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1 Onkel Georges Blockhütte

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Grün – das war die Farbe der Landschaft von Allenes Jugend. Vom zarten Grün im Frühjahr, wenn die jungen Blättchen sich wie ein Netz über die Bäume legten, bis zum dunklen, schweren Grün des Laubs im Spätsommer. Vom grellen Grün der Buchen zum zartgrauen Blaugrün der Tannen und dazwischen die wieder ganz anderen Farbtöne von Kastanien, Ahornbäumen, Kirschen und Walnussbäumen, Birken – das Ganze wie ein einziges natürliches Arboretum, drapiert über die Hügel rund um den Chautauqua See. Bis die Bäume im Herbst beinahe von einem Tag auf den anderen kollektiv in einem Fest aus Rot, Orange und Gelb aufflammten, um darauf in dem aus Kanada einfallenden Frost und den über die weite Wasserfläche des Eriesees heranjagenden dunklen Winterstürmen zu verschrumpeln.

Dann ragten nur noch die Wipfel all dieser Bäume aus den meterdicken Schneeschichten heraus. Der See erstarrte zu einem stillen, schwarzen Spiegel, und die Hügel wurden zu einer Landschaft in Schwarz-Weiß, mit nur dem grellen Rot eines davonjagenden Fuchses, um die Menschen daran zu erinnern, dass es noch Farbe gab. Und dann wurden die Feuer in den unter ihren dicken Schneedecken geduckten Häusern Tag und Nacht am Brennen gehalten, damit die Bewohner die strengen Winter hier im Norden Amerikas überleben konnten.

Und mit dem Feuer begann die Geschichte von Allene Tew und ihrer Familie in Jamestown. Und, fast gleichzeitig, die der Ortschaft selbst. Denn die Tews gehörten zu den Pionieren, zu den ersten jungen Abenteurern, die es wagten, sich ihre Zukunft in der damals noch undurchdringlichen und gefährlichen Wildnis rund um den See aufzubauen.

Der allererste Anfang wurde von sechs Planwagen und einer einzigen Familie gemacht, die Prendergast hieß. Im Jahre 1806 zogen sie, inklusive Kindern und Anhang insgesamt 29 Mann, fort aus Rensselaer County, einer Region im Norden des Staates New York, um auf die Suche nach neuen Chancen zu gehen und vor allem nach fruchtbarem Grund und Boden, auf den noch niemand Anspruch erhoben hatte. Eigentlich wollten die Prendergasts bis zu den großen, leeren Ebenen von Kansas und Nebraska weiterziehen, wo Boden gratis an die vergeben wurde, die genügend Durchhaltevermögen besaßen, um fünf Jahre zu überleben.

Unterwegs machte die Gesellschaft jedoch Rast an einem prächtig gelegenen, langgestreckten See in Chautauqua County. Dort wurden sie von einem Agenten der Holland Land Company angesprochen, eines niederländischen Bankenkonglomerats, das hier wenige Jahre zuvor über drei Millionen acres, über eine Million Hektar, gekauft hatte und sich jetzt bemühte, sie in Teilen an Pioniere zu verkaufen.

„Schaut“, sagte der Agent, „schaut euch um: Dies ist the paradise of the New World.“

Und tatsächlich, der Schöpfer hatte sich mit diesem Fleckchen Erde wohl besonders viel Mühe gegeben. Die Hügel um den See waren grün und fruchtbar, ohne Sümpfe oder kahle Bergmassive, die in anderen Regionen oft solche Hindernisse darstellten. Die Sommer waren nass und warm, perfekt für den Landbau. Der 18 Meilen lange Chautauqua See selbst war zum Bersten gefüllt mit Fisch, vor allem Hechten und Barschen. Und in der unkultivierten Wildnis ringsum wimmelte es von Pelztieren und vielerlei essbarem Wild wie Bibern, Ottern, Füchsen, Wölfen und Hirschen, sogar Wildkatzen und Panthern. Und die Vogelwelt in diesem Gebiet war unvergleichlich: Vor allem im Herbst nahmen einem die unzähligen flatternden Schwärme von Enten, Kranichen, Reihern und Schwänen fast den Blick auf den See.

Und daher änderte die Familie aus Rensselaer County ihre Pläne. Die Planwagen wurden verankert, die Unterschriften gesetzt. Insgesamt kauften die Prendergasts 3337 acres, beinahe 1400 Hektar, auf der Nordseite des Chautauqua Sees, um ihr neues Leben aufzubauen.

