Читать книгу Siehdichum - Anne Dorn - Страница 7
I
ОглавлениеDie tote Seitenstraße lag im Dunkel, an der Hotelrezeption im Großpolen wartete eine junge Frau in Mantel und Mütze. Sie drückte Martha den Zimmerschlüssel in die Hand und wies noch den Weg durch einen schwach beleuchteten Flur, kein Mensch sonst zu sehen, alles still. Martha Lenders wollte gestern abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre Ruhe. Im Zimmer nahm sie sofort ihr Nachthemd aus dem Koffer, aß ohne richtigen Hunger eine trockene Semmel und einen Apfel. Dann wollte sie sich ein bisschen waschen, die Zähne putzen.
Die Badewanne im unverhältnismäßig großen Badezimmer kam ihr auf breiten, gußeisernen Tatzenfüßen entgegen, altmodisch bequem, stabil. Es verlockte Martha trotzdem nicht, im warmen Wasser wieder lebendig zu werden. Gewöhnlich sortierte sie am Abend ihre Notizen, Rechnungen, beiläufig erstandenen Gegenstände und ihr Bargeld. Gestern ließ sie alles beim alten.
Mit dem polnischen Fernsehprogramm kannte sie sich inzwischen aus. In Posen/Poznań, der dritten Station ihrer Reise, wäre es ein Leichtes gewesen, einen deutschen Sender zu finden, aber sie blieb bei diesem polnischen Erzähler, einem Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, der in seiner Wohnung umherging und mit sich selber sprach. Noch immer versteht sie kein Polnisch, verstand aber diesen Mann, der nicht besonders schön war, ihr jedoch gefiel. Irgendwen oder irgendwas suchte er, sprach auf seiner Bettkante sitzend und am Tisch, schaute aus dem Fenster oder in seine Schränke. Und dann zog er einen kleinen, abgenutzten Koffer unter dem Bett vor und lud ihn sich auf die Knie. Die Kofferschlösser sprangen auf, nichts verrostet oder von erstarrtem Öl verklebt. Martha betrachtete mit ihm vergilbte Papiere, Fotos, Zeitungsausschnitte und Briefe, was alles er nur zurechtschob, nicht aus dem Koffer nahm. Ganz behutsam griff er nach einem Schmetterling, einem Tagpfauenauge! Sie sah mit an, wie der Falter sich in der Handwärme des Menschen auf sein Leben besann, seine Flügel spreizte und wieder zusammenschlug. Tagpfauenaugen, das wusste sie, gehören zu den Eckenfaltern, sie haben schon in der Zwischeneiszeit gelebt. Deshalb suchen sie einem geheimen, inneren Signal zufolge schon im August einen Winterschlupf. Es ist Ende Oktober. Der Falter gehörte sicher nicht zu den im Koffer aufbewahrten Dingen, er hatte sich hineingeflüchtet. Schlaftrunken ruhte er jetzt auf der Hand, die ihn hervorgeholt hatte, und der Mann staunte. Bis der Falter aufflog, nicht weit, nur bis zu der in breite Falten gelegten Übergardine. Der Mann im Film erzählte unentwegt weiter, aber Martha schaltete das Fernsehgerät aus. Seit ihrem Aufbruch in Koblenz trug sie an diesem vermeintlich leichten Gepäck wortloser Geschichten.
Heute morgen, als sie sich die Unterschenkelstützstrümpfe anzog –, was immer mühselig war, denn sie musste die zehenlosen Füßlinge mit beiden Händen gerade richten, damit die eingewebten Fersen auch richtig zu sitzen kamen –, war ihr gestriges Einverständnis einer Melancholie gewichen. Wieder fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Ein großer Spiegel, der dem Bett gegenüberstand, führte ihr vor, dass ihr Körper dabei war, seinen Zusammenhalt zu verlieren! Unvermittelt, denn sie sah es zum ersten Mal: An ihren rund und straff gewesenen Armen bewahrten die Knochen die alte Form, aber das Fleisch fiel von diesem Gerüst. Deutlich getrennt zu sehen Ellenbogen, Speiche und die von der gefältelten Haut gehaltene Muskulatur, beinahe wie bei einem neu geborenen Kind. Drei solcher anfälligen Wesen hatte sie vor Jahren, als junge Mutter, in ihre Arme geschlossen, aber sich niemals vorgestellt, dass diese Weichheit und Empfindlichkeit zurückkehren und am eigenen Körper zu spüren sein könnte.
So schnell sie konnte, entwischte sie dem Spiegel und verschloss das von ihr bewohnte Zimmer 114. An der benachbarten Zimmertür stand die Zahl 112. Martha sah sich um: kein Zimmer 113, vermutlich auch keine Zimmer mit den Nummern 13 oder 213. Ein Hotel im Stil der Fünfziger Jahre, ein volksdemokratisches Hotel, und so mit Aberglauben geschlagen! Bislang hatte sie angenommen, östlich der Elbe habe man mithilfe des Kommunismus jede Erscheinung des Lebens erklärt, Glauben und Aberglauben ausradiert, das ganze Dasein auf Linie gebracht. Diese aus der Reihe tanzenden, polnischen Hoteliers liebte sie sofort! Und hätte trotzdem auch in einem Zimmer 113 ruhig geschlafen.
Jetzt wollte sie frühstücken. Ihre derzeitige Leibspeise war polnischer Borschtsch, diese rote, würzige Mittagssuppe. Vermutlich war es von nun an gleichgültig, wann sie was aß, das Alter saß ihr im Nacken. Vielleicht befand sie sich auf dieser Reise in einem Verwandlungsprozeß, für den sich noch kein Gefühl fand. Wie in dem Schmetterling, der noch einmal sein Winterquartier verließ, so regte sich in ihr eine gewisse Bedenkenlosigkeit.
Auf der Zugfahrt von Krakau/Kraków nach Posen/Poznań hatte sie zwangsweise anderen vertraut. Keiner der Menschen, die sie auf dem Bahnhof in Krakau ansprach, verstand ihr Deutsch, Englisch oder Französisch. Der Hotelportier, der sie zum Zug gebracht hatte, redete – vermutlich der zehn Zloty Trinkgeld wegen, die sie ihm gegeben hatte – mit dem Zugschaffner. Sie zeigte ihm ihre Reservierung, aber er wies ihr einen Platz in einem Abteil mit durchgehenden Sitzbänken zu. Eigentlich sollten sich da auf jeder Seite vier Menschen nebeneinander arrangieren.
Martha blieb mit nur einem anderen Fahrgast allein, einem jungen Mann. In Griffweite hütete er eine auffallend schöne Lederreisetasche. Ihr Gepäck sah dagegen schäbig aus. Sie bemerkte, wie der Schaffner im Gang einen Zettel beschrieb und an die Abteiltür klebte. Andere Reisende kamen, stellten ihre Koffer ab, um die Abteiltür zu öffnen, aber nach der Lektüre des Zettels nahmen sie ihr Gepäck wieder auf und gingen weiter. (Es war ihnen also schriftlich verwehrt, neben Martha oder dem jungen Mann zu sitzen.) Wer war dieser Andere, dem ebenfalls eine ganze Sitzbankreihe gegönnt war? Er zog seinen Schal durch beide Henkel seiner Reisetasche und behielt die Schalenden in der Faust. Martha hätte gern gewusst, ob die bevorzugte Behandlung von einzelnen Reisenden hier Entgegenkommen bedeutete oder Kontrolle?
Nach einer Stunde Fahrt zog sie sich ihre Schuhe aus und streckte sich lang. Laut Fahrplan dauerte die Fahrt von Kraków nach Poznań sieben Stunden. Es wurde rasch dunkel, so viel weiter im Osten als zu Hause, also viel eher von der Sonne erreicht und wieder verlassen. Das ausgestreckt Daliegen tat nicht unbedingt gut. Die Räder der alten, wenn auch neu aufgepolsterten Waggons schlugen und krachten über die Gleise, so dass es besser war, den Stößen nur die Sitzfläche zu bieten, nicht den ganzen Körper. Spürbar lag ein Missverhältnis zwischen dem Tempo des Zuges und den Einrichtun gen der polnischen Eisenbahn. Betrachtete Martha den ruhig schlafenden Mann ihr gegenüber, wurde ihr deutlich, dass sie verwöhnt war von westlichen, auf Komfort getrimmten Strecken. So schämte sie sich und ärgerte sich zugleich.
Lange blieb es draussen stockdunkel. Keine Ortschaft, erst recht kein Bahnhof. Sie nahm ihre Handtasche und trat in den Gang. Deutlicher noch schlugen und krachten die Räder. Die Pendeltür zum Kopf des Waggons bewegte sich – vom Fahrtwind! Sie griff links und rechts im Gang nach Halt. Als sie die Tür aufstieß, fegte ihr ein heftiger, feuchtkalter Luftstrom entgegen. Nach nur einem Schritt vorwärts war sie stehengeblieben: Der Waggon stand offen!
Martha sah dicht an dicht kleine Birkenstämmchen, mannshohe Fichten, irgendwelches andere Gehölz auch und direkt dahinter Kiefernwald. Es war eine nur augenblicklich schwach beleuchtete, schwarze Wand, an der der Zug entlangraste. Darauf war sie nicht gefasst – ja, ja, das war der Wald! So plötzlich und unerwartet stand er vor ihr. Keinem Menschen, nicht einmal sich selbst hatte sie dieses Reiseziel genannt. Es gab keinen Grund dafür, nur dieses Gefühl: Im Wald. Im Wald musste es gewesen sein. Johannes, der kleine Bruder, war nie zurückgekehrt. Er war einberufen worden am Ende des Krieges, angeblich zum Reichsarbeitsdienst. Aber die Jungen hatten Waffen bekommen, man hatte sie in der Gegend von Adelnau/Odolanów in Marsch gesetzt. Und ewig, ewig lief der kleine, noch kindliche Bruder vor Martha her, einen Feldweg entlang, über eine Anhöhe – bis diese haltlosen Träume in einem Wald endeten. Er musste dort verscharrt sein, in Polen.
Jeder Wald war auf seine Art groß, großartig und überraschend lebendig. Für Tote gab es nichts Besseres als einen Wald. Martha starrte ins vorüberziehende, dunkle Gewirr. Sie konnte stürzen, aus dem Türloch fallen. Sie konnte aber auch nicht von der Stelle. Es gab den Zug, den Fahrtwind, eine offene Tür und Wald.
Vor Monaten hatte sie einen Antrag auf Reisekostenzuschuss gestellt. Ein Ministerium hatte den Antrag genehmigt. In Warszawa, Kraków und Poznań gab es Institute für deutsch-polnische Zeitgeschichte. Vom Wald hatte sie nirgendwo geredet und nirgendwohin davon geschrieben. Niemand hatte sie vor dem offenen Türloch in der Eisenbahn gesehen.
Zurückgekehrt in ihr Abteil, lauschte sie, und hörte, dass auf der nächsten Station wer die Waggontür schloss.
Am Montagmorgen wird Martha Lenders hier, im Hotel, von einem Menschen abgeholt werden, der versprochen hat, ihr zu helfen. Gestern, als der Zug endlich in Poznań angekommen war, hatte sie ihn entdeckt, bevor er sie sah. Im gelblichfaden Licht der Bahnsteigbeleuchtung erkannte sie den großen, geraden Menschen. Er trug seinen Trenchcoat und seine schwarze Baskenmütze. Ein einziges Mal hatte der Zufall sie beide am gleichen Ort, zur gleichen Zeit ans Vortragspult gerufen. Zu keiner weltbewegenden Sache: Experimenteller Film. Immerhin in Berlin. Seither nannte Martha den ihr sympathischen Henryk Szaruka insgeheim beim Vornamen. Henryk also hatte sich auf dem Bahnsteig nach ihr umgesehen. Sie hatte versucht, sich möglichst gerade zu halten, bevor er sie sah.
