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2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg

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Arthur Ponsonby hatte dieses Paradox bereits am Beispiel des Ersten Weltkriegs aufgedeckt, und wahrscheinlich ließe es sich auch auf Kriege davor beziehen: Stets versichert jede Kriegspartei, sie sei zur Kriegserklärung gezwungen gewesen, um den Gegner daran zu hindern, die Welt in Brand zu stecken. Alle Regierungen betonen immer wieder lauthals, daß manchmal Krieg geführt werden müsse, um dem Krieg ein für allemal ein Ende zu bereiten. Dieses sei nun der letzte Krieg, weil mit ihm sämtliche Konfliktursachen beseitigt würden.

Obwohl sich Paris 1914 klar darüber war, daß die gleichzeitige Mobilmachung Russlands und Frankreichs unweigerlich die Kriegserklärung Deutschlands nach sich ziehen würde, rief Frankreich die allgemeine Mobilmachung aus und wartete auf die dann auch prompt folgende Antwort Deutschlands. Kaum hatte Deutschland den Krieg erklärt, beschworen aber sowohl der französische Staatspräsident als auch der Premierminister in seiner Rede vom 4. August 1914, daß Frankreich völlig überraschend durch die »plötzliche, abscheuliche, heimtückische, beispiellose« Aggression Deutschlands in den Krieg hineingezogen worden sei. Kein Wort natürlich über die geheimen Absprachen Frankreichs mit Russland. Um der Bevölkerung weismachen zu können, daß allein den Deutschen die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zukomme, wurden aus dem sogenannten »Gelben Buch«, einer Sammlung französischer diplomatischer Schriftstücke, einige Dokumente entfernt, andere bewußt verändert, so daß von den französisch-russischen Vereinbarungen und der russischen Mobilmachung nichts an die Öffentlichkeit dringen konnte.

Der französische Historiker Ernest Lavisse behauptete am 5. November 1914 in seiner Rede zu Semesterbeginn an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Paris: »Es hätte keinen Krieg gegeben, wenn Deutschland ihn nicht gewollt hätte; allein [Hervorhebung der Autorin] Deutschland hat den Krieg gewollt«. In dasselbe Horn blies Le Matin vom 1. August 1914: »Wir hätten alles getan, was man nur tun kann, um den Krieg zu verhindern. Aber wenn er ausbricht, werden wir ihn mit größten Erwartungen begrüßen.« Und in Le Temps vom 2. August 1914 war zu lesen: »Da uns dieser Krieg aufgezwungen wurde [Hervorhebung der Autorin], werden wir ihn mit aller Leidenschaft führen.«

Allgemein gilt, daß immer der Nachbar als Aggressor hingestellt wird, obwohl im Moment des Kriegsausbruchs meist gar nicht genau zu ermitteln ist, wer wirklich der Aggressor ist. Tatsächlich jedoch werden Kriege, wie Luigi Sturzo feststellte, fast immer von der Partei ausgelöst, die aufgrund ihrer überlegenen Waffen oder Offensivkraft davon ausgeht, ihn rasch und sicher gewinnen zu können.13

Darüber hinaus wird dem Feind, dem »anderen«, stets mangelnder Respekt gegenüber Verträgen unterstellt. So behaupteten die Franzosen, daß die Deutschen 1914 die Abmachung von 1839 verletzt hätten, in der die Neutralität Belgiens festgeschrieben war. Aus französischer Sicht waren Verträge für die Deutschen immer nur ein »Fetzen Papier«. Nun besteht jedoch immer nur die Seite auf der strikten Einhaltung von Verträgen, die sie zum eigenen Vorteil brauchen kann, und gelten Verträge immer nur als ein »Fetzen Papier« für die Partei, die sie am liebsten zerreißen würde. Zwar hatten die Deutschen 1914 in der Tat die Neutralität Belgiens verletzt, aber schon 1911 hatte der französische General Michel in einem Bericht seinen Kriegsminister geraten, »einen Großteil unserer Truppen für eine mächtige Offensive in Belgien einzusetzen.«14

Auch die Engländer rechneten schon seit 1911 damit, daß sie im Fall eines Krieges mit Deutschland als Präventivmaßnahme ihre Truppen nach Flandern schicken würden.15 Eine Vereinbarung mit dem belgischen Generalstab lautete entsprechend.