Es war ihr jüngster Sohn, James Prendergast, der einige Jahre später auf der Suche nach ein paar entlaufenen Pferden ein ebenes Stück Land etwa drei Meilen südlich des Sees an den Stromschnellen im Chadakoin River entdeckte. Mit seinen 18 Jahren war er noch minderjährig, aber genauso unternehmungslustig wie die übrige Familie, und ließ einen älteren Bruder 1000 acres für zwei Dollar pro Stück kaufen. Im Sommer 1811 baute James zusammen mit einem Knecht eine hölzerne Wassermühle am Fluss, daneben eine Blockhütte, in der er von nun an mit seiner jungen Frau Nancy lebte. Und drumherum bauten die Holzfäller, die für ihn arbeiteten, ihre eigenen, noch primitiveren Blockhütten.

Damit war – denn so einfach ging das in der Zeit in Amerika – die Geburt von Jamestown vollendete Tatsache.


Einfach war es nicht – am Anfang. Das Leben in der Wildnis war hart und gefährlich, nicht nur wegen der Bären und anderer wilder Tiere, sondern auch wegen der noch immer umherschweifenden Nachkommen verschiedener Irokesenstämme wie der Seneca. Wilde und für ihre Grausamkeit bekannte Indianerstämme. Dieses Gebiet war ihr Eigentum gewesen, bis sie im 18. Jahrhundert von den französischen Kolonisten vertrieben wurden.

Die Winter waren lang und einsam und brachten wieder neue Gefahren – so wurde die gesamte Niederlassung einschließlich der Mühlen zweimal durch Brand zerstört. Aber die Pioniere waren jung und wild entschlossen und bauten ihr Minidorf am Chadakoin River jedes Mal wieder völlig neu auf. Zwei Brüder von James organisierten einen provisorisch und unregelmäßig bevorrateten Kolonialwarenladen, ein Veteran aus dem Unabhängigkeitskrieg baute eine Töpferei mit angrenzender Taverne, ein Zimmermann aus Vermont improvisierte eine Zimmermannswerkstatt, und kurz darauf kamen auch die Gebrüder Tew an, die sich ein Grundstück freischlugen und eine Schmiede errichteten.

George und William Tew stammten ebenfalls aus Rensselaer County. Durch Briefe der Prendergasts an die Zurückgebliebenen waren sie auf die vielversprechende kleine Niederlassung tief im Wald aufmerksam gemacht worden. George war 21 Jahre alt und Schmied von Beruf. Sein vier Jahre jüngerer Bruder William hatte das Schuhmacherhandwerk gelernt, beherrschte daneben aber auch so nützliche Fertigkeiten wie Spinnen, Nähen und Möbelbau.

Während die Brüder Tew ihre Blockhütte aufbauten, drängten die Holzfäller den Wald zurück, Meter für Meter, Baum für Baum. Tag um Tag erklang das Geräusch von Hacken und Sägen, ab und an unterbrochen von Geschrei, Knarren und dem allerletzten Seufzer des soundsovielten Waldriesen, der gefällt wurde. Wenn Seitenzweige und Rinde entfernt waren, wurden die Bäume auf dem Fluss zur Mühle befördert und dort zu Balken und Brettern zersägt. Dann wurde das Holz zusammen mit anderen Handelswaren wie Pelzen, gesalzenem Fisch und Ahornsirup in Kanus oder keelboats – langen, mit Stangen fortzubewegenden Wasserfahrzeugen – zu den großen Städten an den Flüssen im Süden transportiert.

Für den Rückweg wurden die Boote mit allem vollgeladen, was die Waldbewohner benötigten und nicht selbst herstellen konnten, wie Werkzeug und Nägel, Speck, Zucker, Salz und getrocknetes Obst. Auch Tabak und viele Flaschen Monongahela Rye, der bei Pittsburgh gebrannte, berüchtigte steife Whiskey, fehlten nicht, ebensowenig wie neue potenzielle Einwohner, angesteckt von den begeisterten Erzählungen der Jamestowner.

James Prendergast hatte sein Territorium inzwischen in lots aufgeteilt, Parzellen von 50 mal 120 Fuß, die er für 50 Dollar pro Stück an Neuankömmlinge verkaufte. Über den Chadakoin wurde eine primitive Brücke gebaut und der senkrecht zum Fluss verlaufende Sandweg bekam den naheliegenden Namen Main Street, Hauptstraße. Die kreuzenden Karrenspuren zur linken und rechten Seite wurden, ebenso prosaisch, First Street, Second Street und so weiter genannt.