Statt nach dem Frühstück in die Stadt zu gehen, kriecht Martha im Zimmer 114 noch einmal ins Bett. Die Matratze ist durchgelegen, das Deckbett dünn. In der Nacht schon hat sie ihren Mantel als zweite Decke darübergebreitet. Fest eingewickelt und mit geschlossenen Augen wiederholt sie eine sich selbst gestellte Verpflichtung: Ich suche Johannes.
Aus diesem Grund ist sie in Koblenz aufgebrochen, nach Warszawa geflogen, hat Kraków und nun auch Poznań aufgesucht. Dieser Drang, sich umzudrehen und nach Osten zu schauen, hat etwas Animalisches, denn in der großen Umarmung aller erdenklichen Örtlichkeiten, die die Spuren des Bruders bewahren könnten, findet sich auch ein winziges Nest südöstlich von Dresden, in dem Martha in einem Bruchsteinhaus zwischen Mühlgraben und Flüßchen das Licht der Welt erblickte. Noch immer hält sie für gut, dass sie vor sechsundfünfzig Jahren das alte Zuhause verließ. Sie konnte nicht ahnen, dass die deutsche Teilung diesem Verlassen Endgültigkeit anhängen würde. Ihre heiße Liebe zu diesem Punkt in der weiten Welt schwelt in ihr, so viel sie auch dagegen andenkt.
Am Anfang der Reise nach Polen hatte Constanze, Marthas älteste und viel gereiste Tochter aus München, die Mutter begleitet; zehn Tage lang, mehr Zeit hatte sie nicht. Nach Constanzes Rückflug passierte Martha etwas jenseits jeder Erklärbarkeit: Der Bruder war plötzlich da! Das konnte sie genau fühlen, sogar riechen. Sie war immer schon überzeugt davon, dass Menschen nicht nur mit denen leben, die praktisch erreichbar sind. Viel intensiver – und leichter – leben sie mit den Stillen, die nicht erreichbar, doch immerzu gegenwärtig sind, Gedanken lenken, Geschichten mitbestimmen und hören, was die lebende Seele verschweigt. Johannes kam, sobald seine Schwester allein war. Um sie zu begrüßen?
Wieso roch er nach Feuer, gerösteter Gerste und diesem in einer verbeulten Schüssel aufgebrühten Malzkaffee? War einmal noch der von ihnen beiden mit einem Krümel Hefe vermischte Absud in Gärung geraten und den Korken nach aus den Flaschenhälsen in die Luft gezischt?
Sie saß auf einer der hölzernen Bänke gegenüber den Krakauer Tuchhallen, als das Gefühl von der Nähe des Bruders jäh wieder erlosch. Von Tauben umtrippelt und umflattert, mit den regelmässigen, zagen Anpreisungen einer Krakauer Blumenfrau im Ohr, fühlte sie sich ertappt: Seit dem Beginn ihrer Suche nach Spuren des Bruders, hielt sie mit einigen neu in ihr Leben eingetretenen Menschen Kontakt, der verschwundene Bruder half ihr noch einmal, in die Welt zu treten.
Nie war es ihre Art gewesen, Urlaub zu nehmen, einfach so. Touristen hielt sie für Übeltäter. Ihrer Meinung nach sollten Menschen nur dahin fahren, wo sie zu tun hatten. Sie reiste gewöhnlich, wenn man sie rief. Dem Gerufensein half sie mitunter nach –
Ihre Kinder sind heute erwachsen, sie hat keinen Partner mehr. Ins Leben verflochten blieb sie bislang, weil sie rechtzeitig vor dem Ende ihres Grafikerinnen- und Hausfrauendaseins eine Arbeit nur für sich selber erfand: Dreißig Jahre ist es her, dass im Westen von »mehr Demokratie« die Rede war, und »nicht alles so sein musste, wie es immer war«. Damals schickte sie zweiundzwanzig Minuten Schmalspurfilm einer neu gegründeten Fachhochschule zu. Die Dozenten rätselten: Auf dem Streifen waren Gegenstände zu sehen, und die oft nur halb. Der Text, den der Betrachter zu hören bekam, enträtselte die angeschnittenen Bilder kaum, und doch war es so, dass diese Halbheiten zusammen mit dem Ton neugierig machten. Immerhin, sie hatte Menschen beeindruckt. Das war ihr gelungen, obwohl sie die Regeln, wie man filmisch Eindrücke schafft, nicht kannte. Sie hatte sich nicht geschämt, ihr Unwissen zuzugeben und vor den Hochschuldozenten darüber zu lachen! Natürlich, das war närrisch gewesen. Damals hatte sie sich entschlossen, noch einmal anzufangen.
In Poznań, am dritten Ort ihrer Reise, begegnet Martha erneut ihrer Einsamkeit. Sie hätte mit ihrem Reisestipendium England als Ziel wählen können, sogar Australien. Kanada. Peru. Für eine Reise in diese Länder hätte sie mehr Geld gebraucht – und auch bekommen. Es ist den Kollegen im Berufsverband und den Geldgebern gleichgültig. Wollte sie ihr restliches Leben einfach wegschlafen, kein Hahn krähte nach ihr. Tiere verkriechen sich im Dickicht, beim Sterben und beim Gebären. Martha denkt an diesem Sonntagmorgen immer wieder an das offene Türloch im dahinbrausenden Zug und an den Wald, der so dicht hinter den Gleisen stand. Und sie hat noch das Heulen des Fahrtwindes im Ohr, fühlt noch den Sog, hinaus und hinab ins Schwarze.
Martha Lenders steht am 29. Oktober des Jahres 2000 gegen ein Uhr mittags in Poznań auf der Straße. Breit fließt dieser uralte Weg links von einem Hügel herunter und verschwindet im Bogen zwischen den Häusern. Wie leicht und geräuschlos flöge ein Schlitten darüber hin! Vom Bahnhof hügelab und hinaus vor die Stadt. Ein gewisser Roderich neben Martha, Sternenhaufen im schwarzblauen Himmel, und es herrscht Frost, der den Atem verschlägt, die Nase stiehlt, jedes Haar, das unter der Mütze hervorkommt, weiß bereift. Die Pferdehufe schlagen den Schnee, Schlittenglocken bewahren vor Schlaf. Martha sitzt neben dem jungen Herrn, beide wärmen ihre Füße unter der einen Decke. Seine Hände halten die Zügel – so war es, als Martha Schulmädchen war. Dieser Bruder von Mechthild, einer Freundin, die für kurze Zeit auch in Sachsen zur Schule ging, hatte lange gewartet. Die Züge aus dem Altreich kamen im Januar 1944 mit großen Verspätungen an, obwohl die Strecken nach Osten noch fast unzerstört waren. Martha erinnert sich an weiße, reine Felder und Wälder. Auch an die Ankunft auf dem Gut: Alle waren zu Bett gegangen, aber in der Röhre des Kachelofens warteten Kartoffelplinsen, eine Scheibe Zwiebel jeweils in deren Mitte eingebacken. Roderich tröpfelte mit Zuckerrübensaft ein großes M auf ihren Plinsen.
Das Gut lag nordwestlich von Posen. Dass der junge Herr in sie verliebt war, bescherte Martha Probleme. Die Mutter hatte gedrängelt: »Fahr doch, der Vater bezahlt dir die Bahn.« Wurst, Schweineschmalz, Leinöl, Speck für den kleinen, in die Höhe geschossenen Bruder. Nach ihrer Rückkehr hatte er sich vollgestopft und sie angelacht, mit seinem pickeligen, pubertären Jungensgesicht. Sie selbst war schlank und hübsch gewesen, achtzehn Jahre alt und zuversichtlich. Was eigentlich hatte sie damals gedacht, im Schlitten, unterm Sternenhimmel, und am nächsten, klaren Wintertag, – außer Roderich und Mechthild hatte sie kaum Menschen gesehen. Waren da Polen gewesen? Oder Soldaten? Auch damals, auf der Heimreise, stand eine Waggontür offen. Der Fahrtwind heulte, ein Zugschaffner besah und befühlte mit gierigen Augen und Fingern ihr kostbares Gepäck – und sie allein im gesamten Waggon.
Schweigsam läuft sie heute stadteinwärts, gerät in Nebenstraßen, und bleibt jetzt neben einer Gruppe von Jungen und Mädchen stehen, die auf dem Bürgersteig wen oder was erwarten. Aus einem Hausflur mit Treppenaufgang tönt Jazzmusik. Zwei von den Jungen drehen sich um und schauen Martha an. »Geht es hier zum Marktplatz? Stary Rynek?« fragt sie, um etwas zu sagen. Man streckt die Arme aus, zeigt die Straße entlang und dreht ihr wieder den Rücken zu.
Sie bleibt vor dem nächsten, größeren Schaufenster stehen. Schöne Tuche liegen da, geschickt von Ballen abgerollt. Zum ersten Mal zwingt Martha sich, ihren Bruder grauhaarig und im blauen Jackett zu sehen, mit seiner Statur irgendwie dem Vater ähnlich. Und sofort drückt ihr Magen, was er gewöhnlich tut, wenn sie sich etwas zurechtlegt, was so nicht stimmt. Johannes hat für sie auf ewig kein einziges Barthaar. Er riecht ein bisschen verschwitzt und ungewaschen. Jetzt klopft er ihr von hinten auf die Schulter: »Bibsi, sei nett, – leih mir deine Bretter.« In Leipertz’ Grund haben die Jungen eine Schneeschanze gebaut; mit Schiern darüber zu sausen ist eindrucksvoller; als mit dem Schlitten.
Jahrzehntelang hatte Marthas Begehren, den Bruder neben sich zu empfinden, geschlummert. Ganz überraschend, an einem Ort, der dem Sächsischen Heimatdorf in keiner Weise ähnlich war, lebte es wieder auf: in einer Sechszehntausend-Seelen-Gemeinde im äußersten Nordwesten Deutschlands, mit viel zu großen, alten Kirchen und der entsprechenden Leere in ihrem Dunkel. Ringsum gab es Spargelfelder, Sandboden, Ebene, – mithin eine Landschaft für Radfahrer. Schützenbruderschaften tagten in einer der fünf Kneipen, bei der Niederwildtreibjagd im Herbst wurden, wie man erzählte, gewöhnlich auch Menschen verletzt. Die Grenze zu den Niederlanden war nah, der Schmuggel, der eigentlich nicht mehr lohnte, war zu einer Art Sport mutiert, den die Begabten weiter ausübten. Und an diesem Ort gab es, den Einheimischen fast unbekannt, eine einzigartige, vielsprachig zusammengesetzte Bibliothek. Einzelgänger aus ganz Europa reisten an, blieben drei, vier Wochen, um da zu arbeiten. Der Historiker Krzysztof Jaworski aus Warschau und die vor sich hin experimentierende Filmemacherin Martha Lenders aus Koblenz blätterten dort vor gut vier Jahren zeitgleich in sehr speziellen Nachschlagewerken. Die Öde des Ortes selbst verlockte niemanden, seine Zeit außerhalb der Bibliothek zu vergeuden. Der Pole und die Deutsche wie auch ihrer beider Nachbar aus Spanien (der eigentlich ein Ungar war) aßen mitunter gemeinsam. Martha fabrizierte dann in der Gemeinschaftsküche provencalisches coq au vin, sächsische Quarkkeulchen oder österreichisch-böhmische Marillenknödel. Die beiden Männer sorgten für Getränke und Nachtisch. So war diese kleine Tischgemeinschaft für alle Beteiligten ein Glückstreffer. Da sie zufällig zusammengefunden hatten und jeder von ihnen die mitgebrachte Arbeit voranbringen wollte, erzählten sie meist vom jeweils akuten Problem: einem bockigen Computer, vergessenen Unterlagen oder der Freude, eine gute Idee für den Abschluss des eigenen Vorhabens gefunden zu haben. Als sie sich besser kannten, sprachen sie auch von ihrer Heimat. Zuletzt erzählten sie einander, wovon sie gewöhnlich nie sprachen: So der Professor aus Polen von der Suche nach seiner deutschen Kinderfrau. Sein Bruder und er waren zweisprachig aufgewachsen. Diese Ursula war, über seine Kindheit hinaus zur Familie gehörig, seine Vertraute geblieben. Nach dem Einmarsch der deutschen Armee wurde ihnen beiden der Umgang miteinander bei Strafe verboten! Und sie verstanden rasch, wie ernst das gemeint war. Er erzählte vom Sich-Trennen aus lauter Vorsicht, vom Briefeschreiben mit Deckadressen, vom sich Besuchen an entlegenen Orten, von Befürchtungen und schrecklichen Nachrichten, von absolutem Schweigen und sich Verlieren – und schließlich doch Finden.