In Paris und London war man beinahe erleichtert, als Deutschland seine Truppen im August 1914 durch Belgien marschieren ließ. Damit konnten sich die französische und englische Regierung gegenüber ihren Völkern leicht für den Kriegsbeitritt rechtfertigen. Schließlich hatte Deutschland diesen Krieg provoziert.

Auch die Vereinigten Staaten begründeten ihren Kriegseintritt am 2. April 1917 mit der notwendigen »Bestrafung der illegalen Aggressionen [Hervorhebung der Autorin] Deutschlands gegen Bürger und Güter Amerikas, die aufgrund der Neutralität des Landes nicht mehr wirksam geschützt werden konnten.«16 Jedes Lager präsentierte seinen Kriegseintritt als Antwort auf eine Aggression.

Der Versailler Vertrag, der Deutschland 1919 nach seiner Kapitulation auferlegt wurde, führt in Artikel 231 sogar explizit aus, daß Deutschland die alleinige Kriegsschuld übernimmt. Deutschland und seine Verbündeten seien »verantwortlich dafür, sämtliche Verluste und Schäden verursacht zu haben, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Bürger infolge des ihnen durch die Aggression Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben [Hervorhebung der Autorin].«17

Einige Zeit nach dem Krieg wurden jedoch auch bei den Alliierten Stimmen laut, die einräumten, daß es nicht nur einen Verantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab. So äußerte etwa Henri Poincaré 1925: »Ich behaupte nicht, daß Deutschland und Österreich primär die bewußte und lange gereifte Absicht hatten, einen allgemeinen Krieg auszulösen. Es gibt kein Dokument, das zur Annahme berechtigen würde, daß sie damals irgendeinen systematischen Plan verfolgt hätten.« Und Francesco Nitti, der ehemalige italienische Ministerpräsident, gab nach dem Krieg zu, daß die Alleinschuld des Feindes ein Kriegsmythos war: »Ich kann nicht sagen, daß Deutschland und seine Verbündeten die einzig Schuldigen am Krieg waren, der ganz Europa verwüstet hat […]. Wir alle haben das während des Krieges behauptet, als Waffe, wie man sie in jeder Epoche zu Kriegszeiten verwendet hat; jetzt aber, wo der Krieg beendet ist, läßt es sich nicht mehr als ernsthaftes Argument ins Feld führen […]. Wenn es einst möglich sein wird, die Dokumente der Kriegsdiplomatie sorgfältig zu analysieren und wenn die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen uns erlauben wird, sie in Ruhe zu beurteilen, wird man erkennen, daß die Haltung Russlands die wirkliche und eigentliche Ursache des weltweiten Konflikts gewesen war.«

Man sollte meinen, daß dieses Propagandaprinzip 25 Jahre später keine Wirkung mehr auf eine Generation ausüben kann, die von einem weiteren »allerletzten« Krieg kalt erwischt wird. Dennoch wurde es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von beiden Lagern wieder bemüht.

Die Version des alliierten Lagers lautete dabei wie folgt: Die Schicksale des unglücklichen Österreich, das gegen seinen Willen von Deutschland annektiert worden war, der friedliebenden Tschechoslowakei, die man in Stücke zerteilt hatte, des demokratischen Polen, dem man seinen Zugang zum Meer entreißen wollte, stellten Provokationen der Achsenmächte dar, die Frankreich und England dazu zwangen, Deutschland den Krieg zu erklären, um die eigene beschämende Kompromißbereitschaft nicht zu wiederholen, die unter anderem das Sudetenland der deutschen Gefräßigkeit ausgeliefert hatte. Aus diesem englisch-französischen Blickwinkel war die den Tschechen aufgezwungene Abtretung von Bevölkerungen und Gebieten nur durch die Furcht der Alliierten vor dem Reich und die unentschuldbare Schwäche der Politiker zu erklären, von denen die demokratischen Staaten repräsentiert wurden.

