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4.

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Anatol wusste genau, was für eine Kirche er sicher nicht gründen würde. Keinen einzigen Tod werde er schönreden, sagte er gleich bei seiner Ankunft zu Petra, sein Innenleben sei streng privat, Rechenschaft werde er nur über seine Taten ablegen. Auch singe er nur, wenn ihm danach sei.

»Wird hier gesungen?«

»Bisher nur privat«, gab Petra zur Antwort.

»Wer versteht etwas von Nuklearphysik?«

»Kurt. Vom Praktischen her.«

»Und sonst?«

»Niemand.«

Anatol war Nuklearphysiker. Er kannte sich aus. »Mehr vom Theoretischen her«, sagte er nach einigen Wochen zu Kurt, denn er hatte nur kurze Zeit in einem Atomkraftwerk gearbeitet. Das war in den 1990 er Jahren gewesen, also schon lange her. Damals hatten die jüngeren Ingenieure und die Hilfsarbeiter für höhere Zulagen protestiert. Bald hatten sie alle gegen sich aufgebracht: die Alten, die Kommunisten, die Kapitalisten, Präsident Jelzin persönlich. Seither wusste Anatol auch ganz genau, was für einer Gewerkschaft er bestimmt nie beitreten würde: Einer Staatsgewerkschaft, die sich wie ein wankender Stahlturm auf jeden Funken Unruhe fallen lässt, alles platt macht, selbst wenn es den Staat, dem sie angehört, gar nicht mehr gibt.

»Dunkel«, sagte Betty auf Deutsch, als ihr Anatol erzählte, wie es damals gewesen sei in dem russischen AKW, wo er Anarchosyndikalist geworden war.

Petra bat ihn, das Amt des Forschers zu übernehmen, Physik und einiges mehr zu unterrichten. So begann Anatol, an seiner Formelsammlung zu arbeiten, Lektionen zu entwickeln, und mit Kurt saß er täglich zusammen, bis die erste Simulation lief.

»Worauf gründest Du Deine Hoffnung?«, fragte ihn Betty am ersten Tag.

»Auf uns und unsere Bereitschaft zum Opfer.«

Die Aufnahmebedingungen des Ordens hatten ihm sofort eingeleuchtet: Ein Mensch, der eintritt, muss mindestens 45 Jahre alt sein. Allfälligen Erben ist ein Pflichtteil auszuzahlen, das restliche Vermögen ist einzubringen. Von der Möglichkeit, in diesem Leben noch einmal Vater oder Mutter zu werden, ist glaubhaft Abschied zu nehmen.

Als das erste gemeinsame Gewand eingeführt wurde, sprach sich Anatol für einen kyrillischen Schriftzug auf der rechten, äußeren Hosennaht aus. Das Wort, das da stehen sollte, hieß auf Russisch und auf Deutsch »Liquidator«. Die Hose konnte sehr günstig und in großen Mengen im Laden des landwirtschaftlichen Genossenschaftsbundes gekauft werden. Es war eine graue Arbeitshose mit schwarzen Taschen. Ликвидатор sollte stets daran erinnern, dass der Träger dieser Hose zu sterben bereit war.

Wenn Anatol betete, dann für die Seelen jener Männer, die in Tschernobyl auf das Dach von Block 3 gestiegen waren, als Block 4 schon durchgebrannt war, und für die Bauarbeiter, die mit Beton einen Sarkophag errichteten und dabei verstrahlt wurden, für die Krankenschwestern, die Patienten auch dann noch pflegten, wenn sie zu gefährlichen Strahlenquellen geworden waren. Niemand konnte alle Namen der Toten nennen, es waren Tausende, Zehn- vielleicht Hunderttausende. Aber einige Namen nannte Anatol im zweiten April, als wir unsere Arbeit unterbrachen, um der Liquidatoren von Tschernobyl zu gedenken.

