Читать книгу hüben und drüben - Anne Dorn - Страница 9

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An jenem Donnerstag werden Pauls jüngste Tochter Inga und ihr Freund Hanno unsanft geweckt: Es schellt. Dann klopft jemand an die Wohnungstür und dreht schon den Schlüssel im Türschloss. Inga schnellt hoch, setzt sich auf die Bettkante und angelt ihren Kaftan vom Haken: »… das kann nur eines von meinen Kindern sein.« Hanno gähnt und bückt sich schon nach seinen Socken, als Ingas langer, viel zu schnell in die Höhe geschossener Sohn morgenmunter die Schlafzimmertür öffnet: »… habt ihr vergessen, dass heute das Klavier geholt wird?«

Er ist mit seinem Motorroller durch die Stadt gesaust, hier aber sind die Vorhänge dicht und es riecht süßlich nach Schweiß oder nach Seife. In den Türrahmen geklemmt pendelt er hin und her: »… entschuldigt …« Hanno hat den Wecker genommen und zeigt Inga »Sieh dir das an: halb sieben!« Zu Jeremi sagt er: »Bist du denn verrückt?«, und der zuckt mit den Schultern: »Ich dachte …« Seine Mutter winkt ab: »Ja, es ist gut, dann geh in die Küche und mach uns Frühstück.« Sie schiebt die Vorhänge beiseite und sieht in den Hinterhof. Ein Mann aus dem Haus gegenüber trägt einen Eimer Abfall zur Mülltonne. Mit einem Stecken zerschlägt er Flaschen, und neben diesem Klirren hört Inga auch den Straßenlärm und ein Kleinkind, das anhaltend schreit. Sie hasst es, aus dem Bett zu springen. Nach dem Weckerklingeln braucht sie Zeit, sich zu dehnen und sich aus den kleinen, noch vom Schlaf verwischten Gedanken ein ruhiges, zuversichtliches Gefühl zu bauen. Wenn Hanno dann noch schläft und seine Hände offen auf der Decke liegen, schaut sie ihn an und ihm zu, wie er sich regt und aufwacht. Wenn so der Tag beginnt, wird es ein guter Tag. Sie kann Hanno dann wie nebenbei anstubsen und er hält dann, um für sich einen guten Anfang zu finden, vielleicht noch kurz seine Augen zu, bis er sich laut räuspert und ihr einen kleinen Klapps gibt.

Der Wecker ist seinetwegen gestellt, aber Inga kriecht schließlich als erste aus dem Bett. Dann rollt er sich noch einmal in die Decke ein und hört, wie sie in der Küche Teewasser aufsetzt und die Tassen auf den Tisch stellt. Die Frauen seiner Kollegen streichen morgens genauso Butterbrote.

Morgens ist er der Meinung, dass er ein ganz normales Leben führt. Wie er sich anzieht, welche Schuhe, wieviel Geld er sich einsteckt, in welche Tasche er das Feuerzeug schiebt, das alles hat mit Ausrüsten zu tun. Er geht, Inga bleibt. Am Morgen ist Hanno der Aktive. Heute hat Jeremi dazwischengefunkt.

Der ruft jetzt aus der Küche: »Möchtet ihr ein Ei?« Hanno sagt: »Ich brauche eine scharfe Schere zum Schnurrbartschneiden.« Inga antwortet schon aus ihrem Arbeitszimmer: »Koch doch einfach drei!«

Wieso entscheidet sie, dass Hanno ein Ei isst? Und jetzt rasseln die Ketten ihrer Wanduhr, sie zieht das alte Ding auf, das einfach nur tickt, ohne die Zeit anzuzeigen. Die Zeiger sind nicht mehr zu richten, oder müssten dauernd neu gerichtet werden. Die ganze Unberechenbarkeit Ingas spiegelt sich für Hanno in dieser Uhr. Wenn Inga in einen Betrieb einen bestimmten Arbeitsbereich hätte, – ja, er wüsste nicht, was sagen, wenn ihn wer fragt: ›Was macht sie denn?‹ Vor dem Zeichentisch sitzen, Striche ziehen. Ruft er tagsüber an, passiert es, dass keiner den Hörer abnimmt. Kommt er spät nachhause, was vorkommt, wenn die Monteure von der anderen Rheinseite in der Kneipe auftauchen und es wird geknobelt – dann sieht er schon von der Straße her, dass in ihrem Arbeitszimmer Licht brennt. Soll er, soll er nicht da hineingehen und sie fragen: »Was tust du noch?« Nein bittedanke, das tut er nicht, weil sie von ihrer Arbeit spricht wie ein Chef.

Sie sitzen jetzt zu dritt am Küchentisch und Hanno will wissen, was eigentlich los ist. »Das Klavier …«, sagt Jeremi, und Hanno fällt ihm ins Wort: »… eurer Mutter die Bude ausräumen.« Schon zieht Jeremi eine Zigarette aus Hannos Brusttasche, Hanno stiehlt von Jeremis Brot ein Stück Käse. »Hol die Zeitung!« »Geh du doch!« Sie halten sich gegenseitig die Hände fest und lachen wie Schuljungen. Nebenbei erklärt Jeremi der Mutter, dass die Speditionsfirma das Klavier als Beipack in eine Umzugsfuhre laden wird. Man hat ihm gesagt ›früh‹. Was versteht die Firma unter früh? Inga weiß es. Die Transportfirma hat sich mit ihr in Verbindung gesetzt, um sich zu vergewissern, dass jemand zahlt. Vor neun Uhr wird nichts geschehen. Hanno redet auf Jeremi ein: »Ich hätte ein paar Freunde zusammengetrommelt und einen Pritschenwagen geliehen …« und zupft dem Jungen den Sportteil aus der Zeitung, die Jeremi doch, unter der Jacke versteckt, mit hochgebracht hat und liest – und festhält! »Nimm die Finger weg!« Und doch lässt er locker, damit die zwei Seiten herausgleiten.

Er hat auch Brötchen mitgebracht. Alle drei kauen. Inga stört ein bisschen den Scheinfrieden und sagt: »Wenn ich Klavierspielen könnte, würde ich das Ding behalten.« Hanno überrascht sie mit einer ganz anderen Frage: »… und warum bekommt es nicht die Mascha?« Inga hat dafür keine Erklärung. Das Klavier soll fort. Keine Wiederholung der Geschichte, die Paul so oft erzählt hat! Und sie natürlich auch! Jetzt obendrein schon wieder, für Hanno sozusagen: »Mein Vater hatte als Junge ein Klavier, mein Großvater war ein Geschäftsmann, Klavier gehörte in die gute Stube. Und da blieb es stehen. Wenn der Großvater Geburtstag hatte, waren wir eingeladen, mein Vater griff in die Tasten und meine Mutter sang. Zuhause gab es nur Musik aus dem Radio. Großvater war bockig. Obwohl er selbst nicht spielen konnte, blieb das Klavier sein Klavier: »Ich weiß nicht, was ich in die leere Ecke stellen sollte!«

Die beiden Männer tauschen Zeitungsblätter aus. Jeremi hat seine Mutter reden lassen, diese Geschichte geht ihm zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Und Hanno berühren Ingas Erzählungen kaum. Er legt die Zeitung weg, steht auf und nimmt seine Tasche. Jeremi hält ihn zurück: »Heh, – haust du ab? Vielleicht brauchen wir dich? Die kratzen der Mutter die Tapeten von den Wänden, wenn keiner mit anfasst.«

Hanno meint, sie wären ja dann mindest zu zweit, gibt Inga einen Kuss, zwinkert ihrem Sohn zu, eine Zigarette zwischen die Lippen und die Treppen runter. Er sieht wieder, dass der Briefkasten offensteht. Der Schlüssel ist verbummelt worden. Solche Dinge, die keiner ernst nimmt in diesem Haushalt, sollte er vielleicht regeln.

Da fällt ihm etwas ein: Der Eigentümer, bei dem gestern installiert worden ist, verschenkt Nut- und Federbretter. Man kann sie sich abholen. Also zurück ins Haus. Er macht Inga eine Skizze vom Wohnpark, wo sie den Mann findet, der etwas verschenkt. Inga nickt und sagt ja, und schon als Hanno wieder an der Tür ist, hat sie eine neue Idee: »Wenn das Klavier fort ist – mach dir doch das vordere Zimmer zurecht!« Jeremi mischt sich auch noch ein: »… ich hätte das an deiner Stelle schon längst gemacht.« Weg! Fort! Hanno will nicht wissen, was Jeremi täte und was er selbst tun könnte oder sollte. Es wird ein schöner Tag, wenn man das Wetter meint. Am Büdchen kauft er sich das Revolverblättchen des Tages und zwei Schachteln Zigaretten. Vielleicht kommt er heute früh genug ins Materiallager, um den miesen Auftrag abzuwimmeln, den man ihm gestern angedreht hat. Dann könnte er Jeremi direkt wieder verzeihen.

Mutter und Sohn bleiben am Tisch sitzen. Jeremi fragt: »… habt ihr Krach miteinander?« Inga schüttelt den Kopf: »Ach was, – das ist nur, seit du fort bist, sind wir zum ersten Mal zu zweit. So, wie man gewöhnlich anfängt. Und das ist eben schwer, etwas nachträglich anzufangen.« »Hast du Hanno denn nicht gern?« »Ja, ich hab ihn gern.« Jetzt beobachtet Jeremi seine Mutter eine Weile, wie sie leise lacht, wie dabei ihre Tränensäcke die Augen fast verriegeln und wie ihr die Augenbrauen ungleich hoch im Gesicht stehen. Sie sieht kaputt aus. Das behauptet sie auch seit Jahren: Ich bin kaputt!

Er bemerkt, dass sie unterm Tisch einen Fuß auf den anderen stellt. Vielleicht ist ihr ein Fuß eingeschlafen. Er sagt ihr nur so, dass Karin sich neue Wanderschuhe gekauft hat. Inga nickt gedankenlos. Dann plötzlich schaut sie ihn an: »Ach, – erzähl doch mal, wie es euch geht.« »Gut geht es uns!« Gerade erst ist er mit seiner Freundin Karin zusammen in eine Wohnung gezogen. Die Mutter würde ihrem Sohn gern sagen, dass zur Liebe Furchtlosigkeit gehört und Vertrauen und beobachtet eine Weile Jeremis träumerische Augen hinter der Brille und seinen weichen Mund im kleingelockten Bartgestrüpp.

Und nun sind die Brötchen gegessen, die Zeitung ist gelesen. Inga steht auf. Sie ist plötzlich ungeduldig: »Ich hoffe, die Leute kommen bald, damit ich mit meiner Arbeit anfangen kann.« Jeremi muss sich nun wohl für das interessieren, was die Mutter seinetwegen verschiebt. »Was tust du denn so?« »Ach, ich sitze an dem Katalog für die Arzneimittelfirma: Lungen, Nieren, halbe Herzen und schön durchgeschnittene Mägen.« »Willst du denn nicht endlich etwas anderes machen?« »Lust hätte ich schon.« Inga steht am Wohnzimmerfenster und schaukelnd, wie die vom leichten Wind bewegten Kronen der Platanen auf dem Mittelstreifen der Straße, sagt sie sich ›er hat recht‹ und zugleich ›er weiß nicht, wovon er redet.‹ Jeremi ist das Kind, das am längsten bei ihr geblieben ist. Zwei seiner drei Schwestern – Mascha und Jessika – leben noch hier, in der Stadt, sie kommen und gehen hier ein und aus wie gewohnt. Laura, die Älteste, hat es weggeweht, sie lebt mit ihrem Freund in Süddeutschland. Verantwortung tragen die vier jetzt selbst. Heh, wisst ihr das auch? So redet sich Inga selbst zu, um wahr werden zu lassen, dass es nun wirklich so weit ist?