Anfangs fungierte James als Richter, Postmeister und inoffizieller Bürgermeister, aber als die Einwohnerzahl seines Blockhüttendorfes im Jahre 1827 die Vierhundert überschritt, organisierte man die erste Wahl für eine Dorfregierung. Schmied George Tew war einer der wenigen Einwohner des Ortes, der die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschte. Er wurde zum Dorfschreiber gewählt. Seine erste Aufgabe war es, die Rechte und Pflichten seiner Dorfgenossen zu Papier zu bringen. Bruder William wurde zum zweiten Mann bei der Feuerwehr ernannt, der ersten kollektiven Aufgabe der taufrischen Regierung.


In den Jahren, die nun folgten, wuchs die Niederlassung explosionsartig. Die industrielle Revolution wehte über die Welt und wirkte sich vor allem günstig auf zuvor eher unattraktive Regionen wie diese aus, wo Wälder für unbegrenzte Mengen Brennstoff und die vielen Flüsse und Flüsschen für ein natürliches Netzwerk sorgten. Das Aufkommen der Dampfschiffe machte die Kanus und die Keelboats überflüssig und sorgte für geregelte Verbindungen zur Außenwelt, was die Anziehungskraft des Walddorfes noch mehr verstärkte.

Auf den gerodeten Flächen bei den Hügeln siedelten jetzt auch Bauern – meistens Skandinavier, die von Haus aus der Isoliertheit, den primitiven Lebensumständen und den langen Wintern in diesem noch immer wilden Land gewachsen waren. Sie führten Viehzucht, Obstgärten, Bienenkörbe, Tabakpflanzen und die Kunst der Holzbearbeitung ein. Im Laufe der Zeit entstanden sogar richtige kleine Möbelfabriken auf dem flachen Land am Fluss, das aus unerklärlichen Gründen Brooklyn Square genannt wurde und sich zum wirtschaftlichen Zentrum von Jamestown entwickelt hatte.

George Tew gefiel mittlerweile seine Funktion als Dorfschreiber so gut, dass er das Schuften in der rußigen und heißen Schmiede aufgab und bei dem einzigen Rechtsanwalt im weiten Umkreis in die Lehre ging. Nachdem er einige Jahre als dessen Partner tätig gewesen war, wurde er zum County Clerk gewählt, womit er eine der wichtigsten Verwaltungsfunktionen der Region bekleidete. Und das hieß jetzt, dass er und seine Frau und die Kinder in das Beamtenstädtchen Mayville an der Nordspitze des Chautauqua Sees umzogen.

Die Schmiede an der Ecke Main Street und Third Street blieb in den schwieligen Händen seines Bruders William, der inzwischen ebenfalls eine Familie gegründet hatte. Auch sonst brauchte er sich nicht einsam zu fühlen: Sowohl Vater Tew wie seine fünf Schwestern aus Rensselaer County hatten sich in Jamestown niedergelassen. Denn die Geschäfte gingen gut – so gut, dass William im Jahr 1847 in ein Steinhaus mit angrenzendem Laden und Werkstatt an der Ecke Main Street und Second Street ziehen konnte, ganz in der Nähe des Brooklyn Square. Er nahm einen seiner Schwäger als Partner in die Werkstatt und taufte die Schmiede in W.H. Tew’s Copper, Tin and Sheet Iron Factory and Stove Store um, was vornehmer klang. Seine Frau bekam ein deutsches Dienstmädchen, das ihr in der turbulenten Familie mit sechs Kindern zur Seite stand.

Später würde der Mann, der Allenes Großvater werden sollte, in einem Almanach wegen seines “high character” gelobt werden. William Tew war, so sein Biograph, ein treuer Familienmensch, überzeugter Republikaner und eifriges Mitglied der presbyterianischen Kirche. Außerdem war er der Begründer des Bundes der Antialkoholiker von Jamestown. Aus naheliegenden Gründen weniger bekannt war seine aktive Rolle, die er in der Underground Railroad spielte, einem Bürgernetzwerk, das aus den Plantagen in den Südstaaten entflohene Sklaven nach Kanada schmuggelte.

