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2.

Eine heilkräftige Pflanze mit langer Tradition

Um die Mistel ranken sich vielerlei Mythen. Der Glaube an ihre Zauberkraft reicht bis in die Antike zurück. So verhilft in der »Aeneis«, dem berühmten Heldenepos des altrömischen Dichters Vergil [70 –19 v. Chr.], ein Mistelzweig Aeneas, dem letzten Sohn der untergegangenen Stadt Troja, sich Zugang zur Unterwelt zu verschaffen, um seinen verstorbenen Vater wiederzusehen:

»Als Aeneas bei der kumäischen Sibylle nach dem Weg fragt, weist diese ihn an, zunächst einen Zweig zu suchen, dessen Laub hoch oben im Geäst golden leuchtet wie die Mistel im finsteren winterlichen Wald. Ohne diesen Zweig – so die weise Frau – könne er wohl den Weg hinab antreten, doch erst dessen Besitz sichere ihm auch wieder den Weg hinauf, aus der Unterwelt zurück in die Welt des Lebens und des Lichtes. Von zwei plötzlich auftauchenden Tauben geführt, findet Aeneas auf einer Eiche den Zweig, dessen Blätter im Wind klirren und wie jene der Mistel golden blinken. Er trägt den Zweig zur Sibylle, und gemeinsam begeben sie sich auf die gefahrvolle, Aeneas’ ganzen Mut fordernde Reise in die Unterwelt. Als die Reisenden an den breiten Strom gelangen, der in der Unterwelt das Reich der Unbestatteten vom Reich der Begrabenen trennt, zürnt der dort tätige Fährmann heftig. Er brüllt Aeneas an und weigert sich zunächst, ihn an das andere Ufer zu fahren, da er ein Lebender sei. Da jedoch holt die Sibylle unter ihrem Gewand den mitgeführten goldenen Zweig hervor, und dessen lang gemißter Anblick erweicht und beglückt den Fährmann so sehr, daß er, ohne zu zögern, seinen Kahn freimacht und die Wanderer an das jenseitige Ufer des Stromes übersetzt. Aeneas und die Sibylle gelangen schließlich an eine Gabelung des Weges, von wo der linke Pfad hinab in die Hölle, der rechte aber in das Reich der Seligen, das Elysium, führt. Den rechten Weg weiterschreitend, kommen sie bald darauf an das ersehnte Ziel, und ganz vorn an die Schwelle des Tores, das den Weg in das Reich der Seligen freigibt, heftet Aeneas auf Geheiß der Sibylle den goldenen Zweig. Dieser Zweig ist das Opfer, das er der in die Unterwelt gebannten Göttin Proserpina darbringt. Nun darf Aeneas das Elysium betreten und dort voller Glück seinen seligen Vater Anchises in die Arme schließen. Anchises belehrt seinen Sohn ausführlich über das Wesen des Menschen, über dessen Schicksal und die himmlischen Gesetze seines Werdens. Reich beschenkt nimmt Aeneas Abschied und begibt sich wieder hinauf in die Erdenwelt, wo seine Gefährten ihn erwarten, um zu neuen, herrlichen Taten aufzubrechen.« 3

Vom Mordwerkzeug zum Amulett

Im frühen Mittelalter spielt die Mistel in der »Edda«, einer Sage isländischen Ursprungs, eine zentrale Rolle. Darin wird ein Mistelzweig zum Mordwerkzeug:

»Baldur ist der lichte Gott des Asenvolkes, und ihn träumt, daß sein Tod bevorstehe. Voller Sorge nimmt Frigg, seine Mutter, darauf alle Wesen der Welt in Eid, dem Baldur kein Leid zuzufügen. Die Asen feiern auf diese gute Nachricht hin ein ausgelassenes Fest. Sie versuchen, Baldur zu schlagen und zu treffen, doch kein Hieb, keine Waffe vermag ihrem Liebling zu schaden. Das ergrimmt den Loki, den listigen Bruder des Baldur. Er verkleidet sich als altes Weib und erschleicht von Frigg das Geheimnis, daß ein Wesen ausgenommen blieb vom bindenden Eid. Die Mistel, die westlich von Walhall auf einem Baume wächst, erschien der Baldur-Mutter zu jung für diese Pflicht. Ohne Zögern macht sich Loki auf den Weg, reißt den Mistelzweig aus dem Baum und begibt sich zurück zum Fest der Asen. Dort steht, ein wenig abseits, der blinde Hödur. Er nimmt nicht teil am bunten und fröhlichen Treiben, weil er nicht sieht, wohin zu zielen, und nichts hat, womit zu werfen. Loki bedrängt ihn, sich auch in das ausgelassene Treiben zu mischen, und mahnt ihn, dem Baldur die gebührende Ehre zu erweisen. Er, Loki, werde ihm eine Waffe reichen und die Richtung weisen, in die er zu zielen habe. Spricht’s, drückt Hödur den Mistelzweig in die Rechte, lenkt den Arm des Blinden in die Richtung, wo Baldur steht und heißt ihn werfen. Hödur folgt, und augenblicklich fällt Baldur, tödlich getroffen, um.«4

Im späten Mittelalter vereinnahmte die christliche Mythologie die Mistel, welcher der (Aber-)Glaube magische Kräfte nachsagte. Schmuckstücke aus Mistelholz fanden Eingang in die christlichen Bräuche: Amulette, Brustkreuze, Rosenkränze wurden aus Mistelholz geschnitzt. Vielerorts wurden Mistelzweige am Palmsonntag unter die Weidenkätzchen gebunden und von Priestern geweiht.

