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Kapitel 2
Die Klempnerei Glembowski

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Um zehn nach acht ruft Müller uns zusammen, um die Ergebnisse der Zeugenbefragung und die ersten Erkenntnisse vom Tatort zusammenzutragen. Wir sitzen in dem Büro, das Trimmer, Nicola und ich uns teilen, einem großen hellen Raum mit baren weißen Wänden und Blick über eine Straßenkreuzung.

Ich berichte von meinem Gespräch mit dem dicken Belgier. „Und übrigens“, schließe ich, „habe ich eben mit dem Restaurant der Raststätte telefoniert. Die Kellnerin hat mir bestätigt, dass Vandelamotte gestern gegen 19:30 Uhr aufgetaucht ist, sich Sauerbraten mit Kartoffeln und Sauerkraut reingezogen hat, gefolgt von einem Stück Erdbeertorte und runtergespült mit acht halben Litern Bier. Um 21:30 Uhr hat sie ihm die Rechnung von 47,80 Euro präsentiert, er hat bezahlt und ist abgezogen. Eine halbe Stunde später hat das Lokal geschlossen, und nach ein bisschen Putzen und Aufräumen haben alle Angestellten das Gebäude verlassen. Die Frau hat mir versichert, dass der Parkplatz vollkommen leer war, als sie die Raststätte verließ - abgesehen von dem belgischen Laster. Damit hat sie im Grunde alles bestätigt, was der Belgier mir erzählt hat. Ich glaube also nicht, dass Vandelamotte etwas mit der Sache zu tun hat. Nach der Menge an Alkohol, die er intus hatte, hätte er wohl auch so einen sauberen Kopfschuss wie bei Zeisler nicht hingekriegt.“

Dann ist Nicola an der Reihe. Sie ist schon seit mindestens einer Stunde hier - ein früher Tagesbeginn im Kindergarten für die kleine Antonia - und war die ganze Zeit damit beschäftigt, die richtigen Gerätschaften zusammenzusuchen, um das Überwachungsvideo von der Tankstelle abspielen zu können. Schließlich kam sie mit einem monströsen Rollschrank aus den Katakomben des Präsidiums zurück, in dem sich ein mindestens zwanzig Jahre alter riesiger Videorekorder und ein wahrscheinlich noch älterer winziger Fernseher befinden.

„Sie haben dort zwei Kameras, die rund um die Uhr alles auf Band aufnehmen“, sagt sie. „Das System ist zwar absolut vorsintflutlich, aber immerhin. Damit muss man hier wohl schon zufrieden sein.“ Sie gibt das in einem geringschätzigen Ton von sich, der besagt, dass es sie auch nicht wundern würde, wenn Bielefeld noch nicht ans Stromnetz angeschlossen wäre. Dann blättert sie ihr Notizheft auf und schiebt sich ihre Lesebrille auf die Nase, eine dunkle Hornbrille, die ihr ein leicht oberlehrerinnenhaftes Aussehen verleiht.

„Der Kassierer der Tankstelle ist ein Milchbubi von 18 Jahren. Er heißt Max Burkhardt. Der Junge war so verstört, dass er kaum einen vollständigen Satz herausbekam. Das ist aber nicht so schlimm, da alles auf den Überwachungsbändern festgehalten ist. Allerdings war es gar nicht so leicht, ihn zu überreden, sie mir auszuhändigen - erst musste er seinen Chef anrufen und um Erlaubnis fragen. Wie dem auch sei, hier sind sie nun, und abspielen können wir sie auch. Der Zeitraum, der für uns interessant ist, ist zwischen etwa ein und halb drei Uhr, ich habe mir das eben schon mal schnell angesehen. Es passiert nicht viel in dieser Zeit, aber das, was passiert, ist ganz interessant. Ich zeige euch mal die Ausschnitte.“

Sie drückt auf einen Knopf am Videorekorder, und nach einigem Geflacker erscheinen auf dem Fernsehbildschirm nebeneinander zwei Bilder. Das linke, erklärt Nicola, gebe die Aufnahmen von der Außenanlage der Tankstelle wieder, das rechte die aus dem Innenraum. Sie spult das Band vor bis zu der Stelle, wo die kleine digitale Zeitanzeige oben im Bild auf 1:24 Uhr steht. Wir sehen den Autotransporter auf das Gelände der Tankstelle rollen. Der Fahrer steigt aus, tankt, geht ins Gebäude, zahlt, geht wieder raus, steigt ein. Dann verlässt der Wagen den Bereich der Aufnahme. Trimmer pfeift befriedigt durch die Zähne, sagt aber nichts.