Viele Jahre lagen zwischen ihrer letzten Begegnung und ihrem Wiedersehen. Krzysztof Jaworski hatte überlebt, war Historiker und Dozent an einer Hochschule geworden; das Denken in großen Zeiträumen hatte ihm eine gewisse Ruhe gegeben und seiner früher sehr hageren Gestalt etwas Standfestigkeit. Umgekehrt hatte die von ihm Gesuchte ihre Gelassenheit und Zuversicht verloren, und so auch ihre rundliche Figur. Er fand eine abgemagerte Frau vor, mit eckigen Bewegungen und misstrauischem Blick. Beide waren vom nicht vorherbedachten, veränderten Äußeren des anderen überrascht. Und da war noch etwas, was er erst nach und nach in vollem Umfang in seiner Auswirkung begriff: Die merkwürdige Zurückhaltung der Wiedergefundenen beruhte auf einem Verlust. Sie hatte ihr Gehör verloren, war vollkommen taub! Am liebsten hätte er sie einfach umarmt und an sich gedrückt. »Aber ich sah, welche Angst sie hatte. Sie musste am Schluß des Krieges fliehen, obwohl Lodz ihre Heimat gewesen war; vergewaltigt, verletzt, ausgeplündert, betrogen, also auch ihrer Selbstachtung beraubt, war sie in Hannover gelandet« –, das hatten ihm die Schwestern des Pflegeheims, in dem er sie endlich fand, geschrieben.
Er wusste sehr wohl, dass Opfer gemeinhin nicht geliebt werden, und suchte in seiner Bestürzung nach einem Trost für sie. Und sie begrüßte ihn ohne Nennung seines Namens. Konnte es nicht sein, dass jemand sich einer List bediente? Sich für den ausgab, nach dem auch sie sich sehnte? Ihre tiefe, nun unkontrollierte Stimme nahm ihm die letzten Zweifel an ihrer Identität. Wie sollte das umgekehrt auch für sie geschehen? Er hatte plötzlich die Idee, auf eine ganz bestimmte Art auf einem Bein zu tanzen! So hatte er, als impulsiver, übermütiger Junge, besondere Freude ausgedrückt. Und da packte sie ihn, lachte und weinte zugleich, – Martha malte sich aus, dass wohl auch er vor Freude lachen musste und weinen.
Nach dem Aufenthalt in dieser besonderen Bibliothek und längst wieder daheim, schrieb sie eines Tages nach Warschau, fragte nach, ob der Professor ihr helfen wolle, Spuren ihres verschwundenen Bruders zu finden. Sie war fast sicher, dass er ablehnen würde, zumindest fragen: »Was versprechen sie sich davon?«
Jahrzehnte waren vergangen, seit Marthas Bruder verschwunden war. Sie hatte in der Zwischenzeit schon vermieden, anderen Menschen gegenüber einen dereinstigen Bruder zu erwähnen. Krzysztof Jaworski, etwas älter als sie, lebte weit entfernt von Koblenz in der polnischen Hauptstadt. Polen, auf dessen heutigem Terrain der Bruder verschwand, lag besonders für Westdeutsche sehr weit entfernt; weiter, als es die messbaren Kilometer aussagten. Martha schrieb mutig: »Es ist endlich Zeit, dass ich nach dem Bruder frage.« Sie war selbst nicht sicher, wonach sie suchte, nach einem Grab? Einem alten Mann? Einem lebenden Menschen, der wusste, wie alles gewesen ist?
Alle Papiere, die von vergangenen Suchaktionen des längst verstorbenen Vaters zu finden waren, angefangen von einer Feldpostkarte, geschrieben am 18. Januar 1945 in Adelnau, Unterschrift »Euer Johannes«, über Marthas eigene Suchanträge an das Rote Kreuz in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, bis hin zur Todeserklärung des Bruders, die sie selbst in die Wege leiten musste, schickte sie, fotokopiert, nachWarszawa. Und bekam sofort Antwort! Alles schien klar zu sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es Zugang zu bislang unzugänglichen Akten. Auch wollte der Professor für Martha Verbindung mit dem zuständigen Abgeordneten im Sejm schaffen. Plötzlich hatte sie etwas vor sich, eine Art Gedankenweg. Eine Reise hielt sie damals nicht für nötig, vor allem nicht für möglich.
Die Nachricht, dass es in Warschau wie auch in Posen taugliche Archive gab, war rasch übermittelt. Die Adresse des zuständigen Abgeordneten stand bald in Marthas Adressbuch. Sowohl in den Briefen aus Warschau wie in denen, die dorthin unterwegs waren, wurde der Marillenknödel liebevoll gedacht. Die wollte man unbedingt noch einmal gemeinsam verspeisen!
Martha gewöhnte sich an, in den Kramkästen der Buchhandlungen nach Polnischem zu suchen. Eines Tages fand sie einige Zeilen, die aus dem grünen Heft heraus ihr in die Augen, ins Ohr und ins Herz griffen:
…
Was denkst du hier, wo der Wind
Von der Weichsel wehend
Den roten Ruinenstaub fortbläst?
Du hattest geschworen, nie mehr
Klagelieder zu singen.
…
Doch das Weinen Antigones,
Die den Bruder sucht,
Ist wahrlich über das Maß
Des Erträglichen. …
Wie soll ich leben in diesem Land,
Wo mein Fuß an die Knochen
Der nicht begrabenen Verwandten stößt?
…
Von diesem Augenblick an lebte sie in einer Art Verwirrung: Was so ergreifend auf sie wirkte, waren Gedanken von Czesław Miłosz. Ein polnisches Mädchen wird da besungen, das seinen Bruder sucht. Aber sie musste, in Koblenz, auf offener Straße weinen.
Sie begann, ihren Kindern und Enkeln von der Bekanntschaft mit dem polnischen Professor zu erzählen. Wirklich offene Ohren hatte ihre älteste Tochter, Constanze. Sie sagte am Telefon: »Krakau möchte ich sehen.«
Martha erzählte ihnen auch von einer großen, großartigen Fahrradtour in ihren Sommerschulferien, als sie ihre Freundin Mechthild, die Schwester des ›jungen Herrn‹, zum ersten Mal auf dem schönen Gut in der Nähe von Posen besuchte. Von Dresden nach Posen: Die weiten Felder, die riesigen, duftenden Wälder. Hitze, Stille, breite, von Fischen blitzende Flüsse. Martha im klaren Wasser, angeschmiegt an die schwingenden Bärte der Wasserpflanzen und über ihr – Piwiii – der langgezogene Schrei des Bussards.
In Berichten von Überlebenden der Arbeitsdiensteinheit 3/401 ist von einem Rathaus die Rede. Heute umrundet Martha das in Reiseführern als bemerkenswert erwähnte Rathaus von Poznań. Einige niedrige Häuser, dem italienisch anmutenden Gebäude zugeordnet, bilden die kurze Gasse, in der sie, durch kleine und größere Schaufenster, Uhren, Hüte, Wäsche und Antiquitäten bestaunt. Schöne Möbel, Spiegel, Porzellan, Kristall und Silber. Mitten im kostbaren Wirrwarr drei Männer: Zwei am Biedermeiertisch spielen Schach, der dritte beugt sich sichtbar in Spannung auch über das Brett, seine linke Hand packt einen Adler, der mit ausgebreiteten Schwingen auf einem hölzernen Pfosten hockt. Martha steht und schaut. Wie schön sind die über die Zeit geretteten Dinge, und die in die Zeit hineingerettete Lust, zu spielen! Der das Spiel beobachtende dritte Mann blickt unvermittelt auf. Dabei trommelt er mit den Fingern auf den hölzernen Adler. Er kann nicht wissen, was in Martha jetzt vor sich geht, er sieht nur, dass sie erschrickt.
Nervöses Gefinger, – das polnische und doch auch preußische Wappentier und eine Grafenkrone. Der ›junge Herr‹ war damals über den Dienstboteneingang ins Gästezimmer gekommen. Leise, schüchtern. Er legte sich nicht zu ihr ins Bett, stand am Kopfende und fingerte an der eichenen Heraldik. »Schön, – was?«, mehr brachte er nicht über die Lippen. Und sie hätte ihn gerade seiner Schüchternheit wegen umarmen mögen. Am vorangegangenen Mittag hatte sie die wirklichen Grafen gesehen. Roderichs Vater hatte, auch wenn er das Bonbon, dieses schwarzweißrote Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz am Hemd trug, nicht alle gutbäuerlichen Sitten abgelegt. Sonntags lud er mitunter die eigentlichen Eigentümer zu Tisch. Martha hatte miterlebt, wie sie kamen: Graf, Gräfin und eine noch jugendliche Tochter. In Pommern hatte der neue Hausherr wohl keinen Umgang mit dem Adel. Er wollte es nun lernen. Sonntags kamen auch keine Parteigenossen unangemeldet vorbei. Der kleine, dickliche Mann, dem die Frau vor einigen Jahren gestorben war, verließ sich besonders an Sonntagen auf die polnische Köchin. Sie reichte, in Ausnahmefällen, persönlich die Speisen. Ihrer alten Herrschaft hielt sie mit unbeschreiblicher Würde vor. Roderichs Vater ermunterte: »Bittesehr!« Die gräflichen Familienmitglieder antworteten nacheinander mit »Dankesehr«. Hatten sie denn wirklich etwas genommen? Es gab mehrere Schüsseln. Und immer: »Bittesehr!« »Dankesehr!« Das hatte den alten Pommern verwirrt, er hatte die Kontrolle über sich verloren und barsch gefragt: »Dankesehr ja oder Dankesehr nein?« Daraufhin hatten die Adligen sich erhoben, hatten grüßend genickt und waren gegangen.
Martha war der Bissen im Halse stecken geblieben. Nur Roderich hatte gegessen, gegessen.
Martha erinnert sich an den glutroten Kopf von Roderichs Vater, an das gräfliche Bett im eigentlich gräflichen Gut, auch an die Remise: dieses Grüppchen kleiner, hölzerner Gebäude, in denen die polnischen Grafen zu jener Zeit hausten.
Noch immer beobachtet der dritte Mann die Frau vor dem Fenster und redet zugleich auf einen der Spieler ein. Das mag der Ladenbesitzer sein. Er bedeutet mit großer Geste, man möge bitte nicht stören. Wenn er nicht aufpasst, verliert er die Partie. Martha geht, und der dritte Mann schaut ihr nach. Sie glaubt, dass er sie durchschaut, ein Gefühl dafür hat, warum sie geht.
Der Adler, die Grafenkrone, das Gut, auf dem sie zweimal für eine kurze, wunderbare Zeit dank der Freundin, aber vor allem dank der Liebe des ›jungen Herrn‹ herrschaftlich lebte – Martha hat Henryk Szaruka davon erzählt. Grünweiler hieß es. Er wollte erforschen, wie es heute heißt.
Im Januar 1945 floh die ehemals pommersche Familie von Grünweiler westwärts mit gräflichen Pferden. Kamen die Grafen zurück in ihr Schloss? Für wie lange? Oder zogen sie von der Remise aus direkt weiter, und wohin? Haben sie doch erst in ihren Betten geschlafen, aus ihren Schüsseln gegessen? Die Köchin wird gekocht haben, was immer es zu kochen gab. Aber für wen?
