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Schützender Panzer Friedrich · 1968

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Noch ist die durch das Fenster meines Arbeitszimmers eindringende Luft kühl. Vom Garten her meine ich den Duft der Sauerkirschen, die Marie in den kommenden Tagen ernten wird, wahrzunehmen, einen Hauch, schwach gegen das gläserne Rot der Früchte im Morgenlicht.

Ich drehe den Radioknopf im Uhrzeigersinn, die ruhige Stimme des Sprechers wird lauter. Obwohl es erst acht Uhr ist, hat das Telefon heute bereits mehrere Male geklingelt. Man sagte mir, ich solle mich darauf einstellen, dass es Unruhen an der Universität geben könne, und die Namen der Studenten mit abweichlerischen Meinungen notieren.

Auf meine Vorlesung brauche ich mich nicht vorzubereiten. Ich weiß, was ich sagen werde, auch wenn ein Student eine unerwartete Frage stellt. All diese Siege hätten wir nicht ohne die Sowjetarmee errungen. Wir sollten sie nicht verhöhnen oder beschimpfen, wie es im Westen derzeit Mode ist, sondern ihr unser Vertrauen entgegenbringen. Wie kann der Westen die heutige Situation mit der damaligen vergleichen, wie einen Krieg orakeln – ohne von Schuld, von Gerechtigkeit zu sprechen? Wie die menschenverachtende Ideologie des Faschismus mit der Idee der Befreiung des Menschen von Ausbeutung durch den Menschen gleichsetzen?

Der Weg zum Kommunismus ist lang und steinig, das weiß jeder, der heute noch zu uns gehört. Aber war nicht die Oktoberrevolution, der Sieg der Arbeiter, der nach Gerechtigkeit hungernden Menschen über die Aristokraten, war nicht dieser Sieg, der den Sozialismus begründete, unvergleichlich schwieriger? Und hat der Kampf gegen den Faschismus von uns nicht das Äußerste an Mut und Aufopferung, an geistiger und körperlicher Kraft gefordert?

Damals, noch vor dem Machtantritt Hitlers, habe ich den Kriegsausbruch bereits geahnt und gefürchtet. Deshalb brach ich nach Prag auf, um dort meine Dissertation zu schreiben. Wie oft haben die Menschen, kaum war ein Krieg beendet, mit Schrecken an einen kommenden gedacht? Jetzt denken sie wieder daran, wobei die wirkliche Gefahr nicht von den Panzern auf dem Wenzelsplatz ausgeht, sondern von der unaufhaltsamen atomaren Aufrüstung der westlichen Länder. Seit Jahren rede und schreibe ich gegen das Dogma an, dass es ein Interesse der sozialistischen Länder gäbe, weitere Atomwaffen zu bauen, weil es ganz und gar gegen unsere Erfahrungen und die kommunistische Grundidee spricht. Die Unterdrückten sollen ein Recht auf ein Leben frei von Hunger und Abhängigkeit haben – wie lässt sich das mit den Grauen des Krieges vereinbaren? Wie mit der vollständigen Vernichtung der Menschheit?

Was die Faschisten dem sowjetischen Volk angetan haben, verpflichtet uns zu unbedingtem Beistand. Heute noch schäme ich mich, weil ich bis zum Ende des Krieges in der Wehrmacht diente. Auch mich vermochten die Faschisten in den Jahren vor Ausbruch des Krieges zum Schweigen zu bringen.

