Читать книгу Agnes Grey - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDas Pfarrhaus
In allen wahren Geschichten steckt ein Stück Belehrung, doch ist dieser Schatz häufig nur schwer zu entdecken und, wenn man ihn dann gefunden hat, oft so geringfügig, dass man sich fragt, ob der trockene, schrumpelige Kern überhaupt die Mühe wert war, die Nuss zu knacken. Es steht mir nicht an zu beurteilen, ob dies bei meiner Geschichte der Fall ist oder nicht. Manchmal glaube ich, sie könnte sich für einige Menschen als nützlich, für andere als unterhaltsam erweisen; aber das soll jeder selbst beurteilen. Geschützt durch meine Unbekanntheit, die mittlerweile vergangene Zeit und ein paar erfundene Namen will ich mutig darangehen, dem Leser ganz offen zu schildern, was ich nicht einmal meinem innigsten Freund enthüllen würde.
Mein Vater war ein Geistlicher aus dem Norden Englands, zu Recht geachtet von allen, die ihn kannten, und lebte in seinen jüngeren Jahren einigermaßen sorgenfrei von den Einkünften, die eine bescheidene Pfarrstelle und ein hübscher kleiner Besitz erbrachten. Meine Mutter, die ihn gegen den Willen ihrer Familie heiratete, war die Tochter eines Gutsherrn und eine intelligente Frau. Umsonst hielt man ihr vor Augen, dass sie im Falle einer Heirat mit dem armen Pfarrer auf ihre Kutsche, ihre Zofe, allen Luxus und alle Herrlichkeiten des Reichtums verzichten müsse, die für sie doch ganz selbstverständlich zum Leben gehörten. Eine Kutsche und eine Zofe waren sicherlich große Annehmlichkeiten, aber Gott sei Dank, besaß sie zwei Füße, die sie trugen, und zwei Hände, mit denen sie für sich selbst sorgen konnte. Ein vornehmes Haus und ausgedehnte Ländereien waren nicht zu verachten; sie aber würde lieber mit Richard Grey in einem kleinen Haus wohnen als mit irgendeinem anderen Mann auf der Welt in einem Palast.
Als ihr Vater merkte, dass alle Argumente nichts fruchteten, teilte er den Liebenden schließlich mit, sie sollten ruhig heiraten, wenn es ihnen gefiele; in diesem Falle aber verlöre seine Tochter auch den kleinsten Teil ihres Vermögens. Er erwartete, dass sich daraufhin die Leidenschaft der beiden abkühlen würde, aber er irrte. Mein Vater kannte den außergewöhnlichen Wert meiner Mutter zu gut, um sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass sie allein schon ein kostbarer Besitz war; und wenn sie nur einwilligen wolle, sein bescheidenes Heim zu verschönern, wäre er glücklich, sie zu heiraten, ganz gleich zu welchen Bedingungen. Sie ihrerseits wollte lieber mit den eigenen Händen arbeiten, als von dem Manne getrennt zu sein, den sie liebte, den glücklich zu machen ihr eine Freude sein würde und mit dem sie schon jetzt eins war in Herz und Seele. So vergrößerte ihr Erbteil das Vermögen einer klügeren Schwester, die einen Krösus geheiratet hatte, während sie sich – zum Erstaunen und mitleidigen Bedauern aller ihrer Bekannten – in dem einfachen Pfarrhaus inmitten der Hügel von –– vergrub. Und doch glaube ich, dass man trotz alledem, trotz des vornehmen Wesens meiner Mutter und den Grillen meines Vaters in ganz England kein glücklicheres Paar finden würde.