Heute will sie die Reinzeichnung für den Arzneimittelkatalog druckreif übergeben. Gestern Abend hat sie entdeckt, dass die Aufsicht des Herzens verkantet wirkt und konnte sich nicht erklären, woran das liegt. Durch die Platanen fährt ein heftiger Windstoß. Inga wendet sich vom Fenster ab. Sie wird, wenn sie heute die Zeichnungen abgibt, keine weitere Arbeit dieser Art annehmen. Vielleicht bietet man ihr auch gar keine weitere an! Jeremi steht jetzt am Fenster und reckt den Hals: »Hast du einen Möbelwagen gesehen?« Beide haben das gebuckelte Dach direkt unter dem Fenster übersehen. Es schellt, Jeremi flitzt an die Tür. Drei Männer in blauen Kitteln betreten den Flur. Inga zeigt, wo das Klavier steht. Die drei legen Gurte an und verständigen sich mit »rechts«, »links«, »hoch« und »ab«. Wie eine sperrige Kiste schwebt das Instrument durch den Flur, dasselbe, das Inga keuchend hin- und hergerückt hat, um dann und wann auch dahinter zu putzen. Jeremi bleibt nichts weiter zu tun, als Türen zu öffnen und zu schließen. Auf dem Treppenabsatz bleiben die Männer stehen und prusten. Dann tappen sie mit den Füßen nach Halt suchend weiter treppab.

Einer der Träger kommt noch einmal zurück und legt Inga einen Zettel vor: »Unterschreiben Sie bitte!« Inga sagt: »Geben Sie her, es ist ja kein Urteil!« Und dann hören sie und Jeremi von der Straße her das Rumpeln des noch immer fast leeren, großen Wagens. Es ging alles sehr schnell. Der Entschluss gefasst und nun: »Was machen wir denn, wenn Laura und Lukas hier erscheinen? Lukas hat immer so schön gesungen …« »Das eine Mal im Jahr, zu deinem Geburtstag, wird Lukas auch ohne Klavierbegleitung singen.« »Und die Mascha?« »Die kann bei mir üben so oft sie will.« Inga wird nun nicht mehr hören, wie ihre Tochter übt. Auch bei der hundertsten Wiederholung hat sie Mascha gern zugehört. Sie hatte immer das Gefühl, dass Mascha ihr mit dem Klavierspiel etwas erzählt. Alte und neue Noten verwandelten sich unter Maschas Fingern in Stimmungen, die sich eine Weile lang in der Familie fortsetzten und auf geheime Art Ruhe schafften. Klavier zu spielen war auch jetzt noch für Mascha ein Grund, in ihrer Mutter Wohnung aufzutauchen.

Inga sitzt noch am Tisch und tippt mit dem Stift, mit dem sie den Transportschein unterschrieben hat, auf die Tischdecke. Wieder sagt sie sich, dass die Entwicklung ihrer Kinder glücklich verlaufen ist. Dass die Mädchen früher als Jeremi aus dem Hause sind – hat Inga nicht ihren eigenen Eltern einen weit größeren Schock versetzt? Zum Schluss des Krieges hat sie sich per ›Pflichtjahr‹, das sie laut ›Führerbefehl‹ zu leisten hatte, von ihnen entfernt. Und wie weit! Weg, ins annektierte Gebiet! Gedacht war es für ein Jahr. Sie war plötzlich allein, ganz allein, als die 6. amerikanische Panzerarmee das Salzkammergut von den Reichsdeutschen befreite. Gehörte sie denn dazu? Und wohin zurück? Lebten die Eltern noch?

Ingas Zuhause hatte die Sowjetarmee vom Nationalsozialismus befreit. Gerüchte überall, von jeder Besatzungsmacht unterschiedliche Gebote und Verbote. Irgendwann will Inga ihren Kindern vermitteln, wie es für sie war, als nichts mehr gewiss war. Sie suchen sich aber gerade erst selbst etwas verlässlich Schönes. Freunde, eine Freundin, ein Ziel vor allem, was sie erreichen möchten.

Was muss man wem verzeihen, wenn eine Familie auseinanderbricht? Vielleicht die Verletzung, die zugefügt wird, wenn klar ist, dass der eine auch ohne den anderen lebt?

Auf dem Tisch in Ingas Wohnzimmer steht eine Schüssel mit Johannisbeergrütze. Jeremi hat sich Teller und Löffel geholt und isst. Inga freut sich: »Du bist der richtige Abnehmer! Schön, dir zuzusehen, wenn du isst!« Jeremi klappert nun besonders laut mit dem Löffel. Gleichzeitig klappert wer mit einem Schlüssel an der Wohnungstür: Mascha ist da, atemlos: »Heh, guten Morgen, ich dachte schon, ich käme zu früh!« Mascha weiß, dass Hanno pünktlich zur Arbeit geht und ist nicht überrascht, die Mutter im Wohnzimmer zu sehen. Aber Jeremi, der Grütze löffelt, als sei er hier noch jeden Tag …

Sie lässt Seidenpapier rascheln. Ein Strauß Zwergastern kommt zum Vorschein. »Hier, Mutter! Ich bin über den Markt gegangen und da dachte ich mir …« »… danke, Mascha, danke!« Inga freut sich wirklich. Blumen liebt sie. Mascha weiß das, sie selbst liebt auch Blumen. Gerade diese Sorte mit den seidigen Blütenblättern, wie eine Liebkosung! Sie hat diese Blumen gesehen und musste sie haben! Sofort! Irgendjemand hätte ihr sie schenken sollen. Da war nur niemand. Da hat sie die eine Mark selbst geopfert. Und nun hat sie der Mutter die Blumen übergeben und schaut ihr nach, wie sie in die Küche geht mit dem rosa Büschel, um eine Vase zu suchen.

Mascha wollte nur ein paar Grundakkorde von einem bretonischen Lied mit dem Klavier auf dem Tonband festhalten, damit sie und ihre Freundinnen weiter üben können, auch, wenn der Typ mit dem Bass noch zögert, in die Gruppe einzusteigen. Mascha streicht – ausser, dass sie Klavier spielt – das Cello. In einer Band fehlt dann aber noch etwas. »Mutter, ist dein Tonbandgerät in Ordnung?« Die Mutter hört das nicht und Jeremi sagt: »Warum schreist du so? Das Klavier ist sowieso schon fort. Wenn du aufnehmen willst, musst du zu mir kommen.«

Während Mascha und Jeremi sich einigen, übermorgen das Band zu bespielen, falls das Klavier nicht erst neu gestimmt werden muss, kommt Inga mit der Vase wieder ins Wohnzimmer und ordnet die Blumen ein. Beiläufig hört sie, dass bereits übermorgen Mascha bei Jeremi einen Besuch abstatten wird, einer Aufnahme wegen. »Köstlich, Mutter, einfach wunderbar!« Und damit meint Mascha jetzt die Johannisbeergrütze, an der sie nascht. »Wird man davon dick?« »Ach was!«

Mascha weiß, dass sie schlank ist. Warum hat sie aber, ganz anders als ihre Geschwister, einen runden Kopf? Und einen breiten Rücken? Warum ist sie der sogenannte östliche Typ? Was hat sie sich alles einfallen lassen, um diese Eigenheit zu vertuschen: Das blonde Haar fällt ihr wie ein Sturzhelm über die Schultern, und manchmal zeichnet sie die Augenbrauen höher hinauf. Ihre Augen stehen um eine Winzigkeit schräg im Gesicht und ihre Stirn ist hoch und gewölbt. Inga hat ihr erklärt: »Das kommt von deiner Urgroßmutter. Die war eine Wendin mit Schleifenhaube und fünf Unterröcken.« Und warum schaut den Geschwistern dieser Hintergrund nicht aus dem Gesicht?

Mascha lacht jetzt über Jeremi, der sich alberne Namen für die neue Gruppe ausdenkt. Er wäre ohnehin nicht dabei, – und vielleicht entsteht das ganze Unternehmen sowieso nicht. Mascha sagt: »Man müsste so vieles.« Auch Inga hat das Gefühl, dass sie viel mehr tun müsste. Sie steht vor dem Bücherschrank und nimmt sich vor, wieder regelmäßig zu lesen. Und sofort hat sie Lust, das, was sie gern gelesen hat, noch einmal zu lesen und die ungelesenen Bücher weiter nicht anzurühren. Sie schaut auf die Uhr, als sei das Lesen ein Problem von Augenblicken und bekommt einen kleinen Schrecken, weil der Vormittag verstreicht. Sie müsste ja die misslungene Zeichnung wiederholen. So lange die Kinder da sind, hat das Anfangen keinen Sinn. Sie sind lieb, aber jede freundliche Gegenwart bleibt auch ein Anspruch.

Mascha jetzt: »Mutter, – ich nehme dein Tonbandgerät mal mit …« Inga stirbt nicht daran, wenn das Tonbandgerät zu Mascha überwechselt, aber jetzt fühlt sie sich elend. Sie spürt das Uferlose solcher Gewohnheiten und spürt einen richtigen Stein im Magen und geht zur Toilette. Dort bleibt sie sitzen und beruhigt sich. Diese Sache zwischen Mutter und Kindern ist eine lange Geschichte. Auch Inga war einmal Kind. Heute und jetzt, wenn sie allein ist und Ruhe hat, endlich, auf der Toilette, tauchen in ihrem Erinnern ein paar knarrende, haselnussbraune, lederne Schuhe auf und ein rotblaugelbes, kleingeblümtes Kleid aus Baumwollkrepp. Inga packt ihren Rucksack für die Fahrt ins Landschulheim. Die Mutter sagt: »Halt einen Augenblick still!« und zupft Heftfäden aus der Kräuselkante. Sie hat das Kleid für Inga mit Liebe so ausgedacht und genäht. Sie hat auch – ohne Bezugschein – hellgraue, mit braunen Pappsohlen versehene Leinenschuhe für ihre Tochter erobert. Inga aber stöbert im Kleiderschrank. Darin hat die große Schwester schon oft gewühlt, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, was ihr passt. Inga ist schrecklich dünn, aber auch fast so groß wie die Mutter. Am Boden des Kleiderschrankes, unter den Lumpen, die zum Ausbessern aufgehoben werden, findet sie ein Päckchen. Unter dem Packpapier befindet sich eine Zeitung aus dem Jahre 1920. Aus der Zeitung wickelt Inga haselnussbraune, lederne, rundgeschnittene Schuhe! Sie probiert sofort mit beiden Füßen und die Schuhe passen! Inga tanzt im Schlafzimmer ihrer Eltern vor den Ehebetten auf und ab. Das ausgedörrte Leder der Schuhe knarrt, es drückt auch ein bisschen, – aber gegen die Leinenschuhe mit den Pappsohlen sind diese Schuhe einfach Gold! Inga stößt beim Herumtanzen an den Handtuchständer, über den die Mutter stets die Trikotwäsche legt, die gewiebelt werden muss, und das schwer bepackte Gestell neigt sich und fällt gegen den Toiletteneimer. Das hört die Mutter. Sie öffnet die Tür und will etwas sagen. Inga streckt ihr einen Fuß mit dem Lederschuh entgegen und – ihre Mutter starrt auf die alte Zeitung, die am Boden liegt und auf Ingas Füße. Die stellt Inga schön nebeneinander, schaut selbst zu Boden. Dann hebt sie den Kopf und sieht, wie Clärchens Kinn zittert. Mein Gott, die Mutter wird jetzt weinen! Inga streift mit zagem Blick der Mutter Schürze, weiter unten den schwarzen, etwas timpfigen Rock und die Waden in den ausgeweiteten, melierten Söckchen. In ihren alten, dunkelblauen, schräg abgelaufenen Pumps macht die Mutter kehrt und geht zurück in die Küche. Inga läuft ihr nach. Und die Schuhe knarren! »Mutter – sind das deine Schuhe?« Zur Antwort hackt Clärchen mit einem Holzspatel Löcher in den Kartoffelteig. »Warum ziehst du sie nicht an?« Die Mutter wendet den Plinsen in der gusseisernen Pfanne. »Kann ich die Schuhe haben?« Stille.