Am 18. Januar 1945 schrieb Johannes Mertens eine Postkarte an seine Eltern: ›Wir sind gut in Adelnau angekommen und sofort eingekleidet worden. Auch haben wir Waffen bekommen und stehen in Alarmbereitschaft. Hier kommen schon die ersten Flüchtlinge aus Litzmannstadt durch.‹
Martha hat den Ort Adelnau südöstlich von Posen auf dem alten Vorkriegs-Handatlas gefunden, und vor dem Krieg bezeichnete man das als handlich, was auf einen gewöhnlichen Tisch passte. Wie war dieses Ungetüm aus dem sächsischen Elternhaus zu ihr in den Westen gelangt? In den Schulatlanten ihrer Kinder waren die Länder Osteuropas grob dargestellt. Die Lehrer kannten diese Gebiete kaum. Oder sehr gut! Sie schwiegen sich darüber aus. Außerdem hatte Professor Jaworski Martha davon abgeraten, an Ort und Stelle zu suchen:
Mit wem wollen sie da sprechen? Vielleicht gibt es noch Leute, die sich erinnern, aber dann werden es Erinnerungen sein, über die keiner gern spricht, schon gar nicht auf Deutsch. Brüchige Kenntnis der Sprache genügt für etwas mehr als Kopfschütteln oder Achselzucken, – Geschichten werden anders erzählt.
Und er war nach Madrid gerufen worden, kurz bevor Martha nach Warschau kam.
Nicht genug mit diesem unliebsamen Verzicht auf das erhoffte Wiedersehen und seinen direkten Rat, – auch vom Abgeordneten, dem er Marthas Anliegen vermittelt hatte, kam noch nach Koblenz ein kaum lesbares Fax. Martha entzifferte nur, dass sie auch diesen Herrn nicht treffen konnte, weil er wegen der neuen Zusammenstellung des Sejm pausenlos auf Abruf stand.
Immerhin entnahm sie dem Papier, dass der für ihre Suche Angesprochene weiter ansprechbar blieb. Es stand da etwas von ›im neuen Jahr‹ und ›Hoffnung‹. Und irgendetwas, was ›gern‹ getan werden sollte. Dieses Fax und alle Briefe Krzysztof Jaworskis befinden sich in Marthas Gepäck, im Hotel. Dazu noch die originalen Suchdienstunterlagen des Vaters, seine Bittschreiben auch, und die wenigen zwischenzeitlich freudig verfassten Mitteilungen, dass irgendwer etwas von Johannes wüsste: Deutsche Frauen hatten polnische Frauen gebeten, über vermisste Söhne auszusagen, und dann waren Listen aufgetaucht, auf denen der Name des Bruders klar zu lesen stand. Dann wieder hatte es geheißen, solche Listen habe es nie gegeben. Über Jahrzehnte hin Briefe des Vaters in schrecklichstem Bürodeutsch. Er war Büroangestellter gewesen, Erfahrung hatte er nur mit Rechenmaschinen. In der Mappe liegt auch die Bescheinigung, dass Johannes Mertens für tot erklärt wird. Wie bei einer Hochzeit das Aufgebot, gab es vor der Todeserklärung einen Aufruf am Schwarzen Brett der Gemeindeverwaltung, sich zu melden, wenn wer es besser wüsste. Es meldete sich niemand. Martha war nun amtlich die einzige Überlebende der Familie und konnte einige wenige Dinge aus der Hinterlassenschaft ihrer Eltern von Sachsen über die deutsch-deutsche Grenze nach Rheinland-Pfalz holen.
Darüber wurde sie krank. Nicht der plötzlichen Nähe des alten Schreibschrankes halber oder wegen der in den zwanziger Jahren vom Vater belichteten, fotografischen Platten, die sie alle gegen das Licht hielt. Es war ihr unheimlich, den Namen des Bruders auf den Antrag zur Todeserklärung zu schreiben, ohne sich mit ihm abzusprechen. Ihr alter Vater war von ihr im Heimatort neben der Mutter beerdigt worden. Er hatte seinen richtigen Platz. Der tot erklärte Johannes saß nun aber der Mutter wieder auf dem Arm oder dem Schoß. Die konnte ihn wieder fragen: »Ist dir kalt? Hast du Hunger?«
Martha hörte also wieder diese weiche, zärtliche Stimme, die ihm gegolten hatte und nach der sie so süchtig gewesen war.
Sie litt nach dem Begräbnis des Vaters und der Todeserklärung des Brudes einige Wochen an einer Mittelohrentzündung, aber eigentlich an einer sich tiefer fressenden, bohrenden Leere.
Vor gut zwei Wochen, am 14. Oktober 2000, nachmittags 15:30 Uhr, bei bestem Sonnenschein, war Martha in Warschau/Warszawa gelandet. Verblüffend glatt waren ihre Vorbereitungen verlaufen, nun rasch in den Bus, das Gepäck irgendwie – sie hatte einsehn müssen, dass es damit vorbei war. Der Taxifahrer, der sofort bereit stand, sprach ein nuscheliges Englisch. Sie zeigte ihm vier Finger: »Vierzig Zloty, ja?« Ihr Gepäck war schon im Wagen. Sie fuhren eine ganze Weile. Vor dem Hotel setzte der Mann sich auf den Kofferraum und wollte siebzig, machte dabei eine grimmige Miene. Auch Martha war wütend, sie verlangte, dass er dann ihr Gepäck bis zur Hotelrezeption zu tragen habe. Sofort verwandelte sich sein Gesicht: Mit unterdrücktem Lachen schleppte er die Koffer an Ort und Stelle, und ganz schnell – an den mit festen Tritten paradierenden Hotelportiers vorbei – lief er, fünfzig Zloty in den Händen, zurück zu seinem Wagen. Tür zu, ab.
Martha durchfeuerte in dem großen, gut möblierten Hotelzimmer das abenteuerliche Gefühl, hier einer anderen, besseren Sorte Mensch zuzugehören. Durch die Fensterfront sah sie hinab auf die Straße: Links aus dem Dämmergrau kam ein Strom von Lichtern auf sie zu, und rechts floss ein rot aufglühendes Band von Rücklichtern von ihr fort. Dies alles schien geräuschlos vor sich zu gehen, pure Illumination, dem Hotelgast zu Ehren. Mit Freude packte sie aus und brachte ihr Gepäck so unter, dass Platz genug für Constanze blieb, die einige Tage später eintreffen wollte. Seit ihren Kindheitstagen existierte in Martha ein seltsamer, innerer Befehl, dem sie gehorsam war: Immer und auf jeden Fall hatte sie als erste den Weg durch die Büsche zu bahnen, die widerspenstigen Schlingpflanzen zu zerreißen und die Dornen zu zertreten. Sie wusste ganz gut, und in Warschau in besonderem Maße, dass es keine Notwendigkeit mehr für ihren vorauseilenden Eifer gab. Auch schnitt sie sich damit ins eigene Fleisch, weil sie auf diese Weise ihren erwachsenen Kindern die Möglichkeit nahm, ihr zu helfen. Trotzdem, und aus welcher Angst auch immer, sie konnte nicht davon lassen, im vorhinein Äpfel neben Constanzes Bett zu stellen, im Badezimmer die Handtücher zu befühlen und das vermeintlich weichere für die Tochter zu bewahren. Sie probte sogar die Begrüßung und zündete eine Kerze an.
Constanze war ihr Wunschkind. Marthas Mann, Constanzes Vater also, den Martha wenige Jahre nach Kriegsende in Westdeutschland traf, hatte mit seiner Schlacksigkeit, seinen hungrigen Augen und seinen verdeckten, wohl frühen, bitteren Erfahrungen an ihre Beschützerinneninstinkte appelliert. Gleichzeitig war etwas Rätselhaftes an ihm gewesen, was sie einfach stehenbleiben und Halt machen ließ. Nicht gar so in Reichweite, immer etwas in zumindest innerer Distanz. So entbehrte sie von Anfang an ein Gegenüber für ihre Wärme, ihr Zutrauen, ihre Zuversicht. Constanze kam an einem Wintertag zur Welt. Es schneite, der Nußbaum vorm Fenster zeigte sich rein und hell, das Baby war einfach bezaubernd. Es wurde Martha nur schwer, das Leuchten des Anfangs über Constanzes weiteres Leben und das ihrer Geschwister auszudehnen. Krankheit, finanzielle Not, wachsendes Misstrauen gegenüber dem Vater der Kinder brachte sie in Konflikte; auch das Vorhaben, ihre Kinder niemals zu ängstigen, trieb sie in selbstquälerische Zweifel.
In jenem Warschauer Hotel, als die für Constanzes Ankunft gedachte Kerze schon einmal zur Probe angezündet wurde, blieb Martha Zeit genug und auch Ruhe, über die Einladung an die Tochter »Komm mit nach Polen!« nachzudenken. Es war dann so gelaufen, dass Constanze gleich nach der Ankunft vorschlug, dass jede jeden Morgen die gleiche Summe in ein Portemonnaie gibt, woraus dann alles bestritten wird, was man gemeinsam unternimmt. War die gemeinsame Kasse leer, legten beide wieder die gleiche Summe ein. Das war eine gute und brauchbare Idee gewesen, Marthas verrückte Furcht, in ewiger Bringschuld gegenüber ihren Kindern zu sein, schien mit dem forschen Vorschlag Constanzes abgeschafft. Aber war es nicht endlich Zeit, miteinander zu streiten?
Jetzt sitzt Martha, so gut das geht, auf den Handgriffen ihrer Gehstöcke und drückt die Stockenden in den Spalt zwischen Rathausfundament und Posener Marktplatzpflaster. Sie möchte hier irgendwo richtig sitzen, und vielleicht auch essen. Aber das sachte Pendeln auf den Gehstöcken ist auch eine Verführung. So ruhten sie und Johannes sich aus, wenn sie lange im Wald unterwegs waren. Immer schnitten sie sich gleich zu Anfang Stöcke, verzierten im Gehen die oberen, dicken Enden mit kreuzweisen Einschnitten. Im Wald konnten sie gut die dünnen Enden unter Wurzeln oder größere Steine zwängen, und dann auf ihren wippenden Sitzgelegenheiten miteinander rasten. Das war ehrenhaft, weil sie dabei doch standen, also nicht zugaben, müde zu sein.
Es gab für Bruder und Schwester nur eine Möglichkeit einander schwach zu zeigen: Sich im gleichen Augenblick auf den Waldboden fallen zu lassen und mit Geheul die geheim vereinbarte Tapferkeit zum Teufel zu schicken!
In einem der schmalbrüstigen Posener Bürgerhäuser dem Rathaus gegenüber, bedeckt eine Tafel ein kleines Parterre-Fenster. In goldenen Buchstaben ist darauf das Wort ›Musik‹ zu lesen, und hinter den Fenstern dieses Hauses schimmert Licht. Martha liest die auch auf Englisch verfasste Mitteilung, dass sich hier das Posener Instrumenten-Museum befindet.
Instrumente! – Schnell durch die Tür und den Wolldecken-Windfang! Die Garderobenfrau und Kassenwartin hütet eine einzige Jacke, – vielleicht ist das ihre eigene. Martha zahlt. Sie redet in Englisch auf die Frau ein, beklagt, dass es so wenige Museen für Instrumente gibt, so dass die Frau, die kein Wort versteht, ergeben nickt, die ungestüme Besucherin aber im Auge behält. Martha will alles sehen!