Meine Schwester Mary und ich waren die beiden einzigen von sechs Kindern, die die Gefahren von Säuglingsalter und früher Kindheit überlebten. Da ich fast sechs Jahre jünger war, wurde ich immer als das Kind und der Liebling der Familie angesehen: Vater, Mutter und Schwester verwöhnten mich alle zusammen, nicht durch törichte Nachgiebigkeit, die mich widerspenstig und unbeherrscht gemacht hätte, sondern durch grenzenlose Güte, die mich hilflos und abhängig machte – untauglich, um es mit den Unbilden des Lebens aufzunehmen. Meine Mutter, die zugleich wohlerzogen, höchst gebildet und gerne beschäftigt war, übernahm die ganze Verantwortung für unsere Erziehung, mit Ausnahme von Latein, worin uns mein Vater unterrichtete, so dass wir nicht einmal zur Schule gingen; und da es in der Nachbarschaft sonst keinen Umgang gab, bestand unsere einzige Verbindung zur Welt in einer hin und wieder stattfindenden Tee-Gesellschaft mit den führenden Landwirten und Geschäftsleuten der Umgebung (um zu vermeiden, dass man uns als zu stolz einstufte, mit unseren Nachbarn zu verkehren) und einmal im Jahr einem Besuch bei unserem Großvater väterlicherseits, bei dem dieser, unsere gute Großmama, eine unverheiratete Tante und zwei oder drei ältere Damen und Herren die einzigen Menschen waren, die wir je zu Gesicht bekamen. Manchmal unterhielt uns unsere Mutter mit Geschichten und Anekdoten aus ihrer Mädchenzeit, die uns ungeheuren Spaß bereiteten und – wenigstens in mir – häufig den geheimen Wunsch weckten, ein bisschen mehr von der Welt zu sehen.
Ich dachte, dass sie sehr glücklich gewesen sein musste; doch sie schien niemals den alten Zeiten nachzutrauern. Mein Vater aber, dessen Gemüt von Natur aus weder besonders gelassen noch heiter war, quälte sich oft übermäßig bei dem Gedanken an die Opfer, die seine liebe Frau ihm gebracht hatte, und zermarterte sich den Kopf, indem er unaufhörlich Pläne schmiedete, wie er um ihret- und unseretwillen sein kleines Vermögen vermehren könnte. Vergebens versicherte ihm meine Mutter, dass sie vollkommen zufrieden sei, und wenn er nur etwas für die Kinder beiseitelegen würde, hätten wir doch reichlich von allem, jetzt und auch in Zukunft; aber Sparen war nicht die starke Seite meines Vaters. Er geriet zwar nicht gerade in Schulden (wenigstens passte meine Mutter gut auf, dass das nicht geschah), aber wenn er Geld hatte, musste er es auch ausgeben; er wollte gern ein behagliches Heim haben, seine Frau und seine Töchter sollten gut gekleidet und ihre Bedienung angemessen sein. Zudem war er barmherziger Natur und spendete gern den Armen, so wie es seinen Mitteln entsprach oder, wie manch einer denken mochte, auch darüber hinaus.
Schließlich jedoch wies ihm ein wohlmeinender Freund den Weg, wie er seinen Privatbesitz mit einem Schlag verdoppeln, ihn später sogar ins Unermessliche steigern könne. Dieser Freund war Kaufmann, ein Mann mit Unternehmungsgeist und unbestrittenem Talent, der durch einen Mangel an Kapital in seinem geschäftlichen Tatendrang etwas eingeengt war, aber großzügig vorschlug, meinem Vater einen angemessenen Anteil an seinen Gewinnen zukommen zu lassen, wenn dieser ihm nur alles anvertrauen würde, was er erübrigen könne; und wie hoch die ihm anvertraute Summe auch immer sei, er glaubte, sicher versprechen zu können, dass sie meinem Vater einen hundertprozentigen Gewinn brächte. Das bescheidene Erbvermögen wurde umgehend verkauft, der gesamte Gegenwert dem hilfsbereiten Kaufmann überantwortet, der seinerseits unverzüglich daranging, seine Fracht zu verladen und seine Reise vorzubereiten.
Mein Vater war, wie wir alle, begeistert über unsere vielversprechenden Aussichten. Denn zugegeben, gegenwärtig waren wir gezwungen, von den kargen Einkünften der Pfarrstelle zu leben. Aber mein Vater hielt es anscheinend nicht für nötig, dass sich unsere Ausgaben exakt darauf beschränkten, und so hatten wir durch einen Dauerkredit bei Mr. Jackson, einen weiteren bei Smith und einen dritten bei Hobson sogar ein besseres Auskommen als vorher. Meine Mutter vertrat allerdings die Ansicht, wir sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten bleiben, denn letztendlich sei unsere Aussicht auf Reichtum doch recht unsicher, und wenn mein Vater sich bloß in allem ihrer Führung anvertrauen würde, solle er sich bestimmt nie eingeengt fühlen; dieses eine Mal aber war er nicht umzustimmen.