Und nun versteinert Inga ebenfalls. Die Korridortür wird aufgeschlossen, Vater kommt nachhause. Er sagt: »Guten Abend!« und geht auf Clärchen zu, gibt ihr einen Kuss. Inga schiebt sich auf die Bank hinter den Küchentisch. Der Vater stellt seine Tasche ab. Er betrachtet Inga: »Ist das dein neues Kleid? Hast du dich bei der Mutter bedankt?« Inga nickt und sagt leise: »Ja«. Der Vater möchte teilhaben an der Freude und fordert Inga auf: »Stell dich mal hin, ich muss es richtig sehen.« Nun sieht er auch die Schuhe. Er bekommt ein ganz überraschtes Gesicht und bückt sich, um Ingas Füße ganz nah zu sehen: »… das sind Bundschuhe! Wo kommen die denn her? Das sind Wanderschuhe aus unseren schönsten, allerschönsten Zeiten! Nicht wahr, Clärchen?« Und nun können die Schuhe nicht mehr zurück in den Schrank, denn es ist klar, dass sie dem Aufenthalt im Landschulheim besser gewachsen sind als die Leinenschuhe mit den Pappsohlen. Die Mutter sagt nichts dagegen, aber das ist es eben: dass sie nichts sagt.

In Ingas Wohnzimmer sitzen jetzt Mascha und Jeremi und sprechen von einer Schallplatte. Inga hat die Namen, die da fallen, noch nie gehört, aber sie merkt am Ton des Gesprächs, dass ihre Kinder gut gelaunt sind. Sie ist selbst wieder froh und geht ans Fenster, um die Topfblumen zu begießen. Mascha steht auf, kommt zur Mutter, legt ihren Arm auf Ingas Schultern und sagt: »Es geht auch ohne das blöde Tonbandgerät.« Das löst Inga die Zunge. Sie fragt: »Willst du es nicht mitnehmen nach Berlin?« »Ach«, sagt Mascha, »ich weiß doch noch gar nicht, was mich dort erwartet. Ich weiß noch nicht mal genau, wann ich fahre, Ende nächster Woche bekomme ich erst meinen Examensschein.« Jeremi mischt sich ein: »Freut es dich denn gar nicht, loszulegen?« »Ich bin noch richtig kaputt von den zum Teil ganz albernen Prüfungen.«

Mascha wird ihr erstes Volontariat in einem großen Verlagshaus antreten. Inga möchte ihrer Tochter sagen, dass sich das Richtige, wonach man sucht, immer wieder verändert, und also ein Anfang nicht so endgültig ist. Aber braucht Mascha vielleicht das Gegenteil, dass die Mutter den Entschluss ihres Kindes für das einzig richtige hält? Mascha ist aufgestanden: »Ich koch uns einen Kaffee.« Sie verschwindet in der Küche, Jeremi geht ihr nach. Sie setzen die Kaffeemaschine in Gang und holen die besseren Tassen aus dem Schrank, die Inga immer hütet, weil sie von ihrer Mutter sind. Diese Großmutter kennen Mascha und Jeremi kaum. Sie liegt schon lange unter der Erde. Sie kennen nur ihren Großvater, der zu Besuch kommt und den sie besuchen. Mascha fällt so ein, dass sie in Berlin in größerer Nähe zu Dresden leben wird: »Wenn ich in Berlin bin, werde ich Paulchen besuchen.« »Tu das«, sagt Jeremi, »aber ich glaube, da ist irgendetwas mit den Reisepapieren noch komplizierter.« Bislang hat Inga alle Reiseanträge gestellt. Sie hat das immer organisiert, wer wann zu Paul fährt oder was mit Paul geschieht, wenn er hier ist. Aber warum sollen Mascha und Jeremi das nicht selbst betreiben? Mascha hat schon Kontakte zu jungen Leuten von drüben, so in ihrem Alter, und es interessiert sie auch, wie die Menschen da leben, wo der Großvater lebt und die Mutter herkommt. Jetzt sagt Inga: »… man müsste so vieles tun.«

Sie geht in ihr Arbeitszimmer und stellt sich vor ihren Zeichentisch, sieht das aufgespannte Papier, die gespitzten Bleistifte und die misslungene Zeichnung von gestern, setzt sich rasch hin, legt mit ein paar Strichen die Zeichnung neu an, und ja!, das sitzt! Der Bleistift fällt zurück in die Dose. Inga atmet auf. Heute noch wird sie dieses letzte Blatt zum Drucker bringen. Und wieder hat sie nun doch eine Minute zwischendrin genutzt, wie in alten Zeiten, als Alleinsein und Konzentration als notwendige Sünde verteidigt werden mussten!

Die Kaffeetassen scheppern, Jeremi schwenkt mit dem Tablett ins Wohnzimmer. Gerade als er die erste Runde einschenkt, sirrt wieder die Klingel. Er protestiert: »Wenn jetzt die Jessi kommt, kriegt sie nichts ab!« Aber es ist die Post. Mascha kommt mit einem kleinen Bündel Briefe in der Hand zurück ins Zimmer, besieht die Briefe und Karten, als könne darunter etwas unerwartet Gutes für sie selbst verborgen sein, zögert aber, Brief für Brief wirklich genau zu besehen und übergibt die Post der Mutter. Inga hat die Ahnung, dass unter den Briefen auch die zweite Mahnung ihres Papierlieferanten liegt. Sie hat sich teure, große Bögen Ingres-Papier, Bütten und verschiedenen Feinkarton gekauft, um das zu tun, wozu Jeremi sie heute Morgen ermuntert hat: etwas anderes. Etwas, was ihr Spaß machen wird. Etwas, was vermutlich kein Geld einbringt. Müssen das die Kinder sofort sehen? Andererseits – ist es nicht noch viel verrückter, wenn sie sich des Papierkaufs wegen vor den Kindern rechtfertigt »… verrückt …«. Mascha fragt: »Was ist verrückt?« Inga antwortet: »Ich habe eine Mahnung bekommen.« Da lachen ihre Kinder laut: »Das ist nicht verrückt, sondern normal!«

Inga setzt sich, Jeremi gibt ihr einen ermunternden Schubs: »Mach den Brief von Laura auf!« Und jetzt zuckt Mascha zusammen. Sie hat den himmelblauen Umschlag sofort erkannt. Genau so einen himmelblauen hat sie vor zwei Tagen von ihrer Schwester erhalten. Es war eine Absage. Mascha kann nicht, wie sie erhofft hatte, gemeinsam mit Laura und Lukas in den Urlaub fahren, obwohl Zeit genug da wäre bis zum Antritt in Berlin. »Weißt du, Lukas und ich, wir sind so wenig zusammen, er hat seine Arbeit, ich habe meine Arbeit …« Mascha versteht das. Irgendwie aber auch nicht. Als Kinder haben Laura und Mascha jeden Apfel geteilt. Sie haben, wenn man Inga glauben darf, gemeinsam die Toilette benutzt: Linksherum und rechtsherum den Platz auf der Brille geteilt und sich mit den kleinen, nackten Pos gegenseitig gestützt. Seit Laura Lukas kennt, ist sie mit unwahrscheinlichem Tempo vorangekommen. Sie ist heute Lehrerin. Was Mascha vielleicht mit veranlasst hat, erst recht lang zu überlegen, welcher Beruf für sie der richtige ist. Lukas und Laura haben auch geheiratet. Wenn Mascha die Schwester trifft, möchte Laura anknüpfen an jene Zeit, als sie im übereinandergezimmerten Doppelbett wie in einem Baumhaus der Familie entrückt waren. Mascha dagegen will, dass Laura ihre Gegenwart bejaht, mit all dem Zögern. »Mach den Brief auf!«, bittet Jeremi. Inga bohrt bedachtsam mit einem Finger unterm Klebefalz und zieht den Bogen heraus. Sie liest mit den Augen vorweg und mit dem Mund hinterher:

»Liebe Mutter, als ich heute für meine Klasse in der Bibliothek einen bestimmten Bericht aus einer alten Zeitschrift suchte, fand ich in genau der Ausgabe auch eine Illustration von Dir. Weißt Du, es ist die kleine Landschaft, die Du aus einem Kopf, einem Tiger und einer Mohnblume zusammengesetzt hast. Ich war nicht darauf gefasst, etwas von Dir zu sehen, aber ich erkannte es sofort. Du hast mir wohl früher einen Abzug gezeigt, das fällt mir nachträglich ein. Und erst heute, als ich die Zeichnung gedruckt sah, konnte ich mir denken, was Du damit sagen willst. Man weiß, die Mutter bröselt irgendetwas zurecht, aber was Du wirklich tust, weiß von uns keiner. Daran bist Du selbst mit schuld, weil Du wenig von Deiner Arbeit gesprochen hast. Oder wir hatten zu wenig Interesse. Für mich finde ich das schade. Aus der Zeit, in der ich wütend war, weil ich Dich nicht ordnungsgemäß überholen konnte, bin ich heraus. Jetzt wüsste ich gern mehr von Dir, auch von meinem Vater und von den Großeltern. Kannst wenigstens Du mir ab und zu etwas schicken, was Du gemacht hast? Oder mir schreiben, wo ich etwas von Dir finde? Ich habe auch Lust, zuhause vorbeizukommen. Vielleicht am nächsten, dritten Wochenende im Monat, dann ist für mich der Samstag frei.