Frankreich hatte sich aus der Perspektive der alliierten Sieger daher nur widerstrebend für den Krieg entschieden, weil es ein unauflösbares Band mit der Tschechoslowakei hatte, an deren Gründung es beteiligt gewesen war. Die französische Regierung konnte ihr Wort nicht brechen, das sie damals mit ihrer Unterschrift und den daraus erwachsenden heiligen Verpflichtungen gegeben hatte.

In Wirklichkeit aber war etwa Frankreich in Hinblick auf den letztgenannten Punkt durch keine Unterschrift und keinen Vertrag gezwungen, im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei den Tschechen automatisch beizustehen. Natürlich stand es Frankreich frei, aus eigenem Antrieb so zu handeln, doch weder der Beistandspakt, der zwischen beiden Ländern 1924 unterzeichnet worden war, noch der Vertrag von Locarno von 1925 verpflichtete das Land dazu. Im Beistandspakt von 1924 verpflichteten sich beide Länder, sich in außenpolitischen Fragen abzustimmen (Art. 1) und im Fall von Bedrohung Maßnahmen zur Wahrung gemeinsamer Interessen zu vereinbaren (Art. 2), von Verpflichtungen Frankreichs gegenüber der Tschechoslowakei war also keine Rede.

Im Vertrag von Locarno hatten Frankreich und die Tschechoslowakei zwar gegenseitigen militärischen Beistand im Fall einer deutschen Aggression vereinbart, aber im letzten Artikel hieß es, daß der französisch-tschechische Beistandspakt in dem Moment hinfällig sei, in dem der allgemeine Vertrag von Locarno außer Kraft gesetzt würde.18 Nun war aber der Vertrag von Locarno 1938 von seinen verschiedenen Unterzeichnern schon lange aufgekündigt worden und damit Geschichte, der französisch-tschechische Beistandspakt war also automatisch hinfällig geworden. Die französische Regierung hütete sich jedoch, dies der Bevölkerung klar zu machen, denn nur so konnte sie plausibel versichern, daß Frankreich zum Krieg gezwungen war, zu einem Krieg, der natürlich als rein defensiv beschrieben wurde.

In seiner Parlamentserklärung vom 2. September 1939 versicherte Daladier (und kehrte dabei erneut die koloniale Vergangenheit seines Landes unter den Tisch): »Das Heldentum der Franzosen beruht auf Verteidigung und nicht auf Eroberung. Wenn Frankreich sich erhebt, dann nur aus dem Bewußtsein heraus, daß es bedroht ist.« Und in seinem »Appell an die Nation«, in dem er die französische Verantwortung für die auch durch den Versailler Vertrag hervorgerufene Situation schlichtweg überging, versicherte er am 3. September 1939: »Deutschland hat sich geweigert, allen Menschen guten Willens zu antworten, die ihre Stimme in letzter Zeit für die Wahrung des Weltfriedens erhoben hatten […]. Wir führen den Krieg, weil man ihn uns aufgezwungen hat.« Wiederum trägt das andere Lager die alleinige Schuld am Krieg.

Schaut man sich jedoch die Dokumente der damaligen Zeit noch einmal näher an, so wird verständlich, weshalb es umgekehrt so einfach war, vor der deutschen öffentlichen Meinung, genau wie später gegenüber der öffentlichen Meinung in Japan, behaupten zu können, das Lager der Alliierten habe den Krieg gewollt und bewußt herbeigeführt. Aus deutscher Sicht zum Beispiel, und bei weitem nicht nur aus Sicht der Nazis, waren die Verträge von Versailles, von Saint-Germain und von Trianon unerträgliche Diktate, Konsequenz eines zweifelhaften Sieges. Sie hatten zum Ziel, die Macht des deutschen Reiches und Österreichs zu schmälern und zum Zusammenbruch ihres jeweiligen Kaiserreichs zu führen. Diese Verträge wurden als Demütigungen empfunden, stürzten die besiegten Länder in tiefstes materielles Elend und schnitten einen beträchtlichen Teil der deutschen Minderheiten im Ausland von der Heimat ab. Die Revision dieser Verträge konnte daher als Wiedergutmachung eines Unrechts dargestellt werden, das zu beseitigen sich Engländer und Franzosen weigerten.

