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Katzenträume Hans · 1967

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Die Mutter rief Hans am Abend gegen zehn Uhr an: »Der Arzt hat gesagt, dass es bald zu Ende geht.« Ihre Stimme klang müde und kaum aufgeregt.

In dieser Nacht träumte Hans, dass die Mutter den Vater, der mit einer Kopfwunde auf dem Boden lag, alleine ließ. Wie jeden Abend hatte der Vater ferngesehen und die Mutter widerwillig auf ihn gewartet, um ihn ins Schlafzimmer zu tragen. Als der Vater sich an ihrem Hals festklammerte, damit sie ihn huckepack nehmen konnte, bewegte sie heftig ihren Kopf und ihre Schultern, weil sie an seinem festen Griff zu ersticken glaubte. Der Vater fiel zu Boden, schlug mit dem Schädel gegen den Ofen, während die Mutter röchelte, ins Schlafzimmer eilte und die Tür zweimal abschloss.

Hans erwachte mit klopfendem Herzen, wischte sich mit dem Schlafanzughemd den Schweiß vom Oberkörper und wusch sich am Waschbecken seines kleinen Pensionszimmers. Er würde schriftlich für ein paar Tage Urlaub beantragen, unter diesen Umständen müsste es der Leiter des Herbariums akzeptieren.

Im Krankenzimmer drückte Hans die warme, schwielige Hand des Vaters, der unverändert wirkte. »Hier verrecke ich bestimmt«, hörte Hans den Vater sagen und dachte, dass er genauso reden würde, wenn ein Arzt oder eine Schwester im Zimmer wären. Auf einem Stuhl etwas abseits vom Bett saß die schlafende Mutter, deren Kopf auf die Brust gesunken war. Die Gerüche von Desinfektionsmittel, Kaffee und Bohnerwachs konnten den Schweißgeruch der Mutter und des Vaters nicht überdecken. Hans stand unbeholfen neben dem Bett, weil ein zweiter Stuhl fehlte.

Über das Gesicht des Vaters zog jäh ein Ausdruck von Schmerz, er kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Hans fasste ihn an der Schulter und am Rücken und drehte ihn auf die Seite. Der Vater stöhnte leise. Schließlich streckte Hans seinen Arm nach dem Knopf neben dem Bett aus, aber der Vater fuhr unwirsch mit der Hand durch die Luft: »Lass, Junge, die brauch ich nicht, die pfuschen nur an mir rum.«

Nachdem die Mutter aufgewacht war, lösten sie sich bis zum Abend ab, so dass immer einer von beiden beim Vater blieb, ihm eine Tasse reichte oder beim Essen half, ihn halb aufrichtete, wieder hinlegte, gelegentlich ein paar Worte mit ihm wechselte, eine zweite Decke holte und sie wieder fortnahm, wenn ihm zu warm wurde.

Bei der Verabschiedung versprach die Mutter dem Vater, ihn am nächsten Tag erneut zu besuchen. Als Hans bestätigend nickte, sagte der Vater: »Hilf du mal der Mutter.«

Im Bus sprachen die Mutter und Hans nicht miteinander. Hans spürte, wie die warme, fleischige Hüfte der Mutter durch den Wollstoff gegen seine eigene drückte. Sein schneller werdender Atem und die Hitze, die ihm ins Gesicht stieg, störten ihn, doch im voll besetzten Bus konnte er nicht von der Mutter abrücken und ein Bein in den Gang stellen, weil die Fahrgäste dann schwerlich bis zum Ausgang durchkamen.

Zu Hause bereitete die Mutter ein schnelles Abendessen mit Ziegenkäse, Leberwurst und Brot aus dem Konsum. Hans erinnerte sich an einen Abend bei Margrets Eltern, an dem er sich gewundert hatte, dass es in der Stadt so gutes Essen gab, und Margrets Mutter, nicht ohne Stolz, von einem Laden erzählt hatte, in dem man nur an Universitätsangestellte und deren Angehörige verkaufte. Das Essen seiner Mutter schmeckte Hans sonst wunderbar, aber heute war sein Appetit ebenso gering wie der der Mutter. Die Stille im Haus erzählte vom Vater.