Mit oder ohne Lukas, je nachdem, wie er Dienst hat.«

Inga liest den Schluss des Briefes nicht mehr vor. Es steht da noch, dass Laura gern mit Jessika zusammentreffen würde, falls der Besuch zuhause zustandekommt. Und dann Umarmungen, Grüße und Küsse. Auch für Hanno. Inga legt den Brief weg und sagt: »Liebe Grüße und Küsse für euch«, Mascha ist erleichtert. Laura hat Maschas Plan und ihre eigene Absage mit keinem Wort erwähnt. Aber Lauras Süßholzraspeln! Was schreibt sie der Mutter! Mascha sagt: »Laura – mit ihrem Harmonisierungsbedürfnis!« Jeremi schüttelt den Kopf: »Wieso? Das ist doch ein netter Brief. Man darf doch ein bisschen sentimental sein.« Es durchzuckt ihn: Plötzlich weiß er, was Karin meint, wenn sie erklärt, seine ganze Familie sei unsachlich. Weder die Mutter noch die Schwestern noch er selber seien Herr ihrer Gefühle. Mag sein. Aber sie wissen wenigstens ein bisschen, was in dem anderen vor sich geht. Laura ist schon mehr als sieben Jahre fort, und trotzdem fühlt Jeremi, dass sie der Mutter etwas geschrieben hat, was er ihr auch sagen möchte. Er möchte seine Schwester Laura wiedersehen: »… ob ich mit Karin für ein paar Tage zu Laura und Lukas kann?« Inga nickt: »Schreibt Laura, oder telefoniert mit ihr.«

Mit ihren Gedanken ist Inga noch bei Lauras Brief. Sie wird ihn noch einmal lesen. Wie eine zärtliche Berührung reichen die Gedanken ihrer Ältesten von dort hierher. Wenn Jeremi und Mascha fort sind, – und Mascha beginnt schon, ihre Noten einzupacken, Jeremi geht auf die Suche, ob in dem Zimmer, in dem bislang das Klavier stand, noch weitere herumliegen. Er findet das zerfledderte »Sang und Klang fürs Kinderherz« und blättert darin. »Ich bin der Knab vom Berg«, »Vöglein im hohen Baum«, »Der Mond ist aufgegangen«. Er nimmt das Buch mit und pfeift, während er eine passende Plastiktüte sucht, das Lied von den drei Jägern, die auf die Pirsch gingen. Flott schiebt er den letzten Happen Johannisbeergrütze in den Mund. »Ich muss machen, dass ich nachhause komme, sonst hat das Klavier die Ehrenrunde beendet und steht vor meiner verschlossenen Tür.« Inga beruhigt ihn: »Die volle Ladung wird aus Gladbach geholt.« Und auch Mascha hat die Tasche unterm Arm, gibt der Mutter einen Kuss und fragt: »Ist noch was?«

Die Tür fliegt auf und wieder zu: Jessika. »Heh, habt ihr auf mich gewartet? Oder haltet ihr hier Volksversammlung ab ohne mich?« Wieder reihum Küsse unter den Geschwistern. Jeremi packt Jessika und hebt sie in die Höhe: »Mein Gott, Jessi, du bist entsetzlich dünn! Wenn man dich durchbricht, hat man zwei schulpflichtige Kinder!« Darüber ärgert sich Jessika sehr: »Hahaaa – dann kann ich voneinander abschreiben!« Und sofort zieht Ingas Jüngste ihre Mutter ans Fenster: »Bewundere bitte unser heißes Wohnmobil!« Inga schaut suchend auf die Straße: »Welches?« Jessika nimmt ihrer Mutter Kopf in beide Hände und dreht ihn in die entsprechende Richtung:» Daaas da natürlich!« und hofft, dass alle ein bisschen staunen. Jeremi reagiert als Erster: »Meinst du etwa den Bus?« Jessika freut sich. Sie muss noch genauer sagen, was für ein wunderbares Fahrzeug da unten steht und geht aufgedreht im Zimmer hin und her: »Ihr müsst euch ansehen, wie es von innen aussieht! Holger hat gebastelt – ich dachte, er wird nie im Leben damit fertig!« Jessikas Hin und Her ist auch ein bisschen Unruhe, Holger und sie haben sich überstürzt entschlossen, zu reisen. Das hat sie gestern Mascha gestanden. Jetzt muss sie der Mutter beibringen, warum der Bus vor der Tür steht. Ohne Abschied reisen will sie nicht. Mascha sagt: »Ich beneide dich. Einfach so wegfahren …« Inga hat blitzschnell verstanden. Sie überlegt, was in der Eile noch zu helfen wäre und fragt, wohin denn die Reise gehe. »Nach Marokko!« Mein Gott, und »… hast du denn ein Wörterbuch? Französisch, wenigstens ein kleines …« Ja, sie hat eins. Aber die Mutter soll bitte beim Plettenberger anrufen, damit der Lehrvertrag zustandekommt. Ja, die Mutter wird das tun. Und sie soll sich keine Sorgen machen. Nein, sie macht sich keine. Jessika spürt, dass sie wohl zum letzten Mal die Bedenken von Mutter und Geschwistern so einfach abschütteln kann. »Der Holger sagt …« Besser macht sie der Mutter klar, dass sie die Lehrstelle unbedingt haben will! Die Mutter hat nach langem Bemühen eine für ihre Jüngste gefunden, und sie will auch, dass die Mutter ihr das Durchhaltevermögen für diese Lehre zutraut. Nur diese Reise noch!

Wenn Jessika zurückkommt, wird Mascha in Berlin sein. »Wenn ich zurückkomme, hast du dein Scheinchen und ich bin das einzige Doofi in der Familie!« Mascha umarmt ihre Schwester und konstatiert: »Du hast es schlauer gemacht als ich.« Ja, Mascha hat sich mühsam durchs Studium gehangelt und Jessika hat die Schule geschmissen. Mascha wird eine Volontärsstelle antreten und Jessika eine Lehre beim Goldschmied. Das kleine, freche Biest hat Glück. Mascha gönnt ihr das – aber warum bekommt sie selbst nie etwas geschenkt? Oder womit hat sich Jessika ihre glücklichen Umstände erkauft? Draußen im Bus sitzen ihr Freund Holger und Holgers Bruder und dessen Freundin: Das ist die Gruppe, der sich Jessika anpasst. Auf Mutters Zuneigung kann sie allerdings nicht verzichten.

Mascha sagt: »Komm gut zurück.« Jessika ist Mascha dankbar für diese Worte. »Ich bin bald wieder da!« Jeremi lacht: »Ja, wenn das Geld alle ist.« Über diese Bemerkung lachen sie nun zu viert. Inga sagt: »Du hast dir wenigstens ein paar vernünftige Schuhe besorgt«, und überlegt: Woher haben Jessika und Holger das Geld, nach Marokko zu reisen? Jobben: Telefone bedienen, Ware ausfahren, etwas bewachen oder reparieren, sie weiß, dass die beiden ihr Geld zusammenkriegen. Es geht ihr in den Kopf, wieso ihr jüngstes Kind so lebt, wie es lebt, aber nicht ins Herz. Sie kann Krämpfe bekommen, wenn sie darüber nachdenkt. Alles ist ungewiss: Die Lehrstelle, und ob Jessika die Lehrstelle auch antritt. Wenn sie jetzt wegfährt, und währenddessen genehmigt die Handwerkskammer den Lehrvertrag?

Eine kleine Weile stehen die vier stumm beisammen und schauen sich an. Sie betragen sich wie Zugvögel, die lange genug geübt und geschwatzt haben und nun, nachdem sie sich vergewissern, dass der andere auch da ist, der Kraft ihrer Flügel vertrauen. Stumm aber zärtlich küsst Jessika erst ihre Mutter, dann die Geschwister. An der Tür dreht sie sich noch einmal um: »Ich bringe euch allen etwas mit – und wenn es Sand ist!« Jetzt lachen sie wieder und winken ihr nach. Die Mutter hat sich beruhigt, die Geschwister sind nicht böse. Als Holger Jessika aus der Tür kommen sieht, wirft er den Motor an.

Es dauert ein paar Sekunden, bis Mascha, Jeremi und die Mutter die gewöhnlichen, kleinen Verabredungen treffen: »Kommst du am Samstagvormittag vorbei? Das alte Sofa muss zum Polsterer, und Hanno schafft das nicht allein!« »Wenn du mir im Grafikteam wieder Fotokopien machen könntest!«, und »Suche mir deinen letzten Einkommenssteuerbescheid heraus.« Dann machen sich Mascha und Jeremi gemeinsam auf den Weg. Jeremi kommt noch einmal kurz zurück und umarmt Inga: »… vielen Dank für das Klavier.«

Inga beendet die Korrektur der Zeichnung. Und dann muss sie noch die Bretter abholen. Sie möchte lieber in ihr Zimmer gehen, das neue Papier auspacken und sich damit anfreunden. Die zarte Tönung, die Struktur und das Format jedes einzelnen Bogens haben etwas Verlockendes, sie muss den Dingen nur Gelegenheit geben, verlockend zu sein. Und das wird vertagt, der Bretter wegen.

Wozu will Hanno sie haben? Inga schließt die Wohnungstür hinter sich zu, geht über die Straße zu ihrem alten Opel und setzt sich hinters Steuer. Heute Morgen hätte sie sagen müssen: »Ich habe keine Zeit. Ich hole die Bretter nicht.« Das ist ihr im Hals steckengeblieben. Sie hat es nicht einmal klar gedacht. Was geschehen müsste, fällt ihr immer reichlich spät ein. So kann sie nie die richtige Antwort geben. Alle würden verdutzt den Kopf schütteln: »Du holst die Bretter nicht? Aber wieso das?« Inga ordnet sich auf der linken Fahrspur ein.

Wenn Hanno etwas mit den Brettern anfangen will, ist das auf jeden Fall gut. Es kommt Inga nicht auf ein Ding an, das da entstehen könnte, oder auf eine Verschönerung der Wohnung. Was für sie und zuerst für Hanno dabei herausspringen könnte, ist ein Gefühl. Eine Art Sprache, in der sie miteinander Austausch halten. Man tut etwas, was einen freut. Inga weiß: Das ist so schön, dass man es mit Worten nicht beschreiben kann. Im Hin und Her ihrer Gedanken fährt sie über die Rheinbrücke. Und daheim, in der leeren Wohnung, schellt das Telefon.


In Paul Schwenglers Familie hielt man es für erwiesen, dass Paul eine besondere Freude an seiner ältesten Tochter Elisa hatte. Vielleicht, weil sie sein erstes Kind war und als Baby schwer erkrankte. Mit unendlicher Liebe und Sorgfalt brachten Clärchen und Paul ihr Kind über den Berg. Und Elisa entpuppte sich als besonders widerstandsfähig und körperlich gewandt. Logischerweise hing Elisa auch in besonderem Maße an ihrem Vater, der ihr in jeder Lebenslage Verständnis entgegenbrachte. So scheint es im Nachhinein fast ebenso logisch, dass die Nachricht von des Vaters Tod – ganz unnütz zwar, weil Zeit erst nach dem Erhalt der Nachricht die Wunden heilt – einen großen Bogen schlägt, um Elisa zu erreichen. Sie befindet sich im August mit ihrem Mann Werner in Badgastein. In diesem Jahr wollen sie sich etwas ausgiebiger erholen. Die beiden Rathmanns können das planen, Werner ist Leiter des Rehabilitationsinstitutes, in dem auch seine Frau als Heilgymnastin arbeitet.

Eigentlich hat Elisa ihn überredet, die Rückkehr zu alten Kräften anzustreben, ›ehe die Pumpe stillsteht‹. Sie fährt sehr gern in die Berge, zumal über München. Dort lebt ihre Tochter Uschi in mustergültiger Ehe, gerade jetzt erwarten die beiden jungen Leute ihr erstes Kind. Elisa ist Werner vorausgefahren in der Hoffnung, Uschis Baby käme genau zur errechneten Zeit auf die Welt, aber sie traf Tochter und Schwiegersohn in ruhiger Erwartung. Alles war gut vorbereitet. Uschi fühlte sich sehr wohl und Alfred hatte sich seine Arbeit so eingeteilt, dass er fast den ganzen Tag über zuhause war. Sie hatten die zukünftige Großmutter beschworen, doch mit Werner weiterzureisen. »Oder willst du hier zum tausendsten Mal die Wiege abstauben?« So verrückt ist Elisa nicht. Uschi hat auch versprochen, sofort im Hotel anzurufen, sobald die Neuigkeit zu vermelden sei.

Für Elisa wie Werner ist Badgastein der richtige Ort. Werner leidet an zu hohem Blutdruck, Elisa fühlt sich unter kultivierten Menschen wohl. In jedem Jahr gewinnt sie einen kleinen Konditionskampf. Sie sieht es als ihre Aufgabe, den Mann, mit dem sie seit acht Jahren zusammen lebt, bis ans Lebensende zu ermuntern: »Bewege dich! Bewegung heilt!« Und bisher hat sie den kleinen Vorsprung gehalten, ob es ums Laufen geht oder ums Steigen.