Schon immer hat es sie beschäftigt, wieso Menschen aus Schafsdärmen, Roßhaar, Tannenholz, Harz, Blech, Elfenbein, Ziegenbälgen, Schweinsblasen, Schilfrohr und einfach allem Dinge fabrizieren, Geräte formen, um ihrem Drang, etwas zu sagen, was nicht in die Sprache passt, eine Brücke zu bauen. Ein spezifischer Druck der Seele verschafft sich Luft – und die Luft, die diesen Menschen umgibt, beginnt, wenn er ein Instrument bedient, zu schwingen. Nicht irgendwie! Da muss es nach Marthas Vorstellung noch eine Sucht nach Genauigkeit geben. Und man hat geschnitzt, gesägt, geklopft, gebogen, gezogen, gebohrt, geklebt, geschabt und was noch mehr. Welche Herrschaft der Töne, dass sie diese Liebesdienste verlangen! Was sind das für Menschen, die das Verlangen der Töne entschlüsseln und Musikinstrumente bauen?
Martha mit dem kleinen Bruder im Mai in den Wiesen: Jeder sucht nach dicken Stengeln der Löwenzahnblüte. Schnell ein kinderfingerlanges Stück von der Blütenstengelröhre abgeknipst und ein Ende davon zwischen Daumen und Zeigefinger platt gedrückt. Jetzt pusten sie durch das gequetschte ›Mundstück‹ und der Stengel jault, jammert, furzt, – im hohen Bogen die ›Flöten‹ in die Luft geworfen und neue fabriziert. Töne suchen, – aber alle sind sich so ähnlich! Am Rand der Wiese angelangt, wischen Martha und Johannes den Blütenstaub und die Spuren des milchigen Pflanzensaftes von den Fingern. Eine Weile noch bleibt ihnen der Rhythmus, dieses durch-das-Gras-laufen, sich Bücken, Pusten, die Arme in die Luft Werfen, –
Der Rundgang im Posener Instrumentenmuseum beginnt enttäuschend, im ersten Raum stehen Musik-Automaten. Martha konnte Jukeboxes nie viel abgewinnen: »In the Summertime …«
Ein Objekt allerdings, – sie beugt sich darüber, hockt sich davor hin, steht wieder auf, legt beide Hände auf das Glas der Vitrine: Eine Schreibmaschine für Komponisten! Herr Rundstatler in Berlin hat dieses Notoskript genannte Ding im Jahre 1900 erfunden. Man spannt Notenpapier ein. Vielleicht haben die Editeure sich lesbare Autographen erhofft. Martha hat nie davon gehört, dass jemals ein Komponist, über das »Notoskript« gebeugt, komponiert hätte. Herr Rundstatler mit dieser phantastischen Idee kam aus Berlin: Um 1900 gehörte Poznań zu Preußen. Händler reisten von Berlin nach Osten, also auch nach Posen. Von Osten waren Händler unterwegs nach Westen, also auch nach Berlin. Um 1900 war der Preußenkönig auch deutscher Kaiser. Wilhelm II baute in Posen um 1900 ein Schloss. Er war der Kaiser, der so albern aussah mit seinen gezwirbelten Bartspitzen.
Nach dem ersten Weltkrieg waren Poznań, Berlin und das gesamte Deutschland kaiserfrei. Marthas junge Eltern in Sachsen besaßen ein Radio. Ein Kino eröffnete in für sie erreichbarer Nähe. Sie hörten Charleston, sahen Pola Negri auf der Leinewand schluchzen und jubeln, hörten und sahen in Dresden die »Dreigroschenoper«. Das Berlin der zwanziger Jahre pumpte Farbe in die Republik. Aber ein Sachse reiste nie nach Berlin. Marthas Vater und Mutter: Niemals!
Martha musste erst Schülerin werden, radfahren lernen und ein Fahrrad bekommen. Dann strampelte sie in den Sommerferien von Dresden nach Potsdam. Man schrieb August 1939. Der Roggen wurde gemäht, die staubigen Landstraßen dehnten sich in die Weite. Ab Jüterbog waren plötzlich Lastkraftwagen mit aufgesessenen Infanteristen treue Begleiter. Kraftradfahrer, Kübelwagen, Geschütze auf Lafetten, Panzer. Stunden um Stunden rasselten und klirrten Soldaten neben dem Mädchen Martha. Viele Tage bevor ›die polnische Soldadeska‹ den Sender Gleiwitz überfallen haben sollte, war eine Dreizehnjährige der Reichshauptstadt auf der Spur. Der ›Führer des deutschen Volkes‹ befand sich dort, nicht mit gezwirbeltem Schnurbart, aber zurechtgestutzt auch er, mit zur Fliege geschnittenem Barthaar. Berlin, also, – leise und ein bisschen ernüchtert, setzt Martha den Rundgang: Membraninstrumente. Die dünnen, glatt geschabten Häute und dann das Spannen. Immer bis an die Grenzen, immer eine Zerreißprobe.
›Auf die Pauke hauen‹ kann Martha nicht besonders gut. Dafür müsste sie ja überzeugt davon sein, dass es richtig ist, was sie denkt und tut. Wenn allerdings fünf Kesselpaukenschläge Sängerinnen und Sängern den Mund öffnen, damit das »Jauchzet, frohlocket –« unaufhaltsam die Wände und Herzen durchdringt, – als Altstimme im Chor des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach überkam Martha stets das unnachahmliche Weihnachtsgefühl, eine bestimmte Freudigkeit, ein deutsches Wohlsein. Man hat ihr auch erzählt, russische Soldaten wären der Meinung gewesen: ›Zu Weihnachten greift der Fritz nicht an! Er kann es nicht! Es ist wider seine Natur!‹
Im November 1944 schickte Marthas Mutter einen Brief an die Tochter ins Salzkammergut: »Schau zu, dass du Weihnachten nach Hause kommst. Sie müssen dir frei geben. Du bist doch kein Soldat!«
Nein, Martha war Pflichtjahrmädchen, leistete ihren Dienst in einer Familie, deren Männer ›im Felde‹ standen. Sie steckte den Brief der Mutter weg und kam am Silvestertag heim. Das nachgeholte »Oh du fröhliche« war entsprechend kläglich. Im Dorf krachten die Jungen mit Karbidbüchsen. Johannes gestand seiner Schwester, dass sie zwei, drei Platzpatronen verschossen hatten.
In jener Silvesternacht, als noch niemand wusste, dass Johannes fünfzehn Tage später ›einrücken‹ musste, blies unten im Dorf wer Trompete. Es war der Sohn vom Friseur, der im Lazarett gewesen war, und nun wieder ›diensttauglich‹. Vater, Mutter und Martha umarmten sich, Punkt 12 Uhr, oben auf dem Berg. Sie wünschten sich, dass der Krieg zuende wäre. Von weiter her hörten sie Kirchenglocken, aus dem Dorf aber das Gekrach der Jungen und dieses ›Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen!‹.
Vor Martha liegt ein gewaltiges Bronzehorn. Sie liest auf Englisch, es sei eines von den vieren, die es auf dieser Welt noch gibt, vorchristlich und entsetzlich schwer. ›Wenn die Drommeten erschallen‹ und ›Wenn die Posaunen von Jericho erklingen‹.
Sie lehnt vornübergebeugt, als müßte sie ihr Gesicht verbergen, an der Vitrine der sanften Blasinstrumente. Da liegt eine Elfenbeinflöte; mehrere mit Intarsien oder ziselierten Klappen geschmückte Schalmeien, Oboen, Fagotte, Klarinetten, alles Waffen für intime Auseinandersetzungen: Schülerbands, Betriebs-Bläsergruppen, Feuerwehr-Blasorchester legen sich damit ins Zeug. Wer bläst wen unter den Tisch? Jazz-Formationen blasen zur Matinee. Am Abend in Koblenz, bevor die Kino-Hauptvorstellungen beginnen, mühen sich ukrainische, sibirische oder rumänische Bläser auf der Straße, ihre Mützen liegen umgekrempelt vor ihnen auf dem Pflaster, ein bisschen Silber ist drin. Pisa und Wien. Brüssel und Danzig. Paris und Prag. Geburtsorte für Blasinstrumente. Und ihre Familiennamen: Denner, Grundmann, Nowowiejski, Arciszewski. Martha übt leise die Aussprache. Ihr Mund bewegt sich, sonst nichts. Sie kann plötzlich nicht denken: Der Filz in der Vitrine vor ihr ist grün, Rohrflöten glänzen gelbbraun, wie Schilfrohr am Bach, im Teich oder im See. Die Samenkolben nannten sie Kanonenputzer. Wenn sie den langen Stengel kurz vor dem Kolben kappten, konnten sie das dicke, braune Ding wie eine Zigarre in den Mund nehmen und paffen.
Johannes konnte, als er noch in gestrickten Hosen mit anknöpfbarem Leibchen durch die Welt marschierte, überhaupt nicht rauchen! Aber die Lippen aufstülpen, die Milchzähne blecken. Er hatte schon als Kleinkind ein wildes Getue, wenn er am Waldrand entlangstapfte. Packte er einen Frosch, drohte er ihm: »Pass auf! Pass auf!« Und Martha stand dabei und staunte. Sie nahm dem Bruder den Frosch nicht weg. Schaute ihm zu, wie er ihn auf den Stein klatschte, die Froschbeine dabei nicht aus den Fingern ließ und einen Stein nahm, oder ein Stöckchen, um langsam zu ›säbeln‹.
»Johannes! Johannes!« Weiter hat sie es nie gebracht, hat sich umgedreht, ist aber bei ihm geblieben. Und wollte nicht wissen, was in dem Frosch drin war!
Jetzt beginnt Marthas Flucht oder Aufstieg in die erste Etage, zu den Streichinstrumenten, den Lieblingen feinfühliger Leute: Aus Fichte, Ahorn, Tanne – mit ein ganz klein wenig Ebenholz – prunken die Geigen nur wenig, sie verbergen ihre Kostbarkeit bis zu dem Augenblick, in dem ihr Holz zu singen beginnt. Im Wald wäre es jetzt, trotz Spätherbst, sehr schön. Martha bestaunt verwandelte Bäume: Violinen, Bratschen, Celli und Contrabässe. Es rauscht ihr in den Ohren, aber das ist nur das Vielerlei der fremden Stadt im fremden Land, und ihre Unsicherheit, was nun werden wird. Ob Henryk ihr hilft? Wobei genau? Was sagt sie ihm, morgen früh?
Unaufgefordert hat die Wärterin einen Stuhl gebracht. »Danke, – dzienkuje!« Ganz besonders für die Meisterwerke der italienischen Schule: Cremona. Andrea Amati. Geigen von Guaneri, Girolamo, Guadanini – Es riecht hier nach Firnis, obwohl die Instrumente sehr alt sind. Über die Fußbodenbohlen rennt eine langbeinige Spinne. Martha sieht zu, wie sie in dem Ritz neben dem Astknoten kurz vor der Fußleiste verschwindet. Im Wald sitzen überall Spinnen und Käfer und Larven auf der Lauer. Hier aber existieren sie frech in Gegenwart von Baronen, ja Heiligkeiten! Es kann sein, dass ein junger Geiger oder eine junge Geigerin aus Warschau/Warszawa vorbeikommt und sagt: »Morgen entscheidet sich, ob ich als 2. Violine, stellvertretende 1. Violine im Radio-Synfonieorchester angestellt werde. Geben sie mir eine Burzenski!« Und man nimmt sofort eine aus der Vitrine und gibt sie ihm oder ihr.
Burzenski, Zwierzynski, Groblicz. Polnische Geigenbauer, von denen Martha nie gehört hat. Sie fragt die Wärterin, ob denn wer deutsch spricht, im Haus. Niemcy. Oder heißt es Niemiecki? Warum klingt die Bezeichnung für deutsch auf polnisch wie eine Verneinung?
Die freundliche Frau sagt etwas von »Direktorin«. Heute ist sie nicht da. Es kommt Martha so vor, als wolle sich die Wärterin dafür entschuldigen. Das aber ist ihre Sache: »Verzeihung, – ich setze mich hier so hin, es ist bald vier Uhr.«
Wohin sie auch geht, wo immer sie steht, sitzt oder liegt, sie ist nie ganz dort, wo man sie sieht. Alte Menschen sind nie ganz beisammen. Kindern ähnlich, schrecken sie zurück in den gegenwärtigen Augenblick, sobald man sie ruft. Aber wo sind sie sonst?