Welch glückliche Stunden verbrachten Mary und ich damit – ob wir nun mit unserer Arbeit am Feuer saßen, über die mit Heidekraut bedeckten Hügel wanderten oder unter der Hängebirke faulenzten (dem einzig bemerkenswerten Baum im Garten übrigens) –, über unser zukünftiges Glück und das unserer Eltern zu sprechen, darüber, was wir tun, sehen und besitzen würden; dabei hatten wir keine solidere Grundlage für unsere großartigen Gedankengebäude als die Reichtümer, die die erfolgreichen Spekulationen des ehrenwerten Kaufmanns uns hoffentlich bescheren würden. Unserem Vater ging es nicht viel besser als uns, nur gab er vor, die Sache nicht so ernst zu nehmen. Seine strahlenden Hoffnungen und überschwänglichen Erwartungen drückten sich in Späßen und witzigen Einfällen aus, die ich stets ausgesprochen geistreich und lustig fand. Unsere Mutter lachte vergnügt, wenn sie ihn so hoffnungsfroh und glücklich sah, aber sie fürchtete noch immer, dass sein Herz zu sehr an dieser Angelegenheit hing, und einmal hörte ich sie beim Verlassen des Zimmers murmeln: »Gebe Gott, dass er nicht enttäuscht wird! Ich weiß nicht, wie er das ertragen würde.«
Aber er wurde enttäuscht, und zwar bitterlich. Wie ein Donnerschlag traf uns die Nachricht, dass der Segler, an dessen Bord sich unser Vermögen befand, Schiffbruch erlitten habe und mit der ganzen Ladung, einem Teil der Mannschaft und dem unglücklichen Kaufmann gesunken sei. Ich grämte mich um ihn, ich grämte mich um den Einsturz all unserer Luftschlösser, aber mit der Schwungkraft der Jugend erholte ich mich bald wieder von dem Schock.
Mochte der Reichtum seine Reize haben, die Armut besaß jedenfalls keinerlei Schrecken für ein unerfahrenes Mädchen wie mich. Ja, um ehrlich zu sein, hatte der Gedanke, dass wir in die Enge getrieben und auf unsere eigene Findigkeit angewiesen waren, etwas Anregendes für mich. Ich hätte nur gewünscht, Papa, Mama und Mary wären der gleichen Ansicht gewesen; dann hätten wir alle, statt vergangenes Unheil zu beklagen, frohen Mutes darangehen können, es wiedergutzumachen, und je mehr Schwierigkeiten es gab, umso stärker würden wir dagegen kämpfen; je härter unsere derzeitigen Entbehrungen waren, umso lieber wollten wir sie ertragen.
Mary beklagte sich nicht, aber sie dachte unaufhörlich über das Unglück nach und geriet in einen Zustand der Niedergeschlagenheit, aus dem ich sie trotz all meiner Anstrengungen nicht aufrütteln konnte. Ich vermochte sie jedenfalls nicht dazu zu bringen, die Angelegenheit so wie ich von ihrer positiven Seite zu sehen; und ich fürchtete sogar, dass sie mir kindischen Leichtsinn oder blanke Gefühllosigkeit vorwerfen würde, und behielt die meisten meiner glänzenden Einfälle und aufmunternden Bemerkungen sorgsam für mich, wohl wissend, dass sie sie nicht schätzen würde.
