Читать книгу Das Ehepaar und ANDERE Geschichten - Annerose Scheidig - Страница 9
ОглавлениеKühler Geisteswind
weht aus allen Richtungen
vertreibt Nestwärme
Die filmreife Tante Gertrud
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, ist für mich, ich wurde im Sternzeichen des Löwen geboren, das Gefühl in die Enge getrieben zu werden, etwas ganz furchtbar Schlimmes, kaum auszuhalten. Und wenn ich dann tagtäglich diese schrecklichen Dinge in der Tageszeitung lese - was so alles in den Städten passiert - fühle ich mich gar nicht mehr wohl.
Diese niedergeschriebenen Tatsachen, dass wir, die Passanten, meist achtlos vorübergehen, wenn Menschen sich aggressiv verhalten, oder wir schlagen andere Wege ein, tun so, als würden wir nichts sehen oder hören, erzeugt in mir auch keinen Mut.
Also habe ich mich heute mit dieser Problematik auseinandergesetzt und mich ernsthaft gefragt: „Hast du den Mut, notfalls dazwischen zu gehen, irgendjemand in einer brenzligen Situation zur Hilfe zu eilen?“
Und ich komme zu dem Entschluss: „Nein, das käme für mich nicht in Frage: Weggucken, nicht reagieren, davon laufen. Nein!“
Dennoch beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Schon alleine die Vorstellung, ich wäre in dieser Zwangslage: Helfen oder wegsehen?
Und zum ersten Mal bin ich wirklich froh und dankbar, dass ich bis zur Stunde noch nie in solch eine Verlegenheit gekommen bin.
Das war gestern, also Vergangenheit! Und es dauerte nicht lange, da steckte ich mittendrin.
Es war ein ganz normaler Tag, ohne Regen, fast nur Sonnenschein. Mein Mann und ich konnten endlich, mit der kranken und pflegebedürftigen Tante Gertrud, 82 Jahre alt, zur Stadtverwaltung fahren. Sie benötigte dringend einen neuen Personalausweis, den galt es zu beantragen.
Weil die Tante gehbehindert war, nahm sie ihren Stock an die eine Seite und mich an die andere Seite. Ich achtete darauf, dass sie sicher ging und vor allem nicht zu schnell. Denn mit ihrem Temperament konnte sie nur schwer gebremst werden, obwohl sie auch herzkrank war. Also unterhielten wir uns dementsprechend ganz langsam, bewusst dem Schritt angepasst. Ich war also mit der Tante extrem beschäftigt. Mein Blick war mehr bei ihr als in der Umgebung.
Es war stille, wir konnten die Vögel in den Bäumen und Büschen hören, ein lauer Wind umgab uns. Vor uns ging im Schlenderschritt ein junger dunkelhäutiger Mann her. Ich nahm ihn nur nebenbei gedanklich wahr; mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.
Doch plötzlich hob die Tante ihren Stock und rief furchtbar aufgeregt: „Guck mal, wat iss da denn los? Die schlagen sich!“ Ich sah erschreckt auf und ich konnte einen zweiten jungen Mann erkennen.
„Ach nein“, sagte ich, „die kabbeln miteinander, sicher nur im Spaß!“
„Nee, nee, guck doch. Die schlagen sich!“, wiederholte die Tante jetzt lauter.
Für mich sah das im Moment so aus: Zwei junge Leute haben sich nach langer Zeit zufällig wiedergetroffen. Und wie halbwüchsige Männer oft so sind - Begrüßung mit Knuff in die Seite, den nächsten in die Schulter, dann der Schwitzkasten, zudem noch ein paar provozierende Worte – Es sah erst einmal spaßig aus.
Doch dann, als ich genauer hinsah, die Tante hob erneut den Stock und meinte noch aufgeregter als zuvor, „Doch, doch, die schlagen sich!“, fand ich das gar nicht mehr so albern. Denn einer von beiden ging zu Boden.
Da stand ich nun, fühlte mich total in die Enge getrieben, meine Gedanken flogen blitzschnell, überschlugen sich gewaltig. Schließlich mussten wir dort vorbei und ich hatte die hinfällige Tante im Arm und und und …!
Ich sah kurz zur Seite, zu meinem Mann, der gar nicht mehr an unserer Seite ging. Wo war er geblieben? Hatte er möglicherweise etwas im Auto vergessen und ging noch einmal zurück? Waren wir jetzt alleine? In dieser Situation, alleine?
Besorgt sah ich weiter nach hinten, noch weiter, und entdeckte ihn endlich. Auch er hatte die Situation erkannt, wie ich erstaunt feststellte, denn er hielt sich in Sprungbereitschaft auf Seitenlinie der beiden Kämpfer. Ich atmete auf.
Langsam kamen die Tante und ich den Kämpfern näher. Ein junger Türke, uns gegenüber, kam ebenfalls näher und in geduckter Haltung, sprungbereit wie mein Mann. Er und ich nahmen kurz Blickkontakt auf.
Die Tante hob erneut den Stock und rief: „Schluss jetzt, hört ihr wohl auf zu kloppen!“ Sie war im Begriff mit ihrem Stock dazwischen zu schlagen.
Der nette Türke und ich erkannten rasch, dass wir den gleichen Gedanken hatten: Wir gehen nicht vorbei ohne einzugreifen!