Nach dem Abendbrot bot ihm die Mutter an, neben ihr im Bett des Vaters zu schlafen, weil in der oberen Etage nicht geheizt sei. Hans wusste, wie kalt es im Oktober in der Dachkammer sein konnte. Gegen Mitternacht stieg er die Treppen hinauf, verhängte das Fenster mit einer Decke, nahm sich einen seiner früheren Schlafanzüge aus dem Schrank und vergrub sich fröstelnd unter die klamme Federbettdecke.

Am nächsten Morgen fuhr die Mutter nach dem Frühstück zum Vater. Hans begleitete sie in den Garten. Der Weg vom Schuppen zur Haustür war – anders als bei Hans’ letztem Besuch – zur Hälfte mit steinernen Platten belegt. Wo die Platten endeten, begann ein flacher, sich bis zum Schuppen hinziehender Graben. »Hat alles der Vater gemacht«, sagte die Mutter, »sogar die Platten gegossen. Hat sich beim Legen mit dem ganzen Körper auf die Arme gestützt und ist vorwärts gerutscht. Hatte manchmal wunde Knie danach, hat aber am nächsten Tag weitergemacht. Merkt ja nichts in den Beinen.« Hans staunte, wie genau eine Platte an die andere grenzte, er würde Mühe haben, ebenso sorgfältig wie der Vater zu arbeiten.

Im Schuppen fand er eine Schubkarre und belud sie mit den Platten, deren Gewicht seine Arme und Schultern nach unten zog, sobald er die Karre ein Stück vom Boden abhob. Beim Praktikum auf dem Gut musste man Kartoffeln körbeweise zum Hänger schleppen. In den Jahren danach hatte Hans nicht mehr körperlich gearbeitet, sondern an Exkursionen teilgenommen, Protokolle geschrieben, Herbarien angelegt, Vorlesungen aufgezeichnet. Die Schubkarre schwankte, als er sie über die Schwelle der kleinen Holzhütte rollte. Während er die Karre balancierend vorwärts schob, schaute er nach unten. Der leichte Schmerz oberhalb seiner Schulterblätter würde kaum eine halbe Minute andauern. Plötzlich sprang ihre Katze auf ihn zu, die er am Abend zuvor vermisst hatte. Sie streunte häufig durchs Dorf und fauchte die Menschen an, nur in Hans’ Gegenwart schnurrte sie.

Vor Schreck hielt Hans die Karre an, so dass sie umkippte und ein paar Platten herausrutschten, wobei eine unter dem Gewicht der anderen zerbrach. »Katzen bringen Unglück«, sagte die Mutter für gewöhnlich, »zertrampeln die Beete, verderben die Ernte. Meistens sind’s schwarze.« Vielleicht hatte sie Recht. So sehr die Katze Hans am Abend zuvor gefehlt hatte, so vehement schüttelte er nun sein Bein, an das sie sich schmiegte. Sie war ihm nie ganz geheuer gewesen, obwohl er ihre Anhänglichkeit mochte. Der Vater ärgerte sie gern, indem er sie am Schwanz oder an den Ohren zupfte, leises Bellen nachahmte oder den Hund auf sie jagte.