Meine Mutter dachte nur daran, meinen Vater zu trösten, unsere Schulden zu bezahlen und unsere Ausgaben mit allen zu Gebote stehenden Mitteln einzuschränken. Meinen Vater aber hatte das Unglück vollkommen überwältigt: Gesundheit, Kraft und geistige Verfassung verschlechterten sich aufgrund des Schicksalsschlages, und er sollte sich nie wieder völlig davon erholen. Vergebens bemühte sich meine Mutter, ihn aufzumuntern, indem sie an seine Frömmigkeit, seinen Mut und seine Liebe zu ihr und uns appellierte. Gerade diese Liebe war seine größte Qual: Um unsertwillen hatte er so sehnlichst gewünscht, sein Vermögen zu vermehren, der Gedanke an uns hatte seine Hoffnungen so überstrahlt und trug nun so viel Bitterkeit zu seinem gegenwärtigen Kummer bei. Es quälten ihn Gewissensbisse, weil er den Rat meiner Mutter nicht befolgt hatte, der ihm wenigstens die zusätzliche Schuldenlast erspart hätte; vergebens machte er sich Vorwürfe, sie aus der Würde, der Behaglichkeit, dem Luxus ihres früheren Standes herausgelöst zu haben, während sie sich stattdessen an seiner Seite mit den Sorgen und Mühen der Armut abplagen musste. Es lag ihm bitter auf der Seele, diese prächtige, hochgebildete, einst so sehr hofierte und bewunderte Frau in eine emsig wirtschaftende Hausfrau verwandelt zu sehen, die sich mit Kopf und Händen unablässig alltäglichen Haushalts- und Wirtschaftsfragen widmen musste. Die Bereitschaft, mit der sie diesen Pflichten nachkam, die Heiterkeit, mit der sie den Rückschlag ertrug, die Güte, die sie davon abhielt, ihm auch nur die geringste Schuld zuzuweisen: All dies führte bei seinem selbstquälerischen Talent zu einer zusätzlichen Verschlimmerung seiner Leiden. So zehrte der Geist am Körper und brachte das Nervensystem in Unordnung, die Nerven wiederum verstärkten die geistigen Beschwerden, bis schließlich durch Wirkung und Gegenwirkung seine Gesundheit ernstlich beeinträchtigt war; und keiner von uns vermochte ihn davon zu überzeugen, dass unsere Zukunftsaussichten nicht halb so düster, so gänzlich hoffnungslos waren, wie er es sich in seiner krankhaften Phantasie vorstellte.
Der nützliche Ponywagen wurde verkauft, zusammen mit dem kräftigen, wohlgenährten Pony, unserem alten Lieblingstier, das laut einhelligem Beschluss seine Tage friedlich bei uns beenden sollte und von dem wir uns niemals hatten trennen wollen. Der kleine Wagenschuppen und der Stall wurden vermietet, der Dienstbursche und das tüchtigere der beiden Dienstmädchen (welches das kostspieligere war) wurden entlassen. Unsere Kleider wurden ausgebessert, gewendet und bis an die Grenzen der Schicklichkeit geflickt; unsere Mahlzeiten, auch bisher schon bescheiden, wurden nun in einem nie gekannten Ausmaß vereinfacht – mit Ausnahme der Lieblingsgerichte meines Vaters; Kohlen und Kerzen wurden peinlich genau eingeteilt: die zwei Kerzen auf eine einzige reduziert und auch diese nur sparsam gebraucht; auch mit den Kohlen im halbvollen Kamin gingen wir haushälterisch um; vor allem, wenn mein Vater wegen seiner Gemeindepflichten unterwegs oder krank ans Bett gefesselt war, saßen wir da, die Füße auf dem Ofenschirm, schoben von Zeit zu Zeit die verglimmenden Kohlen zusammen und schütteten gelegentlich etwas von den verstreuten Kohlestückchen und Kohlenstaub darüber, um die Glut nicht verlöschen zu lassen. Was unsere Teppiche anging, so waren sie mit der Zeit abgenützt und noch weitaus mehr geflickt und gestopft als unsere Kleider. Um die Ausgaben für einen Gärtner zu sparen, übernahmen Mary und ich es, den Garten in Ordnung zu halten; alle