Ich habe nie erfahren, wie sie uns ausfindig machten. Jedenfalls wedelten sie, nachdem wir Papier und Stifte, die Schreibmaschine und den Vervielfältigungsapparat oberhalb der Bodenluke versteckt und zwei Genossen ihnen ganz ruhig die Tür geöffnet hatten, bereits mit einem unserer Flugblätter. Sekunden danach konnte ich meine Hände kaum noch bewegen. Mein Trommelfell schien unter ihrem Gebrüll zu vibrieren. Erst als ich in der Zelle lag, begann ich allmählich wieder Geräusche wahrzunehmen. Später wünschte ich mir oft, taub zu sein, wenn ihre Stimmen zwischen den Verhören aus den Wänden drangen. Die quäkende Stimme des großen Schwarzhaarigen, die zunächst sanft und rund anklang, dann spitze Ecken bekam, Töne wie Gewehrsalven abgab, und die schließlich, seinen scheinbaren Zorn intonierend, nahe an meinem Ohr anschwoll, so dass mein Kopf zu zerplatzen drohte. Andere wählten eine verwirrendere Reihenfolge. In den Nächten bemühte ich mich, ihre Methoden zu analysieren, und hatte dabei, trotz meiner körperlichen Schwäche, das Gefühl, stark zu sein – aber nur so lange, bis sie Rosa oder ein anderes Baby im Nebenzimmer schreien ließen. Sie zeigten mir den Säugling nicht. Wenn sie erkannt hätten, wie es mir ging, hätten sie mir ohne Weiteres die Namen befreundeter Genossen entlocken können.

Wenige Tage darauf kaufte mich mein Onkel frei und schärfte mir ein, mich künftig still zu verhalten, mich nicht abzusondern oder zu verweigern, wenn ich eingezogen werden würde.

Er sprach nie darüber, mit wem er verhandelt noch wie viel er gezahlt hatte.

An der Front erzählte ich niemandem, dass ich im Gefängnis gewesen war. Danach jedoch, während der Gefangenschaft, zeigte ich den Engländern die schmuddeligen, zerknickten Papiere, auf denen die Daten meines Gefängnisaufenthaltes vermerkt waren. Kurze Zeit darauf fuhren zwei Soldaten mit mir und einigen anderen Gefangenen nach Hamburg. Magere Bäume wuchsen zwischen dem Schutt der zerbombten Gebäude. Das Militärauto hielt vor einem höheren, unzerstörten Haus. Die beiden Soldaten händigten uns die Entlassungsscheine aus und übergaben mich zwei Administratoren, die mich in einen kleinen Raum im Erdgeschoss führten, den man mit zwei Tischen, zwei Stühlen und ein paar Spinden zu einem Büro gemacht hatte. Sie ließen mich an einem Tisch Platz nehmen, in dessen Platte Namen, Hakenkreuze und deutsche Sprüche eingeritzt waren. Der Mann, der mir erklärte, wie man Lebensmittelkarten verteilte, zuckte die Schultern: There are no other desks. Ich fragte ihn, ob er nicht wenigstens etwas darüberdecken wolle, doch dann sahen wir beide uns im Raum um und blickten durch die matte Fensterscheibe hinaus auf die über Trümmer stolpernden Menschen. Als unsere sich Blicke trafen, winkte ich ab.

Die Leute, die mit ihren Kindern fortan zu mir kamen, taten mir leid. Man sah ihnen den Hunger an. Manche Kinder fragten mich, ob ich ein Bonbon oder ein Stück Zucker für sie hätte, und ihre Mütter trösteten sie damit, dass es an diesem Abend Butter aufs Brot gebe. Weit hinten, auf der anderen Seite des Platzes, hämmerten Frauen mit kleinen Hacken aus den Trümmern Ziegel, die sie von Hand zu Hand reichten. Im Laufe der Zeit, die ich dort arbeitete, entstanden auf diese Weise drei hausähnliche Unterkünfte. Männer sah ich nur selten. Ich fragte mich jeden Tag aufs Neue, woher die Frauen die Kraft nahmen und wo ihre Kinder gerade spielten. Manchmal kamen sie zu mir herüber, sie wirkten wie in Staub eingehüllt. Ihre Gesichter und Arme waren stets von einer dünnen, pulvrigen Schicht bedeckt. Wenn sie eintraten, zogen sie ihre Wollsocken von den Händen, und ich sah die Wunden auf ihren Handflächen und an ihren Fingern.

Viele Menschen liefen gebückt und schleppend am Fenster des Büros vorüber. Erst beim Eintreten richteten sie sich auf. Nur Kinder stemmten oft beide Hände gegen die Tür und kamen hereingerannt.

