Читать книгу Eine Münze für Anna - Anne Gold - Страница 8

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Nicole fuhr die kurvenreiche Lerchenstrasse hinunter ins Gundeli. Am Rotlicht beobachtete sie verstohlen ihren Chef.

«Keine Angst, es geht mir gut.»

«Davon bist du weit entfernt.»

«Wenn du meinst.»

«Du solltest dich im Laufe des Tages bei deinen Kindern melden.»

«Das wollte ich sowieso.»

«Andrea und Florian riefen mich heute früh an.»

«Wieso nicht mich?»

«Sie wollten dich nicht stören. Ich habe ihnen gesagt, dass es dir gut geht. Den Umständen entsprechend … Das ist keine gute Lösung.»

«Das finde ich auch. Sie sollen sich gefälligst bei mir melden.»

«Das meine ich nicht. Jedes Mal, wenn ich dich abhole, muss ich einen Zickzackkurs fahren, der immer in der Gundeldingerstrasse endet.»

«Du könntest am Stucki vorbei die Jakobsbergstrasse hinunter.»

«Das kommt aufs Gleiche raus.»

«Wie gehts den Kindern?»

«Andrea ist okay, Florian schwer angeschlagen.»

«Andrea kann sich besser verstellen. Sie kommt zumindest in dieser Beziehung nach ihrer Mutter. Tina?»

«Mit ihr unterhielt ich mich gestern Abend noch lange. Es geht ihr gar nicht gut. Sie wollte unser heutiges Essen verschieben, weil sie mir doch nur wieder die Hucke vollheulen würde. Es bleibt aber dabei. Wir treffen uns um sieben im Ufer 7.»

«Das kenn ich nicht.»

«Ein kleines Restaurant direkt am Kleinbasler Rheinufer, ein Steinwurf von der Mittleren Brücke entfernt. Dort lässt sichs ungezwungen plaudern und das Essen ist gut. Soll ich dich an der Schifflände ausladen oder kommst du mit zur Garage?»

«Ich laufe gern noch ein paar Schritte.»

Nicole fuhr die Petersgasse hoch und stellte den Mercedes in die Einzelgarage eines Altstadthauses.

«So. Bitte alles aussteigen.»

«Ich bin immer wieder von Neuem fasziniert, wie dir das gelingt. Die Garage muss ein Vermögen kosten.»

«Finanziert durch den Steuerzahler. Schlappe vierhundertfünfzig Mäuse im Monat.»

«Das ist nicht dein Ernst?»

«So viel wird ein Nationalrat doch seinem Volk wert sein.»

«Das machst du auf der Stelle rückgängig. Wenn du schon unbedingt aus Bequemlichkeit in der Altstadt parkieren willst, dann bezahlen wir es aus dem eigenen Sack.»

«Der Herr ist wieder einmal höchst empfindlich. Wenn ich sehe, was sich deine Kolleginnen und Kollegen so alles leisten, dann sind die paar Franken zu vernachlässigen. Eine Investition in den Vorzeigenationalrat. Aber ich kann dich beruhigen, unser Parkplatz wird gesponsert.»

«Noch schlimmer. Womöglich von einer Person, die dafür die ewige Dankbarkeit erwartet.»

«Es sind nicht alle auf dein Beziehungsnetz aus.»

«Sag mir seinen Namen und ich sage dir, was er von mir will.»

«Ernst Christ.»

«Paps?»

«Exakt. Das Haus gehört ihm. Ich habe ihm die Garage abgeluchst. Clever, nicht?»

Markus trat einige Meter zurück und schaute sich das kürzlich renovierte Gebäude an, bestimmt einige Hundert Jahre alt.

«Johannes Froben soll in diesem Haus gelebt haben.»

«Der Buchdrucker?»

«Ernst ist sich sicher. Erasmus von Rotterdam sei bei ihm ein und aus gegangen. Er druckte für ihn auch das griechische Neue Testament in Zusammenarbeit mit seinen Druckerspezies Johannes Amerbach und Johannes Petri.»

«Paps sammelt alte Bibeln. Warst du einmal in seiner Bibliothek?»

«Er lud mich auf einen Drink ein, doch ich bin noch nicht dazu gekommen.»

«Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Er besitzt aus der Zeit von Froben einige Bücher, die von Hans Holbein dem Jüngeren illustriert wurden … Interessant … Ich wusste nichts von dem Kauf. Will er darin wohnen?»

«Das verriet er mir nicht. Vielleicht sein Lustschloss, wo er ungestört von seinem neugierigen Sprössling und seinen Enkeln Damen empfangen kann.»

«Denen begegnest du auch in seiner Villa.»

«Los, komm. Mit einem Zwischenspurt sind wir beinahe pünktlich.»

Nicole rannte die Stufen des Kellergässleins hinunter durch die Stadthausgasse zum Marktplatz, wo einige wenige Früchte- und Gemüsehändler sehnsüchtig auf Kunden warteten.

«Nicht gerade Hochbetrieb.»

«Wunderts dich bei den Preisen? Am Dienstag kaufte ich ein Kilo Schwarzwurzeln für acht Franken. Ganz schön heftig, wenn man bedenkt, dass beim Rüsten ein Drittel verloren geht.»

«Dafür sind es lokale Produkte, das hat eben seinen Preis. Waren sie gut?»

«Hervorragend.» Im Büro am Rheinsprung angelangt, überprüfte Nicole die Mails. «Dein Besucher verspätet sich anscheinend. Ich bring ihn zu dir rein, wenn er da ist. Kaffee?»

«Gern. Und ein Croissant.»

Nicole bat eine der beiden Sekretärinnen, Croissants zu besorgen, die andere servierte inzwischen einen Kaffee. Fünf Minuten später traf ein sichtlich genervter Ingo Rust ein. Ohne Nicole zu beachten, stürmte er ins Büro des Nationalrats.

«Setz dich, Ingo. Kaffee oder Tee?»

«Weder noch, danke. Ich war gerade drüben im Schiesser. Bumsvoll. Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis ich zahlen konnte. Deshalb bin ich auch zu spät.»

«Du wolltest mich dringend sprechen, um was geht es?»

Rust warf einen prüfenden Blick auf Nicole, die in der offenen Tür stand.

«Unter vier Augen.»

«Nicole ist meine Vertraute», er lächelte seine Assistentin an. «Komm bitte rein und schliess die Tür. Du musst also mit sechs Augen vorliebnehmen. Was gibts so Geheimnisvolles?»

«Es geht um Bernd.»

«Was ist mit ihm?»

«Du musst dich von ihm trennen. Sofort.»

«Weshalb?»

«Er ist in den Fall Michael Redding verstrickt.»

«Ich weiss, er vertritt ihn vor Gericht.»

«Ja, das auch, doch darum geht es nicht. Bernd ist in Wirklichkeit einer der Strippenzieher.»

«Sagt wer?»

«Das spielt keine Rolle. Er ist an der Schweinerei beteiligt, dafür gibt es genügend Beweise. Verstehst du? Er ist nicht nur Reddings Anwalt, sondern sein Kompagnon. Du musst dich vor ihm fernhalten, sonst reisst es dich mit in den Abgrund. Es ist eine Frage von Tagen, dann sitzen beide im Waaghof.»

«Sagen deine Zuträger.»

«Du kannst dich darauf verlassen, es stimmt. Ich weiss es aus erster Quelle.»

«Deine Sorge um mich ist wirklich nett. Aber ich kenne Bernd seit meiner Kindheit, wir studierten zusammen. Er mag ein Schlitzohr sein, doch mit Sicherheit kein Betrüger. Da musst du mir schon konkrete Beweise vorlegen. Und selbst dann würde ich zuerst mit Bernd reden, bevor ich ihm meine Freundschaft aufkündige.»

«Du bist ein Narr, Markus. Du stehst kurz vor dem Sprung in den Bundesrat. Wenn wir dich nominieren, wird dich die Vereinigte Bundesversammlung im ersten Durchgang wählen. Mit einem Glanzresultat. Hältst du an Bernd fest, bist du erledigt. Möglicherweise kannst du dich nicht mal als Nationalrat halten.»

«Ich opfere keinen Freund aufgrund vager Anschuldigungen.»

«Wie du meinst. Somit stellen wir dich nicht als Bundesratskandidaten auf. Was gibts da zu lachen, Frau Ryff?»

«Das ist der grösste Blödsinn, den ich in letzter Zeit gehört habe. Wen wollt ihr denn nominieren?»

«Es gibt einige, die nur darauf warten, dass wir sie berücksichtigen.»

«Mir fällt auf die Schnelle in Basel niemand ein. Sie können lediglich aus einer Ansammlung von lebenden Leichen wählen.»

«Das verbitte ich mir.»

«Gut. Nennen Sie mir einen vollwertigen Ersatz für Markus und ich entschuldige mich bei Ihnen … Ich warte.»

«Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen unseren neuen Kandidaten präsentiere. Markus, überleg es dir. Ich meine es gut mit dir. Du wärst ein hervorragender Bundesrat. Aber du hast nicht den Hauch einer Chance, solange sich Otter an dich klammert. Du musst ihn loswerden.»