Man sieht es ihr nie an, aber Elisa nimmt oftmals alle Kräfte zusammen, um jede Erschöpfung zu überspielen. Weniger aus übertriebenem Ehrgeiz, als aus der Freude, wach und lebendig zu sein. Vorweglaufen, die Morgenluft einatmen: Da gab es schon zwischen den Eltern und Lehrern eine Absprache, dass die Kinder aus der vom Dorf entfernten Häusergruppe, der sogenannten Einsiedelei, zuhause bleiben konnten, wenn es gar so stark schneite. Was war ›gar so stark‹? Unter den Kindern im großen, roten Mietshaus, das auch Elisas und Ingas Zuhause war, gab es auch kräftige Jungen. Die liefen morgens als erste zur Haustür und taten so, als ließe sich das schwere Ding nicht öffnen. Dann sprang einer aus dem Treppenhausfenster, um möglichst flach im Schnee zu verschwinden: »Man geht unter! Der Schnee geht bis über den Kopf!« Bis Elisa zur Haustür kam, ihre dünnen Zöpfe unter die Pudelmütze stopfte, die Kaninchenfellboa um den Hals wand und losmarschierte. Vom Haus über den Berg bis ins entfernte Dorf tollten dann auch die Jungen durch Schneewehen und über den vereisten Ziegeleitümpel. An einem besonders strengen Frosttag schnitt Clärchen Schwengler ihren drei Kindern Elisa, Inga und Dietrich einmal Larven aus Barchent. Da fühlten sich alle drei wunderbar stark und behielten die Larven vor dem Gesicht, auch als sie ins Dorf kamen, in die Windstille der dicht aneinandergereihten Höfe.

In Badgastein steigt Elisa bis zum ewigen Schnee. Werner bleibt gern im Ort. Elisa findet stets nette Gesellschaft. Sie philosophiert mit einem Weinhändler aus dem Elsaß in zweitausend Meter Höhe, wieso der Nebel einmal Nebel ist und ein andermal Wolke. Sie sprechen von fließenden Grenzen und darüber, dass auch das menschliche Gefühl an einem gewissen Punkt unmittelbar umschlagen kann von Freude in Bedrückung. Ein andermal wettet Elisa während des Auf- und Abstiegs mit einem Sportlehrer, dass Menschen mit langen Beinen und großen Schritten atemloser sind als Menschen mit kurzen Beinen und kleinen Schritten. Elisa überwindet Steigung und Gefälle fast wie im Traum, wie eine Haselmaus.

Es sind kostbare Stunden für sie, wenn sie sich selbst erprobt. Sie vergisst dann ihre Alltagsprobleme, ihre naturgemäß vorhandenen körperlichen Einschränkungen und sogar ihr Alter. Werner bezeichnet seine Frau voller Bewunderung als »Zart, aber zäh.« Elisa findet es gut, dass man ihr die Kraft nicht ansieht. Es macht Spaß, Werner zu überraschen. Wenn sie nach einer Bergtour die untere Hütte wieder erreicht und er, Ausschau haltend, in der Geröllwiese ein Stück oberhalb der Gebäude die Arme grüßend schwenkt: »So schnell hast du es wieder geschafft?«, lässt sie sich gern umarmen.

Für diesen Urlaub hat sie sich vorgenommen, nicht gar zu oft aufzusteigen, damit, wenn der Anruf von Uschi kommen sollte, keine Zeit verstreicht. Aber an jenem Donnerstag, an dem Paul sein Leben aushaucht, packt sie früh am Morgen die Sonnencreme mit Schutzfaktor sechs in die Umhängetasche und nimmt weiche Wollsocken aus der Kommode. Auch Werner ist aufgestanden und reckt sich vor der geöffneten Balkontür, lässt den Oberkörper herunterfallen, richtet ihn tief atmend wieder auf. Er unterbricht seine Gymnastik: »Zieh die Wollsocken doch sofort an, statt sie nur einzustecken.« Selten mischt er sich in Elisas persönlichen Kram, heute aber: »… du kannst dir auch Zeit lassen beim Abstieg, wir streichen das Abendessen hier und gehen aus.« Elisa findet das übertrieben: »Nein, ich bin pünktlich zurück.«

Es hat einen besonderen Grund, wenn sie heute auf Bergtour geht. Und der gleiche, besondere Grund verursacht, dass Werner nicht einmal zur unteren Hütte nachsteigt. Gestern, am Mittwoch, ist etwas Eigenartiges geschehen. Elisa und Werner haben, wie an jedem Morgen, ihre Runden im Schwimmbad gedreht. Für Werner ist es besonders wichtig, dass er jeden Tag schwimmt. Und Elisa fühlt sich verpflichtet dabeizusein, weil Werner seine starke Brille im Schwimmbad mit einer schwächeren vertauscht. Die wird mit Bändern festgebunden und gibt ihm ein fast kindhaftes Aussehen, worüber manche Menschen lachen. Gestern hatten sie gerade ihre halbe Stunde abgeschwommen, Elisa hatte sich am Beckenrand die Badekappe vom Kopf gezogen und das Haar mit den Fingern aufgelockert, als sie das Gefühl bekam, jemand sähe ihr nach. Sie machte sich auf den Weg zur Kabine und stockte: Da rief einer ihren Namen »… hallo! Frau Mittag!« Es ist gar nicht mehr ihr Name, – aber zwanzig Jahre lang hatte sie diesen Namen getragen. Und zwanzig Jahre lang hatte sie dieser Stimme gehorcht. Bruno Mittag stand am Beckenrand und lächelte. Elisa erschrak – aber wovor denn? Das Haar ihres ehemaligen Ehemannes war weiß geworden, seine Glieder knochig, ein kleiner Hängebauch gab seiner Gestalt einen traurigen Ausdruck, so, dass es Elisa unangenehm war, diesen ihr vertrauten Menschen öffentlich in nasser Badehose wiederzusehen. Natürlich trug auch sie den nassen Anzug, weshalb sie rasch den Badeschal vom Heißluftschacht vor dem Fenster nahm. Frottierend und ganz wie nebenbei konnte sie auf Bruno zugehen und fragen: »Wie kommst du hierher?« »Das frage ich dich!« »Die Welt ist klein!« »Ja, wie eine Zigarrenschachtel!« »Wohnst du hier im Hotel?« »Es ist mir empfohlen worden.« »Ich muss mich anziehen.« »Ja, wir werden uns sicher noch über den Weg laufen!« »… wahrscheinlich …« »… das ist dir doch nicht unangenehm?« »… neinein …« »Lass uns eine Tasse Kaffee zusammen trinken –« »… jetzt sofort?« »Ja, – bring deinen Mann mit.«

Bruno hatte also Elisa und Werner beobachtet. Und nun war eine Verabredung fast automatisch zustandegekommen. Mit jedem Satz, den Bruno von sich gab, verstärkte sich Elisas Abwehr gegen diese einklagende, wohlbekannte Stimme. Sie wollte nichts von ihm hören und fand doch kein anderes Mittel, als abwartend und abschätzend stehenzubleiben, bis Bruno zögernd den Gehstock vom Handlauf des Beckeneinstiegs nahm und davonstelzte. Er lebte allein. Uschi hatte das der Mutter schon erzählt, aber erst jetzt hielt Elisa diesen Tatbestand für wahr. Mit einem Rest Vorsicht: Brunos Gehabe war ausgetauscht – seine Stimme und seine Blicke verrieten das alte Wesen. »Er hat mir nichts mehr zu sagen!« – Mit solchen Sprüchen raffte sich Elisa auf und suchte Werner. Der hatte durch die schwache, benässte Brille nichts gesehen, stieg gerade aus dem Becken, streifte das Wasser vom Körper und kam fragend auf Elisa zu: »Was machen wir jetzt?« Elisa hatte keine Schwierigkeiten, ihm mitzuteilen, was überraschend nun anstand.

Die Einladung Brunos brachte Werner zum Lachen: »Ja, lass uns mit ihm Kaffee trinken.« Er war stolz, dass die Frau, die mit zwei Männern im Hotelfoyer sitzen würde, seine Frau war. Was Elisa und Bruno sich zu sagen hatten, reichte in die Vergangenheit. Sie sprachen von Manfred, ihrem Sohn, aber der war erwachsen und beiden fremd geworden. »Hast du von Manfred gehört?« »Nein, aber ich habe im Mai seine Freundin gesehen.« »Sie haben sich doch im Herbst schon wieder getrennt.« Einig waren sie sich, dass Manfred sein Studium nachlässig betrieb. Elisa sagte an diesem Punkt des Gesprächs, Bruno solle dem Sohn nicht so viel Geld geben. Sie hatte dabei den flappsigen, etwas sarkastischen Manfred vor Augen, um den sie sich in Wahrheit selbst noch immer kümmerte, als sei er noch das eigenbrödlerische Kleinkind von ehedem. Dass Manfred seinem Vater ähnlich geworden war, beunruhigte sie, deshalb hatte sie auch das Stichwort Geld fallen lassen. Geld als Zeichen von Brunos Macht. Bruno überschlug indessen blitzschnell, ob es Elisa möglich gewesen sein könnte, seine falschen Angaben zur Vermögenslage während der Scheidung nun doch zu durchschauen. Ebenso rasch beruhigte er sich wieder, da die Einspruchsfrist mehrfach verjährt sein musste. So überzog ein beherrscht-freundlicher Ausdruck sein Gesicht.

Elisa schaute an Bruno vorbei auf das Grün der Kübelpflanzen, weil ihr wieder versagt war, auch nur anzudeuten, welcher Gedanke sie drückte. Geld geben oder Geld zurückhalten war Brunos Sprache. Gefühle haben und Gefühle gelten lassen waren ihre Ausdrucksmittel. So schwiegen die ehemaligen Eheleute wieder. Bruno schluckte die letzte Unruhe herunter und in Elisa stieg die Galle: Jetzt konnte dieser Mann sie nicht mehr verletzen – warum erst jetzt? »Du bist ein Dreck!« Das hatte Bruno ihr mit all seinen Taten zwanzig Jahre lang gepredigt. Und nicht nur ihr, sondern rückwirkend bis zu Clärchen und Paul Elisas ganzer Familie. Er hatte die beiden Alten aus seinem Haus geworfen, wenn sie – ein Mal im Jahr! – die Reisegenehmigung, in der Bundesrepublik ihre Töchter zu besuchen, beantragt und erwirkt hatten. »Ein Haus wie im Märchen«, hatte Clärchen gestaunt. Und Elisa hatte den Eltern erlaubt, ihre Köfferchen im Besuchstrakt auszupacken. Was Bruno auf die Palme gebracht hatte. Er hatte Hotelzimmer besorgt. Das wieder konnte Elisa ihren Eltern nicht sagen. Der Widerstand seiner Frau war für Bruno so unfassbar gewesen, dass er Elisa für die Zeit der Anwesenheit der Eltern das Wirtschaftsgeld entzog. Und sie hätte so gern Clärchen und Paul verwöhnt.

Dieser Besuch der Eltern blieb ihr letzter, gemeinsamer Besuch. Niemals wieder konnte die Mutter am frühen Morgen die Tür im Anbau öffnen, vorsichtig umherspähen und über den Rasen trippeln, um dann – nach der glücklichen Entdeckung, dass Elisa allein in der Küche stand – leise ans Fenster zu klopfen.

Elisa ließ sich von Bruno scheiden, aber vorher schon war die Mutter still in Pauls Armen verschieden.