Als Kind hatte Hans jahrelang Nacht für Nacht von tiefschwarzen, funkeläugigen Katzen geträumt, die sich unversehens in schwarzhaarige Hexen verwandelten. Die Hexen stießen Flüche aus. Wenn die Hexen ihm in den letzten sechs Nächten des alten oder den ersten sechs Nächten des neuen Jahres erschienen, würden ihre Flüche in Erfüllung gehen. Hatte die Mutter gesagt. Auch wenn sich bis heute keiner der Flüche erfüllt hatte, könnte es eines Tages, nicht nur zum Jahreswechsel, geschehen. In jenen zwölf Winternächten jedoch bemühte Hans sich bis heute, ohne Schlaf auszukommen. Jedes Jahr fielen ihm nach der ersten durchwachten Nacht die Augen zu. Der Schlaf überkam ihn entweder auf dem Sofa, am Frühstücks- oder Mittagstisch im Haus der Eltern, die er über Weihnachten besuchte, oder auf dem Fußboden eines Geschäftes, nachdem er sich in einer verborgenen Ecke erschöpft niedergelassen hatte. Die Träume aber schwanden nicht.

Zum Glück konnte er sich an keinen Traum der vergangenen Nacht erinnern. Er hatte vor dem Einschlafen nicht einmal daran gedacht, dass er einen dieser Träume haben könnte.

Die Katze schlich lautlos um sein rechtes Bein. Hans trat kurz nach ihr, doch als sie maunzte, beugte er sich zu ihr hinab und legte seinen Kopf an ihr Fell. Die Mutter soll zum Teufel gehen mit ihren Weisheiten, dachte er und erschrak über seinen Gedanken. Er schleppte die zerbrochene Platte zurück zum Schuppen und begann mit der Arbeit.

Als die Mutter am frühen Abend aus der Stadt zurückkehrte und vom Gartentor über den Rasen hinunterstapfte, dem Graben auswich und neben Hans innehielt, trug Hans nur noch Trainingshose und Unterhemd, und der Schweiß perlte von seinem Gesicht auf die Erde. »Du wirst dich erkälten«, sagte die Mutter mahnend, doch Hans hörte kaum hin. Er hatte acht Stunden benötigt, um zunächst die Erde zu ebnen, von Steinen zu befreien, Sand aufzuschütten und danach jede einzelne der vier Platten zu legen. Mehrere Male musste er die Platten verschieben, wobei der Sand darunter seine Form verlor.

Dem Vater gehe es etwas besser, sagte die Mutter, die Ärzte wollten es allerdings nicht glauben. Hans antwortete, dass er es glaube, weil der Vater nicht so einfach aufgebe. Manchmal könnte man gar vergessen, dass er krank sei.

Die Mutter schaute ihn verwundert an.

»Ich geh Holz hacken«, erwiderte sie.

In der Nacht leuchtete das Federbett weiß. Hans blickte hinauf zur Tapete an der Dachschräge, über die schwarze Katzen huschten. Er dachte an Margret, die blond war, und spürte, wie sein Geschlecht steif wurde. Er berührte sich, zog die Hand aber sogleich zurück. Die schwarzen Katzen kreischten und machten ihn zittern. Sein Herzschlag beschleunigte sich, gleichzeitig schien die Wärme allmählich aus seinem Körper zu weichen. Plötzlich hatte er ein Foto vor Augen, auf dem die Mutter in einem schwarzen Kleid auf der Armlehne eines Sessels saß, ganz jung, die Hände im Schoß gefaltet, ein silbernes Kreuz um den Hals und mit schmalen Lippen lächelnd. Hinter ihr stand der Vater im Anzug, sein rechter Arm war halb zu sehen, so dass seine rechte Hand entweder den Rücken der Mutter oder die Sessellehne berührt haben musste. Vor dem Vater, in weißem Rollkragenpullover und weißen, gestrickten Kniestrümpfen stand er selbst, mit glatt gekämmtem Seitenscheitel.

Der Pfarrer hatte gesagt, man fasst sich nicht an. Die Mutter hatte gesagt, man fasst sich nicht an. Der Vater hatte geschwiegen.

Frierend erhob sich Hans, tappte leise die Stufen hinunter und blieb einen Moment zwischen der Kellertür und dem Schlafzimmer der Eltern stehen. Dann ging er in den Keller. Während er Kohlen in den Blecheimer schaufelte, hörte er dumpfe Schritte auf der Treppe. Unter dem Nachthemd der Mutter, die ihn sonderbar wach anblickte, zeichneten sich ihr großer Busen und ihr weicher Bauch ab. »Kohlen sind teuer«, sagte sie, ehe ihr Blick vom Kohleeimer zu Hans’ Schlafanzughose wanderte.