«Meine Antwort kennst du. Bernd ist und bleibt einer meiner besten Freunde. Ich danke dir, dass du mich auf die Gefahren hinweist.»

«Wie du willst.» Rust erhob sich schwerfällig. «Etwas Zeit bleibt dir noch, falls du es dir noch anders überlegst. Sie planen, Otter und Redding am Freitag hochzunehmen. Wir könnten morgen mit einer Pressekonferenz dem Ganzen zuvorkommen.»

«Und was soll ich da sagen?»

«Dass dich der Fall Redding bis ins Mark getroffen hat und du die Staatsanwaltschaft aufforderst, schonungslos alles aufzuklären. Ich werde dann der Presse einen Hinweis geben, dass du jeglichen Kontakt zu Otter abgebrochen hast. Das Timing stimmt. Die Bevölkerung wird im Nachhinein glauben, deine Pressekonferenz habe den Ausschlag für die Verhaftung gegeben. Die Medien werden dich feiern.»

«Ohne mich. Ich will dich nicht länger aufhalten, Ingo. Du hast bestimmt wichtige Termine.»

«Du bist ein weit grösserer Narr, als ich dachte.»

Nicole öffnete die Tür und vollführte einen Hofknicks.

«Mein herzliches Beileid!»

«Was soll das?»

«Anna wurde gestern beerdigt. Ich habe Sie weder an der Beerdigung gesehen, noch Ihre Beileidsbezeugung gehört. Ein Gentleman, wie er leibt und lebt. Beehren Sie uns bald wieder, Herr Rust.»

«Dumme Gans! Ihnen wird das Lachen noch vergehen.»

«Wieso sollte es, wenn laufend die grössten Clowns der Stadt bei uns ihr Programm zum Besten geben.»

Ingo Rust verliess mit hochrotem Kopf das Büro.

«War das notwendig?»

«Oh ja. Der Typ ist stillos und sein Parfum eine einzige Katastrophe. Stört es dich, wenn ich kurz lüfte? … Schade, ich wollte schon immer für einen Bundesrat arbeiten, mit ihm um die Welt fliegen und die Giganten der Politszene kennenlernen.»

«Trump und Putin?»

«Die auch.»

«Tut mir leid, dass ich dir deine Karriere vermassle. Aber ich schliesse keine faulen Kompromisse der Karriere wegen auf dem Rücken eines Freundes.»

«Rust hat recht.»

«Dass ich ein Narr bin?»

«Du solltest dich von Otter distanzieren.»

«Fängst du jetzt auch noch damit an?»

«Redding ist dumm, allerhöchstens bauernschlau und nur der Strohmann. Ein Verführer ohne Klasse. Sieht gut aus, wirkt vertrauenswürdig. Alles nur Show. Otter zieht die Fäden im Hintergrund.»

«Bernd?»

«Er ist der wahre Meister des guten alten Schneeballsystems. Schon tausendmal mit Erfolg angewendet. Ich erinnere nur an Behring.»

«Schluss damit, ich will nichts mehr davon hören. Bernd ist die integerste Person, die ich kenne.»

«Warum arbeitet er dann für Redding?»

«Weil er zu Beginn von seinen Visionen fasziniert war, an das Geschäftsmodell und an seine Ehrlichkeit glaubte. Leider hat er den richtigen Moment für den Absprung verpasst. Vermutlich ist er nun aus falsch verstandener Loyalität weiter für ihn tätig.»

«Sagt er.»

«Ich glaube Bernd. Die Staatsanwaltschaft hat keine Handhabe gegen ihn. Ingo täuscht sich.»

«Wie du meinst … Hier sind noch deine Termine für nächste Woche.»

Christ ging die Liste durch.

«Kannst du das am kommenden Mittwoch absagen?»

«Kein Problem. Ich werde den Verantwortlichen bei Telebasel sagen, dass du lieber ein anderes Mal an ihrer Talkshow teilnimmst. Was hast du denn so Wichtiges?»

«Bowling.»

«Mit Otter?»

«Und Daniel Gross.»

«Ich glaube nicht, dass Freund Gross auftaucht, und noch weniger, dass du mit Otter bowlst.»

«Ende der Diskussion. Endgültig.»

Der scharfe Ton liess keine Widerrede zu.

«Wie du wünschst, Chef. Dann kann ich mich jetzt ja um mein Sekretariat kümmern. Du weisst, wo du mich findest.»


Das Wartezimmer war bist auf den letzten Stuhl besetzt. Vor allem ältere Personen konsultierten die junge Frau Doktor gern. Eine glückliche Wende, wenn Tina an den harzigen Start dachte. Der kurz vor der Pension stehende Kollege Hans Sommer hatte sich zwar redlich Mühe gegeben, seine Patienten auf den Wechsel einzustimmen. Aber dienstags und donnerstags, wenn Frau Doktor die Praxis alleine führte, blieben die Patienten aus, um dann in Scharen an den anderen Tagen ihre Blessuren vom richtigen Arzt pflegen zu lassen. Erst, als sich herumsprach, dass Tina auch Hausbesuche mache, brach das Eis. Sommer verkaufte die Praxis an Tina und geniesst seinen wohlverdienten Ruhestand in Südfrankreich. Inzwischen zählten auch immer mehr jüngere Menschen zu den Patienten, der Mundpropaganda sei Dank. Und so mauserte sich die Praxis zu einer wahren Goldgrube. Monatelang suchte Tina intensiv nach einer Partnerin, aber diejenigen, die mit ihr studiert hatten, winkten alle ab, rümpften die Nase bei der Vorstellung, Hausärztin zu werden. Es war einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ihre Suche Erfolg hatte. An einer christlichen Tagung lernte ihr Bruder Florian eine Ärztin kennen, die in Afrika für Ärzte ohne Grenzen tätig gewesen und nun auf Jobsuche war. Tinas Skepsis verflog rasch, als sie sich auf Drängen ihres Bruders trafen. Sabine Stettler entpuppte sich als aufgeschlossene, lebensfrohe Person und keineswegs als christliche Sektiererin mit Weltverbesserer-Genen. Die beiden Frauen ergänzten sich optimal. Nach einem halben Jahr bot Tina ihr eine Teilhaberschaft an, die beinahe an einem Missverständnis scheiterte. Während Tina keine Minute über einen Einkauf in die Praxis nachdachte, lehnte Sabine aus finanziellen Gründen ab. Zum Glück brachte der zufällige Besuch und die direkte Art ihres Vaters Klarheit. Sabine konnte nicht glauben, dass sie zum Nulltarif Partnerin wurde, und Tina war entsetzt, dass es beinahe am Geld gescheitert wäre.

Bis um zehn untersuchten sie in ihren Sprechzimmern die Patienten. Einige litten unter der Grippewelle, andere stellten sich zu Nachuntersuchungen ein. Tina versuchte, sich so gut es ging auf ihren Job zu konzentrieren, schweifte aber immer wieder mit ihren Gedanken ab. Was habe ich falsch gemacht? Wie konnte mir das passieren? Was bin ich bloss für eine Ärztin, erkenne bei meiner eigenen Mutter die Symptome nicht? Allein die ewige Müdigkeit hätte bei mir Alarmstufe rot auslösen müssen. Aber ich war nur für meine Patienten da und sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Wie konnte ich nur?! Schmerzerfüllt stürzte sich Tina wieder in die Arbeit. Gegen halb zwölf war der letzte Patient versorgt und auch Sabine legte ihr letztes Dossier auf den Tisch.

«Ich bin fix und fertig. Wie fühlst du dich?»

«Ganz okay.»

«Sag mir, wenn ich dich unterstützen kann. Du kannst gern ein Time-out nehmen, Norbert springt bestimmt ein. Er ist gerade für zwei Wochen aus Afrika da.»

«Um dich zu überzeugen, dass du in Kenia gebraucht wirst?»

«Es war eine schöne und intensive Zeit. In jeder Beziehung, auch mit Norbert. Doch das ist vorbei. Ich träumte immer von einer eigenen Praxis, von Patienten, die mir vertrauen, für die ich da sein kann. Spitäler sind und werden für mich immer Horrorgebilde bleiben. Ich könnte da nie arbeiten. In Afrika gings noch einigermassen, wir mussten oft improvisieren. Das fordert dich und kostet Substanz. Eine Zeit lang verkraftest du die chaotischen Zustände, aber nicht auf Dauer. Ich war lange auf der Suche, dank dir bin ich endlich angekommen.»

«Ist Frau Morath schon da?», Tina deutete auf die Krankenakte.

«Nein, noch nicht. Soll ich beim Gespräch dabei sein?»

«Besser nicht, sonst bekommt die Diagnose eine noch drastischere Bedeutung. Bleib aber bitte in der Nähe. Wenn sie blockiert, bin ich auf deine Unterstützung angewiesen.»

Einige Minuten später wurde die Patientin von der Sprechstundenhilfe in den Behandlungsraum geführt.

«Setzen Sie sich bitte, Frau Morath. Wie geht es Ihnen?»

«Ich fühl mich schlapp. Ich würde am liebsten den ganzen Tag schlafen, schlafen und nochmals schlafen. Ist das Resultat gekommen?»

«Ja. Leider treffen meine Befürchtungen zu.»

«Krebs?»