Nicola lässt das Band bis 1:48 Uhr vorlaufen, als der blaue A8 an eine der Zapfsäulen fährt und Zeisler aussteigt, um ebenfalls zu tanken.

„Sieht nicht so aus, als sei eine zweite Person im Wagen“, kommentiert Trimmer. „Es sei denn, es versteckt sich jemand auf dem Rücksitz.“

Der Anwalt hängt den Zapfhahn ein, geht ins Tankstellenhäuschen, tritt zu dem Zeitschriftenregal, das entlang der Frontscheibe aufgebaut ist, und blättert eine Weile in verschiedenen Drucksachen aus der Pornosektion. Dann hebt er plötzlich den Blick, wirft die Zeitschrift, die er gerade in den Händen hält, achtlos zurück und springt zur Kasse. Dort tritt er ein paar Minuten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während der junge Kassierer sich mit dem Kreditkartenlesegerät abmüht, das anscheinend bockig ist. Schließlich scheint der Zahlungsvorgang doch erfolgreich zu sein, Zeisler sprintet zu seinem Wagen zurück und braust davon. Es ist 1:57 Uhr.

„Es gibt leider keinen Ton zu diesem Band“, sagt Nicola. „Der Kassierer sagt, dass Zeisler etwas gemurmelt hat, bevor er es plötzlich so eilig hatte. Ich habe dann natürlich ein bisschen nachgebohrt und daraufhin hat er behauptet, Zeisler habe von einem ‚Hanfer’ gesprochen.“

„Hanfer?“, frage ich. „Was soll das denn sein?“

„Vielleicht ein Kiffer“, sagt Trimmer.

„Ich weiß es nicht“, sagt sie, „und der Junge ist leider keine große Leuchte. Unter noch etwas mehr Druck war er sich plötzlich ganz sicher, dass Zeisler ‚Wenn Hanfer dental’ gesagt hat.“

„Hä?“, macht Trimmer.

Nicola zuckt ratlos und ein wenig entschuldigend die Schultern. „Zeisler muss richtig unangenehm geworden sein, als das mit der Kartenzahlung so lange gedauert hat, und er hat Max ziemlich übel angeraunzt. Ich glaube, er hat aus dem Fenster jemanden gesehen, der an der Tankstelle vorbeigefahren oder vorbeigegangen ist - aber hinten um das Gebäude herum, so dass er nicht auf dem Band auftaucht.“

Wir nicken zustimmend.

„Vielleicht war er mit dieser Person verabredet“, denke ich laut. „Vielleicht war es der Mann aus dem Lieferwagen.“

Nicola lässt das Band weiter vorlaufen. „Jetzt passiert erst mal wieder für eine Weile nichts“, sagt sie, „abgesehen davon, dass Max Burkhardt anfängt, über seinen MP3 Player Musik zu hören. Das dürfte erklären, warum er von den Schüssen nichts mitbekommen hat.“ Dann schaltet sie um auf Wiedergabe und tippt mit einem Finger der linken Hand auf die Zeitanzeige am Bildschirm. „Hier, um 2:12 Uhr, kommt dann der tschechische Fernfahrer.“

Wir sehen, wie der kurzhaarige blonde Fahrer des Autotransporters ins Bild läuft, im Tankstellengebäude verschwindet und dort mit wedelnden Armbewegungen dem Kassierer etwas erklärt. Max Burkhardt zieht die Kopfhörer aus den Ohren und starrt ihn bewegungslos an. Schließlich greift der Tscheche an dem verdutzen Jüngling vorbei zum Telefon hinter dem Tresen.