Der Anschluß von Österreich an Deutschland am 11. März 1938 war aus dieser Perspektive also keineswegs ein Gewaltakt, abgesehen davon, daß der weitaus größte Teil der Österreicher ihn begrüßte. Die Tschechoslowakei wiederum war aus deutscher Sicht nichts anderes als eine künstliche Kreation der Engländer und Franzosen, durch die katholische Slawen und entkonfessionalisierte19 Tschechen mit einer starken deutschen Minderheit, außerdem mit Ungarn, Ruthenen, Rumänen und Polen zusammengefügt wurden, vorrangig mit dem Ziel, Deutschland zu schwächen.

Die Tschechoslowakei verhielt sich übrigens zwischen den Kriegen gegenüber Minderheiten keineswegs wie das Vorbild an Toleranz und Demokratie, als das die alliierte Propaganda dieses Land darstellte, genausowenig wie Polen, das zwar mit Frankreich und England verbündet war, aber immer von autoritären Regimen beherrscht wurde (Marschall Pilsudski, Oberst Beck …) und schließlich – aber das war natürlich nicht Bestandteil der gegen Deutschland gerichteten alliierten Propaganda – ganz offen antisemitisch war.

In den verschiedenen Krisen, die den Zweiten Weltkrieg vorbereiteten, beteuerte Deutschland stets, nur auf die Aggressionen und Drohungen der Engländer und Franzosen oder ihrer Verbündeten zu reagieren. So behauptete die deutsche Propaganda in der tschechischen Frage ganz forsch, Deutschland habe nur auf die Mobilmachung reagiert, die von Präsident Benes Mitte Mai 1938 angeordnet worden war, und 1939 argumentierte sie, der Einmarsch in Polen sei lediglich die Antwort auf die polnischen Provokationen.

In einem Brief ans Foreign Office20 kurz vor dem Einmarsch in Polen klagte Hitler über »himmelschreiende, barbarische Mißhandlungen und sonstige Verfolgungen der großen deutschen Volksgruppe in Polen, die bis zur Tötung vieler dort lebender Deutscher oder zur Verschleppung unter grausamsten Begleitumständen führten. Diese Zustände sind für eine Großmacht unerträglich. Sie haben Deutschland gezwungen [Hervorhebung der Autorin], nach monatelangem Zusehen nunmehr ebenfalls die notwendigen Schritte zur Wahrung der berechtigten [Hervorhebung der Autorin] deutschen Interessen zu ergreifen.« Klagen, die einen seltenen Zynismus offenbaren, wenn man sich Hitlers unzählige Vorhaben in Bezug auf die slawischen Völker vor Augen hält! Die »Geduld der Deutschen« gegenüber diesen Provokationen hatte im September 1939 angeblich ihre Toleranzschwelle erreicht!

Der deutsche Außenminister v. Ribbentrop griff dieses Thema bei einem Gespräch am 1. September 1939 mit dem französischen Botschafter in Berlin wieder auf und behauptete, von einer deutschen Aggression zu sprechen sei abwegig, da Polen selbst Deutschland seit Monaten provoziert habe. Es habe Danzig wirtschaftlich ausgelaugt, die deutsche Minderheit in Polen mißhandelt und unaufhörlich Grenzverletzungen begangen. Mit größter Geduld habe der Führer diese Provokationen ertragen, in der Hoffnung, Polen würde doch noch zur Vernunft kommen. Doch das Gegenteil sei eingetreten. Polen, das seit Monaten mobil mache, habe am Abend zuvor die allgemeine Mobilmachung beschlossen. Die Polen hätten auf deutschem Territorium drei Angriffe verübt. Angesichts dieser Geschehnisse sei die Version einer deutschen Aggression geradezu absurd.