Werner fiel es auf, dass die Unterhaltung stockte. Er fragte entschlossen: »Will jemand ein Stück Kuchen zum Kaffee?« Nein. Sie dankten. Aber nach einer kleinen Pause ging Bruno auf Werners frischen Ton ein und fragte noch einmal, wieso sie Badgastein ausgewählt hatten. Werner sagte »Kneipkur« und richtete die Rückfrage an Bruno, der nun etwas zögernd zugab, er habe Arthrose. Ein Gespräch kam nicht in Gang.

Werner genoss ausgiebig, dass offensichtlich keine Gemeinsamkeit mehr zwischen Bruno und Elisa bestand. Sorgfältig putzte er seine Brille und blinzelte Elisa zu. Die nickte. Das verstand Werner nun leider falsch. Er sagte: »Ich gehe nach oben und hole die Wegekarte und deine Tasche, damit wir an die Luft kommen.« Kaum, dass der schwere Teppichboden seine tappenden Schritte verschluckt hatte, beugte Bruno sich über den Tisch hin Elisa zu: »Wie geht es dir?« Da war er wieder, der Ton, den er anschlug, wenn er Fragen stellte, die er nicht beantwortet haben wollte. Elisa bekam Gänsehaut, Bruno musste das an ihren nackten Unterarmen sehen. Er stand auf, als wolle er seine Jacke vom Haken holen, und Elisa stand ebenso rasch auf, um zu gehen. Dabei hielten sie unvermittelt dicht voreinander. Bruno flüsterte Elisa zu, dass er sie noch immer begehre, dass sie ihn besuchen solle in Zimmer dreiundsechzig.

Ohne ein Wort floh Elisa zur Treppe. Sie schüttelte sich und nahm mit jedem Schritt zwei Stufen wie im Ansturm auf eine andere, bessere Welt. Über den langen Flur lief sie und sprang, als sei sie ein Kind, dem der Kettenhund nachläuft. Sie lief in Werners Arme und küsste ihn, dass er ein bisschen stutzte. Sie meinte ja auch nicht nur ihn, sondern ihr ganzes, verändertes Leben mit ihren erwachsenen Kindern und ihrer Arbeit und ihren Möglichkeiten, etwas zu tun oder zu lassen und ihren Stolz Paul gegenüber, dass sie ein selbständiger Mensch geworden war.

Heute nun, am Donnerstag, sind Werner und Elisa früh erwacht. Jeder hat dem anderen Zeichen gegeben mit tiefem Ein- und Ausatmen und Dehnen und Recken. Beide träumten ein bisschen weiter mit offenen Augen. Werner lauschte auf das Wischen und Klappen der Reinigungsfrauen im Flur und malte sich aus, wie es wäre, wenn Bruno in seinem Zimmer tatsächlich voller Einbildung jedes Hotelgeräusch mit Elisa in Zusammenhang brächte. Er musste richtig lachen und schüttelte den Kopf. Das wieder veranlasste Elisa, streichelnd und kraulend über seinen Rücken zu fahren.

Eine Amsel landete auf dem Balkon und spähte mit schwarzen Perlenaugen durch den Türspalt ins Zimmer. Werners gute Stimmung flachte ab. Er dachte plötzlich daran, dass eine Begegnung zwischen ihm und seiner ehemaligen Ehefrau irgendwann und irgendwo genausogut eintreten konnte. Dann beruhigte er sich wieder, weil es ihm unmöglich schien, dass das Schicksal zwei Überraschungen gleicher Art bereithalten würde. Elisa war von der Begegnung mit Bruno überrumpelt worden, sie tat Werner leid.

Was in Elisa vorging, war unsagbar. Sie machte auch keinen Versuch, ihre Gefühle zu erklären, weil sie wusste, dass etwas Gesagtes eine andere Beschaffenheit annimmt als das, was man denkt. Werner fragte schließlich, wie fast an jedem Morgen: »Was sollen wir heute tun?« Elisa antwortete: »Ich möchte gern allein sein.« Ohne Stockung kam dieser Wunsch über ihre Lippen und ohne Überlegung nickte Werner sein »Ja«.

Gewöhnlich gab es vor Elisas Solounternehmen ein bisschen Hin und Her. Dass am Tag vorher vom Wetter gesprochen wurde, von Fotos, die noch zu schießen waren und von Kräutern. Auch Werner hatte seine Begründungen für stille Tage im Hotel. Er sprach dann von Fachzeitschriften und Fachbüchern, die er durchackern müsste. Heute ist es zum ersten Mal geschehen, dass Elisa über ihren Tag einfach bestimmt. Es fällt ihr selber auf und sie sagt sich: Jetzt, wo ich Großmutter werde, fange ich damit an!

Kurz nach acht marschiert sie über den Platz. Neben dem Brunnen steht der Mensch von der Siemens-Computertechnik. Er winkt Elisa zu. Mit ihm hat sie locker eine größere Tour verabredet, aber jetzt ist ihr diese Absprache lästig. Sie geht weiter, ohne dem winkenden Mann zurückzuwinken.

Badgastein erscheint Elisa heute Morgen insgesamt nicht mehr so angenehm wie vorher. Die Menschen äußern sich hier einseitig. Es ist das sogenannte bessere Publikum, das man trifft. An einem anderen Ort oder in einer anderen Gegend wäre das vielleicht nicht so.

Während Elisa den Ortsausgang erreicht und sich auf der Wegetafel vergewissert, denkt sie plötzlich an Inga. Die war schon weit in der Welt, durch ihre Arbeit findet sie Kontakte zu Menschen, die beweglicher leben, bei Inga auftauchen, um auf der Durchreise zu rasten und dann ihre Wohnung irgendwo – in Amerika oder in Finnland – Inga zur Rast zur Verfügung stellen. Das ist eine Art und Weise, die Elisa nicht mag. Es hat bei Inga manchmal so ausgesehen wie in einem Zigeunerlager: Die Kinder und der Dackel und irgendwelche Leute aus Massachusetts am Küchentisch, Schlafsäcke im Flur und im Badezimmer ganze Ketten feuchter Wollsocken. Dann freilich kam auch eine Karte von ihr aus den Cattskill-Mountains.

Elisa erreicht den Wald. Es sind Fichten und Tannen, Ahorn und Ulmen. Trotz dieser bunten Mischung wirkt der Wald heute düster. Möglich, dass gegen elf Uhr die Sonne einen Durchbruch schafft, aber so viele Stunden wird Elisa brauchen bis zur oberen Waldgrenze.

Sie legt einen Schritt zu. Das feuchte Dunkel riecht unangenehm nach Moder. Mit Schauder denkt Elisa daran, dass Clärchen eines Frühlings ihre Kinder zusammenrief und gemeinsam mit ihnen das Buffet von der Wand rückte – um den Schimmel freizulegen! Eine weiße, pelzige Decke klebte wie ein flaches Tier an der Wand und roch beißend scharf. Elisa hatte sich daraufhin geschworen, niemals einen Mann zu heiraten, der arm ist. Wenn sie jetzt daran denkt, muss sie lächeln, weil damals ihr Maßstab von Reichtum eine Putzfrau war. Eine Putzfrau, die dafür sorgt, dass es nirgendwo schimmelt. Und irgendwie hat sie es auch geschafft, in belüfteten, heizbaren Wohnungen zu leben. Es gehört nun schon lange zu ihrem Stil, sich für den Urlaub ein First-Class-Hotel auszusuchen.

Heute geistert seit ihrem Aufbruch Bruno durch ihren Sinn. Sie gibt sich große Mühe, anderes zu bemerken. Der Wald riecht herbstlich, es wird heller, die Sonne dringt durch, ungezählte Licht- und Schattenflecken auf den Wegen spiegeln beruhigend gleichmäßig ihre sie selbst überraschende Atemlosigkeit. Elisa schickt ihre Gedanken dorthin und dahin. Einmal kommt ihr die Erkenntnis, dass die Häkelgarnitur für das Baby von Anfang an zu klein sein wird, und dann taucht die Frage an den Hauswirt auf, der eine größere Ecke im Hobbykeller freigeben sollte. Dann kommt ihr der gute Gedanke, dem Vater etwas zu schicken: Eine kleine, bemalte Kruke, gefüllt mit hochprozentigem aber der Gesundheit förderlichen Enzian, die, wenn sie leergetrunken ist, Paulchens Petra als Vase benutzen kann.

Enzian – auch der kam im Gefolge von Bruno. All die raffinierten Getränke und die Tatsache überhaupt, dass man Alkohol genießt. Von seinen Geschäftsreisen nach München brachte er Enzian mit. Die Geschäfte in München waren Brunos zweites Leben mit einer Freundin. Das durchschaute Elisa, als die junge Familie im Urlaub nach Capri fuhr. In München machte Bruno Halt und lud die Freundin ein. Als man in Capri ankam, wartete da noch eine andere Frau. Und dann wurde entschieden, dass Elisa mit den Kindern Eselstouren unternehmen sollte, weil Capri so schön sei und die Kinder doch etwas sehen sollten. Es war für Elisa die Entzauberung ihres gesamten, eigenen Lebens. Man hat ihr später Magengeschwüre entfernt und die Galle genommen, aber es stößt ihr noch immer bitter auf, wenn sie daran denkt. Paul bekommt keinen Enzian.

Auf einem schmal gewordenen, nun schon in Serpentinen geführten Weg steigt sie höher und höher, schüttelt plötzlich den Kopf und will nicht wieder Mitleid mit sich selbst haben! Sie reckt sich und steht endlich unter dem freien Himmel, es sind nur noch ihre Fußsohlen, die an der Erde kleben. Sie geht aufrecht – und da unten, zwischen den Steinen, kriecht das dunkelgrüne, verfilzte Gras. Elisa sieht sich um: Die letzten, gelbgrünen Lärchen wischen mit ihren Wipfeln noch ins Blickfeld, hinter ihnen tritt die Welt in eigenwillig schwingenden Linien zur Besichtigung an: Waldgebiete, darin haarfeine Linien, andere, ferne Wege. Talböden im Graugrün tief unten und hart gezackte Felsen vor himmlischem Blau wenn sie den Kopf senkt oder hebt. Sie steht im Schwerpunkt der schönen Welt und ist allein. Sie fühlt ihr Herz schlagen. Hier müsste sie Bruno treffen und auch ihre Kinder und Werner. Bislang hat man sie von einem Topf in den anderen geschüttet, auch Werner ist stolz, dass er Elisa nun hat, und Bruno winkt ab wie ein Spieler, der ebenso gut verlieren kann wie gewinnen. Wo war ihr Selbstbewusstsein in all den Jahren?