Ganz blöde lächelt sie den Fußboden an. Sie weiß, dass sie altmodisch denkt. Die belichteten, fotografischen Platten des Vaters hat sie noch einmal abgezogen, – ein Geiger war plötzlich zu sehen: Im dunklen Anzug steht er ganz locker da, jung, schlank, mit Violine und Bogen in seinen Händen. War es Vaters Cousin oder nur ein Freund? Jedenfalls Marthas Pate. Irgend etwas ist schief gelaufen, mit diesem Negativ; von unten her ist der Silberbelag zerstört. Abgesehen von diesem Lockenkopf, dem Martha gern zulächelt, bleibt das Abbild ihres Paten ein Gewirr dunkler Flecken. Unwirklich auch seine Geschichte: Er saß unter den 2. Geigen im Philharmonischen Orchester der Stadt Dresden. Außerdem – und besonders gern – stand er des Nachts mit seiner Geige im Café Prag. Ende der zwanziger Jahre kam der Jazz in die Dresdener Cafés, das soll ihn gereizt haben. Dieses Spiel nach lockeren Vorgaben und in ungewöhnlicher Besetzung, mit einer Klarinette als Partner, zum Beispiel. Marthas Mutter sprach davon mit einer gewissen Häme: »Dort hat er sich seine Schwindsucht geholt. Der Zigarettenqualm, die Frauen.«
Er musste sterben, bevor sein Patenkind ihn selbst nach allem fragen konnte. So oft Martha versucht, sich an ihn zu erinnern, es läuft immer auf das vom Verfall verschonte, hübsche Gesicht und die Lockentolle hinaus. Und da war noch seine Geige! War es nicht eine Dankwart? Warum sonst kommt Martha dieser Name, dem sie hier in den Räumen der Streichinstrumente wie einem polnischen Adelstitel begegnet, so bekannt vor?
Gleichzeitig hört sie wieder das verächtliche »eh!« der Mutter, was so viel hieß wie: »Die übertreiben gerne!« ›Die‹ waren die Verwandten aus der Familie des Vaters. Sie kamen aus dem Erzgebirge. Vielleicht hatten nicht alle mit silbernen Löffeln gegessen, aber es gab einen Treibemeister in der Ahnenreihe, einen wichtigen Menschen in der Silbergrube von Annaberg. Es gab außerdem Steinmetze, Fuhrleute und Händler, Marthas Vater wurde in einem zweistöckigen, würfelartigen Dresdener Haus geboren, das seinen Eltern gehörte. Der Großvater handelte noch mit Kohlen, als Martha da aus- und einging. Kein Zweifel, die westlich der Elbe Geborenen waren begütert.
Die Ostsachsen dagegen, die Familie der Mutter, da hatte niemand Pferd und Wagen oder gar ein Instrument! Doch geschah in der Oberlausitz, was Martha sehr beschäftigte: Großmutter, Großtanten und »Woga«, wie die Urgroßmutter genannt wurde, entschwanden in eine andere Welt, sobald sie zusammentrafen.
Sie sprachen dann wendisch. Martha liebte es sehr, von nicht enträtselbaren Lauten umgeben, dazuzugehören und sich doch in der Fremde zu fühlen. Zumindest so wie im Wald! Man neckte sie, setzte ihr Klöße vor mit unaussprechlichem Namen, schickte sie, etwas zu holen, von dem sie nicht wusste, was es wohl war. Immer seltsame Spiele des Abschieds: Sagte sie der Großtante Aufwiedersehen, wurde gleich mehrstimmig widersprochen: »Nein, die Martha kommt nicht wieder, die kommt nicht mehr in die Polackei!« Und sie dann: »Das ist keine Polackei!« Und die anderen: »Ach so, – na dann vielleicht …« Man umarmte und winkte sich lange.
Und wo war, wenn ihre Existenz in der Familie des Vaters der Wirklichkeit entsprochen hatte, die ›Dankwart‹ geblieben? Wie überhaupt war sie in die Hände des Paten gekommen?
Es war nur die kleine, halbe Geige, die der Vater mit nach Hause brachte. »Kinder, eine Geige!« Die Mutter behauptete sofort: »Die ist für Martha zu klein und für Johannes zu groß.« Martha bekam dennoch Unterricht. Es klingt schaurig, wenn sieben Dorfkinder den vom Lehrer auf dem Harmonium vorgegebenen Ton treffen wollen. Also hatte die Mutter leichtes Spiel: »Geh an die Luft, – Geigen bringen die Schwindsucht!« Da war Marthas Lust, zu hüpfen, zu springen, zu fideln; aufgehoben zu sein in der Musik, in den schönen Bewegungen aller, die musizieren, nun ihr Geheimnis. Vielleicht hatte Johannes das gleiche. Sie beachteten sich, wenn sie beieinander waren, fragten sich aber nicht aus.
Martha geht. Sagt der Wärterin, sie käme noch einmal wieder. Von der Straße her, durch die Fenster, besieht sie nun die Posener Cafés. Jedes wirkt ehrlich, und altmodisch. Altmodisch ist, einer Kaffeekanne den Kaffeewärmer überzustülpen. Altmodisch ist, abends ein warmes Fußbad zu nehmen. Und sich morgens in der Küche in einer Emailleschüssel mit kaltem Wasser zu waschen. Martha zuerst. Dann der Bruder. Er war kein Kind mehr, als sie ihn holten. Im Krieg war ein Mensch mit fast sechzehn Jahren erwachsen. Der Krieg erlaubte ungehörige Gedanken: Ausreißen. Sich von den Zwängen des Elternhauses befreien. Sterben aber, ahnen, dass man sterben muss: Hatte Johannes aus Vorahnung der Mutter beim Abschied seine erste, zur Konfirmation von der Patin geschenkte Armbanduhr zugesteckt? Gewöhnlich – wenn es denn so weit gekommen war – erhielten die Mütter Erkennungsmarke, Notizbuch und Armbanduhr mit der Feldpost.
Martha besieht nun jede der Seitenstraßen, die vom Stary Rynek abzweigen wie Rinnsale von einem See. Sie versickern im Häusermeer. Menschen treiben die Gehsteige entlang, niemand ist in Eile. Die Straßenbeleuchtung wird eingeschaltet, hier und da auch in Schaufenstern schwaches Licht. Sie bleibt stehen und betrachtet Bücher. In einem Eckhaus mit vier Schaufenstern liegen wild durcheinander Bildbände mit Fotografien vom Alltag auf Preußischen Kasernenhöfen und kolorierte Abbildungen der Süßwasserfische. Landkarten, Radierungen, eine Shakespeare-Gesamtausgabe, »Herz der Finsternis«, französisch, als zerlesenes Taschenbuch. Der Reisende in Josef Conrads Roman findet im Urwald, weit entfernt von anderen Europäern, einen Wahnsinnigen und zerlesene Bücher.
Es gab, während des Krieges, schmale Bändchen, gerade so groß wie ein Briefumschlag. Martha hätte dem Bruder das eine oder andere ›ins Feld‹ geschickt. Aber der Krieg war schon entlarvt. Johannes hatte vermutlich nicht einmal Zeit nachzufühlen, ob sein Notizbuch noch in der Brusttasche war.
Die Titel der polnisch verfassten Bücher kann Martha nicht entziffern, bestenfalls Namen: Szczepanski, Zagajewski, Andrzejewski bitten, so wie sie sind, um Einlass in andere Sprachen, haben noch Halme von ihrem Nest am Körper und diesen prickelnden, fremden Geruch. Anders die nackten, in alle Sprachen einfügsamen Namen, zum Beispiel Krall: »Heh, sie! Sind sie wirklich Polin? Ich habe seit Tagen mit niemandem richtig gesprochen, erlauben sie mir, sie etwas zu fragen? Sie sind so viel jünger als ich, wie konnten sie ihre Geschichten schreiben? Sich in Opfer wie Täter hineindenken, obwohl sie weder Opfer noch Täter gewesen sind? Ich glaube ihnen. Helfen sie mir, an andere Wunder zu glauben. An die Engelsgeduld von Toten oder Verschwundenen. Mein Bruder ist vor Jahrzehnten hier in der Nähe verschwunden. Wir haben in einem Zimmer geschlafen, den gleichen Apfelbaum vorm Fenster gesehen, die gleiche Amsel flöten hören, und im Winter jeder für sich unterm Deckbett gewartet, bis das Feuer im Ofen wieder zu hören und zu riechen war. Haben uns Geschichten ausgedacht, in denen ein Ich und ein Du vorkamen, zwei Personen, die wir beide liebten. Sie waren unbedingt anders als wir. Wir waren uns selber zu dürftig.
Sie haben Kinderherzen beschrieben, die vor Hunger zum dunklen, festen Punkt geworden sind. Und den Arzt, der das sieht und festhält, damit diese Ghetto-Kinder ihre unglaubliche Konzentration als Nachricht weitergeben. Was, meinen sie, bleibt von verschwundenen Menschen, die einfach weg sind, ohne den kleinsten Rest? Es heißt ja, dass »auch nicht ein Haar« auf der Welt verloren geht. Sie reden von ihm und mit ihm, dem die Menschen solche Verheißung andichten, als wüssten sie, wer er ist! Ich weiß das nicht.«
Es war immer die Rede von einer Feldscheune. Von Partisanen. Und von einem Jungen, der mit einem Lungensteckschuss im Umkreis der Scheune liegen blieb. Zurückflutende Truppen hätten ihn aufgelesen, er sei im Feldlazarett gestorben. Vorher soll er erzählt haben, die Feldscheune sei angezündet worden. Wer von den darin verbarrikadierten Jungen versucht habe, zu fliehen, sei in den Kugelregen gerannt. Und dann immer das Achselzucken von Marthas Vater: »Vielleicht ist doch der eine und der andere davongekommen?« Und der Junge, der das gesehn haben wollte, wie war sein Name? Welche zurückflutende Truppe? Immer der abwesende Blick des Vaters, immer sein Mund in heftiger Bewegung, als wären da Worte verschluckt worden und wollten endlich heraus.
Statt von der Feldscheune gibt es den konkreten Bericht von einem Rathaus: Es stand auf dem Marktplatz von Militsch. Nein, Milicz. Der Bruder war nicht darin, er gehörte dem 3. Zug der 3/401 an. In Milicz fanden nachweisbar der 1. und 2. Zug seiner Einheit ihr Ende. Ein weißrussischer Arbeitsmann war darunter. Die Russen kündigten an, das Rathaus zu stürmen. Der Weißrusse übersetzte. Ein RAD-Zugführer gab das Kommando: »Rennt! Rennt raus!« Sie benutzten das nächstliegende Fenster, die nächstliegende Tür. Die verbliebene deutsche wie polnische Bevölkerung musste ihnen später ein Massengrab schaufeln. Mit Gefangenen hielt sich die russische Sturmspitze nicht auf. Ein Junge jedoch hielt sich versteckt, im Keller, hinter einem Regal. Die Russen fanden ihn nicht. Aber der Hausmeister. Ein Deutscher? Ein Pole? Ein Deutsch-Pole? Er und der Junge krochen aus dem von herabgestürzten Balken und Toten verdeckten Kellerfenster. Sie nutzten die Schatten des lodernden Feuers. Das Rathaus brannte, Munition explodierte. Die Russen warteten.