Ein Dreivierteljahr später stürmten meine Kinder in den Raum. Ich erkannte sie nicht. Margret, den blonden Wildfang, sah ich zum ersten Mal, Tanja war viel schmaler, als ich sie in Erinnerung hatte. Rosa, die wie auf Stelzen hinter ihren Schwestern herlief, hätte Margrets junge Mutter sein können. Ihr Gesicht erinnerte mich vage an eine mir bekannte Person. Erst die um Jahre gealterte Johanna erkannte ich sofort.

Johanna setzte sich unvermittelt auf den steinernen Boden und weinte, sie war so knochig, dass ich meine Strickjacke auszog und ihr unters Gesäß schob. Rosa, beinahe genauso dünn, kam zu mir und blieb unsicher einen Augenblick vor mir stehen, bevor sie sich an meinen Bauch lehnte. Die beiden anderen Mädchen spielten währenddessen Fangen. Als ich Johanna fragte, ob der prall gefüllte Seesack und der kleine Koffer daneben ihr gesamtes Gepäck seien, nickte sie. Und wo sie wohnen würden? Sie nannte einen kleinen Ort in der Nähe von Bremen. Dort seien sie registriert. Mir hatten die Engländer eine Kammer in der Wohnung einer jungen Familie zugewiesen. Die Frau wartete noch immer auf die Rückkehr ihres Mannes aus der Gefangenschaft.

Nach der Arbeit schulterte ich den Seesack und nahm Tanja und Margret an die Hand. Johanna und Rosa erhoben sich mit leichtem Schwung. Im Flur des Verwaltungsgebäudes hockten Hunderte anderer Flüchtlinge. Als wir nach mehreren Stunden hereingebeten wurden, lag die Stadt bereits in einem seltsam unstädtischen, kaum durch Scheinwerfer- oder Laternenlicht unterbrochenen Dunkel. Rosa sprang vom Fenstersims, von wo aus sie schweigend die Menschen betrachtet hatte. Tanja und Margret verabschiedeten sich von einem Mädchen, mit dem sie gespielt hatten und das zum Winken die zerrissene gelbe Hand seiner Wollpuppe in der Luft hin und her bewegte.

Der Mann, mit dem ich sprach und dem ich begreiflich zu machen versuchte, dass Johanna dieselbe bevorzugte Behandlung wie ich verdiente, schüttelte den Kopf. Wo es möglich gewesen sei, hätten Familien bereits Flüchtlinge aufgenommen. Ich verlieh meinen Worten einen nachdrücklichen Ton, während er ungeduldig zur Tür sah. Als Johanna uns unterbrach, merkte ich, dass ihr Englisch ebenso gut wie früher war. Doch der Mann schüttelte wieder bedauernd den Kopf. Johanna klammerte sich an meinem Hemd fest, ehe sie mit einem Mal lautlos auf den Boden sackte. Rosa beugte sich sogleich über sie. Der Mann beeilte sich, mir die Adresse eines Arztes und eines nahegelegenen Flüchtlingslagers herauszusuchen. Rasch stellte er Johanna und den Kindern die notwendigen Papiere aus.

Unten an der Straße standen ein paar Männer vor einem schwarzen Auto und handelten mit Zigaretten. Ich fragte sie, ob einer von ihnen uns zu dem Lager am Stadtrand fahren könne, doch sie stiegen eilig ins Auto. Johanna kam mir, von Rosa gestützt, entgegen und bat mich leise und eindringlich, sie und die Kinder für eine Nacht bei mir einzuquartieren. Ich sagte ihr, dass ich auf diese Weise riskiere, meine eigene Unterkunft zu verlieren. Schließlich hielt ein Militärauto vor dem Gebäude, dessen Fahrer ich überredete, uns mitzunehmen. Wir fuhren an Ruinen vorüber, zwischen denen einzelne Gestalten durch die Dämmerung huschten, bis die Straßen in Sandwege übergingen, die in großen Abständen von Hütten gesäumt waren. Der Sand wirbelte auf, als der Fahrer bremste. Ich erkannte flache aneinandergereihte Baracken, deren Fensterrahmen hell leuchteten. Gegen Mitternacht lief ich allein zurück zu meiner Unterkunft.