Küchen- und Hausarbeit, die von einem einzigen Hausmädchen nicht leicht zu bewältigen war, wurde von meiner Mutter und meiner Schwester erledigt, wobei ich sie gelegentlich ein wenig unterstützte: ich betonte ein wenig, denn obwohl ich meiner Ansicht nach bereits eine Frau war, in ihren Augen war ich noch immer ein Kind. Wie die meisten tatkräftigen, rührigen Frauen war meine Mutter nicht mit ebenso tatkräftigen Töchtern gesegnet, und zwar aus folgendem Grund: Da sie selber so klug und fleißig war, geriet sie nie in die Versuchung, ihre Angelegenheiten jemand anderem anzuvertrauen, sondern war im Gegenteil stets dazu bereit, für andere zu handeln und zu denken wie für sich selbst; und was es auch war, sie neigte stets zu der Ansicht, niemand könne es so gut erledigen wie sie selbst. Wann immer ich anbot, ihr zu helfen, erhielt ich eine Antwort wie: »Nein, Liebes, das kannst du nicht, es gibt hier wirklich nichts zu tun für dich. Geh und hilf deiner Schwester oder sieh zu, dass sie mit dir spazieren geht; sag ihr, sie soll nicht so viel herumsitzen und sich ständig im Haus aufhalten – sie wird sonst noch ganz mager und erbärmlich aussehen.«
»Mary, Mama sagt, ich soll dir helfen oder dich zu einem Spaziergang überreden; sie sagt, du wirst ganz mager und erbärmlich aussehen, wenn du ständig im Haus herumsitzt.«
»Du kannst mir nicht helfen, Agnes, und ich kann nicht mit dir nach draußen gehen – ich habe zu viel zu tun.«
»Dann lass mich dir doch helfen.«
»Das kannst du wirklich nicht, liebes Kind. Übe ein bisschen Klavier oder spiel mit dem Kätzchen.«
Es war immer genug Näharbeit vorhanden, aber ich hatte nicht gelernt, ohne fremde Hilfe ein Kleid zuzuschneiden, und so gab es außer einfachem Säumen und Zusammennähen auch auf diesem Gebiet wenig für mich zu tun. Denn beide versicherten, es sei für sie viel leichter, die Arbeit selbst zu machen, als sie für mich vorzubereiten; außerdem sähen sie es viel lieber, wenn ich mit meinen Studien fortführe oder mich amüsierte, schließlich hätte ich immer noch Zeit, wie eine würdige Matrone über meine Arbeit gebeugt zu sitzen, wenn mein kleines Lieblingskätzchen erst eine gesetzte alte Katze geworden wäre. Wenn ich auch unter diesen Umständen nicht viel nützlicher als das Kätzchen war, darf man meinen Müßiggang also nicht gänzlich verurteilen.
Trotz all unserer Sorgen hörte ich meine Mutter nur ein einziges Mal über unseren Geldmangel klagen. Als der Sommer nahte, sagte sie zu Mary und mir: »Wie schön wäre es für euren Vater, ein paar Wochen in einem Seebad zu verbringen. Ich bin überzeugt, die Seeluft und der Ortswechsel würden ihm unendlich guttun. Aber dafür haben wir freilich kein Geld«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu. Wir beide hätten nur zu sehr gewünscht, dass dieser Plan in die Tat umgesetzt worden wäre, und beklagten zutiefst, dass dies unmöglich war. »Nun, nun«, sagte sie, »da hilft kein Jammern. Vielleicht können wir doch etwas tun, um das Vorhaben auszuführen. Mary, du kannst doch so herrlich zeichnen. Was hältst du davon, noch ein paar Bilder in deinem besten Stil zu malen, sie rahmen zu lassen und zu versuchen, sie mit den bereits fertigen Aquarellen an einen großzügigen Bilderhändler zu verkaufen, der ihren Wert zu schätzen weiß?«
»Ich würde mich freuen, Mama, wenn du sie für so gut hältst, dass man sie überhaupt verkaufen kann.«
»Zumindest ist es der Mühe wert, es zu versuchen, meine Liebe. Sorge du für die Bilder, ich will mich bemühen, einen Käufer dafür zu finden.«
»Ich wünschte, ich könnte auch etwas tun«, sagte ich.