Als einer der wenigen Mittelständler inserierte William sogar öffentlich in der Liberty Press, der Zeitung der Antisklavereibewegung, die vor allem seit dem Erscheinen von Onkel Toms Hütte im Jahr 1827 eine große Anhängerschaft im aufgeklärten Bürgertum Nordamerikas erworben hatte. Ganz gefahrlos waren solche Aktivitäten nicht: Es standen 1000 Dollar Buße plus Gefängnisstrafe auf die Hilfe für Flüchtlinge, und Sklavenhalter spürten ihrem davongelaufenen Besitz notfalls bis nach Jamestown nach, um ihn zurückzufordern. Aber der ehemalige Schuhmachergeselle war inzwischen ein gesetzter und allgemein geachteter Bürger: Er konnte sich den Luxus von Prinzipien erlauben.


Der Stern von Williams Bruder George stieg sogar noch höher. Er ließ die Provinzverwaltung schon bald wieder hinter sich und gehörte als Direktor der Silver Creek Bank jetzt zur einflussreichen Gruppe Movers and Shakers in Chautauqua County. Am intensivsten lobbyierten diese Geschäftsleute für den Anschluss ihrer Region an das Eisenbahnnetz, das sich in diesen Jahren wie das Netz einer betrunkenen Spinne über die Karte Nordamerikas ausbreitete.

Und mit Erfolg. Am 25. August 1860 sahen die Bewohner von Jamestown ein Schauspiel, das sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen sollten. In den Worten des schwer begeisterten Berichterstatters des Jamestown Journal: „Das erste eiserne Pferd, das unsere Stadt je beehrte, fuhr majestätisch über die Brücke der Hauptstraße.“

In Wirklichkeit war es nur ein kleiner Bummelzug, der an jenem Tag in den noch sehr provisorischen Bahnhof hineinzuckelte, aber ein Wunder war es doch. Über die Atlantic and Great Western Railroad gab es nun eine direkte Verbindung mit Städten wie New York, Chicago und Pittsburgh. Im wahrsten Sinne des Wortes war das primitive, nur zu Pferd oder Kanu erreichbare Blockhüttendorf innerhalb eines Menschenlebens zu einer Großstadt angewachsen.

Die Bahnlinie verlieh der Holzverarbeitungsindustrie Flügel, und schon bald wurden Möbel aus Jamestown in den gesamten Vereinigten Staaten ein Begriff. Auch die Textilindustrie florierte, und als wären die Götter den Einwohnern noch nicht günstig genug gesonnen, bekamen sie – noch dazu völlig gratis – ein lukratives Exportprodukt in Form von großen Eisblöcken dazu, die im Winter aus dem gefrorenen Chautauqua See gehackt und per Bahn zu den riesigen Eishäusern in den großen Städten transportiert wurden. Damit spielte Jamestown, wenn auch indirekt, eine Rolle in der Revolution, die die Einführung von gekühlten Nahrungsmitteln in den Küchen verursachte, und dem großen Erfolg, den Amerika damit auf dem globalen Lebensmittelmarkt bekam.

Für einen Moment schienen politische Entwicklungen noch zum Hindernis in der Erfolgsgeschichte von Jamestown zu werden, denn im April 1861 brach nach Jahren der wachsenden Spannungen zwischen Nord- und Südstaaten der amerikanische Bürgerkrieg aus. Der ideologische Anlass war die Sklaverei, in Wahrheit aber ging es in diesem Konflikt, wie so oft bei Kriegen, um die Frage, wer die wirtschaftliche und politische Macht innehatte. Und das waren die Nordstaaten. Nachdem sie anfangs die Unterlegenen gewesen waren, wendete sich 1863 bei der dreitägigen Schlacht bei Gettysburg das Blatt.

Am 9. April 1865 war der Sieg definitiv. Die Sklaverei wurde abgeschafft und die Südstaaten büßten einen Großteil ihres wirtschaftlichen Existenzrechts und ihrer politischen Schlagkraft ein. Die Tinte auf der Kapitulationsurkunde war kaum getrocknet, als die Wirtschaft im Norden wieder aufblühte wie nie zuvor. Das Bankwesen hatte mit der Finanzierung der militärischen Bemühungen während des Krieges ausgezeichnete Arbeit geleistet, und der noch immer unternehmungslustige und geschäftstüchtige George Tew gründete gemeinsam mit seinen fünf erwachsenen Söhnen eine eigene Bank. The Second National Bank of Jamestown machte den ehemaligen Schmiedegesellen zu einem der reichsten Männer von Jamestown. Er wurde noch einflussreicher, als es jedem seiner Söhne gelang, ein Mädchen aus den prominentesten Familien der Region, wie den Prendergasts, zu heiraten.