Sie setzt sich auf einen Stein und sieht in die scharfe Helle. Weit, weit zurück in der Vergangenheit war sie schon einmal wer: Sie findet sich zusammengehockt wie jetzt vor dem großen, gekachelten Herd in der Küche, öffnet die Backröhre, in der schon lange nicht mehr gebacken wird, sondern das Brennholz getrocknet. Sie nimmt trockene Kieferäste aus der Röhre, die glatt wie Knochen aussehen und zerspringen wie Glas, richtet sich auf und legt das Holz auf die Herdplatte, um mit beiden Händen den eisernen Topf zu greifen, dessen Emaille von spinnetzfeinen Linien durchzogen ist. Sie stellt den Topf an den Rand des Herdes und hebt mit dem Feuerhaken die Ringe aus der Herdplatte. Die Reisigglut bekommt einen weißen Schein vom Luftzug. Rasch wirft sie die Kieferäste aufs Feuer und hebt den Topf direkt darüber. Nun starrt sie in den Topf, in dem sich drei Messerspitzen Butter lösen. Elisa stäubt aus der Packpapiertüte Roggenmehl über die Butter. Mit einem Holzlöffel verrührt sie das Mehl, bis es sich bräunt. Es riecht nach frisch gebackenem Keks. Das ist der Augenblick, in dem die Milch aus der Kanne über das gebräunte Mehl gegossen wird. Nur nicht zu viel – es ist Suppe für zwei. Der Vater pumpt vor dem Küchenfenster Luft in die Fahrradschläuche. Elisas Ballonrad steht noch im Schuppen und hat hoffentlich Luft genug. Sie rührt. Die Suppe bekommt trotzdem Klümpchen. Das ist Elisa lieb. Sie kann auf der Suppe herumkauen, bis der Vater seinen Teller abgegessen hat. Er schiebt die Hosenklammern in die Hosenbeine und greift zur Aktentasche. Dahinein gibt er zwei Butterbrote, die er sich selbst mit Wurstfett bestrichen hat. Er fragt Elisa: »Hast du dich gekämmt?« Dann schnappt er noch einmal nach Luft, fast sagt er etwas – aber dann winkt er nur grüßend mit der Hand. Elisa lauscht, ob die Korridortür zufällt. Dann schiebt sie die Suppe beiseite und streicht sich ein Schulbrot. Im Wohnzimmer schlägt die Uhr sechs. Kinder poltern treppab und durch den Hausflur. Vorm Küchenfenster wirbelt die Schulfreundin ihren Handarbeitskorb im Kreis, die Zwillingsbrüder aus der ersten Etage rufen: »Elisa! Elisa!« Und nun wird die Stille in der Wohnung drückend und grau: Der kleine Bruder ist bei den Großeltern, Inga ist bei der Tante und die Mutter in der Heilanstalt. Sie hat zu schwache Nerven. Elisa allein atmet hier, sieht das Feuer durch die zersprungene Herdplatte blitzen und bleibt für diesen Tag ihr eigener Herr.

Nach so vielen Jahren fühlt sie noch etwas von dem Stolz, den ihr der große Wohnungsschlüssel in der Schürzentasche verlieh. Sie steht vom Rastplatz auf. Weit unten am Waldrand kichern und rufen Leute. Sie wählt den steileren Weg zum Abstieg. Es begegnet ihr niemand. Sie versucht sich vorzustellen, wie das ist, Großmutter zu sein. Dazu fallen ihr nur ihre eigenen Großeltern ein. Und was hatte und hat das für Konsequenzen für ihre Kinder, dass Clärchen nie eine richtige Großmutter war, weil ihre Enkelkinder abgetrennt von ihr gelebt haben? Darüber denkt sie nach, jetzt, nachdem ihre und Ingas Mutter schon zehn Jahre lang in der Erde ruht.

Als sie die ersten Häuser von Badgastein weiß im Grün aufleuchten sieht, ist sie versöhnlich gestimmt. Werner wird ihr sagen, was alles er inzwischen erledigen konnte und weiter am Tisch sitzen, auf den er Briefe und Notizzettel ausgebreitet hat. Wird Stift und Federhalter weglegen und froh sein, dass der Urlaub nun wieder so läuft, wie ursprünglich geplant.


Im Büro der Steingutwerke brennt noch Licht. Petra sitzt seit Stunden vor ihrem Schreibtisch und schabt sich, übermüdet, mit einem Messerchen einen kleinen Rest Farbe aus dem Nagelbett. Der grüne Schirm der Bürolampe dämpft wohltuend die Helligkeit der Glühbirne. Die Aktenschränke im Halbdunkel stehen wie ernste Wächter rechts und links neben der Tür. Petra kennt jeden Ordner. Das gibt ihr die Ruhe, hier auf dem Drehstuhl zu sitzen und abzuwarten, als sei sie in ihrem Wohnzimmer.

Wibke ist eingeschlafen. Ihr Kopf ist niedergesunken und ruht auf dem kleinen Tisch, an dem man die Bleistiftspitzmaschine festgeschraubt hat. Vier Mal hat das Fernamt vermittelt: »Ihre Anmeldung bitte« und vier Mal ging der Ruf ins Leere: »Der Teilnehmer meldet sich nicht«. Jetzt wird Petra die Ferngespräche abmelden und Telegramme auf den Weg bringen. Vater verstorben – Vater heute verstorben – und stellt sich vor, wie das ist, wenn man dieses Telegramm erhält. Aber sie kann sich nicht vorstellen, wie es bei Pauls Töchtern aussieht, wohin die Telegramme unterwegs sein werden. Ihr Vater und ihre Mutter leben in Bretnig, ganz in der Nähe. Sie sieht ihren Vater mindest einmal im Monat. Sie kann ihn um eine Gefälligkeit bitten, und auch er, Rudolf, braucht mitunter ihre Hilfe. Es wäre merkwürdig, wenn das auf einmal beendet wäre. Wenn sie ehrlich ist – Pauls Tod greift tiefer in ihr persönliches Leben ein.

Vater heute früh verstorben, Trauerfeier am Dienstag.

Eine der beiden Töchter müsste erreichbar sein! Dass Elisa sich nicht meldet, ist zu verstehen. Paul bekam gerade noch eine Postkarte aus München, da schreibt seine Älteste, dass sie mit ihrem Werner wieder in die Berge fährt. Es stand keine Anschrift da. Aber Inga – sie hat in ihrem letzten Brief gebeten, Paul möge eine Aufenthaltsgenehmigung für September besorgen, dann hätte sie Zeit und käme gern. Man kann daraus schließen, dass sie jetzt zuhause ist, und wenn nicht sie, dann doch ihr Freund.

Seit zwei Stunden hat das Fernamt nicht mehr vermittelt. Die Leitungen zur Bundesrepublik sind abends von Privatteilnehmern im Durchwählverkehr verstopft. Wer aber hat hier einen Privatanschluss – als normaler Mensch kann jeder einen Antrag stellen, das ist alles. Jetzt also die Telegramme: Vater heute morgen verstorben. Trauerfeier am Dienstag.

Und wieder legt Petra den Bleistift beiseite. Vielleicht hat sie alles falsch gemacht? Paul hat immer davon gesprochen, dass man ihn einäschern soll. »Dann braucht ihr keinen neuen Platz auf dem Friedhof. Ich mache mich ein bisschen klein und krieche bei Clärchen unter.« Er hat sich das so leicht gedacht! Der Mann von der Leichenwarte hat Petra erklärt, es gäbe die Möglichkeit einer Trauerfeier vor der Einäscherung, wenn der Tote noch da ist. Dann kann man ihn in der Leichenhalle noch einmal sehen. Oder aber eine Feier am Grab, wenn die Urne beigesetzt wird. Dann kann man den Toten nicht mehr sehen. Außerdem genehmigt man nur noch im Sonderfall, dass eine Urne in ein schon vorhandenes Grab kommt. Für Paul Schwengler würde man das noch einmal machen.

Und wenn die Töchter jetzt unzufrieden sind? Petra hat die Trauerfeier vor der Einäscherung bestellt. Eine richtige Feier kann es aber nicht geben, weil zuhause noch das Umzugsdurcheinander herrscht, überall stehen noch Kartons und Kisten und nicht einmal die Stühle sind frei.

Vater heute Morgen verstorben, Trauerfeier am Dienstag, erbitte Bescheid, wer zur Trauerfeier kommt.

Es wäre besser gewesen, man hätte am Telefon besprochen, was geschehen soll. So wie Paul damals mit Elisa alles besprochen hat, als sein Clärchen gestorben war. Aber nein, – an jenem Dezembertag vor elf Jahren stand Paul in Strickweste und gewalkten Filzschuhen vor Ulrichs und Petras Haustür. Es war schon dämmrig, Paul machte einen verstörten und hilflosen Eindruck. Er kam zu Ulrich und Petra, weil sie ein Telefon hatten. Ulrichs Eltern und die Familie Schwengler waren seit Jahrzehnten Nachbarn, Ulrich hatte mit Pauls verschwundenem Sohn in einer Schulklasse gesessen. Pauls Frau hatte anfangs oftmals geklagt: »Ulrich ist wiedergekommen und Dietrich nicht!«

So hatte Petra das Ehepaar Schwengler im benachbarten Haus eher ihren Schwiegereltern zugerechnet als Ulrich und sich selbst. Clärchen Schwengler warf einen neugierigen Blick in den Kinderwagen, als Wibke darin lag und erzählte gern von ihren Enkelkindern im Westen und sehnte alljährlich den Sommer herbei und die Schulferien – weil dann, wenn alles gut lief, Besuch an die Tür klopfen könnte.

Schwenglers waren für Ulrich und Petra angenehme Nachbarn. In jenem Winter kam Clärchen Schwengler nicht mehr vor die Tür. Man sah Paul mit der Einkaufstasche durch den Schnee stapfen und sagte: »Der Mann sorgt für seine Frau!« Durch die zwei war man daran erinnert, dass das Alter kommt, aber man war ja noch jung.

Petra kann sich auch heute noch nicht erklären, wie es kam, dass ihr Herz für Paul Partei ergriff. Sie steht jetzt auf, der Bürostuhl scharrt über die Dielenbretter. Wibke atmet tief durch, wacht aber nicht auf. Im Büroschrank steht eine Flasche Selters, die holt Petra sich. Pauls Selters, falls er nach dem Essen Durst gehabt hätte.

Damals kochte sie schwarzen Tee. Ulrich ging wieder an seine Werkbank im Flur vor dem Schlafzimmer, wo auch das Telefon stand. Er gehörte zur Orts- und Werksfeuerwehr, deshalb gab es für ihn einen Anschluss. Er bastelte auch an dem Abend, als Paul Schwengler angeklopft hatte, an einigen Geräten seiner vorgesetzten Kollegen, an einem Elektrobohrer und einem Toster. Paul setzte sich neben ihn, aber Ulrich schickte ihn an den Kachelofen in die Küche. Da saß er dann und zählte die Pünktchen der Wachstuchtischdecke. Später war ihm die Erinnerung an seine Hilflosigkeit peinlich. »Weißt du, – ich hatte Angst, dass ich vergesse, was ich sagen will.« Er hätte schon nicht vergessen, dass seine Frau gestorben war – aber was ihm sonst noch auf dem Herzen lag, das konnte er auch an jenem Abend schwer durchs Telefon schicken, als das Gespräch dann endlich kam.

Petra trinkt etwas Wasser. Die Telegramme müssen weg. Oder soll sie doch noch einmal Gespräche anmelden?

Stundenlang hockte Paul auf der Ofenbank. Sie gab ihm eine Zeitung, die er vor sich hin auf den Tisch legte und doch nicht las. Auch sie, Petra, konnte an jenem Abend nicht lesen. Der alte Mann brauchte Anteilnahme, also saß sie Paul gegenüber, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Paul hat mehrmals Entschuldigungen gemurmelt, je weiter die Nacht voranschritt. Aber Petra hatte ihm zugeredet, zu warten: »… und sonst? Wie wollen Sie Ihre Töchter erreichen?« Auch Ulrich war einverstanden gewesen: »Tod ist immer eine Ausnahme.« Paul blieb. Er sprach nicht. Wenn Petra oder Ulrich ihn ansprachen, versuchte er, freundlich zu lächeln. Er klagte nicht und hatte keine Wünsche.