»Du, Agnes! Nun, wer weiß? Du zeichnest doch auch ganz nett; wenn du ein einfaches Motiv wählst, wirst du, glaube ich, in der Lage sein, ein Bild zu malen, das wir alle voller Stolz ausstellen werden.«
»Aber ich dachte an etwas anderes, Mama, und zwar schon lange, nur wollte ich nicht darüber sprechen.«
»Wirklich? Dann sag uns bitte, worum es sich handelt.«
»Ich würde gern als Erzieherin arbeiten.«
Meine Mutter gab einen Ausruf des Erstaunens von sich und brach in Lachen aus. Meine Schwester ließ überrascht ihre Arbeit sinken und rief: »Du Erzieherin, Agnes! Wie kannst du dir nur so etwas ausdenken!«
»Nun, ich kann darin nichts Außergewöhnliches entdecken. Ich behaupte ja nicht, dass ich große Mädchen unterrichten kann, aber bei kleinen traue ich mir das zu, und ich würde es wirklich gern tun: Ich mag Kinder doch so sehr. Bitte erlaub es, Mama!«
»Aber Liebes, du hast noch nicht einmal gelernt, auf dich selbst aufzupassen, und es gehört mehr Verständnis und Erfahrung dazu, mit kleinen Kindern umzugehen als mit größeren.«
»Aber Mama, ich bin über achtzehn und durchaus in der Lage, auf mich und andere aufzupassen. Du weißt nur nicht, wie klug und vernünftig ich bin, weil ihr mich nie auf die Probe gestellt habt.«
»Nun überleg doch bloß mal«, sagte Mary, »was würdest du in einem Haus voll fremder Menschen anfangen, ohne dass ich oder Mama für dich sprechen oder handeln könnten, mit einer Kinderschar, auf die du wie auf dich selbst achtgeben müsstest, und ohne die Möglichkeit, jemanden um Rat zu fragen? Du wüsstest doch noch nicht einmal, was du anziehen sollst.«
»Du glaubst wohl, weil ich immer tue, was ihr wollt, ich hätte keine eigene Meinung; aber gebt mir die Gelegenheit zu zeigen, was ich kann – das ist alles, worum ich bitte.«
In diesem Augenblick kam mein Vater herein, und wir klärten ihn über den Gegenstand unserer Diskussion auf.
»Was, meine kleine Agnes als Gouvernante!«, rief er aus und musste trotz aller Niedergeschlagenheit bei dieser Vorstellung lachen.
»Ja, Papa, sag wenigstens du nichts dagegen. Ich würde es so gerne versuchen und bin überzeugt, dass es mir bestens gelingen würde.«
»Aber Liebling, wir könnten dich nicht entbehren.« Und mit Tränen in den Augen setzte er hinzu: »So groß unser Elend auch ist, diesen Schritt werden wir ganz bestimmt noch nicht tun.«
»O nein!«, sagte meine Mutter. »Es gibt überhaupt keinen Anlass dafür, es ist nur eine Laune von ihr. Also halt deinen Mund, du ungezogenes Mädchen, denn auch wenn du es so eilig hast, uns zu verlassen, so weißt du nur zu gut, dass wir uns nicht von dir trennen können.«
An diesem wie auch an vielen folgenden Tagen schwieg ich, aber ich gab meine Lieblingsidee noch immer nicht ganz auf. Mary holte ihre Malutensilien hervor und machte sich entschlossen an die Arbeit. Ich nahm meine auch, aber während ich malte, hatte ich andere Dinge im Kopf. Wie herrlich wäre es doch, Erzieherin zu sein! Ich würde in die Welt hinausgehen, ein neues Leben beginnen, selbständig handeln, meine ungenutzten Fähigkeiten einsetzen, meine unbekannten Anlagen erproben, meinen Unterhalt selbst verdienen und noch etwas darüber hinaus, um Vater, Mutter und Schwester hilfreich zu unterstützen, ganz abgesehen davon, dass ich sie von den Ausgaben für mein Essen und meine Kleidung entlastete; ich würde meinem Vater beweisen, wozu seine kleine Agnes in der Lage war, und Mama und Mary davon überzeugen, dass ich doch nicht ganz das hilflose, unbekümmerte Geschöpf war, das sie in mir vermuteten. Ach, und dann, wie reizend wäre es, mit der Betreuung und Erziehung von Kindern betraut zu sein! Was die anderen auch sagten, ich fühlte mich der Aufgabe vollauf gewachsen: Die genaue Erinnerung an die Gedanken, die ich selbst in früher Kindheit gehabt hatte, würden mir eine zuverlässigere Anleitung sein als die Lehren des erfahrensten Ratgebers. Ich brauchte lediglich das Verhalten meiner kleinen Schüler mit dem meinigen im selben Alter zu vergleichen, um es sofort zu verstehen, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen, die Reue der Sünder zu wecken, die Furchtsamen zu ermutigen, die Leidenden zu trösten, Tugend anwendbar, Belehrung wünschenswert und Religion schön und begreiflich zu machen.