In seiner Rede vor dem Reichstag rechtfertigte Hitler die Invasion Polens mit denselben Argumenten als legitimen Gegenschlag: »Danzig war und ist eine deutsche Stadt! Der Korridor war und ist deutsch! Alle diese Gebiete verdanken ihre kulturelle Erschließung ausschließlich dem deutschen Volk […]. Danzig wurde von uns getrennt! Der Korridor von Polen annektiert! Die dort lebenden deutschen Minderheiten in der qualvollsten Weise misshandelt. Über eine Million Menschen deutschen Blutes mußten […] ihre Heimat verlassen.« Erneut behauptete er, Polen habe seine Vorschläge mit Mobilmachungen beantwortet, »mit verstärktem Terror. […] Ich habe mich daher nun entschlossen, mit Polen in der gleichen Sprache zu reden, die Polen seit Monaten uns gegenüber anwendet«. Hitler wies also Polen die alleinige Kriegsschuld zu.

Am 1. September 1939 rechtfertigte v. Ribbentrop den Einmarsch der deutschen Truppen in Polen und beteuerte, die polnischen Truppen hätten zuvor Angriffe auf deutsches Territorium verübt, Polen habe Deutschland provoziert und er habe vergeblich auf einen polnischen Unterhändler gewartet. Erneut versicherte v. Ribbentrop, der Führer wolle keinen Krieg und würde sich nur widerstrebend dazu entschließen. Die Entscheidung für Krieg oder Frieden hänge jedoch nicht vom »Führer« ab, sondern von Polen. Bei gewissen Fragen, die von lebenswichtigem Interesse für das Reich seien, müsse Polen nachgeben und Forderungen erfüllen, die für Deutschland unverzichtbar seien. Bei einer Weigerung Polens würde die Verantwortung für einen Konflikt bei Polen liegen und nicht bei Deutschland.21

Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Was die deutsche Sicht der Dinge – daß nämlich diese beiden Mächte den Krieg begonnen hätten – bestätigte. Deutschland habe ja nur reagiert, zunächst auf die polnischen Übergriffe, dann auf die französisch-britische Kriegserklärung. Ein weiteres Argument, das von Deutschland 1939 und 1940 zur Rechtfertigung des Krieges vorgebracht wurde, war die Behauptung, die Engländer und Franzosen sowie ihre Verbündeten würden das III. Reich umzingeln und es zum Krieg zwingen, um diese Umzingelung aufzubrechen. Damit war der Krieg aus deutscher Sicht ein Präventiv- und Verteidigungskrieg. Ein Thema, das übrigens in den Wochenschauen vom Mai 1940 immer wieder auftauchte: Mit Hilfe von Karten wurde die Verantwortung für diese »Umzingelung« den Mächten zugesprochen, die sich nach dem Versailler Vertrag jeder friedlichen Revision dieser feindseligen Vereinbarungen widersetzt hatten.

Auch die Vereinigten Staaten rechtfertigten ihren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg mit dem Argument einer »Umzingelung« des Landes durch die Achsenmächte, welche die USA einem Zustand permanenter Gefahr aussetze. Als es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA kam, gab Hitler selbstverständlich Roosevelt die Schuld, in dem er eine Marionette der internationalen Finanzwelt und der Juden sah.

Nach Ansicht Hitlers habe der amerikanische Präsident sein Land nur deshalb in den Krieg gezogen, um die Bevölkerung von der mißratenen Innenpolitik und dem Scheitern des New Deal abzulenken. Außerdem habe sich Roosevelt »seit Kriegsbeginn in steigendem Maße völkerrechtswidrige Verbrechen zuschulden kommen lassen. […] Dadurch ist das aufrichtige und von beispielloser Langmut zeugende Bestreben Deutschlands und Italiens, trotz der seit Jahren erfolgten unerträglichen Provokationen durch den Präsidenten Roosevelt eine Erweiterung des Krieges zu verhüten und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten, zum Scheitern gebracht worden. Deutschland und Italien haben demgegenüber sich nunmehr endlich gezwungen [Hervorhebung der Autorin] gesehen, getreu den Bestimmungen des Dreimächtepaktes vom 27. September 1940 Seite an Seite mit Japan den Kampf zur Verteidigung und damit die Erhaltung der Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Völker und Reiche gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und England gemeinsam zu führen.«22