„2:12 Uhr, das passt“, sagt Müller. „Zu dieser Zeit ist der Notruf in der Zentrale eingegangen.“ Er wendet sich zu Trimmer. „Peter, damit sind wir bei deinem Zeugen.“

Trimmer kratzt sich erst mal genüsslich und ausgiebig am Kinn, so dass ich seine Fingernägel über die Bartstoppeln rasseln hören kann. „Der Tscheche heißt Dušan Janáček“, sagt er. „Man könnte ja meinen, diese Leute wählen ihre Namen extra so, dass unsereiner sie nicht aussprechen kann.“ Dann fügt er genüsslich hinzu: „Ich sage euch, dieser Typ hat ganz eindeutig Dreck am Stecken.“

Ich drehe die Augen zur Zimmerdecke und schnaube. „Ist ja klar.“

„Hör mir lieber erstmal zu“, sagt Trimmer, „bevor du hier unqualifiziert deine Meinung äußerst. Janáček kommt aus Ušti nad Labem an der tschechischen Grenze, aber er arbeitet für ein deutsches Fuhrunternehmen. Der Mann transportiert Autos von München nach Rotterdam - das sagt er aus, und so steht es auch in den Frachtpapieren. Was macht er also auf einem Rastplatz bei Bielefeld?“ Er wirft mir einen triumphierenden Blick zu. „Du stimmst mir sicher zu, dass er da normalerweise über Stuttgart und Köln fahren müsste. Von mir aus vielleicht auch noch über Nürnberg und dann auf der A7 hoch, an Kassel vorbei und durchs Ruhrgebiet. Aber auf einer Raststätte an der A2 bei Bielefeld hat er ganz bestimmt nichts verloren.“

„Vielleicht hat er sich verfahren“, führe ich an, aber glaube das natürlich selber nicht.

„Haha“ sagt Trimmer. „Und das ist noch nicht alles. Die vorherige Nacht, die von Samstag auf Sonntag, hat er auf der Raststätte Herford verbracht. Das liegt mal gerade zehn, fünfzehn Kilometer von hier - und abgesehen davon noch weiter ab von seiner Route. Warum er in Herford war? Weil die sanitären Anlagen so gut sind an diesem Rastplatz, hat er mir erklärt. Das ich nicht lache. Welcher Mann interessiert sich denn für so was - wie `ne Schwuchtel sieht der Tscheche nun nicht aus. Warum er dann nach Bielefeld weiter gefahren ist? Und das unter Missachtung des Sonntagsfahrverbotes, wie ich hier noch einmal schnell anmerken will. In Herford ist es ihm zu langweilig geworden, nachdem er dort den ganzen Tag zugebracht hat. Ich bitte Euch, der Heini will uns wohl verarschen.“

Er greift nach der Zigarettenschachtel auf seinem Schreibtisch, schüttelt eine Zigarette heraus und sagt in Müllers Richtung: „Ich hätte ihn gleich eingesackt - aber du wolltest ihn ja gehen lassen. Allein für das Fahren am Sonntag hätten wir den Tschechen schon drankriegen können.“

„Wir sind doch nicht die Verkehrspolizei“, sagt Müller.

„Ich sage euch“, prophezeit Trimmer, „das werden wir noch bereuen. Was ich auch nicht verstehe: Die Schüsse will er um ziemlich genau zwei Uhr gehört haben. Pamm, pamm - dicht hintereinander. Aber erst um 2:12 Uhr taucht er in der Tankstelle auf, um die Polizei zu rufen. Dazu sagt er: er hat sich erst nicht aus seinem Laster getraut, hatte Angst, dass der Mörder noch irgendwo im Gebüsch hockt. Also wirklich, das glaubt doch kein Mensch. Noch mal kurz gefasst: Ich bin mir sicher, dass mit dem Typen etwas nicht stimmt - und ich verspreche Euch, ich finde noch heraus, was es ist.“

„Tu das“, sagt Müller. „Aber zuerst möchte ich, dass du mit Hannah zur Klempnerei Glembowski fährst. Wir müssen unbedingt wissen, wer der tote Mann in dem Wagen ist.“

„Okay, okay“, sagt Trimmer. „Aber eine kurze Zigarettenpause wirst du mir ja wohl erst gönnen.“

Die Klempnerei Glembowski liegt in Brackwede, hinter dem Kamm des Teutoburger Waldes, im Erdgeschoss eines grauen, schmucklosen Häuschens aus den 50er Jahren. Das Geschäft hat eine große Glasscheibe zur Straße hin, hinter der eine Pappfigur in Latzhose ein Rohrreinigungsmittel anpreist. Ein Aufkleber mit dem Slogan ‚Wir sind Ausbildungsbetrieb!’ klebt auf der Eingangstür. Als wir eintreten, ertönt ein kurzes Klingeln, und auf dieses Signal hin kommt ein kleiner kräftiger Mann mit kurzen dunkelgrauen Haaren und ebensolchem Bart aus dem hinteren Teil des Raumes auf uns zu. Er trägt einen blauen Arbeitsoverall mit dem aufgenähten Schriftzug der Klempnerei.