Geradeaus, am Ende der südöstlichen Seitenstraße des Marktplatzes von Poznań, tut sich ein schwarzes Loch auf. Es ist übermannshoch und schwungvoll gerahmt. Dämmrig zerfließen die Flächen links und rechts der Schwärze, enden im Kirchenrosa. ›Ohne den Katholizismus ist Polen nicht zu verstehen.‹ Diese Predigt der Reiseführer hat Martha geärgert. Sie stellt sich jetzt vor, das Portal sei der weit geöffnete Mund eines Rufers, oder eines Sängers. Sie hört sein »Komm, komm, es gibt hier Kirchenbänke!« Da ist sogar noch der zittrige, letzte Orgelton einer Ausgangsmelodie. Er schwingt – vor und hinter der Bretterwand, die das Kirchenschiff vor dem Dreck der Straße schützt, – durch den schwach erhellten Raum. Gerüste stützen die Deckengewölbe im Mittel- und Seitenschiff, überall die Gerüstfüße, metallene Schößlinge der Säulen. Der Kirchenraum hat etwas Erdiges. Martha sucht gleich in der hintersten Bankreihe einen Platz. Von der Orgelempore ein schussartiger Knall. So klingt es, wenn einem ein Gehstock auf die Dielenbretter fällt. Jetzt tappt da wer. Während Martha die Beine ausstreckt, kommt ein von Schals umwickeltes Wesen, gebückt, Schritt vor Schritt, genau wie sie mit links und rechts einem Stock in der Hand, aus dem Seitenschiff. Der Organist! Breiter Schädel, darauf ein Hut mit Krempe. Jetzt der Knicks vor dem Altar: Wie geschickt er das macht, stützt sich links und rechts auf seine Stöcke, wippt leicht in den Knien. Martha dagegen wagt nicht, ihre Beine zurückzuziehen und die Knie anzuwinkeln. Sie hatte es schon geahnt, der Krampf kommt und überfällt sie: Plötzlich straffen sich ihre Muskeln in beiden Beinen, erstarren, werden zu Stein, und zu Schmerz! Der bleibt, bleibt und bleibt, und kann sich noch steigern. Dann verliert sie die Kontrolle. Sie verliert dann das Wasser. Sie möchte dann weg sein. »Warum bin ich hier?« Jeder Ort ist falsch, wenn der Krampf einsetzt.
Von Schmerz gequält, dessen Grund nicht zu sehen ist, sitzt sie und hält den Atem an: Wäre sie damals nicht vom Waggon gesprungen, wäre sie mutig gewesen und auf dem fahrenden Zug geblieben, wären ihr nicht vier Wirbelkörper gebrochen, hätten die alten Frakturen nicht angefangen zu wuchern, – es ist eine Kette von Unglück, das niemand auslöschen kann. Maschinengewehrfeuer! Der deutschen Bevölkerung war bei Strafe verboten, sich von Ort und Stelle fortzubewegen. Doch jeder suchte die seinen, wollte ›nach Hause‹, auch wenn es das nicht mehr gab. Der eine Stadtkommandant der Besatzungsmächte nahm die Anordnung locker, der andere sehr genau. Martha sprang bei der ersten Salve, die über die mit Menschen beladenen Güterwaggons strich, den anderen nach. Sie blieb auf der Böschung liegen. Das war in gewisser Weise ihr Glück. Die Wirbelbrüche verquollen rasch. Ein junger Körper hat Möglichkeiten für jede Not. Man lud sie später mit auf; sie erwachte im breiten Schutzblech eines amerikanischen Kettenfahrzeugs. Es war sternenklare Nacht, der Güterwaggon glitt unterm Augusthimmel dahin. Sie erinnert noch, dass sie fror. Hatte sie Schmerzen? Schrecken hält Schmerzen in Schach. Schmerzen waren im Jahr 1945 so allgemein, keiner konnte ihnen immerzu dienen. Und so rächen sie sich, kommen heute.
Martha beginnt zu betteln: Lieber Gott – Auf der Erde zu liegen könnte ihr helfen, aber da müßte sie erst aus der Kirchenbank. Lieber Gott, – so versucht sie es, wenn der Schmerz ihr fast den Verstand nimmt. Noch kleinere Worte: Bitte, bitte –
Irgendwann kommt der Augenblick, in den sich wieder Gedanken einschleichen. Sie sieht wieder die zu einer Art Leuchter gebündelten Glühbirnen vor dem Seitenaltar, riecht wieder den Moder, ganz wie im Wald. Sie hat auch das sichere Gefühl, dass noch andere Menschen in ihrer Nähe sind. Spürbare, warme Inseln. Mit ihrem Atem richtet sie ihren Oberkörper auf. Nein, es sitzt sonst niemand in den Kirchenbänken, aber da kniet wer und betet, ein Mann im ›Ulster‹. Ulster nannte der Großvater seinen Wintermantel. Jetzt, im Spätherbst, hätte er ihn aus dem Schrank geholt, es hätte nach Mottenkugeln gerochen.
Der kniende Mann ist kein Großvater. Martha erkennt das an seiner straffen Haltung. Sie ist Zeugin, wie er da unbeirrt kniet.
Martha ist nicht allein: Irgendwo hier, im Gemäuer, wird ein Steinkäuzchen sitzen und seine runden Augen auf und zuklappen. Vielleicht – jetzt – stößt es gleich seinen Lokomotivpfiff aus!
Wie gut konnte Johannes den Steinkäuzchenruf imitieren! »Pass auf, einmal melden sich seine Jungen, dann musst du sie füttern.« »Geht es dir jetzt besser?« »Ich weiß nicht.« »Geh doch barfuß. Wie zimperlich du geworden bist! Deine ganze Tüchtigkeit mit deinen Filmen und dem Ausbaldowern, wohin das gehört, was du machst, – was hast du nun davon?« »Das verstehst du nicht, du hast dich ja verdrückt, irgendetwas Partnerähnliches braucht der Mensch.« »Und warum suchst du dann nach mir? Bestenfalls siehst du deine eigene Spur, wo du selber gelaufen bist.« »Ja, entschuldige. Aber jetzt bin ich hier. In dieser stockdunklen, modrigen, kalten Kirche, wo niemand uns beobachtet. Zugegeben ein bisschen spät …«
Hier stockt Marthas Fantasie. Die Angst stopft ihr den Hals: Sie hat gerade ihren Bruder alt werden lassen! Dass er spricht und denkt, wie sie. Eben ist wer am Eingang gestolpert. Andere Leute sind in der Nähe, wenn auch kaum zu sehen. Sie bewegt ihre Zehen, danach schüttelt sie ihre Füße. Unbeabsichtigt und auch unbeobachtet weint sie eine Weile.
Manchmal ging der Großvater, aus der Familie mit den zwei Sprachen, mit den Enkeln in die Katholische Hofkirche. Sachsens Könige waren, im Gegensatz zur sächsischen Bevölkerung, Katholiken, der polnischen Krone wegen. Die polnische Schlachta hatte den Wettinern die Krone angetragen, das löste keinen Krieg aus, nur einen Konfessionswechsel im Hause Wettin. Der evangelische Großvater ging mit den nichts von Glaubenskämpfen ahnenden Enkeln »ins Katholische«, um schöne Gewänder zu sehen. Der Geistliche und seine Meßdiener strömten singend, murmelnd, gestikulierend zwischen den Knieenden auf und ab, die Gänge, Kanälen gleich, ordneten ihre Bewegung. Die Kinder und auch der Großvater konnten voraussehen, wann das Glitzern nah vor ihre Augen kam – und sich wieder entfernte. Sie standen da, Hand in Hand, – die Hofkirche zu Dresden war hell, jeder war jedem im Auge.
In Warschau war es Constanze, die ihre Mutter an der Schulter packte, drehte und schob: »Da, – die Johanneskirche.«
Einige Stufen über dem Fußweg der Świętojańska schwingende Türen, Menschen jeden Alters, die wie Constanze und Martha im Kircheninneren verschwanden. Gotische Spitzbögen, der Mauergrund weiß, die roten Ziegel als Schmuck immer entlang der Bogenkanten, sonst nichts. Constanze hatte geschwärmt: »Großzügig, frei –«, um dann ganz still den auf deutsch verfaßten Zettel zu lesen: »Drei mal drangen die Deutschen mit Panzern in den Altarraum vor.«
Als Constanzes Begeisterung so jäh abstürzte, hatte Martha sich gefragt: Warum mache ich diese Sache hier nicht allein? Was habe ich ihr erzählt? Oder gar versprochen? Sie hätte so gern betont, dass diese Sache im Jahr 1944 geschah. Leider aber, selbst wenn Constanze neben ihr geblieben wäre: Erklärung lehnte die Tochter ab. Da hatte ihr Vater zu widersprüchliche Dinge aufgetischt. Sie wartete auf der anderen Straßenseite: jung, blond, blauäugig, liebenswert. Martha ging noch in die Dziekania-Gasse. Dort besah sie sich das Stück Panzer-Raupenkette, das die Warschauer beim Wiederaufbau an dieser Seite in die Domwand eingemauert hatten.
Bei allem »Da!« und »Hier!« vor weiteren Sehenswürdigkeiten bezeugte Martha sich selbst, dass eine Reichsarbeitsdiensteinheit keine Waffen hatte, Werkzeug der Arbeitsmänner war der Spaten. Und weiter hätte sie der Tochter gern noch geschildert, wie Johannes im Sommergewitter den Spaten aus dem Schuppen holt, um das bergab schiessende Wasser in Kanäle umzuleiten. Wie er da, triefend nass, schuftet, der rufenden Mutter zulacht und sich mit dem viel zu schweren Spaten den nackten, großen Zeh verletzt. Von Anfang an hatte er Narben. Er machte sich nichts daraus. Einmal, als er noch klein war, hat er mit einem zweizinkigen Hammer Marthas linke Augenbraue durchtrennt.
Es sieht für sie jetzt so aus, als wäre sie auf dem Heimweg: karge Straßenbeleuchtung, wenige Menschen, in Sichtweite der Marktplatz, und es riecht nach Bratkartoffeln mit saueren Gurken, mit Pilzen oder Spiegelei.
Sie lässt die Buchhandlung links liegen. Zwei Schritte weiter hängt, wieder am Eisenarm, ein Gasthausschild. Aus Blech ausgeschnitten, sitzen da Menschen an einem Tisch. Die Tür zum Lokal ist aus Eichenholz: Hinein! Aber leider alles besetzt. Tisch an Tisch, Mensch neben Mensch, Rauchschwaden über den Köpfen. Wie an einem Fahrkartenschalter sitzen zwei Halbuniformierte und mustern jeden, der reinkommt. »Nein, nein!« bedeuten sie ihr mit gut geschulten Händen. Daraus macht sie sich nichts, geht zur Garderobe, legt ihren Mantel auf den Tisch, dann auch noch einen ihrer zwei Stöcke. Der Mann an der Garderobe zuckt mit den Schultern, sucht Hilfe bei denen, die mit betresster Schirmmütze zustimmend nicken müssten. Was ihnen nicht einfällt! Martha hat sich ihren zweiten Stock schon wiedergenommen und geht in den Keller.
Unten ist alles anders: Gleich kommen zwei Bedienungen, wollen helfen, die Jacke nehmen. In der Jacke steckt Marthas Geld. Beide Hände in den Jackentaschen, lächelt sie, bis die Frauen beiseitegehn. Den eigentlichen Gastraum verschließt ein Vorhang, allein für Martha rafft man ihn beiseite. »Mama, – hier sind wir richtig«, würde Constanze sagen. Es gibt hier rauchloses Feuer aus trockener Eiche im offenen Kamin. Martha bekommt einen Platz gegenüber, am großen Tisch, für sich allein. Fisch oder Hirsch? Sie wünscht sich Zander. Ganz leise Musik. Die Leute flüstern. Rechts vom Kamin geht es noch weiter abwärts, Nischen, mit Eichenholz vertäfelt. Und schon kommt Marthas Suppe: »Dziękuję!« Dankesehr, ja? Dankesehr, nein?