Die Note mit Hitlers Kriegserklärung an die USA, die der Beauftragte des deutschen Außenministeriums dem amerikanischen State Department übergab, schob den USA die volle Verantwortung für die Konfliktsituation zu. Die Vereinigten Staaten hätten mehrfach ihre neutrale Haltung aufgegeben, seit am 3. September 1939 Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatten, ja sogar Befehl gegeben, auf sichtbare deutsche U-Boote zu schießen und deutsche Handelsschiffe zu kapern: »Obwohl sich Deutschland seinerseits gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika während des ganzen gegenwärtigen Krieges streng an die Regeln des Völkerrechts gehalten hat, ist die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika von anfänglichen Neutralitätsbrüchen endlich zu offenen Kriegshandlungen gegen Deutschland übergegangen. Sie hat damit praktisch den Kriegszustand geschaffen. Die Reichsregierung hebt deshalb die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika auf und erklärt, daß sich unter diesen durch den Präsidenten Roosevelt veranlaßten [Hervorhebung der Autorin] Umständen auch Deutschland von heute ab [als] im Kriegszustand mit den Vereinigten Staaten von Amerika befindlich betrachtet.«

Die verbissensten Kriegshetzer gaben sich demnach den Anschein von Unschuldslämmern und wälzten die gesamte Verantwortung für den Krieg auf den Feind ab. Meistens gelang es ihnen auch, der Bevölkerung ihres jeweiligen Landes (und sich selbst womöglich nicht weniger) glaubhaft einzureden, daß sie aus Notwehr zum Handeln gezwungen seien.

Dabei möchte ich nocheinmal betonen, daß es mir keineswegs darum geht, Angreifer und Angegriffene auf eine Ebene zu stellen. Ich möchte nur zeigen, daß in den Lagern der verschiedenen Kriegsparteien stets dieselbe Sprache gesprochen wird. Im Moment des eigentlichen Kriegsausbruchs ist es meist unmöglich festzustellen, welche Seite die Kriegshandlungen tatsächlich ausgelöst hat, denn zu diesem Zeitpunkt stehen weder alle zur Beurteilung wichtigen Quellen noch die Archive der gegnerischen Partei zur Verfügung.

Das zweite Prinzip der Kriegspropaganda wurde nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich noch etliche Male benutzt. Hier einige Beispiele:

Das Bild von der feindlichen »Schlange«, die »unser unglückliches Land umzingelt«, wurde während des Kalten Krieges von der amerikanischen Propaganda häufig verwendet. Zur Illustration eigens entworfene Karten sollten den amerikanischen Bürgern »beweisen«, daß die USA von kommunistischen Feinden eingekreist waren. Somit rechtfertigten diese Karten die Schaffung eines Kriegszustandes, der, natürlich, rein »defensiv« war. Auf der anderen Seite gelang es auch der UdSSR, sich als von den USA und ihren militärischen Verbündeten umzingelt darzustellen.23

Kürzlich schlug ein französischer Abgeordneter im Auftrag der parlamentarischen Verteidigungskommission vor, daß Frankreich sich aus Verteidigungsgründen ernsthafter mit der Erforschung bakteriologischer und chemischer Kriegsführung beschäftigen solle, um gewappnet zu sein gegen den Bioterrorismus, den Saddam Hussein, Nordkorea, Lybien oder der Iran mit Einverständnis Rußlands auslösen könnte [Hervorhebungen der Autorin]. Natürlich erwähnte er mit keinem Wort, daß der Westen auf diesem Gebiet schon lange aktiv ist, er behauptete sogar, die Länder des Westens seien im Gegenteil »bemüht, jegliche Aktivität auf diesem Gebiet inklusive Forschungsprojekte zu beenden.«24