„Kann ich Ihnen helfen?“.

„Herr Glembowski?“, fragt Trimmer.

„Nein, Manfred Horstkämper“, sagt der Mann. „Der Chef ist nicht hier. Er muss heute Morgen schon weggefahren sein. Als ich kam, war er nicht hier, und der Wagen ist auch fort. Ich rechne aber jeden Moment mit ihm, wir haben einen Termin um neun, eigentlich müssten wir schon seit zwanzig Minuten weg sein.“

Trimmer stellt uns vor und fragt Horstkämper, wie sein Chef aussieht. Die Beschreibung passt so genau auf den toten Mann vom Parkplatz, dass Trimmer dem Klempner gleich erklärt, er solle heute auf seinen Chef besser nicht mehr warten, der sei nämlich heute nacht erschossen worden. Horstkämper reißt erschrocken die Augen auf. Trimmer ist nicht unbedingt bekannt für seinen mitfühlenden Umgang mit Hinterbliebenen. Ich frage den Mann, ob Glembowski Familie habe.

Er nickt und zeigt auf die Zimmerdecke. „Er ist verheiratet. Die Wohnung der Glembowskis ist im ersten Stock.“ Dann fügt er hinzu: „Die arme Jutta.“

„Führten die Glembowskis eine gute Ehe?“, frage ich.

„Woher soll ich das wissen?“, entgegnet er in einem plötzlich gereizten Ton. „Denken Sie, der Chef hat mir bei der Arbeit von seiner Ehe erzählt? Stecke ich drin in den Leuten?“ Dann fügt er etwas besänftigt hinzu: „Also ja, nach allem, was ich weiß, war die Ehe in Ordnung.“

„Und wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Chef?“

„Ich arbeite seit fast 20 Jahren hier. Seit der Chef die Firma gestartet hat“, sagt er, als beantworte das alle Fragen.

„Das heißt, Sie verstanden sich gut?“

Er nickt.

„Und gibt es noch weitere Angestellte?“

„Nicht mehr. Seit September sind wir nur noch zu zweit. Vorher hatten wir einen Gesellen.“

„Warum jetzt nicht mehr? Gingen die Geschäfte schlecht?“

„Nee.“ Horstkämper nestelt an seiner Hosentasche, zieht ein paarmal den Reißverschluß auf und zu. „Der hat sich das Leben genommen.“

„Ach“, sagt Trimmer interessiert. „Dann war Glembowski vielleicht doch kein so guter Chef?“

Der Klempner guckt ihn entrüstet an. „Also mit uns hatte das ganz bestimmt nichts zu tun. Der Chef war so geduldig mit dem Jungen, das war fast schon übertrieben. Wegen der Arbeit hat der sich nicht umgebracht, auf keinen Fall.“

„Warum dann?“

„Der war einfach ein bisschen merkwürdig. Mehr so ein Weichei. Mit dem stimmte was nicht.“

„Wie hat er es gemacht?“, frage ich.

„Erhängt. Draußen im Umland, in Richtung Lage raus. In so einer alten Fabrikruine. Armer Kerl, war noch keine 20 Jahre alt.“

Trimmer fragt Horstkämper, ob er mit dem Namen Hans-Hermann Zeisler etwas verbindet.

„Warten Sie mal. Irgendwie schon.“ Horstkämper zieht die Augenbrauen zusammen und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, als müsste irgendwo etwas an die Wand geschrieben sein, was ihm weiterhelfen könnte. Dann schüttelt er den Kopf. „Ich habe das Gefühl, dass ich den Namen kenne, aber ich kann ihn nicht einordnen. Ich habe aber auch ein schlechtes Gedächtnis. Die Termine mit den Kunden muss ich auch immer sofort notieren, damit ich nichts vergesse.“ Das bringt ihn auf eine Idee. „Kommen Sie mal mit.“ Wir folgen ihm in den hinteren Teil des Landens, wo er aus einer Schreibtischschublade eine dicke, ausgefledderte Kladde hervorzieht. „Der Chef war immer sehr sorgfältig mit der Buchführung. In diesem Auftragsbuch sind alle unsere Termine verzeichnet mit den Namen und Adressen unserer Kunden. Wenn dieser Mann - sehen Sie, ich habe den Namen schon wieder vergessen - also, wenn der einer unserer Kunden war, dann finden Sie ihn hier drin.“

Er lässt uns das Buch mitnehmen, notiert sich aber noch schnell die Termine für die nächsten Tage. Trimmer erkundigt sich nach seinem Alibi.