Weil er keinem Staat mehr angehören wollte, der Tausende von Menschen unwissend in den Tod schickt, war Anatol zum Orden gestoßen. Irgendjemand musste im Notfall freiwillig tun, was zu tun war.

Kurt sah das genauso, aber er hatte eine bessere Meinung von AKWs, von Staaten und von Kirchen. Sogar dem Konsortium brachte er zu Beginn ein gewisses Vertrauen entgegen. Ein Konzern, der dem Konsortium angehörte, betrieb in der Nähe des Stammhauses einen Atommeiler. Dort war Kurt jahrelang angestellt gewesen. Als ihm ein Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten die Arbeit erschwerte, boten sie ihm eine Stelle als Hausmeister der neuen Außenstelle an. So schied er aus dem Dienst im AKW aus, kümmerte sich im alten Steinbruch um die Gebäude des Ordens, um das Wohnhaus und die Maschinenhalle. Im Garten arbeitete er Seite an Seite mit Betty Wang. Er kannte den Boden besser und das Gemüse. Sie war ihm körperlich überlegen. Das hätte er nicht erwartet.

Im AKW war Kurt der Hektik stets mit Ruhe begegnet. Nur so sei ein Unfall zu vermeiden, ermahnte er Petra, wenn sie klappernd und stolpernd unterwegs war. Das wusste auch Betty. Sie kam aus einem Land, in dem die Leute abfällig sagten: »Der hat wohl pressiert«, wenn einer von einer Leiter stürzte, auf der Treppe stolperte oder einen Teller fallen ließ. »Nöd jufle«, war einer der wenigen alemannischen Ausdrücke, die ins Alltagsenglisch des Ordens eingingen: »Nichts überstürzen. Nicht huddeln. Don’t hurry«.

Kurt arbeitete nicht langsam, aber in einem steten Rhythmus. Bevor er ein Gerät ablegte, schaute er genau hin, ob da Platz war. Er hob auch nichts auf, ohne sich zuerst zu vergewissern, ob wirklich das Werkzeug bereitlag, das er sich vorgestellt hatte. Vier Bildschirme konnte er stundenlang parallel und aufmerksam betrachten, ohne etwas in eine Tastatur zu tippen, auch ohne einzunicken. Bei Routinearbeiten führte er die Handgriffe so exakt aus, als sei er selber eine Maschine. Automatisch, aber nicht gedankenlos.

Im Garten legte er Wert darauf, dass beim Jäten die Wurzeln der erwünschten, deshalb verschonten Pflanzen nicht verletzt wurden. Wildes Herumhacken war ihm ein Gräuel. Mit Betty teilte er die Devise: »Man muss den Kopf bei der Sache haben.«

»Das falsche Ventil geöffnet, schon steigt der Druck. Zwei Eimer verwechselt, schon fließt verstrahltes Material, wo es nicht sollte. Ein kleiner Fehler reiht sich an den nächsten, das gibt noch keinen GAU, aber die Strahlung steigt, die Nervosität auch und die Fehlerquellen nehmen zu. Kühlen Kopf bewahren, heißt es dann. Und wenn du Pech hast, rasieren sie dir abends diesen Kopf, damit dich die eigenen Haare nicht verstrahlen. Wie ein Sträfling kommst du aus der Schicht und weißt, dass die Gesamtdosis in deinem Körper wieder stark angestiegen ist. Wenn es so weitergeht, entlassen sie dich Jahre vor der Pension.«

Kurt hatte nicht nur im nahe gelegenen AKW gearbeitet, sondern auch in einer Anlage in Frankreich. Er hatte geholfen, einen alten Meiler abzubauen, war dann heimgekehrt und auf einen recht viel jüngeren Vorgesetzten getroffen, der ihm Floskeln servierte, neue Beurteilungskriterien. Es kam zu Störungen und zu Rückenschmerzen. Die hielten im Kloster nicht lange an. Betty zeigte ihm Übungen. Auch im Garten konnte jede Kniebeuge, jedes Anheben der Schubkarre, jede einzelne Bewegung mit Konzentration, muskelstärkend und kräfteschonend ausgeführt werden. Bald turnte der ganze Orden vor dem Frühstück. Kurt und Betty lieferten ab und zu einen Schaukampf.