Ich besuchte Johanna und die Mädchen jeden Tag. Stapfte über die bei regnerischem Wetter aufgeweichte Erde zu der morschen Holzbaracke, begrüßte höflich die anderen Familien und nahm auf einem der beiden Stahlrohrbetten Platz, die man meiner Familie zugeteilt hatte. Man lebte in stillem Respekt nebeneinander, flüsterte, wenn es möglich war, ermahnte die Kinder, nicht oder nur draußen zu toben. Die Wände waren geschwärzt von Schimmel und Ruß. Wenn die Sonne schien, lief ich mit den Kindern auf dem Lagergelände umher, wo wir Steine, Hölzer und Grashalme zum Spielen sammelten. Einmal brachte ich Johanna eine Waschschüssel mit, ein Geschenk der mich beherbergenden Familie, damit sie die Wäsche nicht länger in ihrem winzigen Kochtopf zu waschen brauchte. Später kümmerte ich mich um Lebensmittelkarten. Jedes Mal, bevor ich zu meinem Zimmer zurückging, drückte Johanna mich, als ob sie nicht sicher wäre, dass ich noch einmal zurückkäme. Während ihre Umarmungen von Tag zu Tag fester und länger wurden, schien ihre Kraft für alltägliche Verrichtungen stetig zu schwinden. Sogar das Aufstehen bereitete ihr Mühe, und ihr Gang glich dem einer alten Frau.

Nach einigen Wochen sagte Johanna, es sei besser, die Kinder vorübergehend in ein Heim zu schicken, wo sie vielleicht reichlicher zu essen und ein paar Kleider bekämen. Sie habe sich bereits kundig gemacht und erfahren, dass es in der Nähe von Hamburg ein vom Schweizer Roten Kreuz betriebenes Heim gebe, dessen Gebäude unversehrt sei und das gegen ein geringes Entgelt noch Kinder aufnehme. Obwohl es mir ungeheuerlich erschien, die Kinder so kurz nach ihrer Wiederkehr fortzugeben, widersprach ich ihr nicht. Außerdem reichte mein Geld gerade, um ihnen die Barackenmiete zu bezahlen. Als ich an diesem Tag das Lager verlassen wollte, zerrte Margret schreiend an meinen Hosenbeinen. Die Kraft und Beharrlichkeit, mit der sie sich festkrallte, verhinderten, dass ich mich unauffällig aus ihrem Griff lösen konnte. Unmittelbar neben den Kindern erwachte ein älterer Mann aus dem Schlaf und richtete sich auf. Er fasste Margret schroff am Oberarm und blickte ihr drohend ins Gesicht. »Wenn du nicht still bist, sperre ich dich da rein«, sagte er und deutete auf einen kleinen verschlissenen Lederkoffer. Margrets Schreien verwandelte sich in erschrockenes Weinen. Ich drückte sie kurz an mich und ging hinaus.

Am nächsten Tag verstaute ich einige Lebensmittel in einer Tasche, ging zum Lager, erklärte Rosa die Zugstrecke, gab ihr den Zettel mit der Adresse in die Hand, ermahnte sie, gut auf die Kleinen Acht zu geben, und, falls die Fahrt sich verzögern würde, für die Nacht eine sichere Unterkunft zu suchen. Rosa nickte schwach, keine Träne, kein Widerspruch. Johanna und ich versprachen den Kindern, sie bald von dort abzuholen. Die Kleinen tappten hinter Rosa her, ohne sich umzudrehen.

Ich besuchte Johanna wie bisher täglich nach der Arbeit, sie sprach wenig, erwähnte bloß, dass sie inmitten der fremden Menschen unruhig schlafe. Ich erzählte ihr nicht, dass ich beinahe jede Nacht davon träumte, kilometerweit verfolgt und schließlich erschossen zu werden, wobei ich jedes Mal im Moment des Schusses erwachte, taub für andere Geräusche als den Knall und das eigene Schreien. Ich träumte von Johannas Erschießung, von Rosas, Tanjas und Margrets, träumte von verstümmelten Körpern und Blut, das statt Regen vom Himmel fiel, und wenn ich schweißgebadet erwachte, war ich froh, dass ich aufstehen und arbeiten gehen konnte.