„Um zwei Uhr nachts, sagen Sie?“, fragt Horstkämper. „Da habe ich geschlafen, wie alle vernünftigen Menschen.“

„Er hat recht“, sagt Trimmer, als wir in die erste Etage zur Wohnung der Glembowskis hochsteigen. „Zwei Uhr ist eine bekloppte Zeit, um sich umbringen zu lassen. Keiner hat ein nachprüfbares Alibi, und niemanden kann man dafür verdächtigen, um die Zeit geschlafen zu haben.“

Frau Glembowski ist eine kurzgewachsene, rundliche Person mit dünnem, glanzlosem, mausbraunem Haar und einem breiten, schwammigen Gesicht mit großer Nase. Man könnte sie als gänzlich unattraktive Frau beschreiben - aber nur bis sie den Mund aufmacht. Ihr voller, rauchiger Alt lässt selbst das profane „Guten Morgen“, mit dem sie uns die Tür öffnet, verführerisch und mysteriös klingen.

Ich reiße mich zusammen.

„Wir kommen wegen Ihres Mannes. Michael Glembowski“.

„Mein Mann ist nicht hier“, gurrt sie. „Er müsste unten im Laden sein. Ich würde Sie runter bringen, aber ...“ Sie zeigt an sich herunter. Sie trägt einen Schlafrock und Pantoffeln. „Ich bin grade erst aufgestanden. Sie finden den Weg schon allein.“

„Wann haben Sie ihren Mann zuletzt gesehen?“, fragt Trimmer.

„Gestern Abend, bevor ich ins Bett gegangen bin.“

„Danach nicht mehr?“

„Wir haben getrennte Schlafzimmer“, sagt sie. „Was soll denn diese Fragerei? Was hat Michael angestellt, dass ihn die Polizei sucht?“

Sie lacht ein kehliges Lachen, das aber plötzlich abbricht, als sie unsere Mienen sieht. Sie lässt uns eintreten, ich bringe sie dazu, sich in einen Sessel zu setzten. Wir erklären ihr, dass ihr Mann in der Nacht umgebracht wurde.

Sie sitzt da, schüttelt den Kopf und sagt wieder und wieder: „Dass kann nicht sein, das kann nicht sein“. Dann beginnt sie zu weinen.

Ich taste erfolglos in meiner Jacke nach Taschentüchern und blicke mich dann suchend im Wohnzimmer um. Es ist ein merkwürdig eingerichteter Raum. Die Möbel sind nüchtern, funktional, ohne jeden Schnickschnack, der Teppich grau und abgetreten. Aber an den Wänden stehen drei große Glasvitrinen, die mit wild zusammengewürfeltem Nippes gefüllt sind. Mir wird fast schwindlig von den kleinen Elefantenfiguren, den hässlichen Plastikpüppchen in traditionellen Trachten, den bayerischen Bierkrügen, dem Karussell mit kleinen Silberlöffelchen mit Stadtwappen, dem mit chinesischen Motiven bemalten Teeservice aus hauchdünnem Porzellan und all dem anderen Krimskrams. Tatsächlich entdecke ich schließlich eine Packung Tempos auf der Fensterbank und reiche sie Jutta Glembowski.

„Wer hat das getan?“, fragt sie und blickt mich mit großen tränenunterlaufenen Augen an. „Und warum?“

„Wir wissen es nicht. Noch nicht. Deshalb müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Das verstehe sie, sagt sie, müsse sich aber für einen Moment entschuldigen. Sie steht auf und verschwindet im Badezimmer. Als sie nach fünf Minuten wieder herauskommt, sind ihre Augen gerötet, aber trocken, und sie wirkt gefasst und konzentriert.