Ebenso erfolgreich in der Arbeit und der Ehe war Harvey, der älteste Sohn von William Tew. Nachdem er 17 Jahre im Geschäft seines Vaters gearbeitet hatte, gründete er gemeinsam mit seinem Schwager Benjamin F. Goodrich 1870 eine Gummifabrik. Wie es heißt, waren die zwei durch die verheerenden Brände, die das noch immer zum großen Teil aus Holz bestehende Jamestown regelmäßig heimsuchten und manchmal ganze Viertel wegfegten, auf die Idee gekommen. Im Winter stand die Feuerwehr ein ums andere Mal machtlos da, weil das Löschwasser in den Lederschläuchen gefror. Die Entdeckung, dass Wasser in Gummischläuchen dagegen flüssig blieb, führte zu Glück und Wohlstand der Schwäger und sollte die Grundlage eines Unternehmens werden, das zu einem der größten Reifenproduzenten weltweit heranwuchs.


Eigentlich gab es nur einen Tew, der nicht mühelos in die erfolgreichen Fußstapfen der ersten Generation trat. Und das war der Mann, der Allenes Vater werden sollte: Charles, der jüngste Sohn Williams. Er wurde 1849 als letzter männlicher Spross der zweiten Generation geboren, und anscheinend war der verfügbare Vorrat an Ehrgeiz und Energie bei ihm einfach verbraucht. Denn in einem Alter, in dem seine Cousins und sein Bruder längst in den Geschäften ihrer Väter arbeiteten, drückte Charles mit 15 Jahren noch die Schulbank. Und während seine Cousins einer wie der andere gesellschaftlich vorteilhafte Ehen schlossen, heiratete Charles 1871 Jennette Smith, die neun Jahre ältere Tochter des örtlichen Fuhrwerksbesitzers, der auch als Kutscher und Postbote tätig war. Nicht nur war dieser Schwiegervater sozial gesehen deutlich unter dem Stand der Familie Tew, sondern stammte noch dazu aus Tennessee, war also ein Südstaatler.

Offensichtlich war das junge Paar sich seines Status als weniger erfolgreicher Zweig der Familie durchaus bewusst, denn gleich nach der Hochzeit ließen Charles und Jennette sich im dünn besiedelten, ländlichen Wisconsin nieder, wo Landwirtsaspiranten noch immer unentgeltlich an Grund und Boden kommen konnten. Hier, im Dorf Jamesville in Rock County, wurde am 7. Juli 1872 Allene geboren. Es war ein ungebräuchlicher Name und wahrscheinlich eine schicker klingende Variante des irischen „Eileen“.

Charles war nicht gerade aus Pionierholz geschnitzt, und schon rasch kehrte das junge Paar zurück nach Jamestown, wo sie in das Fuhrwerksgeschäft von Jennettes Vater an der West Third Avenue einzogen. Charles’ Vater William hatte seinen Betrieb an der Main Street inzwischen verlassen, um nach dem Tod seines Bruder George dessen Platz als Präsident der Familienbank zu übernehmen. Sein Ofen- und Eisenwarengeschäft vertraute er seiner Tochter an, die seinen ehemaligen Gesellen geheiratet hatte. Für Charles fand man eine nicht allzu anspruchsvolle Stelle als Assistant Cashier in der Familienbank.

Und so verbrachte Allene die ersten Jahre ihres Lebens in der Betriebsamkeit und dem Pferdedunst eines Fuhrwerksgeschäfts im Zentrum von Jamestown und nicht, wie ihre vielen Cousinen, in einer teuren Villa am Schatten spendenden Rand der Stadt. Erst später, als ihr Großvater William sich aus der Bank zurückzog und in ein leerstehendes Haus an der Pine Street zog, beschloss er, seinen jüngsten Sohn und dessen Familie neben sich wohnen zu lassen, und sie bekamen eine etwas angesehenere Adresse.

Dass sie das einzige Kind bleiben würde – ein außerordentliches Phänomen in einem kinderreichen Clan wie den Tews – war zu dem Zeitpunkt schon deutlich. Ebenso deutlich aber war es, dass ihr Vater es zu nicht viel mehr bringen würde als zum Kassierer und dass er, als Einziger der zweiten Männergeneration, nie lobend erwähnt werden würde in den Almanachen, in denen in jenen Jahren die prominenten Männer der Region porträtiert wurden.