«Brustkrebs. Die linke Brust ist betroffen.»

«Sind Sie ganz sicher?»

«Es bestehen keine Zweifel.»

Dagmar Morath blickte nachdenklich in die Ferne. Sie wirkte in sich zusammengesunken.

«Ich hatte es geahnt. Was … was kann man dagegen tun?»

«Sie haben Glück im Unglück. Sie sind im Frühstadium zu mir gekommen. Ich möchte Sie an einen Spezialisten überweisen, der weitere Untersuchungen vornehmen wird. Ihre Heilungschancen stehen gut.»

«Muss ich operiert werden?»

«Ja, das ist unabdingbar und danach steht eine Chemotherapie an. Ich möchte, dass Sie sofort meinen Kollegen aufsuchen.»

«Wie … was ist der Grund, dass ich Brustkrebs bekommen habe?»

«Mit absoluter Sicherheit kann Ihnen das niemand sagen. Es gibt verschiedene Risikofaktoren. Rauchen, falsche Ernährung, zu viel Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung, Übergewicht, Diabetes Typ II und auch Vererbung.»

«Bin … bin ich danach entstellt?»

«Wenn wir sofort reagieren, kann der Tumor vermutlich ohne grosse sichtbare Veränderung der Brust entfernt werden. Wichtig ist, dass wir nicht lange zuwarten.»

«Es … es kommt so plötzlich … Krebs … Sind Sie wirklich sicher?»

«Ja. Dagmar, ich weiss, dass Sie jetzt schockiert sind. Doch die Gewissheit hat auch Vorteile. Wir können jetzt rasch handeln.»

«Ich … ich muss es mit Erwin besprechen.»

«Das ist Ihr Mann?»

«Er muss es wissen. Erwin und meine Eltern. Sie müssten auf meine Kinder aufpassen, wenn ich operiert werde.»

«Selbstverständlich. Besprechen Sie es mit Ihrem Mann. Ich will Sie nicht drängen, aber ich möchte einen Termin mit meinem Kollegen vereinbaren. Er ist Experte auf diesem Gebiet.»

«Ich rufe Sie heute gegen Abend an, nach meinem Gespräch mit Erwin.»

Tina begleitete die sichtlich unter Schock stehende Patientin hinaus.

«Wie nahm sie es auf?», erkundigte sich Sabine.

«Schockiert, aber gefasst. Sie hat es erwartet.»

«Was passt dir daran nicht?»

«Ihre Reaktion. Sie will zuerst mit ihrem Mann darüber sprechen.»

«Das ist doch ganz normal.»

«Ja, schon. Ich bat sie zur Eile und wollte einen Termin mit Alex vereinbaren. Irgendwie wich sie mir aus. Es war, als ob sie es überhörte. Normalerweise sind meine Patienten sofort einverstanden und dankbar über meine schnelle Reaktion. Sie empfand es eher als störend, als Eindringen in ihre Privatsphäre.»

«Bildest du dir das nicht bloss ein?»

«Vielleicht. Wir werden sehen, ob sie wie versprochen gegen Abend anruft.»


Pfarrer Florian Christ öffnete mit einem Inbusschlüssel die Glasvitrine beim Seiteneingang des Gemeindehauses und drückte den Zettel mit den aktuellen Anlässen nach alter Väter Sitte an die Pinwand, denn nicht jeder informiert sich online. Unserem Informationskasten würde ein neuer Anstrich guttun, wie dem gesamten Haus. Mist! Der Zettel hängt schief. Florian rückte ihn zurecht und strich sich mit zitternder Hand durch die Haare. Die letzten Tage hatten deutliche Spuren hinterlassen. Wenn ich ehrlich zu mir bin, stimmt zurzeit einiges bei mir nicht. Mams Tod gab mir den Rest. Wie lange kann ich noch verbergen, dass mir alles über den Kopf wächst? Florian schloss die Vitrine und setzte sich vor dem Haus auf die Treppe. Eigenartige Situation, geradezu paradox. Täglich bitten mich Leute um Hilfe. Ich tröste sie, gebe ihnen gutgemeinte Ratschläge, an die ich selbst nicht glaube. Der Glaube, ein grosses Wort. Das Schlimmste ist, ich habe meinen verloren. In den vergangenen Tagen wurde mir das so richtig bewusst, als ich die Abdankungsrede fürs Münster und gestern die Beisetzung auf dem Hörnli verfasste. Stundenlang sass ich vor dem Computer, tippte Bibelsprüche zum Einstieg ein, verwarf sie immer wieder, um es erneut zu versuchen. Keiner war passend genug für den Schmerz, die Trauer und für die Wut, die ich mit Worten erfassen und von der Kanzel herabschreien wollte. Wieso traf es gerade meine Mutter? War sie durch ihre harte Kindheit nicht genug gestraft? Von den Eltern im Stich gelassen, wuchs sie im Heim als Aussenseiterin auf. Sie erzählte nur wenig, aber man spürte die tiefen Verletzungen. Wie in Trance verfasste ich schliesslich die Predigt und erschrak ob des Resultats. Es war eine einzige Anklageschrift gegen Gott, dem ich eigentlich mein Leben widmen wollte. Was war nur geschehen? Seit Monaten spürte ich eine zunehmende Verunsicherung. Zuerst dachte ich noch, der innere Sturm würde sich wieder legen, aber es war ein Irrtum, ein Selbstbetrug. Die Zweifel nehmen überhand, totale Verweigerung macht sich breit. Gleichwohl hielt ich im Münster eine flammende Rede. Wie ich mich für jedes einzelne Wort schämte, weil es nicht aus dem Herzen kam, sondern aus dem berechnenden Verstand. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Gott abzurechnen. Ganz bestimmt nicht. Aber diese leeren Worte waren ein Verrat an Mam, ein unwürdiger Abschied. Nach Vaters Rede fühlte ich mich noch mieser, denn seine Worte sprühten von echter Liebe.

Und, obwohl ich mir schwor, dass sich das nicht wiederholen würde, brachte ich auch auf dem Hörnli den Mut nicht auf, die Wahrheit herauszuschreien. Dass ich nicht an diesen Gott glaube, der seine Gläubigen peinigt. Ich muss das Ganze beenden, meinen Dienst für den Nächsten aufgeben. Ein Pfarrer, der nicht an das glaubt, was er verkündet, hat keine Berechtigung, sein Amt länger auszuüben. Die Gemeindemitglieder verdienen es, die Wahrheit zu wissen. Stöhnend erhob sich Florian. Seit Monaten ziehe ich eine billige Show ab, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich gescheitert bin. Mam wusste es, aber sie hielt sich zurück. Dabei war sie von Anfang an gegen meine Berufswahl. Nun ist es an der Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und Veränderungen zuzulassen. Loslassen, die Wahrheit aushalten, zusammenbrechen, um nach einer gewissen Zeit neu aufzubrechen. Wohin weiss ich nicht. Wir werden es sehen. Traurig stapfte Florian ins Pfarrhaus zurück. Es werden mich nur wenige vermissen. Etwa Theodora, die endlich von der Nadel ist. Sie wird es schaffen. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die nur einen Anstoss benötigte und jemanden, der an sie glaubte. Bei Leo habe ich Zweifel, seine Depressionen haben sich eher verstärkt. Ihm würde eine neue Beziehung guttun. Florian setzte sich an den Laptop und begann, seine Kündigung zu schreiben. Ein Querdenker weniger, meine Vorgesetzten werden die Korken knallen lassen. Die liessen mich sowieso nur machen, weil ich ein Christ bin und sie Grossvater und Paps fürchten. So verfrachteten sie mich nach Kleinhüningen, weit weg vom Schuss. Florian schaute sich in seinem Büro um. Ich werde dieses liebgewonnene Haus, die Menschen, die ihm Leben einhauchen, vermissen. Es war trotz allem eine gute Zeit.


«Was liegt an, Chef?»

«Ich möchte am Wochenende mit meinen Kindern sprechen. Kannst du das bitte für mich arrangieren?»

«Samstag oder Sonntag?»

«Egal. Wann es ihnen passt.»

«Ein Essen?»

«Ja, Hannah wird kochen.»

«Weshalb?»

«Weil mir danach ist. Ich spüre, dass wir alle in der Luft hängen. Jeder auf seine Art. Wir müssen als Familie darüber sprechen und zusammenhalten. So hätte es Anna an meiner Stelle gemacht.»

«Gut, wird organisiert.»

«Du kommst auch.»

Nicole sah Markus überrascht an.

«Du gehörst zur Familie, ich akzeptiere keine Absage.»

«Ich finde das keine gute Idee. Es gehört sich nicht, dass ich beim ersten gemeinsamen Essen nach dem Tod von Anna am Tisch sitze. Du willst die Trauer mit deinen Kindern aufarbeiten, da bin ich ein Störfaktor.»

«Tina und Andrea wenden sich mit allen Problemen an dich, schütten ihre Sorgen über dir aus. Florian sucht bei jeder Gelegenheit deine Nähe.»

«Bloss wir sprechen keine zehn Sätze miteinander.»

«Weil er verklemmt ist.»

«Trotzdem, ich will nicht.»