Martha denkt an die polnischen Grafen, an den schönen Gutshof, wie sie da mit dem ›jungen Herrn‹ am See entlangritt und der Wallach sich sträubte, mit den Läufen ins Wasser zu gehen. Er warf sie ins Schilf. So hatte Roderich Grund, sie zu trösten. Es war ein heißer Sommer, sie waren auch oft im Wald. Einer der Knechte hieß Duszek. Er brachte die Pferde, den Wagen, die Fische, die Blumen, den Honig, das Holz –
Am unteren Tisch rufen junge Männer immerzu »Duszek! Duszek!« Man feiert ihn.
Es gibt noch einen besonderen Platz: Eine breite Bank, davor einen gut beleuchteten Tisch, und über den Menschen, die auf der Bank sitzen oder doch sitzen könnten, ein Gesims mit besonderen, alten Gegenständen. Die gefallen Martha gut. Auch der Fisch schmeckt, sie zupft noch Reste von der Gräte. Ihre Blicke gleiten dabei von dem Gesims mit den schönen Gegenständen immer wieder auf diese Leute, die sich den ›Kaiserplatz‹ erbeten haben. Ein massiger Mann in der Mitte lacht, wie Dicke im Kino lachen, seine Brust und sein Bauch geben das her. Nein, Martha ist nicht in Koblenz, und auch nicht in Bonn, – es geht sie nichts an, was hier passiert. Oder doch: Wenn das fette Lachen überschwappt, bis nach Poznań.
In den Landesvertretungen, Botschaften, Interessenverbänden oder Kulturvereinigungen Bonns trafen sich pünktlich Menschen aus den benachbarten Städten wie Koblenz oder auch Köln, auch welche aus diesen Nestern, die nach dem Kriege angeschwollen waren aufgrund der Nährzelle Bonn. Es war ganz einfach: Der Name musste auf einer Liste stehen. Dafür hatte man Freunde. In Bonn war alles sehr familiär, einer fragte den anderen: »Gibt’s ein Bufett?« Es gab! Fressen, Saufen aus vielerlei Anlass. Heute aus diesem, morgen aus jenem Topf. Vor dem Abmarsch immer irgendwelche tiefsinnig dröhnenden Lacher. Und dann noch die Blumen kassiert: »Die sind doch morgen sowieso verwelkt.« An den Garderoben letztes Geflüster: »Haben sie denn das Eis? Da ist noch welches, im hinteren Zimmer –«
Martha legt Geld auf den Tisch und steht auf. Die Bedienungen haben ihren Mantel von oben nach unten geholt. Es hört sich so an, als ob sie sich zankten, wer den Mantel denn halten darf. Noch ein paar Zloty. Und noch einmal, hinter Martha her, das vollmundige Lachen.
Die beiden Halbuniformierten mit ihren Schirmmützen auf den Köpfen öffnen die halbhohe Klapptür zum oberen Gastzimmer: »Bittesehr, Bittesehr«. Ihre Kontrollblicke sind auf Marthas Hände gerichtet. Holt sie was aus den Taschen? Nimmt sie ihr Portemonnaie?
Draußen fällt sie dem Taxifahrer direkt auf den Sitz. »Wielkopolska«. Genau genommen nennt sie den Namen eines riesigen Distrikts im Herzen von Polen. Aber der Taxifahrer hat schon verstanden, er bringt sie in dieses Hotel.
Endlich die Briefe von Krzysztof Jaworski auf ihren Knien: Es sind keine Liebesbriefe, in denen die Liebe die gewöhnliche Sprache aufgefrischt hätte. Sie hat sie nur liebend gern in Empfang genommen, mit in den Koffer gepackt, um sich daran festzuhalten und liest jetzt, auf der Bettkante sitzend:
Der Herbst scheint mir die beste Zeit für eine Polenreise: Das Wetter ist meistens schön, die Tage sind nicht allzu kurz. Eine äußere Kenntnis des Landes ist nicht zu verachten. Zur Kenntnis des menschlichen Denkens wird das freilich wenig beitragen. Auf jeden Fall, wenn Sie in Warschau sind, rufen Sie, bitte, an. Vielleicht bin ich doch da.
Er hat stets bezweifelt, dass ihre Brudersuche Erfolg haben könnte. Als größtes Hindernis sah er die Sprache:
Zur Auskunft genügt eine brüchige Kenntnis. Zu Geständnissen wird es damit nicht kommen. Auch dolmetschen hilft da kaum. Man braucht Vertrauen – und auch die Möglichkeit der prompten Widerrede!
Das liest Martha zum werweißwievielten Mal. Wieder sieht sie den Professor und den Spanier (der eigentlich Ungar war) und sich selbst vor den frisch gekochten Marillenknödeln sitzen. Es riecht nach zerschmolzener Butter. Sie lachen. Krzysztof Jaworski erzählt, dass, von den Kreuzrittern abgesehen, die deutschpolnische Grenze, die kein Gebirge und kein großer Fluss je abgesteckt hat, sechshundert Jahre lang die einzig friedliche Grenze Europas war. In dieser Zeit überquerte sie ein einziges Heer. Es war ein schwedisches. Und dann hatte er viele Namen im Kopf, immer einen zum anderen: Matthäus von Krakau, der Rektor der Heidelberger Universität wurde und Veit Stoß, der sein größtes Kunstwerk in Krakau schuf. Einen Herrn Linde, der das erste Wörterbuch der polnischen Sprache verfasste und einen Herrn Borowski, der die erste Kantbiographie schrieb.
Martha sitzt auf der Bettkante und wartet darauf, dass etwas Erlösendes geschieht. So wie am Abend zuvor, als im polnischen Fernsehprogramm dieser ruhig mit sich selbst redende Mann seinen Koffer öffnete und der Schmetterling hervorkroch.
Sie packt. Dieser Henryk wird kurz nach acht Uhr an der Rezeption stehn. Einen guten Tag hat er ihr gewünscht und »Hoffentlich schlafen Sie gut!«
Im Zimmer 114 gibt es ein Fenster zum Hof hinaus, direkt hinter dem Kopfteil des Bettes. Man könnte hier aus dem Fenster springen und dann auf einem Teerpappdach, immer in Höhe der ersten Etage, am Haus entlanglaufen. Martha prüft, ob die Riegel des Doppelfensters gut schließen. Und erfreut sich an der luxuriös großen Badewanne. Wie tief und breit! Gerade so auch ein riesiges, weißes Badetuch.
Es dauert, bis sie den Weißzeugknäuel als Pfropfen für den Wannenabfluss anerkennt. Die Wasserhähne sind kaum zu bewegen, pochend, schlagend, rollt das Wasser an. Niemand beschwert sich? Ist außer ihr wer im Haus?
Endlich gelingt ihr die richtige Mischung aus heiß und kalt, – Licht aus, und warten. Noch einmal steckt sie den Kopf ins Dunkel: Nirgendwo erleuchtete Fenster, nur die nasskalte Luft. Es könnte Schnee geben.
Sie zieht sich Schuhe und Strümpfe aus. Je länger sie in den Hof schaut, um so mehr Dinge lösen sich aus der Nacht: Türen, Fenster, Mauervorsprünge, Mülltonnen, ein Stapel Stangen. Nach einer Seite hin ist der Hof offen, da steht eine Gruppe entlaubter Bäume. Jedoch bewegt sich nichts, nicht einmal ein Hund unterwegs.
Meist kam ein Hund vorweg. Die Bettelleute öffneten das tagsüber nur zugeklinkte Törchen und gaben dem Hund einen Klaps, dass er zur Hausecke trollte und in den Hof sah. Die Höfe der Reichsbahnwohnblocks waren voller Kinder. Daran waren der Hund und die Bettelsänger gewöhnt. Der Mann mit der singenden Säge, der mit der Mundharmonika und manchmal auch ein Geiger. Immer die Sängerin, und als etwas Besonderes das kranke Kind im Rollstuhl, so folgten sie dem Hund in den Hof. Die Reichsbahnerkinder und – Enkelkinder warteten entlang der Hauswand. Alles erste Plätze:
Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau?
Weinst du um der Veilchen Dunkelblau,
oder um die Rose, die du brichst?
Oh nein, oh nein, um diese wein ich nicht …
Beim Anblick der Bettelleute war Martha und wohl den meisten Kindern so wehe zumute. Die Welt war so wunderschön traurig. Johannes dann dichtgedrängt neben der Schwester. Der Pfennig-Regen fiel von den Balkonen, in Papier geknüllte Kupfermünzen, sanft geworfene Geschosse. Finger weg, Kinder! Der Hund! Der Hund!
Ferien bei den Großeltern: Die hatten die bitterarme Oberlausitz verlassen, der Großvater war Waggonaufschreiber bei der Reichsbahn. Zu Hause rannten Johannes und Martha in die Wiesen und in den Wald. Der begrenzte Hof bei den Großeltern war wie ein Zimmer. Die Jungen spielten da »Land nehmen«. Mit dem Taschenmesser ein großes Rechteck in die sandige Erde geritzt, dann ein Kreuz, – da musste der Werfer stehen. Wenn das Messer in der Erde steckt, darf sich der Werfer geradlinig zum Rand ein Stück Land abteilen: »Ich!« »Nein ich!«
Und dann wurde geraubt: Man wirft ins benachbarte Land, darf sich ›wegschneiden‹, was mit gerade gezogener Linie dem eigenen Land anzuhängen ist. Die Mädchen spielen mit Bällen. Ballprobe: zwölf Mal mit beiden Händen den Ball an die Wand getitscht, dann linke Hand, rechte Hand, Kopf, mit dem rechten Arm den Ball hinter dem Rücken her an die Wand geworfen, mit dem linken, dann Drehen, Hüpfen, in die Hände Klatschen, – bis der Ball fällt. Das nächste Mädchen. Bumm, bumm, bumm. Bunte Bälle, grauer Mörtel. »Geht nicht auf den Bleichrasen!« Da stolzieren die Stare, picken Käfer auf und Würmer. »Du hast dein Taschentuch verloren, Martha. Da liegt es, im Dreck!« »Wer hat denn dem Johannes das große Messer …« Die Köpfe der Mütter und Großmütter zwischen den Petunien. Alle Balkone voller Petunien, Geranien, Fuchsien. Schwalben in der Luft.
Martha schaut aus dem Badezimmerfenster des Zimmers 114 im Hotel Wielkopolska auf die graue, fensterlose Mauer gegenüber. Hinter ihrem Rücken quält sich weiter Wasser durch die Rohre und füllt langsam die Wanne. Irgendetwas riecht scharf, nicht vom Hof her. Außer der frischen Luft hat sich nichts da bewegt, auch wenn jetzt neben und über Marthas Ausguck Licht aufleuchtet.
Heute Morgen sah sie zwei Kinder über den Hof gehn. Sie spielten nicht, verschwanden Hand in Hand und schnell hinter den Bäumen. »Morgen woll’n wir heiraten, juhuhuuu …« Auch das war so ein Kinderlied, bei dem man sich anfasste und dabei der gegenüberliegenden Reihe von Kindern singend näher kam.
Zu Hause, im Hof auf dem Dorfe, packte man auch den Hahn. Man schlug ihm auf dem Hauklotz den Kopf ab. Das Schwein wurde im Hof geschlachtet, die größeren Kinder mussten das Blut in der Schüssel rühren, damit es nur nicht gerann. Im Hof saßen des Abends die Väter, erzählten vom Krieg, wie er war, als sie an der Somme lagen oder vor Verdun.
Martha schämt sich nicht, jedwede greifbare Erinnerung zu nutzen, um nur nicht denken zu müssen, dass es meist Höfe waren mit wenigstens einer fensterlosen, grau verputzten Wand, in deren Mörtel dann die Schüsse Spuren malten. Kommandos, das zackige Hacken-Zusammenschlagen, wieder Kommandos, Gewehrsalven, Marschtritte, Stille. Alles verhallt. Aber der Mörtel, die ziegelroten Spuren im Grau, – irgendwer, der die Geschichte nicht kennt und seine Welt schön haben will, lässt eine Verputzerkolonne kommen.