„Fragen Sie mich alles, was Ihnen weiterhelfen kann.“

Trimmer ist natürlich hauptsächlich interessiert an dem Teil der Geschichte, in dem es um die getrennten Schlafzimmer geht. „Sie wollen uns also erzählen, dass Sie nichts von dem mitgekriegt haben, was Ihr Mann in dieser Nacht gemacht hat?“

„Das ist richtig. Als ich um halb elf ins Bett gegangen bin, war Michael noch wach. Mein Schlafzimmer liegt nach hinten raus mit Blick auf den Garten. Es ist dort sehr ruhig, und ich höre nicht, was sich vor dem Haus abspielt. Ich habe mir das so gewünscht, weil der Betrieb in der Klempnerei oft früh losgeht und ich nicht geweckt werden will. Gestern Abend bin ich dann auch gleich eingeschlafen.“

Ich frage: „Ist das normal, dass Ihr Mann später als Sie ins Bett geht, obwohl er mit seiner Arbeit so früh anfängt?“

Sie wiegt nachdenklich den Kopf. „Das ist nicht immer so, aber manchmal kommt es vor. Normalerweise ist der Grund dafür sein Kram hier.“ Sie zeigt auf die Glasvitrinen. „Er kann Stunden damit verbringen, das Zeug neu zu arrangieren, zu polieren und umzuräumen. Das hat er auch gestern Abend gemacht. Einen Teil seiner Sammlung in den Keller gebracht, einen anderen hochgeholt und aufgestellt, die Vitrinen geputzt, die Porzellanpüppchen frisiert und so weiter.“

Trimmer ist verblüfft. „Sie wollen uns allen Ernstes erzählen, dass diese Figürchen in den Vitrinen eine Leidenschaft ihres Mannes sind? Das ist doch eher ein Frauenhobby.“

„Das denken viele“, sagt Jutta Glembowski. „Und, um ehrlich zu sein, ich habe es auch immer für einen merkwürdigen Zeitvertreib für einen Klempnermeister gehalten. Ich habe ihn geneckt und gesagt, ‚Klempner, bleib bei deinen Rohren’.“ Sie lächelt und fährt fort: „Aber Michael konnte sehr stur sein. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr so leicht davon abzubringen. Und letztendlich, warum sollte er sich nicht um seine Sammlung kümmern, wenn es ihm Freude machte? Solange ich nichts damit zu tun haben musste ...“

„Sie beide zusammen hatten also nicht mehr viel Freude?“, fragt Trimmer mit dem ihm eigenen Takt.

Sie lässt sich nicht provozieren. „Wenn Sie damit ehelichen Geschlechtsverkehr meinen, dann nein. In dieser Hinsicht war unsere Ehe nicht mehr aktiv.“

„Das heißt, Ihre Ehe bestand im Grunde nicht mehr.“

„Das ist Ihre Interpretation“, sagt sie, „nicht meine. Wir haben zwar nicht mehr miteinander geschlafen, aber für Michael und mich war das nicht der wichtigste Aspekt unserer Ehe. Das Wesentliche war noch da: Respekt und Vertrauen.“

Trimmer bleibt skeptisch. „Und Ihr Mann sah das ebenso? Sind Sie sicher, dass er keine Affäre hatte, um ab und zu auch mal ein bisschen Spaß im Bett zu haben?“

Sie sieht ihn herausfordernd an. „Ich bin mir sicher. Michael konnte ganz gut selbst für seine sexuelle Befriedigung sorgen.“

Meinem Kollegen verschlägt es für einen Moment die Sprache, und das nutze ich für eine Frage.

„Ihr Mann hat Ihnen gegenüber also nicht erwähnt, dass er in der Nacht noch wegfahren wollte?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Hat er sich irgendwie ungewöhnlich benommen?“

„Gestern Abend? Eher nicht. Wie gesagt, er war mit seinem Zeug beschäftigt. Er war ziemlich still und nachdenklich, aber das war nichts Ungewöhnliches in der letzten Zeit, da war er oft so.“

„Gab es dafür einen bestimmten Grund?“

„Ich glaube, das hatte mit dem Tod seines Gesellen Joachim zu tun. Der hat sich das Leben genommen - natürlich hat Michael das belastet.“

„Fühlte Ihr Mann sich schuldig?“

„Irgendwie wahrscheinlich schon. Er war sein Chef und hat jeden Tag mit ihm zusammengearbeitet. Sicher hat er gedacht, er hätte es mitkriegen müssen, dass Joachim so etwas vorhatte. Aber, wissen Sie, Michael hat über seine Gefühle nicht sehr viel gesprochen, er war ein typischer Mann in dieser Hinsicht. Vielleicht hätte ich ihn mehr dazu drängen sollen, sich auszusprechen.“

„Hans-Hermann Zeisler“, schaltet Trimmer sich ein, dem es wohl an dieser Stelle zu sentimental wird, „kannten Sie den?“

„Nie gehört. Wer ist das?“

„Ein Anwalt, der in Oerlinghausen lebte. Er ist zusammen mit Ihrem Mann getötet worden gestern Nacht.“

„Anwalt?“, sagt sie. „Ich kenne keine Anwälte. Michael kannte auch keine, so weit ich weiß.“

„Sind Sie berufstätig?“, frage ich.