«Aber ich. Und ich erwarte, dass du mir diesen kleinen Gefallen erweist. Du gehörst dazu. Ende der Diskussion. Wie sieht die heutige Tagesplanung aus?»

«Gutes Stichwort. Ich möchte dich zum Mittagessen einladen.»

«Akzeptiert. Wohin gehen wir?»

«Zum Kannenfeldpark.»

Nicole manövrierte den Mercedes aus der Garage.

«Wie im Wilden Westen. Die Cowboys gingen auch nie nur einen Meter zu Fuss. Immer hoch zu Ross. Heute fahren wir schnelle Autos.»

«Willst du damit sagen, dass es einfacher gewesen wäre, mit dem Tram zu fahren?»

«Allerdings, und umweltfreundlicher. Unsere Stadt verfügt nämlich über ein formidabel ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz. In Basel sind wir in den meisten Fällen mit dem Tram schneller am Ziel.»

«Ich fahre gern Auto.»

«Ein überzeugendes Argument. Kannenfeldplatz sagst du? Da kenne ich nur das ‹Matisse› in der Burgfelderstrasse.»

«Lass dich überraschen.»

Nicole lenkte den Merz am Spalentor vorbei in die Missionsstrasse. Gegenüber des Felix Platter-Spitals bog sie rechts in die Largitzenstrasse ein und parkierte vor einem Einfamilienhaus.

«Jetzt bin ich gespannt, wohin du mich führst.»

Nicole suchte nach einer bestimmten Hausnummer und klingelte. Nach einiger Zeit öffnete eine alte Frau.

«Lisa Kolb?»

«Ja, Sie wünschen?»

«Nicole Ryff. Wir haben heute früh miteinander gesprochen. Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?»

«Ich weiss nicht … Jesses! Sie sind ja der Herr Christ.»

«Er ist mein Chef. Ich möchte, dass Sie ihm Ihre Geschichte erzählen.»

Langsam trat die Frau zur Seite.

«Ich … ich kann Ihnen nicht einmal etwas anbieten. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mich besuchen, hätte ich Kuchen besorgt, Herr Nationalrat.»

«Mein Chef ist auf Diät.»

«Ich habe vom Tod Ihrer Frau gehört. Mein herzliches Beileid. Dieser Verlust muss schlimm für Sie sein. Sie war ja noch so jung.»

«Danke. Es ist ein schwerer Schicksalsschlag. Anna war die Liebe meines Lebens. Sie fehlt mir sehr.»

«Wie bei Anton und mir. Aber, was rede ich da. Kommen Sie herein, das Wohnzimmer befindet sich am Ende des Flurs. Setzen Sie sich auf den bequemen Sessel zum Garten hinaus, Herr Nationalrat. Sie können es sich neben mir bequem machen, Frau Ryff. Und entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich bin so aufgeregt. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich Sie persönlich kennenlernen darf, Herr Christ.»

«Schön haben Sie es hier. Pflegen Sie den Garten selbst?»

«Mit Hilfe einer Nachbarin. Die Hecke schneiden und das Unkraut jäten ist mir zu anstrengend.»

«Ein richtiges Blumenmeer.»

«Lieben Sie Blumen?»

«Blumen waren die grosse Leidenschaft meiner Frau. Ich durfte nur in den Garten, um mich auszuruhen. Wehe, ich kam ihren Lieblingen zu nahe.»

«Sie können ruhig hinausgehen.»

Christ erhob sich und trat in den Garten.

«Ich bin ganz nervös. Wieso haben Sie mich nicht vorgewarnt?», flüsterte die alte Frau.

«Es war eine spontane Idee von mir.»

«Wie das hier aussieht. Was denkt der Herr Nationalrat jetzt nur von mir?»

«Soll ich ihn fragen?»

«Ja nicht.»

«Ich bin immer wieder von Neuem überrascht, wie viele prächtige Oasen hinter den Mauern zum Vorschein kommen. Man spürt, wie sehr Sie Ihren Garten lieben.»

Christ schloss die Verandatür.

«Erzählen Sie meinem Chef die Geschichte.»

«Ich weiss nicht … Da sind wir doch selbst schuld.»

«Mich interessieren die Menschen unserer Stadt», bestätigte Christ.

«Also gut. Frau Ryff … sie wollte wissen, warum wir unser ganzes Geld bei Redding anlegten … Zuerst waren wir skeptisch. Man hört ja immer wieder von Betrügern, die vor allem ältere Menschen um ihr Erspartes bringen. Aber es klang alles sehr plausibel.»

«Stellte Ihnen Redding einen hohen Gewinn in Aussicht?»

«Er kam zu Besuch und erklärte uns, wie wir unser Vermögen vermehren könnten.»

«Und versprach Ihnen eine unrealistische Rendite.»

«Nein, nein. Darauf wäre Anton nie hereingefallen. Die garantierte Rendite betrug fünf Prozent. Redding stellte uns sein Bauprojekt in Spanien vor, eine Feriensiedlung am Meer. Überall auf der Welt muss man mit terroristischen Anschlägen rechnen, doch Spanien ist ein sicheres Land und nicht weit weg. Das klang sehr erfolgversprechend. Die Banken zahlen ja keine Zinsen mehr, es soll sogar Minuszinsen geben.»

«Wie viel investierten Sie?»

«Anton traute der Sache nicht so recht. Sie müssen wissen, Herr Nationalrat, mein Anton ist immer selbstständig gewesen. Wir besassen bis zu seiner Pension ein kleines Malergeschäft. In guten Zeiten konnte er sogar drei Leute beschäftigen. Einer davon kaufte ihm dann die Firma ab … Wie war noch die Frage?»

«Wie viel Sie investierten.»

«Ah ja. Zuerst fünfzigtausend Franken. Nach einem Jahr erhielten wir prompt die vertraglich vereinbarten Zinsen.»

«Worauf Redding Sie fragte, ob Sie weiteres Geld bei ihm anlegen wollen?»

«Stimmt. Aber Anton wollte nicht. Sie müssen wissen, mein Mann liess sich nicht so einfach überzeugen.»

«Später investierten Sie dennoch. Oder?»

«Wegen diesem Anwalt.»

«Bernd Otter?»

«Ja, genau. Vor Jahren drohte uns ein Kunde mit einem Prozess und so mussten wir auch einen Anwalt einschalten, das war Bernd Otter. Schliesslich kam es zu einem Kompromiss. Als Herr Otter uns bestätigte, dass die Anlage bei Redding ohne Risiko sei, investierten wir unsere gesamten Ersparnisse von zweihundertfünfzigtausend Franken und nahmen zusätzlich eine Hypothek von dreihunderttausend Franken auf.»

«Somit investierten Sie sechshunderttausend Franken.»

«Ja. Und dann erfuhren wir, dass diese Feriensiedlung gar nicht existiert.»

Christ sah Lisa Kolb erschrocken an.

«Was geschah dann?»

«Anton setzte alle Hebel in Bewegung, um unser Geld zurückzubekommen. Wir schalteten sogar einen Anwalt ein, was uns mehr als zehntausend Franken kostete. Aber da war nichts mehr zu holen … Anton hat es nicht verkraftet, er brach zusammen. Als der Krankenwagen eintraf, war mein Anton schon tot.»

Nicole nahm die alte Frau in den Arm.

«Das war im Sommer vor einem Jahr.»

«Sollen wir das Gespräch beenden?»

«Nein, nein, Herr Nationalrat. Ich schleppe das seit einem Jahr mit mir herum. Jetzt muss es raus.»

«Haben Sie Kinder?»

«Leider nein. Wir konnten keine Kinder bekommen wegen einer Krankheit von Anton in jungen Jahren. Wir dachten lange über eine Adoption nach, bis es zu spät war. Ich wäre gern Mutter geworden … Ihre Tochter ist Ärztin und Ihr Sohn Pfarrer im Matthäusquartier, das habe ich in der SI gelesen.»

«Florian arbeitet in Kleinhüningen. Ich habe noch eine Tochter, sie ist Kommissärin.»

«Bei der Polizei? Oh, das wusste ich nicht. Sie sind bestimmt stolz auf Ihre Kinder.»

«Das bin ich. Meine Familie bedeutet mir alles. Es gibt nichts Schöneres, als die Kinder aufwachsen zu sehen. Wenn sie auch oft nervig waren. Das sind sie übrigens auch heute noch.»

«Kleine Kinder, kleine Sorgen, grosse Kinder, grosse Sorgen, heisst es doch.»

«Zum Glück überwiegt die sorglose Zeit. Darf ich Sie noch etwas fragen, verfügen Sie über eine Pension?»

«Wo denken Sie hin. Anton investierte das ganze Geld immer ins Geschäft. Er sagte, unser Erspartes und das Haus sind unsere Rente. Ich lebe von der AHV. Manchmal wäre es schön, sich etwas leisten zu können. Dann sage ich mir, eine alte Schachtel wie ich braucht nicht viel.»

«Darf ich Sie nach Ihrem Alter fragen?»

«Ich bin am 2. Februar vierundachtzig geworden und ich will Hundert werden. Aber nur, wenn ich dann noch rüstig bin.»

«Das werden Sie bestimmt sein. Ich lade Sie zu Ihrem Fünfundachtzigsten zum Essen ein.»

