine Gehirnerschütterung hast. Dir wird schlecht, du musst dich übergeben. Du könntest ein Trauma haben. Im schlimmsten Fall ins Koma fallen...”
Sarah fühlte jetzt schon, wie ihr schlecht wurde.
“Oh, Gott, Katie!” hilfesuchend sah Sarah ihre Freundin an. “Ich bin doch nur gefallen!”
“Nein, bist du nicht, Sarah!” knurrte Katie gereizt. “Er hat dich geschlagen, gestoßen, was auch immer und du bist verletzt. Er hat dich sogar gehen lassen, obwohl du verletzt bist. Er ist ein Schwein! Und du brauchst Hilfe und kannst von Glück sagen, dass wir sie dir geben können. Du bist nicht allein, Sarah! Du wirst es niemals sein. Du hast Freunde, die dich beschützen und die für dich sorgen und es wird alles wieder gut. Hörst du? Das hier ist nur vorübergehend. Bald ist es vorbei und dann leben wir alle wieder zufrieden unser glückliches Leben. Ohne diesen Bastard!”
Sarah starrte ihre beste Freundin einfach nur sprachlos an. Sie sprach von Tom. Von dem Mann, den Sarah heiraten wollte. Sie wollten Kinder haben. Ein Haus. Ein gemeinsames Leben.
“Katie... ?” Sarah fühlte sich verwirrt. Sie sah die riesige Faust auf sich zu kommen. Sie verstand es nicht. Es war ein Versehen gewesen, oder? Allein die Frage ließ Sarah erbleichen. Dies war Tom. Ihr Freund. Ihre Familie.
“Sarah, ich verstehe, dass du verwirrt bist. Das wäre jeder.” Katie atmete mit einem Mal wieder ruhiger. Dies war zwar Sarah, ihre Freundin, aber es war auch eine Frau in Not und von denen hatte sie in den letzten Jahren Hunderten geholfen. Dies war vertrautes Pflaster. “Du brauchst Ruhe, mehr nicht. Einen Ort, an dem du dich sicher fühlst und an dem du überlegen kannst. Nur für dich. Verstehst du? Ich will dich zu nichts zwingen oder drängen und auch Tom wird das nicht tun können, aber du musst dein Leben überdenken.”
Zustimmend nickte Sarah. Das klang vernünftig. Ein Ort, an dem sie ganz allein sein konnte. Einmal alles in Ruhe überlegen. Gab es überhaupt was zu überlegen?
“Aber wo...?”
“Mary?” hörte Sarah im selben Moment Tara vorschlagen.
Katie und Tara tauschten einen nachdenklichen Blick, dann nickte Katie.
“Für heute bleibst du erst mal hier, Sarah. Carol und Michael werden sich um dich kümmern. Ich kann auch hier bleiben und morgen bring ich dich zu einer Freundin.”
“Eine Freundin?” Sarah erschien das Gespräch immer unwirklicher. Vielleicht war alles nur ein Traum, ein eigenartiger, verwirrender Traum, und sie würde bald aufwachen mit Tom an ihrer Seite und der großen, schweren Eiche vor dem Schlafzimmerfenster.
“Ja, Mary ist eine Freundin von uns. Eine der ehrenamtlichen Helferinnen. Das heißt, sie war es mal, aber inzwischen hat sie private Probleme bekommen und arbeitet nicht mehr bei uns. Aber sie hat eine kleine Wohnung in ihrem Haus. Nichts Großes oder Besonderes, nur eine Wohnung mit einem Zimmer, einem Bad und einer Küche. Niemand kennt sie und sie wohnt in einer Gegend, in der dich niemand kennen wird. Du hättest dort alles was du brauchst. Ruhe und Frieden zum Nachdenken. Sicherheit. Ungestörtheit.”
Sarah zögerte unsicher. Wollte sie das wirklich? Sie fühlte sich sicher bei Tom. Er war immer da gewesen, wenn es etwas gab, was sie belastet hatte. Er liebte sie.
“Du kannst Tom eine Nachricht schreiben, wenn du magst”, schlug Tara vor. Sie ignorierte Katies bösen Blick. “Sag ihm, dass du Urlaub brauchst. Eine Auszeit. Jede Beziehung braucht so was mal. Er wird das verstehen und sich nicht um dich sorgen.”
Immer noch unsicher nickte Sarah schließlich. Es klang wirklich gut, was die beiden ihr vorschlugen. Vernünftig. Und Tom legte Wert darauf, dass Sarah sich vernünftig und rücksichtsvoll verhielt.
“Was für Probleme?” fragte sie, weil sie wusste, dass es sich gehörte, sich nach so etwas zu erkundigen. Katie hätte es sonst gar nicht erst erwähnt.
Katie sah Sarah einen Augenblick überrascht an, dann begriff sie.
“Marys Bruder, Will, ist vor ein paar Monaten gestorben. Er war ihre einzige Familie und hat ihr sehr viel bedeutet. Es ging ihr nach seinem Tod nicht besonders gut und sie musste eine Therapie machen, aber jetzt hat sie sich wieder gefangen. Sie ist okay, ein bisschen verrückt, aber in Ordnung.”
Sarah nickte ruhig. Es klang wirklich vernünftig, und verlockend.