Sie verneint. „Die Klempnerei hat immer genug abgeworfen, dass wir beide davon leben konnten. Es war nie nötig für mich, auch Geld zu verdienen. Also habe ich beschlossen, mich mit wichtigeren Dingen als dem Geldverdienen zu beschäftigen. Ich arbeite vier Nachmittage pro Woche ehrenamtlich in einem Verein, der Hausaufgabenhilfe für lernschwache Schüler anbietet. Ich bin auch Kassenwart dort.“ Ihre Augen blitzen stolz auf. „Von unseren Kindern haben 70% im letzten Sommer die Versetzung in die nächste Klasse geschafft. Das klingt für sie vielleicht nicht besonders beeindruckend, aber tatsächlich ist das ein fast unglaublicher Erfolg.“

Wir stehen auf, um zu gehen, bitten sie aber noch, im Laufe des Tages in die Gerichtsmedizin zu kommen, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren. Sie verspricht es.

Als sie uns zur Tür gebracht hat und wir schon im Treppenhaus stehen, sagt sie zu mir: „Ich möchte Sie auch noch etwas fragen. Aber Sie müssen mir versprechen, ehrlich zu antworten.“

Ich nicke.

„Mein Mann“, sagt sie, „ist er schnell gestorben, kurz und schmerzlos - und ohne Angst?“

Ich wünschte, ich hätte ihr vorher kein Versprechen gemacht. Doch jetzt muss ich mich auch daran halten.

„Nein“, sage ich, „leider nicht“.

Sie zieht mit der Hand den Kragen ihres Schlafrocks zurecht. In ihrem Gesicht kann ich keine Reaktion ablesen. „Ich möchte, dass Sie eins wissen“, sagt sie. „Michael war ein gutherziger und aufrichtiger Mann. Was immer in der letzten Nacht passiert ist, er hat es nicht verdient, auf eine solche Weise zu sterben.“

Wir verlassen das Haus und treffen auf Manfred Horstkämper, der auf den Treppenstufen sitzt, die zum Ladeneingang hinaufführen, den Kopf in die Hände gestützt.

„Was soll denn jetzt werden?“, fragt er uns, als könnten wir helfen. „Ich kann doch den Laden nicht alleine weiterführen. Erst ist Zhubin weg, dann bringt Joachim sich um, und jetzt ist auch noch Michael tot. Wir kamen vorher schon kaum mit den Aufträgen hinterher.“

„Wer ist Zhubin?“, frage ich.

„Zhubin Mehdiabandi. Der war auch Lehrling hier. Wir haben ihn zusammen mit Joachim ausgebildet. Wir konnten dann nur einen von beiden als Gesellen übernehmen - die Finanzen, wissen Sie. Michael hat sich also entschieden, Zhubin gehen zu lassen. Der war uns deshalb sehr böse. So böse, dass er auch nach Joachims Tod nicht wiederkommen wollte, als Michael ihm das Angebot machte.“

„Dieser Zhubin war also auf Glembowski nicht gut zu sprechen?“ Trimmers Interesse ist geweckt. „Wo finden wir den denn?“

Horstkämper erklärt uns, Zhubin arbeite zur Zeit im Lebensmittelladen seines Onkels, und nennt uns eine Adresse im Bahnhofsviertel. „Traut sich da die Polizei überhaupt hin“, fragt er, „oder lasst Ihr das Gesocks alleine und haltet Euch raus?“

Die Gegend, auf die er sich bezieht, ist ein sozialer Brennpunkt, so weit Bielefeld überhaupt solche hat, und überwiegend von Ausländern bewohnt.

„Wir halten uns aus nichts raus“, sagt Trimmer. „Wenn ich meinen Willen hätte, würden wir da mal so richtig durchgreifen. Alle, die Ärger machen, einfach wieder nach Hause schicken. Sollen sie doch sehen, wie sie in ihrem eigenen Land klarkommen, wenn sie sich an unsere Sitten nicht anpassen können.“

Problem gelöst. Die beiden Männer nicken zufrieden. Man versteht sich.

In Sippenhaft

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