Fortan bot sie ihm nicht mehr an, neben ihr zu schlafen, auch wenn es von Nacht zu Nacht kälter wurde. In Hans’ Träumen wirbelten Hexen und verschiedene Tiere herum, die ihn verfolgten, aber niemals zu fassen bekamen. Einmal wurde er in den frühen Morgenstunden wach, und als er die Mutter unten in der Küche hantieren hörte, wäre er gern zu ihr geeilt, um sich von ihr trösten zu lassen.

Wenige Tage darauf schob Hans den dreirädrigen Wagen des Vaters hinüber zur Haltestelle und rollte ihn nah an die Bustür heran, bevor die Mutter mit dem Vater auf dem Rücken ausstieg. Hans griff den Vater unter den Achseln; zu zweit setzten sie ihn in den Selbstfahrer. »Die kriegen mich nicht unter«, lachte der Vater.

Hans und die Mutter wickelten den Keilriemen um die Antriebswelle, die seitlich am Wagen angebracht war, und traten dann vom Selbstfahrer zurück. Mit einer kräftigen, ruckartigen Bewegung zog der Vater an dem Lederriemen. Heute gelang es ihm beim ersten Mal, den Motor zu starten. Im Fahren winkte der Vater bald rechts, bald links den Dorfbewohnern, die ihre Gardinen beiseite schoben und zu ihm herüberblickten. Hans überlegte, ob die Leute im Dorf, wenn sie nicht arbeiteten, so häufig wie früher an ihren Fenstern auf Vorübergehende oder Vorüberfahrende warteten; ob das Geräusch des nahenden Selbstfahrers sie aus Gewohnheit zum Fenster lockte, oder weil sie sich vergewissern wollten, dass ihre Spenden für das Gefährt sinnvoll gewesen waren.

Als der Vater den Wagen über den Rasen am unfertigen Gartenweg vorbeilenkte, sagte er leise zu Hans: »Lass die Platten bitte für mich.« Erstaunt betrachtete Hans die von ihm gelegten Platten und konnte nur geringe Unterschiede zwischen seiner Arbeit und der des Vaters entdecken. Da der Blick des Vaters weder Unzufriedenheit ausdrückte noch vorwurfsvoll wirkte, ahnte Hans, dass seine Bitte etwas anderes meinte. Die Tiere füttern und schlachten, das Gras mähen, das Holz zerkleinern und auf dem Dachboden stapeln – das konnte der Vater nicht.

Im Haus hob Hans zusammen mit der Mutter den Vater aus dem Wagen, stellte ihm einen Stuhl hin, auf dessen Lehne der Vater sich stützte und vorwärts schob, während die Mutter den Sitz niederdrückte. Dann begab sich Hans erneut in den Garten. Die Mutter hatte das Gras bereits vor Wochen abgemäht, gewendet, trocknen lassen und auf dem Boden über der Dachkammer geschichtet. Die verbliebenen Stoppeln wirkten borstig.

Hans versuchte sich vorzustellen, wie die Mutter vor dem Krieg gewesen war, als der Vater noch gesunde Beine hatte und er noch nicht geboren war.