«Das … meinen Sie das im Ernst?»

«Natürlich, Nicole ist meine Zeugin. Wir gehen richtig fein essen, ich hole Sie nächstes Jahr hier ab.»

«Dann werde ich wohl nicht mehr hier wohnen.»

«Mit Sicherheit. Sie werden noch mit hundert in Ihrem Haus leben.»

«Das wäre mein grösster Wunsch. Leider gehen Wünsche nicht oft in Erfüllung.»

«Gibt es noch etwas, was Sie meinem Chef anvertrauen wollen?»

Christ blickte irritiert zu Nicole.

«Ich … ich möchte nicht darüber sprechen.»

«Ein Problem wird nicht durch Schweigen aus der Welt geschafft. Was bedrückt Sie?»

«Es ist die Hypothek und die Steuererhöhung, Herr Christ.»

«In Basel wurden die Steuern in den vergangenen Jahren nicht erhöht.»

«Bei mir schon. Ich erhielt ein Schreiben, dass mein Eigenmietwert anders berechnet wird. Jetzt muss ich mehr Steuern bezahlen, doch das kann ich nicht.»

«Haben Sie mit der Steuerverwaltung gesprochen?»

«Ja, ich bin sogar dort gewesen. Der zuständige Beamte war wirklich sehr nett, nur genutzt hat es nichts. Mein Nachbar meint, ich solle die Hypothek erhöhen.»

«Es gibt bestimmt noch andere Möglichkeiten.»

«Waren Sie auf der Bank?»

«Sicher, Frau Ryff. Mein Kundenberater bei der Basler Depositenbank hörte mir eine Stunde zu. Er wolle mein Anliegen wohlwollend prüfen. Danach erhielt ich von ihm eine Absage, weil ich über kein Einkommen verfüge. Die AHV genügt nicht. Er riet mir, das Haus zu verkaufen und in ein Altersheim zu ziehen. Gern würde er mich beim Verkauf unterstützen. Das kommt nicht infrage, lieber sterbe ich vorher.»

Christ erhob sich.

«Es wird nichts verkauft, Frau Kolb. Zuerst einmal werden wir mit den verantwortlichen Personen sprechen.» Er hängte sich bei der alten Dame ein und ging mit ihr zur Tür. «Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.» Zum Abschied küsste er sie auf beide Wangen. «Sie hören von uns. Und bitte tragen Sie unser Essen in Ihre Agenda ein.»

Die alte Dame winkte ihnen nach, bis sie aus ihrem Blickwinkel verschwunden waren.

«Das ist unglaublich.»

«Basel tickt anders!»

«Ich will mit dem zuständigen Steuerbeamten sprechen.»

«Das ist nicht deine Aufgabe und gibt mit deiner Regierungsratskollegin hundertprozentig Ärger.»

«Noch diese Woche.»

«Zu Befehl, Chef.»

«Und mach bitte einen Termin mit dem Sachbearbeiter bei der BDB ab.»

«Heikel. Solltest du das nicht einem deiner Anwaltsspezis überlassen?»

«Auch noch diese Woche.»

«Wie du meinst, Chef.»

«Wusstest du, was mich hier erwartet?»

«Nicht das ganze Ausmass des Dramas.»

«Woher kennst du Lisa Kolb?»

«Durch ein konspiratives Gespräch mit Staatsanwalt Kern, der für den Fall Redding zuständig ist.»

«Kenn ich nicht.»

«Ein gewiefter Kerl, dem ich eine grosse Karriere prophezeie.»

«Soso … Das war hinterhältig von dir.»

«Ich weiss nicht, wovon du sprichst.»

«Wohin fährst du?»

«Da uns der Appetit vergangen ist, fahre ich dich ins Gellert zu deinem Bowlingkumpel. Oder willst du zurück ins Büro?»

«Nein.»


Die Füsse leger auf den Bürotisch gelegt, telefonierte Daniel Winter mit seiner Freundin Fabienne. Wieder eine dieser Sinnlosdiskussionen. Ohne Unterbruch arbeitete sie den vergangenen Tag und deren Folgen auf.

«Nein, zum hundertsten Mal, es läuft nichts zwischen Andrea und mir. Ich war aus Respekt zu meiner Kollegin an der Abdankung. Wenn du das nicht begreifst, tut es mir leid.»

«Wirklich? Warum warf sie sich ausgerechnet dir schluchzend um den Hals? Einem ganz normalen Kollegen.»

«Weil wir Freunde sind.»

«Nur Freunde? Ich bin doch nicht blind.»

«Glaubst du tatsächlich, dass ich dich mitgenommen hätte, wenn ich etwas mit ihr habe? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?»

«Mit ihrer Reaktion konntest du nicht rechnen. Das war dir ganz offensichtlich peinlich.»

«Zum letzten Mal, ich wollte bei der Abdankung dabei sein, weil ich die ganze Familie kenne und sehr schätze.»

«Vor allem Andrea und Nicole.»

«Ah, jetzt kommt wieder diese Leier. Vielleicht machen wir ja einen flotten Dreier.»

«Das würde mich nicht wundern. So vertraut, wie du dich mit den beiden unterhältst. Glaubst du tatsächlich, ich merke nicht, was abgeht? Ihr steckt immer zusammen und sobald ich mich nähere, wechselt ihr das Thema.»

«Das stimmt doch überhaupt nicht.»

«Natürlich nicht, ich bilde mir das alles nur ein. Gestern ist mir einiges klar geworden. Es ist aus zwischen uns.»

Daniel nahm abrupt die Füsse vom Tisch, sein Gesicht verfinsterte sich zusehends.

«Hörst du, es ist vorbei», wiederholte Fabienne. «Wenn du heute Abend nach Hause kommst, bin ich nicht mehr da.»

«Willst du es dir nicht nochmals überlegen?»

«Das würde dir so passen. Meine Entscheidung ist endgültig.»

«Wenn du überzeugt davon bist, dass ich fremdgehe, und mich absolut nicht mehr willst, dann muss ich damit leben.»

Ohne weiter zu diskutieren, beendete er das Gespräch.

«Guten Morgen, Daniel. Wir müssen in die Effringerstrasse.»

«Hallo, Andrea. Ein Mord?»

«Die Kollegen sind sich nicht sicher. Auf jeden Fall gibt es einen Toten … Bist du in Ordnung?»

«Mehr oder weniger. Fabienne hat soeben per Telefon Schluss gemacht.»

«Zum wie vielten Mal?»

«Einmal zu viel.»

«Bist du sicher?»

«Es ist nicht mehr zum Aushalten. Jedes Mal, wenn wir zwei irgendwohin gehen, macht sie mir danach eine Szene.»

«Sie ist halt eifersüchtig.»

«Ja, das ist sie. Aber alles hat seine Grenzen und sie ist nun definitiv zu weit gegangen. Weisst du eigentlich, dass du mit mir und Nicole einen Dreier machst?»

«Daran kann ich mich nicht erinnern. Erzähl Nicole nichts davon, sonst gibt es eine Tote mehr. Wieso beendest du deine Beziehung ausgerechnet heute? Das geht doch schon drei Jahre so und bisher brachtest du immer Verständnis für ihre Eifersucht auf.»

«Das erklär ich dir unterwegs.»

Daniel fuhr mit dem Dienstfahrzeug über den Dorenbach-Viadukt entlang der Tramlinie in Richtung St. Johann.

«Ich schaue jedes Mal runter, ob die neue Kuppel schon steht.»

«Sie soll nächstes Jahr im Herbst mit einem neuen Konzept eröffnet werden. Das war immer einer meiner Lieblingsorte.»

«Nicht unbedingt mein Fall … Warum fährst du nicht über die Wettsteinbrücke? Das wäre viel direkter.»

«Ich mag Umwege. Fabienne ist zu weit gegangen. Endgültig. Sie begreift einfach nicht, dass wir nur Freunde sind, nicht mehr und nicht weniger.»

«Ist es wegen gestern?»

«Mach dir keine Gedanken. Dass du dich bei mir anlehnst, ist doch das Normalste auf der Welt.»

«Als sie den Sarg hinunterliessen, traf es mich wie ein Blitz. Diese entsetzliche Endgültigkeit. Schlagartig war mir klar, ich würde Mam nie wieder sehen.»

«Zum Glück stand ich neben dir. Du wärst zusammengeklappt.»

«Hast du damit gerechnet?»

«Nein. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich überrascht. Aber Nicole ahnte es. Sie befahl mir, auf dich aufzupassen. Wie geht es dir?»

«Schlecht. Ich fühle mich leer, verlassen und einsam. Die Arbeit lenkt mich ab. Tut mir leid, dass ich der Anlass für euren Streit war.»

«Der Schlussstrich war längst überfällig. Ich habe die ewigen Verdächtigungen, mit wem ich im Laufe eines Tages in die Kiste steige, so was von über. Und alles, wirklich alles musste Fabienne bis ins Letzte planen.»

«Zum Beispiel?»

