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3.

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In Europa lud der Zuständige zu Verhandlungen ein. Er präsentierte eine Liegenschaft. Den Namen, den er provisorisch gewählt hatte, ließ Petra in den Verträgen stehen. Sie nannte ihn aber nicht, wenn sie mit Betty über den Orden nachdachte. Niemals sprach sie von einer »Arbeitsgruppe Transtemporaler Kompetenzerhalt«.

»Amselverein« steht in ihrem Tagebuch. Sie notierte wenig zu den Entscheidungen, die sie traf, aber viel zur Natur. Im Sommer ’15 sah Petra das Stammhaus zum ersten Mal und besuchte es vor dem Einzug öfters, saß gern in seiner Nähe unter einem Nadelbaum. Die ersten zwei Jahre des Ordens hielt sie in kleinen Beobachtungen fest.

Auf einen langen trockenen Sommer, in dem Wespen halbreife Birnen aushöhlten, folgte ein Herbst, aber kein Winter. Das Gras wuchs auch im Januar und Wühlmäuse fielen in die Bienenstöcke ein, ließen sich nicht totstechen, fraßen Waben leer. Petra erwartete den Frühling ungeduldig. Aber es wurde dann doch noch Winter, Schnee fiel bis weit in den April. Fröstelnd saß sie unter Mirabellenblüten und träumte von einem Jahreskreis, der den Orden aus der Zeit hob. Es sollte immer Blüten geben im Frühling, man würde sich immer hinsetzen und sie bewundern können:

»… jedes Jahr werden die Perseiden zu sehen sein im Sommer, irgendwann Mitte August wird der Himmel nachts aufklaren, Sternschnuppen werden in lockerer Folge Glück versprechen. Es wird etwas zu ernten geben im Herbst, man wird sich nicht unterkriegen lassen, die Kartoffeln feiern, das Obst einlagern und ausgiebig trinken unter dem Mond, der im September, Oktober, November besonders groß und klar erscheint.«

Als Betty zusagte, nach Europa zu ziehen, wurde Petra zur Geschäftsführerin einer juristischen Person ernannt. Der Zuständige versprach, als guter Geist im Konsortium zu wirken und dem Orden von oben her zuzudienen. Das Stammhaus lag in einem ehemaligen Steinbruch im Wald versteckt, weit ab von allen Feldern. Am Eingang der weiten Grube waren die Hänge beidseitig abgerutscht und schlossen den Hof fast vollständig ein. Den einzigen Sonnenhang, einen Schotterkegel, hatte der Bauer, der hier siedelte, terrassiert. Er sei ein Spinner gewesen, hieß es im Dorf, und ein Verräter, sonst hätte er dem Konsortium nicht freiwillig Land verkauft.

Als Betty und Petra im Oktober ’15 den Hof bezogen, nannten sie sich »Müllmänner«. Betty lernte Deutsch. »Wir sind hier die Müllmänner«, sagte sie häufig, etwas ironisch, aber das änderte sich, als tatsächlich Männer dazustießen. Von nun an wurden im Alltag die neutralen englischen Namen »trashers« und »dumpers« verwendet. Der Müll, dem der Orden seine Gründung verdankt, hieß und heißt manchmal Abfall, Ressource, Dreck, Güsel, Grümpel, Schrott, Kehricht, Wertstoff, Ramsch, rubbish, waste, Schutt oder einfach Rest. Dass ein Ordensmitglied irgendwann begonnen haben soll, von Reliquum zu sprechen, ist nicht wahr.

Tief unter dem Stammhaus zieht sich eine dunkle Gesteinsschicht durch den Grund, sie ist 174 Millionen Jahre alt und beweglich. Es ist ein Wundergestein mit einem schönen Namen: Opalinuston. Schlägt man eine Höhle in diese Schicht und legt einen Behälter hinein, gießt Mantelmaterial in die Lücken, dann wird auch der Stein ein klein wenig aufquellen. Er wird den strahlenden Inhalt abschotten wie in einem uralten Bauch.

Vor zehn Millionen Jahren wurde dieses dunkle Band hochgehoben; mehrere, parallel laufende Bergketten haben sich gebildet. Dann krochen die Gletscher von Süden heran, deckten die Gegend zu. Sie schoben Geröll vor sich her, das zurückblieb, als die Gletscher schmolzen. Moränenhügel liegen jetzt quer, manchmal parallel zu den älteren Bergketten, ein unübersichtliches Hügelland mit breiteren und schmaleren Tälern ist entstanden. Die Flüsse und Bäche halten sich nicht an die Täler, die schon da sind, sie brechen durch die Hügelzüge, fressen sich neue Quertäler, ruhig liegt nur der Opalinuston, tief unter allem Land, das Wirtgestein. Es soll den strahlenden Müll aufnehmen und ewig sichern.