Sie brachten die anderen Gründungsmitglieder aber nicht dazu, den Lieblingsfilm der beiden zu mögen: »Die Rückkehr zu den 36 Kammern der Shaolin«. (Ein Film, dessen chinesischer Titel, , von einem Journalisten als geheimer Name des Ordens missverstanden worden ist.) Hier sei sein Prinzip sehr schön dargelegt, sagte Kurt zu Petra: Ein Junge namens Ah Chieh kann sich nicht vorstellen, dass er in einen Orden aufgenommen würde. Also versucht er sich hineinzuschmuggeln, fliegt aber auf. Der Abt schickt ihn nicht fort, verknurrt ihn stattdessen dazu, das ganze Kloster einzurüsten. Drei Jahre lang arbeitet er am Baugerüst, das er ganz allein aus Bambusstangen aufrichtet, mit starken Schnüren sind die Stangen zu verknoten, bald kann er im Schlaf zwei Stangen übers Kreuz zusammenbinden. Niemand weiht ihn in Geheimnisse ein, kein Meister zeigt ihm etwas. Aber von seinem Gerüst aus schaut er den Mönchen zu, die im Innenhof trainieren. Wie von allein erledigen seine Hände schließlich die Arbeit und ganz nebenbei fließen die Übungen der Mönche in seine Bewegungen ein. Monatelang turnt er auf dem Gerüst herum, wird immer stärker, immer geschickter. Schließlich ist er, ohne es zu merken, ein begnadeter Kämpfer geworden. Mit einem eigenen Stil: Niemand sonst bindet seine Gegner mit starken Schnüren an Möbeln, Säulen und Pfosten fest.

Petra mochte die Idee, die Kurt und Betty mit diesem Film verbanden, aber sie zerschlug weiter Geschirr in der Küche, weil sie in Gedanken abschweifte und die Hände mitten in einer Bewegung etwas anderes taten, als sie sollten. Sie machte die Übungen mit, aber kaum saß sie an einem Gartenbeet, dachte sie an Bankkonten, ein Leck im Dach oder die kommende Eiszeit. Schon war die Wurzel einer mehrjährigen Rauke entzwei. Dabei hatte sie gehofft, mit dem Eintritt ins Kloster innere Ruhe zu finden. »… ein geruhsames Leben führen …«, hatte der Zuständige gesagt, an jener Bar in Hongkong. Nachdem Petra alle Verträge unterschrieben hatte, vernahm sie nur noch wenig aus der Zentrale, und doch schien sich die ganze Nervosität des Konsortiums im Klosterhof zu entladen. Die technischen und organisatorischen Probleme des Tiefenlagers vermehrten sich mit jedem Planungsschritt und es dauerte Monate, bis Petra erstmals daran glaubte, dass sich der Orden finanzieren ließe. In jener ersten Zeit mochte sie sich treulich hinter Betty stellen und ihre langsamen Schritte imitieren, tief in den Bauch atmen, ausatmen, die Hände schwenken lassen, als seien sie von höheren Kräften getragen. Aber kaum hatte sie den ewigen Atem der Welt aus ihrer Brust entlassen, stürzten Sorgen auf sie ein. Nachts lag sie noch lange wach im Bett – bis die erste Million zusammen war und Céline eine eigenwillige Pentatonik einführte. Von den Fünftonreihen alter Mönchsgesänge und chinesischer Elegien wollte sie nichts wissen. Besinnliches machte sie nervös. Aber eine Obsession mit der Zahl Fünf war von Betty auf sie übergegangen. Fünf Klangspuren sollten es sein: metallische Geräusche, Vogelstimmen, Wummern und Schlagen. Manchmal sang jemand mit. Anatol hatte einen wunderbaren Bass.

Tiefenlager

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