Nach der Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft nahm die Mutter Hans jeden Tag mit zum Hof des Großvaters oder zu dessen Feld, das unweit des Hofes eine überschaubare Fläche einnahm. Der Großvater war Vorarbeiter bei den Rostöfen und selten zu Hause. Die Mutter traf dort ihre Schwestern, deren Kinder bereits zur Schule gingen. Hans streichelte das dünne, weiche Fell der Kaninchen, legte Muster aus Grashalmen oder beobachtete von einer flachen Mauer aus, wie die braunen Hühner gierig die wenigen hingestreuten Körner aufpickten. Oft hatte er Hunger und knabberte an Löwenzahnblättern. Als er in die Schule kam, arbeiteten Hans und die Mutter einige Monate lang gemeinsam, während der Vater weiterhin Tag für Tag in die Glasfabrik des Nachbardorfes fuhr. Die Mutter schlug Hans die rohen Kartoffeln aus dem Mund, in die er beim Auflesen hineinbiss, und verbot ihm das Betteln im Konsum. Mit geröteten Händen zeigte sie ihm das Ziegenmelken und führte seine Hände an das Euter. Sie kochte aus Kartoffeln, Butter und Milch schmackhafte Mahlzeiten und ließ Hans beim Schlachten zusehen, um es ihm beizubringen. Sie schickte ihn mit anderen Jungen zum Ziegenhüten auf die große Wiese. Aber sie wusste nicht, dass Hans die Ziege anpflockte, sobald einer von ihnen den mitgebrachten Gummiball hochwarf, um Kopfball zu spielen. Später brachte die Mutter ihm in ihrem eigenen Garten das Mähen bei, doch selten glitt die Sense bei Hans genauso geschwind und geschmeidig über den Grasstreifen wie bei ihr. Stets blieben einzelne Halme aufrecht, die er geduldig ausriss, bis die Fläche wie gleichmäßig geschnitten wirkte.

An den Sonntagen gingen sie zu dritt in die kleine Schieferkirche auf dem Hügel am Dorfrand. »Dort muss man hin, damit es danach Kaninchenfleisch und Klöße gibt«, flüsterte der Vater Hans einmal mit leisem Lachen zu. Später sagte er: »Geht ohne mich, anstelle des Wagens passen drei Fromme hinein.«

Kaum dass Hans neben der Mutter auf der harten Holzbank Platz genommen hatte, breitete die Mutter eine Wolldecke über Hans’ und ihre Knie. Dennoch fröstelte Hans sogar im Sommer, während die sonore Stimme des Pfarrers in den dämmrigen Raum tönte. Die Geschichten, die er von der Kanzel herab erzählte, klangen wie alte Märchen. Die Mutter erzählte sie Hans meist noch einmal vor dem Schlafengehen, und Hans erkannte sie ein ums andere Mal wieder, obgleich die Mutter sie verkürzte und in einfacheren Worten erzählte. Es blieben Geschichten von Bösen, die bestraft, und Guten, die belohnt werden. Je größer die Leiden waren, denen man sie aussetzte, desto höhere Anerkennung genossen sie später. Stets klangen die Worte der Mutter, als ob die Männer und Frauen in den Geschichten unter ihnen weilen würden. Diese Worte hallten noch lange in Hans nach, und selten gelang es ihm, die eindringlichen Blicke des Pfarrers und der Mutter während des Erzählens zu vergessen.

Nach der Konfirmation nahm ihn der Pfarrer beiseite und fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, selbst Pfarrer zu werden. Hans war verwirrt und sprach einige Tage lang mit niemandem darüber, bevor er den Pfarrer aufsuchte, um ihm zu sagen, dass er es nicht wolle. »Warum nicht?«, fragte der Pfarrer mit leicht näselnder Stimme, fasste ihn am Arm und drehte Hans’ Gesicht der Kanzel zu. »Die Menschen werden dir zuhören und du wirst gutes Geld verdienen. Auch hier in diesem Land.« – »Man braucht andere Berufe genauso«, antwortete Hans ausweichend.

Im darauffolgenden Jahr feierte er als einer der Ersten aus dem Dorf Jugendweihe, woraufhin der Pfarrer ihm verbot, die Dorfkirche jemals wieder zu betreten.