Mehrere Monate vergingen, bis ich mich um einen Lehrauftrag für materialistische Philosophie an einer Thüringer Universität bewarb. Zum Wintersemester wurde er mir erteilt. Man schrieb mir, dass die Universität sich um eine Einreisegenehmigung in die Ostzone kümmern würde. Johanna verfasste einen Brief an die Kinder und einen an die Leiterin des Kinderheims, in dem sie darum bat, die Kinder auf möglichst sicherem Weg zurückzuschicken. Als die Leiterin des Kinderheims uns den voraussichtlichen Ankunftstag der Kinder mitteilte, übertrug ich dem anderen Angestellten im Büro meine Aufgaben und eilte gemeinsam mit Johanna zum Bahnhof. Es war ein heller, warmer Tag im Frühherbst. Ich wusste nicht, ob Johanna, die sich auf dem Weg zum Bahnhof bei mir einhakte und umso mehr an mich lehnte, je näher wir dem Bahnhof kamen, sich auf die Kinder freute. Ihr Gesichtsausdruck blieb überraschend unbeteiligt.

Die Kinder stiegen aus keinem der eintreffenden Züge. Johanna meinte, dass es wohl, wie häufig, Unterbrechungen gegeben haben müsse, ich aber rannte auf dem Bahnsteig hin und her und fragte die Leute, ob sie von unseren Kindern oder einem Zugunglück gehört hätten.

Sie kamen am nächsten Morgen mit einem Zug aus dem Norden, zu dritt, wie ich sofort erleichtert feststellte, und wirkten gepflegter und kräftiger als bei ihrer Abreise. Johanna und ich hatten die Nacht in der Bahnhofshalle verbracht. Tanja und Margret blickten nicht nur mich, sondern auch Johanna an, als wären wir Menschen, die sie vor längerer Zeit einmal gekannt hatten. Rosa dagegen berichtete knapp, dass sie sich verfahren hätten, und ihr Körper blieb steif, als ich sie umarmte. Wir erzählten den Kindern, dass wir bald in eine gemeinsame Wohnung ziehen könnten, doch keines der Mädchen gab eine Antwort.

Wie sich die Stadt verändert haben muss! Nein, ich meine Prag mit seinen wunderbaren Gassen, Brücken, seiner unverwechselbaren Geschichte. Wie gut es den Menschen jetzt geht, in ihren warmen Wohnungen, in neu errichteten, schmucklosen Häusern, die vielleicht ein wenig merkwürdig aussehen neben den Häusern der Jahrhundertwende. Doch über Schönheit werden wir nachdenken, sobald keiner mehr den Pfennig umdrehen muss.

In welch winzigem Zimmer ich als Student zur Untermiete wohnte! – während die über zwei Etagen verfügenden Hausbesitzer allabendlich in ihren hohen, weitläufigen Räumen zum Dinner einluden. Auf dem Stadtplan habe ich gesehen, dass das Haus den Bombenangriffen zum Opfer fiel.

Ich verstehe nicht, was die Menschen in Prag auf die Straße getrieben hat. Warum sie nicht zu Opfern bereit sind. Nicht begreifen, dass man nichts geschenkt bekommt. Dass die härtesten Jahre zwar hinter uns liegen, wir jedoch dem Feind in die Arme laufen, wenn wir das Ziel aus den Augen verlieren. Dass die von ihnen gewünschte Freiheit nur etwas für eigensüchtige Menschen und am Ende auch nur dem Gesetz des Stärkeren unterworfen ist.

Freilich müssen wir miteinander diskutieren und abweichende Meinungen anhören, doch soll wirklich jeder öffentlich herausschreien dürfen, was ihm einfällt, in Momenten der Geistesgegenwart oder der Verwirrung, der tiefen Niedergeschlagenheit oder der höchsten Freude, des unberechenbaren Zornes oder der uneingeschränkten Nachsicht mit seinen Mitmenschen – in welcher unserer schwankenden Gemütsverfassungen auch immer?