Inzwischen waren wir gefährlich nahe herangekommen. Die Tante hob immer wieder den Stock, fuchtelte damit in der Luft herum und schrie schweratmend mit hoher Stimme: „Schluss jetzt, aufhören!“ Sie war nicht mehr zu bremsen, alle Bemühungen waren vergebens.
Also mischte ich mich auch ein und rief dazwischen: „Aufhören, aufhören! Wollt ihr euch das Leben ruinieren? Was soll das? Nun hört schon endlich auf!“
Sie beachteten uns nicht.
Flink packte der nette Türke den einen Mann an die Jacke und zog ihn dem anderen aus dem Schwitzkasten. Mein Mann half ihm dabei. Ich hob schnell, zwischen den vielen Beinen, eine Brille auf, die auf den Boden gefallen war und beinahe zertreten wurde. Dabei sah ich den Angreifer, vermutlich ein Afrikaner, direkt in die Augen und wies ihn zurecht: „Was soll der Blödsinn? Das bringt doch nichts!“
Der Schwarze machte kommentarlos einen Rückzieher, während der andere, an der Hand des Türken hängend, um sich schlug und tobte: „Lass los, lass mich los! Ich muss den totmachen!“
Jetzt wurde ich sauer! „Was soll der Quatsch? Willst du den Rest deines Lebens im Knast verbringen? Totmachen? Warum denn?“
„Der hat mich angegriffen. Der kam und ging mir sofort an den Hals!“
„Sollte vielleicht eine freundschaftliche Geste sein?“, meinte ich erstaunt und reichte ihm seine Brille.
„Nein, nein, der hat mich angegriffen! Das, das kann ich doch nicht zulassen. Da, da muss ich mich doch wehren!“, stotterte er schon etwas ruhiger, ohne uns anzusehen.
„Ja sicher, aber doch nicht so: Muss ich totmachen!“, äffte ich ihm nach.
Er riss sich aus der gelockerten Hand des Türken frei und ging, ohne uns weiter zu beachten, in die Stadtverwaltung.
Der nette Türke erklärte uns, dass er die beiden schon öfter gesehen hätte. Sie säßen immer in den Anlagen am Krankenhaus und würden dort trinken, sich später gegenseitig anpöbeln. Jetzt hätten sie sich zufällig hier alleine getroffen! Sonst wären sie immer mit mehreren zusammen.
So ungefähr hatte ich ihn verstanden. Seine Deutschkenntnisse waren leider nicht so gut. Ich bedankte mich für seine Hilfe, er winkte ab. Es schien für ihn selbstverständlich gewesen zu sein.
Als wir im Flur der Verwaltung noch etwas warten mussten, kam dieser junge Mann aus einem der Zimmer heraus und ich konnte ihm richtig ins Gesicht sehen. Er erinnerte mich an meinen Neffen, der auch so ein Hitzkopf war, wenn er angegriffen wurde.
Wir sprachen noch einmal kurz miteinander und auch er bedankte sich bei uns. Er war sichtlich froh, dass nicht mehr passiert war; seine Brille nicht zu Bruch ging, was für ihn ein erheblicher Verlust gewesen wäre.
Ich riet ihm noch, er solle in Zukunft die Fäuste in den Taschen lassen, wenn er wütend wird, und vor allem nie wieder sagen, „Muss ich totmachen!“, nicht einmal denken! Das könnte ganz böse ins Auge gehen und er säße nachher, für etwas, was er gar nicht getan oder gewollt hat, im Knast.
„Aber ich muss mich doch verteidigen“, meinte er uneinsichtig.
„Ja natürlich, aber nicht mit solchen Sprüchen. Daraus entstehen Missverständnisse!“ Ich sah ihm dabei wiederholt direkt ins Gesicht. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er nahm sich von dem Gesagten etwas an. Danach zog er, scheinbar innerlich zufrieden, ab.
Tante Gertrud hob erneut ihren Stock und rief ihm hinterher: „Musste nicht mehr tun Junge, so rumkloppen. Dat is nicht schön sowat. Nee, nee, dat iss nicht schön!“
Ich musste immer wieder über die Tante lächeln. Irgendwie war das ganz niedlich, wie sie so mit dem Stock fuchtelte, wie sie sprach und beim „Nee, nee“ mit dem Kopf schüttelte. Und ich freute mich verhalten, dass ihr Herz, das alles ausgehalten hat und hoffentlich noch aushalten wird. Schließlich hatten wir noch den Rückweg vor uns.
Sie können mir glauben, am späten Nachmittag hatte ich immer noch dieses unerklärliche und sonderbare Gefühl im Körper, dieser Schreck und diese Panik: Was tun, und hoffentlich das Richtige!
Und sonderbarerweise waren es gleich vier verschiedene Nationalitäten die da zufällig und unfreiwillig aufeinandertrafen. Dazu kam, dass alle, wirklich alle, dieselbe Sprache sprachen – die Sprache über den Blickkontakt.
Allerdings wurde mir an diesem Tag etwas ganz besonders klar: Uns allen standen gleich mehrere Schutzengel zur Verfügung.
Und jetzt, so im Nachhinein, frage ich mich schmunzelnd immer wieder: „Ob diese Engel auch vier verschiedene Nationalitäten hatten?“