Hans schaute vom Gartentor zu den Streifen klumpiger Erde hinüber, auf denen im kommenden Jahr wieder Kartoffeln und Rüben wachsen würden. Neben den beiden braunen Beeten blühten dunkelrote und gelbe Chrysanthemen, dahinter sah Hans die drei kleinen Johannisbeersträucher, deren Früchte er an unzähligen Sommertagen in Tassen, Kannen oder Töpfe gepflückt hatte. Eigenartig, dass die Mutter als Erste vorschlug, er solle fortgehen in die Stadt. Manchmal zog es ihn tatsächlich an einen anderen Ort, keinen bestimmten – aber hätte er von allein die Wälder, diesen Garten, die Tiere, das Haus verlassen? Die Mutter sagte, wenn er so gut in der Schule sei, müsse er die Oberschule besuchen und später studieren. Vielleicht komme er ja eines Tages gemeinsam mit seiner Frau zurück. Auch im Dorf brauche man Ärzte und Ingenieure. Der Vater pflichtete ihr bei: Er habe das Zeug zu einem Studierten.

Hans lief langsam zurück zum Hauseingang. In der Wohnküche bereitete die Mutter mit ernstem Gesicht das Abendessen, derweil der Vater eine von ihren Socken stopfte und vor sich hin pfiff. Hans schloss die Küchentür hinter sich und stieg die knarzenden Stufen zur zweiten Etage hinauf. Auf dem Stallboden lag das Heu wie abgeschnittene Haare eines fremden Lebewesens. Als er das zweite Bündel griff, fiel sein Blick auf die Esse am Rand des Dachbodens. Vielfach war in seinen nächtlichen Träumen ein loderndes Feuer ausgebrochen, welches durch das in der Nähe des Schornsteins gelagerte Heu entzündet worden war und sich über das ganze Haus – das einzige Hab und Gut ihrer Familie – ausgebreitet hatte. Eilig schloss Hans die Luke zum Dachboden. Unten musste er, nachdem er den ersten Kaninchenstall geöffnet hatte, das Futter in einer hinteren Ecke des winzigen vergitterten Kastens platzieren, damit das Kaninchen nicht heraussprang. Einmal mit Fressen beschäftigt, würde es die Enge nicht mehr stören, ebenso wie die anderen Kaninchen, die Hans nacheinander fütterte. Ohnehin würden sie alle früher oder später geschlachtet werden.

In der Wohnküche dampften Kartoffelklöße in einer weißen Schüssel auf dem Tisch. Der Duft von Kaninchenfleisch erfüllte den Raum. Hans’ Blick fiel auf den kleinen Abreißkalender über dem Sofa. Viel mehr Blumen während des Lebens / denn auf den Gräbern sind sie vergebens. Heute war Donnerstag. Als Hans jedoch sah, mit welcher Freude der Vater aß, wie er das Essen pries, die Mutter lobte, vom Krankenhaus erzählte und lachte, war er der Mutter für die Mahlzeit dankbar, wenngleich er selbst kaum etwas essen konnte. Vor einigen Tagen hatte ihm die Stille den Appetit verdorben. Nun erfüllte das Lachen des Vaters die Küche. Auch das Haus sprach zu ihm, mit unheimlichen, lange vergessenen Stimmen.

Die Mutter erhob sich zuerst und drehte den Abwaschtisch mit den beiden Emailleschüsseln aus dem Küchenschrank heraus. Sie füllte den Wasserkessel, griff nach den Streichhölzern, und als der Kessel nach wenigen Minuten pfiff, goss sie kaltes Wasser in die linke Emailleschüssel und heißes Wasser aus dem Kessel dazu. Dann umfasste sie die Lehne des Stuhls, auf dem der Vater saß, winkte Hans zu sich, und sie schoben den Vater gemeinsam an das Abwaschbecken heran. Hans griff nach einem mit Schaum überzogenen Teller, den der Vater in die rechte Schüssel legte, und rieb ihn mit dem Geschirrtuch trocken.