Am 4. Juli 1876 feierte Amerika sein Jahrhundertfest als unabhängige Nation. Und feiern, das taten die Amerikaner, denn selten hatte ein Land seinen Einwohnern so viele Chancen geboten wie die Vereinigten Staaten zu der Zeit. Es war ein gigantisches, noch immer zum großen Teil jungfräuliches Land voll von wertvollen Hilfsquellen wie Holz, Flüssen und Erz. Neue Technologien und Erfindungen waren an der Tagesordnung und es herrschte eine schier beispiellose Mentalität ehrgeiziger Strebsamkeit und Courage. Alles schien sich zu vereinigen, um den Amerikanern zu ermöglichen, ihr in der Unabhängigkeitserklärung verbürgtes „unveräußerliches Recht auf Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“ auszuüben.

Der Kontinent platzte vor Festfreude geradezu aus allen Nähten und Jamestown stand dem in nichts nach. “We will celebrate!”, kündigte die Lokalzeitung schon Monate zuvor an. Das Städtchen wurde herausgeputzt wie ein Fabrikmädchen vor ihrem Hochzeitstag und am großen Tag selbst zog eine unüberschaubare Parade von Musikbands, der Feuerwehr und Sportvereinen unter dem blumengeschmückten Triumphbogen durch die Stadt. Überall gab es Tanzfeste, Picknicks und Konzerte und abends knallte ein großes Feuerwerk über dem Chautauqua See das Land in sein nächstes Jahrhundert. “How we celebrated”, seufzte das Jamestown Journal am nächsten Tag. “Twenty thousand people come to the front – and go home happy!”

Als in den folgenden Jahren neue Erfindungen wie der Verbrennungsmotor und die breit angelegte Verwendung von Stahl die zweite industrielle Revolution einläuteten, war das Wohlstandswachstum in Nordamerika nicht mehr aufzuhalten. Der Anteil der Vereinigten Staaten an der weltweiten industriellen Produktion wuchs um die 30 Prozent, fast genauso viel wie der des ehemaligen Mutterlandes England, das sich bis dahin für den unbestrittenen wirtschaftlichen Weltführer gehalten hatte.

Die Amerikaner, die vor dem Bürgerkrieg bei vielen Gebrauchsgütern noch vom Import aus Europa abhängig gewesen waren, begannen nun selbst Produkte zu konkurrierenden Preisen in die alte Welt zu exportieren. Unternehmer erwirtschafteten, noch ungehindert von einschränkenden Faktoren wie Einkommensteuer oder Handelsgesetzen, in wenigen Jahren ungeahnte Reichtümer. Die eigene Herkunft war unwichtig geworden – einzig individueller Ehrgeiz, Schläue und Schneid zählten noch. Die Zahl der Millionäre wuchs in wenigen Jahrzehnten von 20.000 auf 30.000. Die amerikanische Bevölkerung verdreifachte sich zwischen 1865 und 1900, wurde aber insgesamt wohlgemerkt dreizehnmal so reich.

Alles schien und war möglich in diesem Gilded Age, dem „Vergoldeten Zeitalter“, wie Mark Twain diese Zeit der nationalen Expansion und des zügellosen Optimismus taufte. Elendsgestalten, paupers, verließen das Schiff aus Europa in Lumpen und arbeiteten sich hoch zu Multimillionären. Nie war die Anziehungskraft des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten auf Glückssucher größer gewesen als jetzt. Hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon etwa zweieinhalb Millionen Immigranten die Überfahrt von Europa aus gewagt, so schwoll der Strom in der zweiten Hälfte auf schwindelerregende elf Millionen an.

Allenes Vater mochte vielleicht nicht so erfolgreich wie die übrige Familie sein und vielleicht hielten ihre reichen Cousinen und Klassenkameradinnen auf der Jamestown Union School das für einen Grund, sie etwas mitleidig zu behandeln, doch so jung Allene auch war, trug sie den Kopf hoch. Denn auf den wenigen Jugendfotos, die wir von ihr kennen, sieht man bereits, dass Allene Tew einen Reichtum mitbekommen hatte, den man für Geld nicht kaufen konnte, nämlich Schönheit. Und außerdem wuchs sie mit etwas viel Besserem als geerbtem Geld heran. Nämlich mit einem Traum – und zwar dem amerikanischen Traum, in dem du sein und werden kannst, wer du willst, ungeachtet deiner Herkunft. In dem du, wie ihr Großonkel George und ihr Großvater bewiesen hatten, in einer primitiven Blockhütte inmitten einer feindlichen Wildnis beginnen und in einem marmornen Bankgebäude in einer blühenden Stadt enden kannst, die du, fast buchstäblich, dem Wald mit bloßen Händen abgerungen hast.

Die amerikanische Prinzessin

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