Ich habe selbst das Verletzende einer solch offenen Atmosphäre gespürt, als eine westdeutsche Hochschulgruppe mich vor mehr als zehn Jahren einlud, über den historischen Materialismus zu referieren. Nur junge Leute im Hörsaal, die stürmten und drängten, wie es der jungen Generation eigen ist, und Fragen stellten, die mich, um ehrlich zu sein, in eine Zwickmühle brachten. Ich hatte einen Auftrag zu erfüllen. Fragte ich deshalb gekränkt nach dem Grund meiner Einladung? Auf der Heimfahrt war ich froh, ihren Fragen ausgewichen zu sein, hätte es mir doch wie anderen Philosophen ergehen können, die sich unvorsichtig und wenig loyal verhielten. Natürlich widerstrebte mir die Festnahme von Kollegen, die ich als Kommunisten und Antifaschisten kannte, aber ich fragte mich auch, wieso sie dieses Risiko eingingen und ihre Kritik nicht zurückhaltender formulierten. Standen sie tatsächlich noch auf unserer Seite?

Nach der Reise nahm Beunruhigung von mir Besitz. Ich ging morgens zur Vorlesung und erzählte Eingeübtes, Erprobtes, bei dem ich sicher war, dass man mich dafür nicht belangen würde. Gleichzeitig spürte ich die Ungeduld mancher Studenten, ihre Enttäuschung darüber, dass ich niemals eine Diskussion anregte, die sich auf aktuelle Geschehnisse bezog, weder auf unmittelbarem Weg noch durch beiläufige Andeutungen. Einen kleineren Teil der Studentenschaft hörte ich nach der Vorlesung einige Male flüsternd die Ursachen meiner leidenschaftslosen Vortragsweise erwägen. Da ich erkannte, dass es unvermeidlich war, etwas zu verändern, band ich, in steter Erinnerung an meinen Vortrag im Westen, von einem Tag auf den anderen ein unlängst erschienenes Buch eines westdeutschen Soziologen über die Skepsis der jungen Generation in meine Vorlesung ein.

Ich merkte bald, dass etwas aufs falsche Gleis geriet. In meinem Kopf herrschte eine erschreckende Unordnung. Während ich mit den Studenten redete, empfand ich Scham, weil ich glaubte, meine Gesinnung zu verraten. Die Richtungslosigkeit meiner Gedanken, die sich von Woche zu Woche wandelten, schien mich zu zerreißen. So war es am Ende des Semesters unmöglich, den Studenten in der Abschlussklausur Wissen abzuverlangen, das ich ihnen nicht vermittelt hatte. Man bat mich zu einem Gespräch mit der Universitätsparteileitung. Was sollte ich sagen? Ich gab alles zu, nahm jede Schuld auf mich. Die Bilder der Zuchthauszelle und der Verhöre verfolgten mich wie ein gefräßiges Tier.

Wie hätte ich Margret das erklären können, als ich in ihrer Küche auf dem schmalen Stuhl saß und ein Leuchten in ihren Augen erkannte, das sie zu verbergen suchte?

Ich ärgerte mich darüber, dass sie Privates in den öffentlichen Raum trug, ärgerte mich, weil ich mir keinen weiteren Mangel an Stabilität leisten konnte. Dass sie mit mir nicht brechen könne. Ein Satz, der mich auf eigenartige Weise berührte. Zudem irritierte es mich über die Maßen, dass eine junge Frau vor mir stand, aufrecht und selbstbewusst, deren Entwicklung ich verpasst hatte. Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Jahre zäher Arbeit liegen hinter mir, in denen ich die Form meines Weltbildes verfeinerte, mich über Zweifel und Unsicherheiten hinwegarbeitete und am Aufbau eines Landes mitwirkte, das zu gründen mir ein Anliegen war und dessen Erhalt mir eines ist.

Zu allen Zeiten sind Kinder neben ihren Eltern und Ammen herangewachsen, haben gespielt oder gearbeitet, hatten genügend zu essen oder haben gestohlen, gingen freiwillig oder notgedrungen von ihnen fort. Ich tue das Mögliche, um einen Ort zu gestalten, an dem Kinder erwünscht sind.

Solche Orte dürfen nicht gefährdet werden. Die Panzer zeigen den richtigen Weg. Es wird nur in äußersten Notfällen geschossen werden, und festnehmen wird man nur diejenigen, die uns an der Gestaltung menschlichen und menschenfreundlichen Lebens hindern wollen.

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