Später schaute der Vater auf dem Sofa liegend fern. Die Mutter ruhte sich einen Moment aus, und Hans setzte sich zu ihr an den Esstisch. Nach kurzer Zeit stand sie wieder auf. Hans fragte sie, ob sie von den Jungen gehört habe, mit denen er einst zum Ziegenhüten gegangen war. »Sie wohnen noch im Dorf«, antwortete die Mutter und deutete mit ihren Armen in einander entgegengesetzte Richtungen. »Einer arbeitet vorn im Werk, der andere in der LPG.« Als ob die Mutter seine Überlegung erraten hätte, sagte sie zu Hans: »Sie haben beide kleine Kinder, du kannst um diese Zeit nicht mehr hingehen.« Und beiläufig, während sie mit dem Lappen über den Herd wischte, fragte sie mit Seitenblick auf Hans: »Bei euch noch nichts in Sicht?«

Hans wurde rot und schüttelte den Kopf. Er bat die Mutter, ihn zu rufen, sobald der Vater zu Bett gehen wolle. Oder der Vater könne selbst nach ihm rufen, dann brauche sie nicht wach zu bleiben. Während Hans sich durch die Tür drückte, um zur zweiten Etage hinaufzusteigen, flüsterte die Mutter ihm zu, dass sie gern mehr Kinder gehabt hätte.

Er hatte mit Margret nicht über Kinder geredet. Sie würden wohl irgendwann kommen. Manchmal wehrte Margret ihn ab, dann hatte sie sicher ihre Tage – oder Angst, schwanger zu werden. Er wusste nicht, welche die passenden Worte waren. Lieber respektierte er, dass sie nicht mit ihm schlafen mochte. Als er sie in ihrer Hochzeitsnacht das erste Mal nackt gesehen hatte, wäre er gern davongelaufen. Geschlafen hatten sie nicht miteinander, Margret hatte ihn stattdessen zugedeckt und ihren Kopf in seine Achselhöhle gedrückt, bis sein Zittern nachgelassen hatte. Trotz unzähliger Versuche schliefen sie erst Wochen später miteinander. Danach dauerte es lange, ehe Margret, nun zitterte sie, sich ihm wieder öffnete.

Hans sprang auf, als die Mutter ihn rief. Unten empfing ihn die wohltuende Wärme der Wohnküche. Die Mutter half dem Vater, sich aufzurichten, derweil Hans einen Stuhl vor das Sofa schob, sich darauf setzte und seinen Rücken rund machte. Nachdem der Vater seine Arme von hinten um Hans’ Hals gelegt hatte, stand Hans auf und trug den Vater hinüber ins aufgeschlagene Federbett. Nie vergaß der Vater, wenn er zur Zimmerdecke blickend im Bett lag, sich zu bedanken. Auf dem weißen Laken wirkten seine dürren Beine grau. Hans deckte den Vater zu und wünschte eine gute Nacht, ehe die Mutter wie mit letzter verbleibender Tageskraft die Schlafzimmertür hinter sich verschloss.

Obwohl das Haus hellhörig war, vernahm Hans zehn Minuten später lediglich das rasselnde Schnarchen des Vaters. Bevor er morgen aufbrechen und zurück in die Stadt fahren würde, wollte er sich bei Tageslicht auf die weite Wiese stellen, auf der damals die Ziege gegrast und er mit den Jungen Kopfball gespielt hatte, und den Wind im Rücken spüren, der ihm das Haar zerwühlte. Über die zum Wald hin sanft abfallende Wiese, an den Moosen, Bächen und abgebrochenen Ästen vorüber würde er gern eines Tages mit Margret wandern, so wie sie einst auf dem Gut spazieren gegangen waren. Der durch die Luft fliegende schmutziggelbe Gummiball kam ihm in den Sinn, die an der schmalen Straße stehende Mutter, die ihn zum Haus des Großvaters zurückrief, die weiße Ziege, die meckernd neben ihm trottete, der Vater, der immer öfter zu Hause saß, weil ihm die Beine nicht mehr gehorchten, und schließlich sah er verschwommen und schemenhaft auf der anderen Seite des Waldes ein katzenähnliches Wesen von unbestimmbarer Farbe.

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