– O lieblichs Tagwerk! Süß Bemühn!
Die junge, schwächliche Idee zurechtzulenken, zu formieren!
Die zarten Pflänzchen aufzuziehen und zuzusehen, wie sich die Knospen Tag für Tag entfalten!
All diese Beweggründe bestärkten mich darin, nicht nachzugeben, obwohl die Angst, meine Mutter zu verdrießen oder meinen Vater zu betrüben, mich ein paar Tage lang daran hinderte, das Thema wieder aufzugreifen. Endlich sprach ich noch einmal unter vier Augen mit meiner Mutter darüber und nahm ihr mit einiger Mühe das Versprechen ab, mich durch ihre Fürsprache zu unterstützen. Als Nächstes gab mein Vater widerstrebend seine Zustimmung, und daraufhin – auch wenn Mary noch immer seufzend ihr Missfallen bekundete – begann meine liebe, gute Mutter, sich nach einer Stelle für mich umzusehen. Sie schrieb an die Angehörigen meines Vaters und studierte die Zeitungsanzeigen – zu ihren eigenen Verwandten hatte sie schon seit langem jegliche Verbindung abgebrochen; seit ihrer Heirat bestand der einzige Kontakt in dem gelegentlichen Austausch förmlicher Briefe, und um nichts in der Welt hätte sie sich in einem solchen Falle an sie gewandt. Aber meine Eltern hatten sich so lange und so vollkommen von der Welt zurückgezogen, dass viele Wochen verstrichen, bis eine geeignete Stellung für mich gefunden wurde. Schließlich wurde zu meiner großen Freude bestimmt, dass ich die Betreuung der Kinder einer gewissen Mrs. Bloomfield übernehmen sollte, die meine gute, brave Tante Grey in ihrer Jugend gekannt hatte und die, wie sie versicherte, eine sehr nette Frau war. Ihr Mann war ein Kaufmann, der sich, nachdem er ein ansehnliches Vermögen erworben, zur Ruhe gesetzt hatte, sich jedoch nicht dazu bewegen ließ, der Erzieherin seiner Kinder mehr als fünfundzwanzig Pfund zu bezahlen. Ich aber war eher bereit, dies zu akzeptieren, als die Stelle abzulehnen – was meinen Eltern wohl lieber gewesen wäre.
Aber noch galt es, einige Wochen mit Vorbereitungen zuzubringen. Wie endlos langweilig kamen mir diese Wochen vor! Trotzdem war es im Großen und Ganzen eine glückliche Zeit, voll strahlender Hoffnungen und großer Erwartungen. Mit welch besonderem Vergnügen half ich beim Schneidern meiner neuen Kleider und später beim Kofferpacken! Aber in diese Vorkehrungen mischte sich auch ein Gefühl der Bitterkeit, und als sie beendet waren, als alles für meine Abreise am nächsten Morgen bereit war und die letzte Nacht zu Hause bevorstand, schien eine plötzliche Angst mein Herz zu weiten. Meine Lieben sahen so traurig aus und sprachen so freundlich mit mir, dass ich meine Tränen kaum zurückhalten konnte, aber ich gab immer vor, fröhlich zu sein. Ich hatte mit Mary meine letzte Wanderung übers Moor gemacht, den letzten Spaziergang im Garten und ums Haus; gemeinsam hatten wir zum letzten Mal unsere Lieblingstauben gefüttert – die schönen Tiere, die wir so zahm gemacht hatten, dass sie die Körner aus unseren Händen pickten; noch einmal hatte ich zum Abschied ihre silberglänzenden Rücken gestreichelt, als sie sich auf meinem Schoß zusammendrängten. Ich hatte meine ganz speziellen Lieblinge, die beiden schneeweißen Pfauentauben, zärtlich geküsst, den letzten Ton auf dem alten, vertrauten Piano gespielt und mein letztes Lied für Papa gesungen, d. h., wie ich hoffte, nicht wirklich das letzte, aber wie mir schien, das letzte für lange Zeit. Und wenn ich dies alles das nächste Mal tun würde, geschah es vielleicht mit ganz anderen Gefühlen; die Verhältnisse mochten sich ändern, dies Haus würde möglicherweise