Petra hat ihn wieder vor Augen, wie er vergisst, den Mund zu schließen und die Augen offen zu halten. Und jetzt ist sie ihm so nah, wenn im stillen Büro die grüne Lampe nur einen kleinen, hellen Kreis auf den Schreibtisch malt, um Petras Augen zu schonen, die ihr heute – wie damals Paul – fortwährend zufallen. Wäre Paul vom Tod seiner Frau nicht so betroffen gewesen, hätte er nicht stundenlag ganz versunken vor Petras Augen gesessen, hätte sie ihn dann angeschaut?

Das hatte sie nicht gelernt, auf einen Menschen zuzugehen und mit ihm zu sprechen. Ulrich hatte sie durch eine Zeitungsanzeige kennengelernt. Die Eltern hatten ihr von Kind auf das Gefühl vermittelt, dass man dankbar sein muss, wenn man auf der Welt ist. Sie lebten bescheiden und ängstlich.

Glücklich war Petra mit Ulrich nie, doch es fehlte ihr auch der Mut, ihre Situation als Unglück zu bezeichnen. Da kam der alte Mann und schämte sich vor niemandem und nichts. Paul war damals kaputt. Petra ist heute kaputt. Die Umzüge und im Betrieb gerade jetzt die Erstellung des Produktionsplanes für das nächste Jahr. Gleichmäßig tropfen ihr die Tränen. In Pauls Armen durfte sie weinen, wenn der Druck einfach zu schlimm war. Er hat ihr oft lieb und leise übers Haar gestrichen.

Wären Pauls Töchter in der Nähe gewesen als die Mutter starb, wäre Paul vermutlich bei einer von beiden gelandet. Vielleicht hätte er auch allein gelebt, aber er wäre nicht so frei gewesen, sich mit Petra anzufreunden, die jünger war als Dietrich, sein verschwundener Sohn, sein jüngstes Kind. Hätten die Töchter hier gelebt, wahrscheinlich hätte Frau Schwengler auch länger gelebt! Paul hat Petra später erzählt, dass er mit seinem Clärchen den Plan hatte, in den Westen zu übersiedeln. Die Papiere waren beantragt, aber die Töchter hatten gar keinen Sinn für die Eltern, weil sie Probleme mit ihren Ehemännern hatten und nach Auswegen suchten für sich selbst. In diesem Punkt hat Petra Paul geholfen, die Sache nachträglich zu verstehen. Er hat es begriffen, als Petra sich von Ulrich löste. Nun erzählte er gern, dass auch auf Töchter Verlass sei.

Für Petra bestand das Verhältnis zwischen Paul und seinen Töchtern aus einem regelmäßigen Hin und Her von Briefen und es gab regelmäßig Besuche. Wie man wirklich lebt, wenn man seine Eltern nur ein-, zweimal im Jahr sieht, kann sie sich noch immer nicht vorstellen. Beide Töchter Pauls sind geschieden, wie Petra auch, nur Elisa hat wieder geheiratet. Wie man sich im Westen eine Existenz aufbaut oder – unter den ganz anderen Bedingungen – einen Beruf ergreift als erwachsene Frau, auch das bleibt trotz Pauls Berichten und den Erzählungen der Töchter für Petra undurchschaubar. So wie es für die Töchter vielleicht unbegreiflich ist, dass Paul Petras – ja, – wie soll sie das nennen – was war er für sie?

»Trauerfeier am Dienstag. Erbitte Nachricht, wer kommt.« »Erbitte bis Samstag Nachricht, wer kommt …« Petra fasst einen Entschluss. Sie wird Paul begraben. Sie entscheidet, was mit ihm geschieht. Er wird verbrannt. Er hat es sich so gewünscht. Nach der Beisetzung müssen die Töchter wieder abreisen. Die Geschichte zwischen Petra und Paul hat sich hier abgespielt. Es war eine wunderbare Geschichte. Sie war.

Sie schüttet Selterswasser ins Glas, zieht vorsichtig die Telefonschnur unter Wibkes rechtem Arm fort. Das Mädel hat ihr geholfen zu putzen. Freitags ist Putztag. Jeder muss den Arbeitsplatz und die Maschinen sauberhalten, mit denen er zu tun hat. Es ist keine schlimme Arbeit, weil im Büro weder Fett noch grober Dreck anfallen. Aber der Staub! Und die ausgetretenen Holzdielen! Morgen früh werden die Kolleginnen und Kollegen lachen: »Die Heinzelmännchen waren hier und haben alles blank gewienert!«

Als Paul noch auf dem Dorfe wohnte, musste er jede dritte Woche den Hausflur und das Treppenhaus säubern. Das Haus gehört Gitte. Paul kannte sie schon, als sie noch Kind war. Sie hat mit seinen Töchtern gespielt. Wenn Elisa oder Inga zu Besuch kamen, tat Gitte so, als müsse Paul gar nie putzen. Sie beschwor die alte Freundschaft und bekam von Pauls Töchtern Kaffee und Kakao. Wenn sie dann abgereist waren, hieß es wieder: »Petra ist jung, sie kann sich doch bücken!«

Haben die Töchter nur einmal darüber nachgedacht, dass Petra viele Jahre lang neben ihrem Beruf zwei Haushalte geführt hat? Dass die Besuche manchmal in die Zeit ihrer größten Anspannung fielen? Weihnachten, da hatte sie Jahresabschluss. Ostern, da musste sie meistens zur Weiterbildung.

Petra bekommt jetzt wieder Farbe ins Gesicht. Sie regt sich über die nie besprochenen Dinge auf. Die Wählscheibe surrt. Die Telegrammaufnahme meldet sich. Petra spricht. Wibke hört jemanden rufen. Sie hat das Gefühl, über der Sprunggrube zu schweben und kommt und kommt nicht herunter in den Sand! Beim Putzen musste sie an das Sportfest denken. Sie hat Petra gefragt: »Muss ich morgen in die Schule?« Die Mutter hat zurückgefragt: »Willst du allein zuhause sein?« Das Sportfest ist morgen fast vorbei. Zum Abschluss kommt noch der Marsch der Bewährung, der ist halb so schlimm. Wenn man müde ist, wird alles schlimm. Aber Wibke ist beim Putzen nicht umgefallen. In den Fingern spürte sie, wie das Gefühl verschwand, und wenn sie sich bückte und wieder aufrichtete, flimmerte vor ihren Augen das ganze Büro. Die Ohnmacht kam leider nicht. Wibke hat an der Vervielfältigungsmaschine gerieben und schließlich sogar die Büroklammern in messingglänzende und grauglänzende sortiert. Darüber ist sie eingeschlafen.

Sie schwebt im Traum über der Weitsprungsandgrube und dann über dem Pferd. Die Hochsprunglatte überfliegt sie im Spiel, und das Sprungbrett des Sprungturmes im Schwimmbad wippt wie ein Trampolin immer noch einmal und noch einmal, sie ist auf die Aschenbahn katapultiert worden und steuert noch im Flug auf ihre Klasse zu und alle sehen hoch an den Himmel und rufen: »Wibke! Wibke!« Kein Mensch ruft »Helga« wie sonst immer. Wibke wird von den Klassenkameradinnen zu den Lehrern getragen. Die Turnlehrerin hält den Mund fest zusammengepresst und schüttelt den Kopf. Dann kommt über Lautsprecher ihre Stimme: »Schämst du dich nicht? Hast du kein Gefühl? Hast du keine Verantwortung?« Dabei dreht Wibke ihr stets das Gesicht zu, – wie kann die Lehrerin sehen, dass an der Jeans der kleine, gestickte Schriftzug »happy days« klebt? Wibke fühlt, wie die Lehrer alle nach ihr greifen und sie ruft: »Das war Jessika! Das ist Jessikas Hose!« Jetzt geht es erst richtig los: »Einen russischen Namen besudeln!« Gegenüber den Lehrern stehen die Jungens von der Kleinwachwitzer Straße. Die hüpfen und lachen und Wibke will ihnen zuwinken, aber ihr Arm ist festgebunden!

Petra zieht jetzt die Telefonschnur noch ein Stück weiter zu sich heran, Wibke fällt überanstrengt zurück in die Wirklichkeit. »Vater heute morgen verstorben, erbitte Nachricht« Die Schreibtischlampe brennt, Petra sitzt ihrer taumeligen Tochter gegenüber. Die befindet sich noch in der Erregung, die ihr die Luft nahm, als sie allein im Zimmer des Rektors den Schriftzug ›happy days‹ von der Hose trennen sollte! Jetzt endlich schaut sie im Büro der Steingutwerke aus dem Fenster ins Nachtblau.

Sie müssen jetzt gehen? Ja, die Mutter greift unter Wibkes Achsel und zerrt ein wenig: »Marsch! Es hat keinen Zweck. Wir schlafen zusammen im Wohnzimmer!« »Das machen wir.« Und die ganze Stadt ist zwischen 22.30 und 23.00 Uhr wie ausgestorben.


Das unausgesprochene Ziel, abends nicht allzu spät ins Bett zu gehen, erreichen Inga und Hanno schon aus dem Grund gern, weil dann beide sichtbar und fühlbar gleich werden. Im Nachthemd oder Schlafanzug, sozusagen schutzlos, tasten sie sich mit Gedanken und Worten ab. In der einen Hand halten beide etwas zu lesen, und die freie Hand findet die warme Haut des anderen, bis die nächste Seite umgeschlagen werden muss. Dann gibt es noch die Brücke ihrer miteinander verhäkelten Füße. Sie lesen ein Stückchen weiter, da, wo sie gestern aufgehört haben. Aber auch heute lassen sie sich nicht auf die Geschichten ein. Ihre Augen bearbeiten die Zeilen und Seiten zu Ende, ihre Gedanken und Gefühle wandern zurück in den vergangenen Tag. Dort geistert noch das Klavier: »Ist der Klimperkasten fort?« »Ja, das ging schnell.«

Heute Morgen sind beide mit Jeremi angeeckt. War das so? Hanno – friedlich ausgestreckt im Bett – ist sich sicher, dass er, wenn er ein Instrument spielen könnte, ein Schlagzeug ins Haus gebracht hätte. Mit Händen und Füßen Musik machen! Oder noch besser: Auf einem Dudelsack blasen und damit herumwandern, spielen, wo immer man geht und steht! Alles andere ist nichts. Auch ein Klavier. Hanno sieht deutlich wieder das Gesicht seiner Schwester vor sich, wie sie mit geblähten Backen Luft in die Mundharmonika stößt, um sofort danach mit eingezogenen Wangen den nächsten Ton aus dem kleinen Ding herauszuholen. Da staunt er noch immer. Nie hat er einen Schnauzenhobel in die Hand genommen. Genauso hat er hier niemals eine Taste auf dem Klavier niedergedrückt. Das war Jeremis und Maschas Sache. Inga hat immer gesagt, dass sie sich darüber sehr freut. So lief und läuft hier ein Trennungsstrich durch die Wohnung: Ein Leben für Inga und ihre Kinder, ein anderes für Hanno und Inga. Seit Jeremi fort ist, springt das nicht mehr ins Auge, aber es bleibt so, dass Laura, Mascha, Jeremi und Jessika Macht über Inga behalten. Sie schaffen es, dass die Mutter alles stehen und liegen lässt, ihretwegen. Hannos Wünsche erfüllt sie auch, er muss sie nur vortragen. Seinem heutigen Gefühl nach war es immerhin so, dass er mehr zu sagen hatte, als sie zu fünft am Küchentisch saßen. Wenn die jungen Herrschaften sich etwas Verrücktes ausdachten und von sich gaben – mit dem Moped nach Amsterdam – irgendwelchen Wahnsinn, dann zählte seine Stimme auf Ingas Seite.

hüben und drüben

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