Südlich des Rheins, der sich durch dieses Hügelland zieht, werden die Bauarbeiten in zehn Jahren beginnen – es sei denn, die Pläne des Konsortiums würden von wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder einer Volksabstimmung durchkreuzt. Seit Kurzem wissen wir, dass auch nördlich des Rheins ein Lager gebaut werden könnte. Im Tongestein. Rund um den Globus suchen Konzerne einen sicheren Ort. Und wir machen uns bereit für die vollständige Dokumentation. Wir sammeln uns und fragen, wie die Eigenschaften der Tiefenfracht festzuhalten seien. In einem universalen Code? In allen möglichen Sprachen?

Wenn beim Stammhaus irgendwann die Baumaschinen auffahren, werden wir das aus der Ferne verfolgen, denn wir haben uns vorzeitig zerstreut. Auf drei Kontinenten halten wir unseren Tagesablauf ein und erinnern uns an einen Satz, den Petra unter Mirabellenblüten gesprochen hat: »Einfach zu dauern, scheint mir Aufgabe genug.«

Das Stammhaus steht uns noch klar vor Augen, wir träumen alle davon. Kurt kannte es am besten. Er wurde anfangs als Hausmeister verpflichtet, als Angestellter, und ist dem Orden dann unverhofft beigetreten. Mit Anatol, der als vierter ankam, arbeitete er im Simulatorium. Als die Pioniere ihre Ämter benannten, erhielt Kurt den Titel »Maschinist«. Er sorgte für den Hof mit allem Drum und Dran.

Der Bauer, dem das Land gehört hatte, war in den 1960er Jahren ermuntert worden, sein kleines Haus im Dorf zu räumen und auf freiem Feld technisch aufzurüsten. Da er kein Ackerland verbauen wollte, zog er in den ehemaligen Steinbruch. Dort ließ er eine Maschinenhalle errichten, einen großen Stall und ein Einfamilienhaus. Letzteres war zu klein für den Orden. Kurt baute den Keller aus, als sich Anatol angekündigt hatte, und als auch Céline anreiste, wurde der Dachstock isoliert und wohnlich eingerichtet. Petra ging Kurt zur Hand, wo sie konnte, Betty kümmerte sich um den Garten. Viel studiert haben alle, gelesen, gerechnet und geschrieben. Die Ersten Fünf gingen davon aus, dass sie zu wenig wussten. Sie wollten alles besser verstehen und genossen es, dass sie dafür unglaublich viel Zeit hatten.

»Ein Kloster lagert kein totes Wissen«, versprachen sie den Neuen, die sie anwarben. »Jede Generation wird übersetzen, anreichern und prüfen. Wir werden immer wieder die richtigen Sprachen finden.«

Im Sommer ’16 kamen zehn Neue dazu. Wir füllten die Ämter auf, sorgten für neue Einnahmen und erhöhte Aktivität. Auch Streit brach aus. Aber wir fanden wieder zur Einheit, legten Regeln fest. Die meisten von uns nahmen nicht wahr, dass sich ein Zerwürfnis mit dem Konsortium anbahnte. Nur wenige bekamen die Nachrichten zu Gesicht, die Petra mit der Finanzabteilung unserer Auftraggeber wechselte. Bis die bekannt gaben, unser Versuch sei gescheitert. Da schrieben wir den Frühling ’17. Das Gebilde, das uns konzipiert hatte, schien weit weg. Unter uns sprachen wir nur noch abfällig von den Konsorten. Den Namen des Zuständigen sprachen wir gar nicht mehr aus. Die uns geprüft haben wollen, hatten keine Vorstellung davon, was bei uns gedieh. Sie verstanden nicht, was es heißt, ein Gelübde abzulegen, sein restliches Leben einer Aufgabe zu widmen. Sie konnten uns nicht abschaffen.

Wir finden neue Brüder und Schwestern. Wer irgendwo aufgerieben wird zwischen panischer Hektik und ängstlicher Starre, findet bei uns eine Insel der Vernunft. Wir lernen und arbeiten. Was uns antreibt, findet sich in klassischen Werken von Irmtraud Morgner und Alexander Kluge, auch im altchinesischen Zhuangzi, es zeigt sich in morgendlichen Übungen, in Losungen und Lektionen, in den Regeln der Gemeinschaft. »Anatols große und erweitere Formelsammlung« liefert die Grundlage für Simulationen, die zuerst in der Maschinenhalle des Stammhauses Gestalt annahmen. Jedes Mitglied musste dort in einen verkabelten Anzug schlüpfen, einen Helm aufsetzen, sich mit dem digitalen Hirn eines Roboters vereinen, nach einem Alarm in Kavernen absteigen, in sicherem Abstand von jedem Lebewesen Risse im Fels vermessen, einen Wassereinbruch bekämpfen oder Schweißnähte prüfen.

Im Nachwort von Anatols Formelsammlung steht die Bezeichnung »Mindere Forscher«, die dem Orden, seiner Demut und seinem unendlichen Ehrgeiz am besten entspricht.

Tiefenlager

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