«Unseren Trip nach Südfrankreich. Ein einziger Horror. Sie setzte nicht nur die Route fest, sondern auch wo und wann wir eine Pause einlegen. Als wir in einen Stau gerieten, wurde sie total nervös, weil der Zeitplan durcheinandergeraten war. Endlich im Hotel angekommen, diskutierte sie über alles. Das Zimmer entsprach nicht ihren Vorstellungen. Okay, es war nicht das richtige. Das Hotel war nämlich überbucht, weshalb wir eine Suite bekamen. Und genau dieses Upgrade störte Fabienne. Wenn sie in einer Suite übernachten wolle, dann hätte sie auch eine gebucht. Unglaublich. Mir ging das dermassen auf den Wecker, dass ich die erste Nacht praktisch an der Bar verbrachte.»

«Und wenn sie sich entschuldigt?»

«Ich will nicht mehr.»

«Wegen gestern?»

«Nein, das hat nichts damit zu tun. Wir haben einfach keine Zukunft … Die Abdankung war sehr stilvoll. Ich musste mich bei der Predigt deines Bruders echt zusammenreissen, um nicht zu weinen. Das Bild, wie dein Vater unbeweglich am Grab stand, geht mir nicht mehr aus dem Kopf.»

«Er schwankte und einen Moment dachte ich, dass er ins Grab hineinfällt.»

«Das hätte nicht passieren können.»

«Warum nicht?»

«Nicole hatte vorgesorgt und stand direkt hinter ihm. Sie ist auch bei ihm geblieben, als wir gingen, aber mit einem grösseren, respektvollen Abstand. Sie ist sehr umsichtig, geradezu berechnend und manchmal ziemlich kühl.»

«Das ist sie nicht.»

«Was dann? Rings um sie herum sind alle am Anschlag beziehungsweise weit drüber hinaus und sie zeigt keinerlei Regung, organisiert die Beerdigung, als wäre es ein Konzert.»

«Willst du dir das nicht noch über Nacht überlegen?»

«Das ist lieb gemeint, meine Entscheidung steht fest. Die Vorwürfe wegen gestern Nachmittag brachten das Fass definitiv zum Überlaufen. Sie muss doch gesehen haben, wie fertig du bist. Trotzdem nimmt sie das zum Anlass, um einen Streit anzuzetteln. Inakzeptabel. Wenn sie nicht freiwillig auszieht, werfe ich sie raus … Dort vorne stehen zwei Streifenwagen.»

Die Polizei hatte die Strasse abgeriegelt. Daniel rannte die Treppe in die zweite Etage hinauf, die Spurensicherung war bereits vor Ort.

«Wo ist der Tote, Franz?»

«Er liegt im Hof, ist über den Balkon gestürzt. Unten haben wir unsere Arbeit bereits abgeschlossen.»

Als Andrea eintrat, ging ein leises Raunen durch die Runde.

«Wir möchten dir unser Beileid aussprechen, Andrea. Wir waren gestern alle auf dem Hörnli.»

«Danke. Es tat gut, dass ich euch bei mir wusste … Gibt es Hinweise auf einen Mord?»

«Im Moment nicht, warten wir die Obduktion ab. Selbstmord muss ebenfalls in Betracht gezogen werden.»

«Sind das seine Frau und seine Kinder, die im Wohnzimmer warten?»

«Ja. Wenn ihr mich fragt, stiess sie ihn nach einem Streit über die Brüstung.»

«Schauen wir uns zuerst den Toten an, danach reden wir mit ihr. Was sagen die Nachbarn?»

«Die wissen nichts mit Ausnahme des Kerls in der Wohnung nebenan. Er scheint ein guter Freund des Toten gewesen zu sein.»

«Gut. Mit dem unterhalten wir uns später.»

Der Tote lag auf dem Rücken in einer Blutlache. Beim Aufprall schien er mit dem Kopf auf eine Steinplatte geklatscht zu sein, denn sein Schädel war gespalten.

«Das sieht mir eher nach Mord aus. Was meinst du?»

«Er wird kaum rückwärts vom Balkon gesprungen sein», bestätigte Andrea. «Kein schöner Anblick. Unterhalten wir uns mit seiner Frau. Wie heisst sie?»

«Jeric. Sara Jeric.»

Die Ehefrau des Toten sass regungslos neben ihren Kindern. Ihr Blick wirkte teilnahmslos.

«Ich bin Andrea Christ und das ist mein Kollege Daniel Winter. Wir untersuchen den Tod Ihres Mannes und möchten Ihnen gern einige Fragen stellen.»

Sara Jeric nickte nur.

«Soll sich eine Kollegin in der Zwischenzeit um Ihre Kinder kümmern?»

«Ludmilla … meine Freundin Ludmilla wohnt im Parterre. Sie hütet die Jungs, wenn ich arbeiten gehe.»

Daniel winkte einem Beamten, der die beiden Jungs zur Nachbarin brachte.

«Können Sie uns etwas über den Hergang erzählen. Ist Ihr Mann über den Balkon gefallen?»

«Nein.»

Winter schaute sie erstaunt an.

«Waren Sie in der Wohnung, als Ihr Mann vom Balkon stürzte?»

«Ja.»

«Dann können Sie uns sicher erzählen, wie es passierte.»

«Ich habe Miroslav hinuntergestossen.»

«Im Streit?»

«Wir stritten uns immer, das war der ganz normale Alltag.»

«Ging Ihr Mann auf Sie los? Griff er Sie an?»

«Nein. Wir stritten wie jeden Tag, aber er schlug mich nie.»

«Sie stritten sich also, was öfters vorkam. Wo war das, auf dem Balkon?»

«Im Wohnzimmer. Als er auf den Balkon ging, folgte ich ihm. Ich wollte weiter diskutieren, aber er nicht. Da habe ich ihn über die Brüstung gestossen.»

«Ohne von ihm bedrängt zu werden?»

«Ja. Was geschieht jetzt mit mir?»

Daniel blickte zu Andrea hinüber. Eine seltsame Geschichte.

«Wir müssen Sie festnehmen.»

«Darf ich mich noch von meinen Kindern verabschieden, Frau Christ?»

«Hören Sie, ich bin etwas verwirrt», gestand Daniel. «Ist Ihnen klar, dass Sie soeben einen Mord gestanden haben?»

«Ja.»

«Wissen Sie auch, was das bedeutet?»

«Sie werden mich für eine sehr lange Zeit einsperren, vielleicht für fünfzehn Jahre.»

«In denen Sie Ihre Kinder nur selten sehen können.»

«Ludmilla wird sich um sie kümmern. Sie ist sowieso die bessere Mutter für meine Kinder.»

Andrea gab Daniel zu verstehen, dass sie sich unter vier Augen mit ihm unterhalten wolle.

«Sie steht unter Schock.»

«So wirkt sie nicht auf mich. Sie ist ziemlich gefasst, fast schon erleichtert.»

«Sara ist doch keine kaltblütige Mörderin.»

«Das behaupte ich nicht, doch sie ist bei klarem Verstand. Sie weiss genau, was sie sagt.»

«Da steckt mehr dahinter. Wir nehmen sie mit ins Kommissariat und unterhalten uns dort mit ihr.» Daniel trat auf die Frau zu. «Wir müssen Sie mitnehmen, Frau Jeric.»

«Darf ich noch einige Sachen packen?»

«Selbstverständlich. Wir informieren inzwischen Ihre Freundin … Franz, bleibst du bitte bei Frau Jeric? Danke.»

Ludmilla sass mit den Kindern am Wohnzimmertisch und spielte Memory mit ihnen, als Daniel und Andrea eintraten.

«Können wir uns kurz mit Ihnen allein unterhalten?»

«Ja, natürlich. Geht bitte in den Garten. Ich rufe euch, wenn die Polizisten gegangen sind.»

«Sind Sie mit Frau Jeric befreundet?»

«Wir sind in Kroatien aufgewachsen und vor zehn Jahren zusammen in die Schweiz gekommen, Herr Kommissär. Sie ist meine beste Freundin.»

«Sie sprechen perfekt Schweizerdeutsch.»

«Vielen Dank. Ich finde, dass jeder Fremde die Sprache seiner neuen Heimat lernen soll. Aber Sie wollten mit mir bestimmt nicht darüber reden.»

«Nein. Ihre Freundin hat gestanden, ihren Mann vom Balkon gestossen zu haben.»

«Dann stimmt meine Vermutung.»

«Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?»

«Nein. Es wird gute Gründe dafür geben.»

Daniel schüttelte den Kopf, das wird ja immer skurriler.

«Was können Sie uns über die Ehe Ihrer Freundin sagen?»

«Nichts, Frau Kommissärin.»

«War es eine harmonische Ehe oder stritten sie sich oft? Schlug er seine Frau?»

«Fragen Sie Sara, sie wird Ihnen Auskunft geben.»

«Aber Sie wissen es auch, oder?»

«Ich muss mich jetzt um die Kinder kümmern und unbedingt ihre Sachen holen. Darf ich in die Wohnung von Sara?»

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zum Fenster und rief etwas in den Garten. Dann verliess sie ohne ein weiteres Wort die Wohnung.

«Das ist jetzt nicht wirklich geschehen?»

«Doch.»

«Das sind zwei Roboter, Andrea. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Science-Fiction-Film.»

«Wie alt schätzt du Sara?»

«Anfang dreissig. Beide sind sehr attraktiv. Wenn sie allerdings den Mund aufmachen, verlieren sie viel von ihrer Schönheit.»