Zaubertrank und Fruchtbarkeitssymbol

Druiden, keltische Priester mit dem Vorrecht auf Ausübung der Heilkunde, verehrten die Mistel, insbesondere die auf Eichen wachsende, als »omnia sanans«, die »alles Heilende«. Sie schnitten Eichenmistelzweige am sechsten Tag nach Neumond mit goldenen Sicheln und brauten daraus kräftigende und heilsame Tinkturen und Tränke. Dieser Mistelkult findet in den »Asterix«-Geschichten mit der Figur des Miraculix und seinem Zaubertrank, der den Galliern übermenschliche Kräfte verleiht, seinen Niederschlag. »Drudenfuß«, »Hexenbesen« und »Donnerbesen« sind alte Bezeichnungen für die Mistel – und deutliche Hinweise auf die geheimnisvollen, magischen Eigenschaften, die ihr zugeschrieben wurden. Auch heute noch hängen in vielen Wohnungen um die Weihnachtszeit Misteln über dem Türrahmen. Sie sollen Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlergehen im neuen Jahr sichern. Wenn sich ein Paar darunter küßt, sei ihm ein reicher Kindersegen sicher, heißt es.

In der Volksmedizin galt die Mistel als heilsam bei Menstruationsstörungen, Epilepsie und Bluthochdruck. Ihre krebsbekämpfenden Eigenschaften wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt.

Heilpflanze gegen Krebs

Als Heilpflanze in der Krebstherapie wurde die Mistel vom Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaft, dem Philosophen und Wissenschaftler Dr. Rudolf Steiner [1861–1925] entdeckt. Er äußerte sich Ende 1916 erstmals zu den Möglichkeiten einer Behandlung von Krebs mit Mistelextrakten. Die Ärztin Dr. Ita Wegman [1876–1943] griff seine Anregungen auf und entwickelte 1917 gemeinsam mit einem Zürcher Apotheker das erste Mistelpräparat Iscar, das 1926 in Iscador umbenannt wurde. Bis zu seinem Tod gab Rudolf Steiner zahlreiche Empfehlungen und Anregungen zur Misteltherapie, auf die sich anthroposophische Ärzte heute noch beziehen.

Daß Steiner gerade die Mistel als Heilmittel gegen Krebs empfahl, geht auf Parallelen zurück, die er zwischen dieser Pflanze und dem Wesen der Krankheit sah. Bei der Mistel »ist die wirksame Natur irrsinnig geworden, sie macht alles zur Unzeit«, sagte er am 2. April 1920 im 13. Vortrag zu Geisteswissenschaft und Medizin und riet: »Das ist gerade dasjenige, was man (…) benützen muß, wenn auf der anderen Seite der menschliche Organismus physisch irrsinnig wird, und das wird er ja zum Beispiel gerade in der Karzinombildung.«

Bösartige Tumore sind nach anthroposophischer Auffassung Fehlbildungen, die zur falschen Zeit im falschen Maß am falschen Ort im menschlichen Körper wachsen. Ebenso ist die Mistel eine Pflanze, die – gemessen an den üblichen Gesetzmäßigkeiten der Botanik – am falschen Ort wächst, nämlich auf Bäumen, nicht in der Erde, und zur falschen Zeit blüht und fruchtet, nämlich im Winter, nicht in der warmen Jahreszeit. Sie ernährt sich nicht selbst, sondern bezieht einen Großteil ihrer Nährstoffe von dem Baum, auf dem sie wächst. Auch ein Tumor ernährt sich von dem Körper, in dem er sich gebildet hat. Die Mistel spiegelt also gewissermaßen das Krebsgeschehen im Pflanzenreich.

Andererseits, so Steiner, ist die Mistel eine Art Gegenbild zum Krebsgeschehen. All das, was die normalen Gestaltungskräfte im Organismus wollen, will sie nicht – und umgekehrt will sie all das, was diese Kräfte überhaupt nicht interessiert. Konkret:

→Normalerweise bilden Pflanzen Wurzeln, um sich damit in der Erde zu verankern, und diese Wurzeln haben meist die Tendenz, relativ schnell abzusterben. Die Mistel dagegen bildet keine Wurzeln, sondern einen Senker, den sie in das junge Holz des Wirtsbaumes einsinken läßt und mit dem sie sich im Baum festhält. Dieser Senker bleibt jahrelang grün und hat keinerlei Tendenz, abzusterben.

→Jede Pflanze ist bemüht, eine möglichst große Blattoberfläche auszubilden und diese auf der Oberseite für die Aufnahme von Licht beziehungsweise an der Unterseite für die Abgabe von Kohlendioxid zu optimieren. Die Mistel dagegen läßt jährlich an jedem Zweig gerade mal zwei kleine, schmale Blättchen wachsen und gibt sich gar nicht erst die Mühe, zweierlei Schichten zu bilden – die Blätter sind oben und unten gleich.

Diese »Antitendenz« sowie ihre zeitlich und räumlich hochgradig organisierte Struktur prädestinieren die Mistel dazu, dem chaotisch wachsenden Tumor einen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Zum Arzneimittel aufbereitet, stellt sie dem Organismus Kräfte zur Verfügung, die diesem verlorengegangen sind, was das Tumorwachstum überhaupt erst ermöglicht hat.

Die Mistel

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