Im Krieg der NATO gegen Jugoslawien im Jahre 1999 wurde in der Propaganda der europäischen Regierungen ebenfalls immer wieder das Argument herangezogen, Europa sei verpflichtet, sich diesem Krieg anzuschließen. Das Argument der Pflicht zum Mitmachen war deshalb so wichtig, weil sich die Regierungen der Unterstützung durch die öffentliche Meinung in ihren Ländern nicht sicher sein konnten, denn kein europäisches Parlament war im Vorfeld zu Rate gezogen worden, obwohl das die Verfassung mehrerer Staaten vorschreibt. Als etwa Christian Lambert, der Kabinettschef des belgischen Verteidigungsministers, von Studenten gefragt wurde, warum Belgien sich an den Bombardierungen gegen Jugoslawien beteilige, gab er die Auskunft, Belgien sei durch seine Mitgliedschaft in der NATO dazu verpflichtet.25 Eine in diesem Moment geradezu klassische Reaktion, die aber nicht der Realität entsprach.

Die europäischen Länder wären zwar beim Angriff auf einen NATO-Staat tatsächlich zum Eingreifen verpflichtet, doch das war beim Krieg gegen Jugoslawien keineswegs der Fall. Eine serbische Aggression gegen einen NATO-Mitgliedstaat hatte nicht stattgefunden. Die Militäraktion der NATO gegen einen souveränen Staat war weder durch ein UNO-Mandat legitimiert, noch war die Zustimmung der Parlamente der an der Militäroperation beteiligten Länder eingeholt worden.26

Gerade bei diesem Krieg wurde das Prinizp des »anderen, der angefangen hat« durch die westliche Propaganda in breitem Umfang verwendet, und zwar in einer besonderen Form, die bereits Arthur Ponsonby aufgefallen war: Weil der Feind unsere Stärke verachtet und unterschätzt, können wir uns nicht länger abwartend verhalten, sondern sind gezwungen, ihm unsere Macht zu demonstrieren.

Dieses Argument war vorher schon mit aller Deutlichkeit gegen Saddam Hussein ins Feld geführt worden: 1990 hatte dieser die internationale Gemeinschaft herausgefordert (das Wort verlangt natürlich nach einer Analyse!) indem er in Kuweit einmarschierte (oder, je nach Sichtweise, Kuweit dem Irak zurückgab!). Als die französische Tageszeitung Le Soir am 2. August 2000 an den zehnten Jahrestag dieses Ereignisses erinnerte, das Anfang 1991 den ersten Golfkrieg ausgelöst hatte, war auf der Titelseite zu lesen: »Am 2. August 1990 forderte Saddam in Kuweit die Welt heraus«.

Auf die gleiche Art behauptete die westliche Propaganda 1999, Jugoslawien habe die NATO herausgefordert und sie dazu gezwungen, mit militärischer Gewalt zu reagieren. Am 18. Januar 1999 schrieb Le Soir: »Jugoslawien hat die NATO mit unglaublichem Zynismus herausgefordert: Wird die weltweit größte Armee ihre abwartende Haltung noch lange rechtfertigen können?« Und Le Monde titelte am 6. und 7. August 2000: »Die neuen Provokationen [Hervorhebung der Autorin] des Slobodan Milosevic«.

Die NATO behauptete damals, auf eine serbische Kampagne »ethnischer Säuberungen« gegen Kosovo-Albaner reagieren zu müssen. Rückblickend jedoch bestätigen internationale OSZE-Gutachten interne Dokumente der deutschen Bundesregierung: Als die NATO am 24. März Jugoslawien zu bombardieren begann, regaierte Belgrad mit einer systematischen Kampagne von Gewalt gegen die albanische Mehrheit im Kosovo. Vor diesem 24. März hatten sporadisch Ausschreitungen der Polizei gegen die Albaner im Kosovo stattgefunden, bei denen man jedoch keineswegs von »ethnischen Säuberungen« sprechen konnte.27 Um jedoch die Bevölkerungen im Westen von der Rechtmäßigkeit des militärischen Vorgehens gegen Jugoslawien zu überzeugen, brauchte man das Argument eines Gegenschlags.

Dem Feind also, festgemacht in der Person des feindlichen Staatsführers, sollte die gesamte Kriegsschuld angelastet werden.