«Fürchten sie sich vor jemandem?»

«Das kommt mir nicht so vor. Für Ludmilla ist es selbstverständlich und auch richtig, dass Sara diesen Miroslav getötet hat. Wahnsinn.»

Fünf Minuten später standen die beiden Frauen in Begleitung von Franz in der Tür.

«Ich habe meine Sachen gepackt, wir können gehen. Darf ich mich noch von meinen Jungs verabschieden?»

«Sie sind draussen im Garten.»

Ludmilla begleitete ihre Freundin. Sara umarmte ihre Kinder innig. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt wieder in Ordnung. Doch der Schein täuschte. Mit Tränen in den Augen wandte sich Sara ab und trat in die Wohnung.

«So, jetzt können wir gehen. Ludmilla ist noch draussen bei den Jungs. Möchten Sie nochmals mit ihr reden?»

«Im Moment nicht. Ich muss Sie noch darauf hinweisen, dass Sie nichts sagen müssen. Alles was sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Verteidiger.»

«Es ist alles gesagt, Frau Kommissärin. Und einen Anwalt brauche ich nicht.»

«Soll ich Ihnen den Koffer abnehmen?»

«Das ist lieb von Ihnen, Herr Kommissär. Danke. Sind Sie mit dem Auto hier oder fahren wir mit dem Tram?»

«Mit dem Auto, dem schwarzen BMW hinter dem Streifenwagen.»

Andrea folgte den beiden kopfschüttelnd. So etwas habe ich noch nie erlebt.


Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich wie von Geisterhand. Nicole stellte den Merz auf einen Kundenparkplatz.

«Kommst du mit rein?»

«Es ist besser, wenn ihr ein Gespräch unter Freunden führt. Ich setz mich in den Pavillon und erledige einige Anrufe.»

Christ meldete sich in Otters Sekretariat an. Der junge Mann überlegte einige Sekunden, überprüfte den Terminplan und versicherte sich, dass er keinen Termin vergessen hatte, dann kam ihm plötzlich in den Sinn, wer vor ihm stand. Zwei Minuten später führte er Markus Christ in die oberste Etage.

«Komm rein, Markus … Ben, ich will nicht gestört werden», wandte sich Otter an seinen Sekretär. «Von niemandem. Danke … Setz dich. Darf ich dir einen Kaffee bringen lassen?»

«Ja, gern. Schwarz, mit viel Zucker.»

«Kommt sofort. Wie gehts dir?»

«Ich weiss es ehrlich gesagt nicht. Den Umständen entsprechend gut, könnte man sagen. Annas Tod hat mich entwurzelt, total aus dem Leben gerissen, der Schmerz ist unbeschreiblich gross und … ich fürchte mich, Bernd. Vor dem Abend, vor der Nacht, vor dem Wochenende, vor dem Alleinsein. Heute Morgen beim Aufstehen tastete ich wie immer nach Anna. Ich wollte ihr wie jeden Morgen sagen, dass wir in einer halben Stunde frühstücken. Meine Hand fiel ins Leere. Ich vermisse sie so sehr.»

«Fabienne und ich waren gestern auf dem Hörnli. Wir hielten uns etwas abseits. Du weisst schon, weshalb. Annas Tod hat uns schwer getroffen, sie war für uns mehr als eine Freundin.»

Markus’ Blick fiel auf den Tennisball, der auf dem Bürotisch lag.

«Du hast ihn noch immer?»

«Ja natürlich. Er ist mein Talisman.»

«Es war eine schöne Zeit.»

«Burckhardt würde das sicher anders sehen.»

«Stimmt», schmunzelte Markus.

Er erinnerte sich noch sehr gut daran, welche Bewandtnis der Tennisball hatte. Bernds Vater, ein Choleriker, war Gärtner und arbeitete unter anderem für die Familie Christ. Obwohl es nicht gern gesehen wurde, entstand zwischen dem Bonzenkind Christ und dem Proletenkind Otter eine tiefe Freundschaft. Eines Nachmittags, als Bernd seinen Freund Markus von der Tennisschule abholte, beobachten sie auf dem Heimweg, wie Christs Nachbar, ein bekannter Architekt, ein junges Mädchen begrapschte. Ohne zu zögern, riss Bernd seinem Freund einen Tennisball aus der Hand und warf ihn mit voller Kraft nach ihm.

«Ich war total überrascht, dass du ihn punktgenau an der Schläfe getroffen hast.»

«Ein Glücksschuss.»

«Mit Folgen.»

«Zugegeben, das war eine unkonventionelle Art, seine zukünftige Frau kennenzulernen.»

Der Architekt fiel kopfüber auf die Umrandung seines Venusbrunnens. Als er Tage später aus dem Spital entlassen wurde, kam langsam Licht ins Dunkel. Nicht, wie man munkelte, ein unzufriedener Kunde, sondern der Sohn des Gärtners war für den K.-o.-Schlag verantwortlich.

«Zum Glück versteckten mich deine Eltern. Mein Vater hätte mich totgeschlagen.»

«Daraufhin belagerte die Polizei unser Anwesen, Paps amüsierte sich köstlich …»

«Und deine Mutter, von der ich es am wenigsten erwartet hätte, fuhr grosses Geschütz auf.»

Irene Christ hielt überhaupt nichts von der Vermischung sozialer Schichten. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die Bediensteten in einem eigens für sie errichteten Gebiet gewohnt. Am besten durch einen Zaun von den Reichen getrennt, damit die Armutsseuche nicht plötzlich auf den Hügel überschwappen konnte. Eben diese als Patrizierin zur Welt gekommene Dame hielt ihrem Sohn eine gehörige Standpauke, dass solche Dinge eben passieren, wenn sich die erlesene Oberschicht mit dem Plebs abgibt. Danach kanzelte sie den Polizeikommandanten, der sich des Falles persönlich angenommen hatte, vor der versammelten Nachbarschaft ab und outete mit einem Rundumschlag den Architekten als perverses, degeneriertes Schwein. Und da sie schon einmal beim Ausmisten des Augiasstalles war, klopfte sie gleich noch an Otters Tür und las dem Gärtner gründlich die Leviten. Selbstverständlich alles in Begleitung ihres Gatten Ernst, der sie mit der passenden Wortwahl unterstützte. Der Polizeikommandant zog sich diskret in den Spiegelhof zurück, während sich der Perversling in seiner Villa verbarrikadierte, und Gärtner Otter machte fortan einen weiten Bogen um die Furie Irene Christ.

«Mutter war danach wochenlang das Stadtgespräch Nummer eins.»

«Und ich der Held von Fabienne.»

Christ stellte sich ans Fenster und blickte auf den Pavillon hinunter.

«Der ist neu, oder?»

«Nicht wirklich. Du bist schon lange nicht mehr hier gewesen.»

«Bernd, ich war bei Lisa Kolb.»

«Sie ist eine von vielen.»

«Du gibst es zu?»

«Wie bist du auf sie gekommen?»

Christ deutete auf den Pavillon.

«Nicole! Das hätte ich wissen müssen. Dein Terrier macht gegen mich mobil.»

«Gegen deine Geschäfte. Es war Ingo, der das Ganze ins Rollen brachte.»

«Er fürchtet, dass ich dir schaden könnte. Und ihm.»

«Ich soll deine Gesellschaft meiden.»

«Verständlich. Mit mir als Klotz am Bein wird deine Kandidatur infrage gestellt. Das kann er sich nicht leisten, er setzt voll auf dich – in der Erwartung deiner Dankbarkeit, versteht sich. Ich bin ja nicht blöd. Deshalb hielt ich mich auf dem Hörnli im Hintergrund. Ich will dir auf keinen Fall schaden.»

«Wie viele Lisa Kolbs gibt es?»

«Hunderte. Die einen verloren mehr, die anderen weniger.»

«Ist Fabienne eingeweiht?»

«Vermutlich ahnt sie etwas von meinen dubiosen Geschäften, aber sie hält bedingungslos zu mir.»

«Typisch für sie.»

«Was verlangst du von mir, Markus?»

«Unterstütze die Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung.»

«Du erwartest, dass ich mich an den Galgen liefere und meine Familie in den Ruin treibe?»

«Das hättest du dir früher überlegen müssen. Ich verstehe dich nicht. Wie kam es dazu? Was sind deine Beweggründe? Du bist doch ein vermögender Mann, Geld kann keine Rolle spielen.»

«Zuerst faszinierte mich die Idee. Es ist kein Schneeballsystem, wie alle vermuten. Es könnte wirklich funktionieren, wenn man es seriös betreibt. Aber das genügte Redding nicht, er wollte das schnelle Geld.»

«Und du?»

«Ich dachte, ich bekomme ihn in den Griff. Doch das war ein fataler Irrtum.»

«Warum bist du nicht ausgestiegen?»

«Wie so oft im Leben verpasst man den richtigen Zeitpunkt und dann hängst du voll mit drin. Redding, der innovative und kreative Kopf, mauserte sich vom kleinen Investor zum unberechenbaren Gangster.»

«Mit deiner Unterstützung.»

«Ja, mit meiner Hilfe. Ohne mich wäre er nie so weit gekommen.»