nie mehr meine feste Wohnstatt sein. Meine kleine Freundin, das Kätzchen, hätte sich bis dahin gewiss verändert: Schon jetzt war sie im Begriff, eine richtige Katze zu werden, und wenn ich an Weihnachten vielleicht zu einem kurzen Besuch zurückkäme, hätte sie wahrscheinlich ihre Spielkameradin und ihre eigenen fröhlichen Streiche vergessen. Zum letzten Mal hatte ich mit ihr herumgespielt, und während sie danach schläfrig in meinem Schoß lag und schnurrte, streichelte ich ihr weiches, glänzendes Fell mit einem Gefühl der Trauer, das ich nur schwer verbergen konnte. Als ich mich dann zur Schlafenszeit mit Mary in unser ruhiges, kleines Zimmer zurückzog, in dem meine Schubladen und mein Anteil des Bücherregals bereits leergeräumt waren und wo sie in Zukunft würde allein schlafen müssen – in trostloser Einsamkeit, wie sie es ausdrückte –, verzagte mein Herz noch mehr als zuvor: Ich hielt es für selbstsüchtig und unrecht, dass ich darauf bestanden hatte, sie zu verlassen, und als ich noch einmal neben unserem schmalen Bett niederkniete, betete ich inbrünstiger als je zuvor um Segen für sie und meine Eltern. Um meine Gefühle zu verbergen, vergrub ich das Gesicht in den Händen, die sogleich nass von Tränen waren. Als ich mich aufrichtete, merkte ich, dass auch sie geweint hatte. Doch keine von uns beiden sprach; schweigend begaben wir uns zur Ruhe, und in dem Bewusstsein, uns so bald voneinander trennen zu müssen, schmiegten wir uns noch enger aneinander.
Aber der Morgen weckte Hoffnung und Lebensgeister neu. Ich musste zeitig aufbrechen, damit der Wagen – ein Einspänner, den Mr. Smith, der Tuch-, Gemischtwaren- und Teehändler des Ortes, gemietet hatte – noch am selben Tag zurückkehren konnte. Ich stand auf, wusch mich und zog mich an, verschlang hastig mein Frühstück, nahm die zärtlichen Umarmungen von Vater, Mutter und Schwester entgegen, küsste zur großen Entrüstung von Sally, unserem Mädchen, die Katze, gab Sally die Hand, stieg in den Einspänner, zog den Schleier über mein Gesicht und dann, erst dann brach ich in Tränen aus. Der Wagen fuhr an; ich blickte zurück: Meine Mutter und meine Schwester standen noch in der Tür, sahen mir nach und winkten zum Abschied. Ich erwiderte den Gruß und bat Gott aus tiefstem Herzen, sie zu segnen. Dann fuhren wir den Hügel hinab, und ich konnte sie nicht mehr sehen.
»Ziemlich kalter Morgen für Sie, Miss Agnes«, bemerkte Smith, »und ein finsterer dazu; aber wenn wir Glück haben, schaffen wir es noch bis zu jenem Flecken, ehe der Regen losgeht.«
»Ja, hoffentlich«, antwortete ich, so ruhig ich konnte.
»Gestern Nacht ist auch schon ’ne schöne Menge runtergekommen.«
»Ja.«
»Aber vielleicht bläst ihn dieser kalte Wind ja weg.«
»Ja, vielleicht.«
Hier endete unsere Unterhaltung. Wir durchquerten das Tal und schickten uns an, den gegenüberliegenden Hügel hinaufzufahren. Während wir mühselig bergan krochen, sah ich noch einmal zurück: Da war der Kirchturm und dahinter das alte, graue Pfarrhaus, das von einem schräg einfallenden Sonnenstrahl in ein warmes Licht getaucht wurde – er war zwar nur schwach, aber das Dorf und die umliegenden Berge lagen in tiefem Schatten, und ich deutete diesen vorbeigleitenden Strahl als gutes Omen für mein Zuhause. Mit gefalteten Händen erflehte ich inbrünstig den Segen für seine Bewohner und wandte mich dann schnell ab; denn ich sah, dass die Sonne verschwand, und vermied tunlichst jeden weiteren Blick, um es nicht wie die übrige Umgebung im dunklen Schatten daliegen zu sehen.