Schuld am Krieg ist Saddam Hussein, »der verbrecherische Diktator […] der das Scheitern der Verhandlungen in Djeddah selbst herbeigeführt hat, […] indem er internationales Recht gebrochen und provoziert hat.«28 Schuld am Krieg ist Slobodan Milosevic, der überdies in seiner Kompromißlosigkeit die westlichen Friedensvorschläge in Rambouillet abgelehnt hat.29 Le Vif-L’Express titelte am 7. Mai 1999: »Dem Diktator von Belgrad kommt eine erdrückende Verantwortung zu für das Elend des serbischen und albanischen Volkes«.

Auch auf die jüngsten Konflikte nach dem 11. September 2001 läßt sich dieses Propagandaprinzip anwenden. Diese Kriege waren ebenfalls auf beiden Seiten von Kampagnen begleitet, in denen betont wurde, daß die jeweils andere Seite den Krieg bewußt herbeigeführt habe. So versicherte zum Beispiel Colin Powell während des zweiten Irakkrieges: »Wir Amerikaner sind nicht kriegslüstern. Einen Krieg zu führen, widerstrebt uns zutiefst.«30 Und Tony Blair argumentierte: »Wir haben diesen Krieg nicht gewollt. Doch durch seine Weigerung, die Produktion seiner Massenvernichtungswaffen aufzugeben, läßt uns Saddam keine andere Wahl als zu handeln.«31

Wenn ein Angriff wie eine »Antwort« aussehen soll, muß der Feind uns »provoziert« haben. Schon ein banaler Vorwand oder ein Ereignis ohne wirklichen Bezug zum Konflikt kann als Anlaß zur Kriegserklärung fungieren. Eine Woche vor der Bombardierung Afghanistans titelte Le Soir: »Die Taliban und Bin Laden fordern die Vereinigten Staaten heraus«32, was unweigerlich den Gedanken an »Erwiderung« aufkommen läßt, Erwiderung auf den Angriff gegen das World Trade Center, auch wenn unklar ist, inwiefern die »Befreiung« Kabuls (oder später Bagdads) weitere Attentate wie das in New York, Bali oder Mombasa verhindern sollte. Um einen militärischen »Gegenschlag« rechtfertigen zu können, wurde ein Terrorakt kurzerhand zum Kriegsakt erklärt. So gesehen kam der Angriff auf das WTC einer Kriegserklärung gleich. Und um den zweiten Irakkrieg rechtfertigen zu können, benutzte man als Vorwand die Nachricht– die sich später als falsch herausstellte –, daß der Irak in Niger angereichertes Uran bestellt habe. Man brauchte den »Beweis«, daß die nukleare Bedrohung von Seiten Iraks eine reale Gefahr darstellt.33 Der Aggressor konnte seinen Angriff somit als legitime Notwehr rechtfertigen.

Selbst der einseitige Angriff auf Basra im Süden Iraks im März 2003 wurde im britischen Radiosender Sky News mit dem Satz kommentiert: »Unsere Artillerie hat zum Gegenschlag ausgeholt«. [Hervorhebung der Autorin]. Unter Bezug auf militärische Quellen hatte Sky News dieser Ankündigung Informationen vorausgeschickt (die natürlich später dementiert werden mußten), in denen es hieß, daß »ein Volksaufstand ausgebrochen ist, der von der irakischen Artillerie niedergeschlagen wurde.«34 Die Koalitionstruppen hätten damit also einfach nur eine ganz legitime Revolte unterstützt. Darüber hinaus ist ein Angriff manchmal unvermeidlich, wenn es gilt, die drohende Verletzung des eigenen Territoriums zu verhindern.

Kriege brechen also aus, weil Milosevic, Bin Laden oder Saddam Hussein sie bewußt herbeigeführt und provoziert haben. Letzterer ist für die Medien inzwischen nur noch kurz und bündig »Saddam«, ein Name wie ein Slogan.

Daß der Regierungschef des feindlichen Lagers so stilisiert wird, ist kein Zufall. Denn das dritte von Ponsonby herausgearbeitete Prinzip unterstreicht die Notwendigkeit, den Feind zu personifizieren. Und das geht am besten mit dem Führer des feindlichen Lagers.

Die Prinzipien der Kriegspropaganda

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