«Lisa Kolb muss ihr Haus verkaufen. Sie wird in ein Altersheim ziehen müssen. Ich gebe ihr dort höchstens sechs Monate. Ist es das wert?»

«Nein.»

«Dann hilf mit, weitere solche Schicksale zu verhindern.»

«Was soll ich tun?»

«Du bist der Einzige, der das System Redding im Detail kennt. Wir müssen das System aushöhlen und vernichten.»

«Ich kann nicht. Nicht wegen mir, wegen Fabienne und Denise.»

«Wirst du bedroht?»

«Nein. Aber ich traue Redding alles zu. In seinem Haus schleichen dubiose Gestalten herum, die schrecken vor nichts zurück. Wenn ich dir das Material liefere, weiss er ganz genau, woher es stammt. Dann rächt er sich gnadenlos an meiner Familie.»

«Und an dir.»

«Das ist mir inzwischen ziemlich egal. Könnte ich nur die Uhr zurückdrehen … Jetzt ist es zu spät.»

«Ohne dich kann ihn die Staatsanwaltschaft nicht aus dem Verkehr ziehen.»

«Ich weiss.»

«Dann macht er weiter und du siehst einfach zu.»

«Genau so wird es sein. Das ist und bleibt mein Dilemma.»

«Überleg es dir.»

«Da gibt es nichts zu überlegen. Tut mir leid.»

Christ ging langsam zur Tür.

«Unsere Freundschaft bedeutet mir viel, Markus. Aber ich kann nicht. Ich hoffe, dass du mich ein wenig verstehst.»

«Ich begreife nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich … ich akzeptiere deine Entscheidung. Vermutlich würde ich genauso handeln. Die Polizei wird dir am Donnerstag oder am Freitag einen Besuch abstatten.»

«Du warnst mich vor?»

«Ich weiss nicht, was sie gegen dich und Redding in der Hand haben. Vielleicht bluffen sie nur. Trotzdem, nimm es bitte nicht auf die leichte Schulter. Es ist schon mancher über Nacht in der Zelle zusammengebrochen.»

«Dann … dann war das jetzt unser letztes Gespräch, unsere letzte Begegnung.»

«Nur bis zur nächsten Woche. Länger können sie dich vermutlich nicht festhalten. Du schuldest mir übrigens noch eine Revanche.»

«Du wirst wieder verlieren. Ich bin eindeutig besser im Bowling.»

«Wir werden sehen.»

«Markus, du weisst, was das für dich bedeutet?»

«Ja. Ich werde mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht Bundesrat.»

«Wieso nimmst du das auf dich?»

«Ganz einfach, weil du mein Freund bist.»

«Und, wie wars?»

«Es ist schön hier im Garten. So mitten in der Stadt, eine ausgezeichnete Lage. Schade, dass die Villa als Büro genutzt wird.»

«Er wird nicht kooperieren.»

«Ich befürchte nicht.»

«Wie seid ihr verblieben?»

«Ich werde ihn nächste Woche im Bowling besiegen.»

«Ein Pyrrhussieg.»

«Ich muss es akzeptieren. Irgendwie verstehe ich ihn sogar. Konntest du den zuständigen Steuerbeamten auftreiben?»

«Ja, Phil Gärtner. Es ist alles korrekt abgelaufen. Ich finde die Entscheidung des Finanzdepartementes richtig, die Eigenmieten waren zu tief. Was ihr auf eurem Hügel für die Villen als Eigenmiete versteuert, ist geradezu lächerlich. Und nebenbei macht ihr noch jede Auslage geltend. Aber es gibt auch Härtefälle.»

«Wie Lisa Kolb.»

«Sie ist ein Grenzfall. Wenn sie das Haus verkauft, verfügt sie über genügend Kapital, um das restliche Leben geniessen zu können.»

«Und in sechs Monaten ist sie tot.»

«Ich weiss. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Rita hat mich auf ein Interview der Finanzdirektorin aufmerksam gemacht.»

«Deine Angestellten mausern sich.»

«Es sind deine, das nur nebenbei. Gemäss Interview wird jeder einzelne Fall geprüft. Das neue Gesetz gilt selbstverständlich generell, doch bei Härtefällen können durchaus Kompromisse gefunden werden. Den Fall Lisa Kolb werde ich mit Kollege Gärtner ausdiskutieren.»

«Und wenn er nicht einlenkt?»

«Dann bist du am Zug, auf höchster Ebene.»

«Einverstanden.»

«Der Chef der BDB lässt dich grüssen. Er bedankt sich für die Einladung und fühlt sich geehrt, mit dir heute in einer Woche um 12.15 Uhr im Schloss Binningen zu essen.»

«Wieso denn das?»

«Das lösen wir auf höchster Ebene. Ich schlage mich doch nicht mit einem kleinen Wicht bei der BDB herum. Der muss von oben Feuer unter dem Hintern kriegen.»

«Hier darf ich, beim Finanzdepartement machst du es allein.»

«So ist es. Die Unterredung mit dem Steuerbeamten ist politisch heikel, da wirst du zum Nestbeschmutzer.»

«Und bei der BDB?»

«Das ist kein Problem. Wenn er nicht spurt, wechseln wir die Bank und lassen die Medien wissen, dass der Christ-Clan nicht damit einverstanden ist, wenn die Bank für die kleinen Leute – genau damit werben sie – diese ruiniert.»

«Woher weisst du, dass wir Kunde bei der BDB sind?»

«Wir sind Grosskunde und Aktionär. Von Ernst natürlich, ich unterhielt mich mit seinem Finanzchef. Eure Immobiliengeschäfte laufen über die BDB.»

«Und das alles vom Pavillon aus?»

«Klar, während du dich über Bowling unterhieltest.»

«Ich möchte mit deinem karrieresüchtigen Kerlchen von der Staatsanwaltschaft sprechen.»

«Du meinst Sebastian Kern, seine Freunde nennen ihn Seb. Er ist fünfunddreissig, wohnt in der Augustinergasse mit Sicht auf den Rhein und spielt leidenschaftlich gern Tennis. Der Fall Redding ist sein bisher grösster. Wenn er ihn gewinnt, macht er garantiert einen Karrieresprung.»

«Sagt wer?»

«Deine Sekretärin Helen.»

«Du setzt das Sekretariat für Spitzelarbeiten ein?»

«Klar, wenn es notwendig ist. Ganz nebenbei, sie ist mit ihm verheiratet.»

«Helen?»

«Ja, Helen. Sie hat ihren Mädchennamen beibehalten. Bist du hungrig?»

«Ich könnte ein Sandwich vertragen.»

«Wir fahren zurück und essen eine Kleinigkeit im Hotel Basel.»

«Wieso nicht hier irgendwo?»

«Weil wir um vier im Büro sein müssen. Staatsanwalt Kern gibt sich die Ehre.»


Dagmar Morath meldete sich zur Überraschung von Tina bereits kurz nach vierzehn Uhr. Sie hätte die Sache mit ihrem Mann und ihren Eltern besprochen und Erwin möchte eine Zweitmeinung einholen. Leider höre man allzu oft von Fehldiagnosen, deshalb bitte sie um Verständnis für ihre Entscheidung. Tinas Ermahnung, dass jeder Tag eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge haben könnte und sie deshalb sofort reagieren müsse, um eine bestmögliche Heilung zu erzielen, verpuffte. Es daure ja nur einen oder zwei Tage, bis sie einen anderen Arzt konsultiert hätte.

«Da ist etwas faul.»

«Und was?», fragte Sabine ihre Kollegin.

«Sie wirkte verängstigt, eingeschüchtert.»

«Von ihrem Mann?»

«Ganz bestimmt. Er will nicht, dass sie sich operieren lässt.»

«Vielleicht gehören sie einer Sekte an, die Operationen verbietet.»

«Gibt es das überhaupt?»

«Gestern sah ich im deutschen Fernsehen einen Bericht über eine islamische Familie, die einer Sekte angehört. Ihr elfjähriger Sohn musste unters Messer. Weil nur ihr Prophet heilen kann, verschwand die ganze Familie kurz vor der Operation spurlos.»

«Sie lassen aus religiösen Gründen ihr Kind sterben? Verstehe das, wer will.»

«Ja, das können wir absolut nicht nachvollziehen. Die Polizei sucht fieberhaft nach den Eltern und dem Sohn. Die Ärzte geben dem Jungen nur noch wenige Wochen.»

«An was leidet er?»

«Seine Augen sind von einem Tumor betroffen. Das eine ist bereits erblindet, das andere kann nur durch die Operation gerettet werden. Die Ärzte stellten drei Tumore fest.»

«Einfach unvorstellbar, dass jemand zusieht, wie sein Kind langsam erblindet, womöglich sogar stirbt, sollten sich die Tumore ausbreiten.»

«Es ist dann eben gottgewollt. Wenn sie von der Polizei gefasst werden und ihr Junge tot ist, müssen sie mit zehn Jahren Gefängnis rechnen.»

«Das macht den Kleinen auch nicht mehr lebendig … Ich werde Frau Morath besuchen, und zwar jetzt. Ich will mit ihr und ihrem Mann reden.»

«Gut, dann begleite ich dich.»

Eine Münze für Anna

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