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Vorwort

Der religiöse Quellcode, über lange Jahrhunderte monopolistisch von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften verwaltet, ist in unseren Breiten seit einiger Zeit zur individuellen Nutzung freigegeben. Das hat zwei für christliche Pastoral einschneidende Konsequenzen: Zum einen greift ihre klassische Gottesrede nicht mehr selbstverständlich, da sie nicht mehr mit einem gemeinsamen Plausibilitätsraum rechnen kann – auch nicht in den existentiellen Situationen des Lebens. Zum anderen entwickeln sich außerhalb der christlichen Kontexte neue, eigenständige und auch noch weitgehend unbekannte individuelle religiöse Praktiken und Diskurse. Das lässt vermuten, dass spezifische Orte existieren, an denen Menschen zur Bewältigung ihres Lebens eigenständig Theologien entwickeln.

Die Studie von Annette Stechmann ist von beiden Erfahrungen her geprägt und entworfen. Als langjährige Krankenhausseelsorgerin mit Schwerpunkt auf der Begleitung von Müttern, deren Kinder tot geboren wurden, kennt die Verfasserin die Sprachnot traditioneller christlicher Gottesrede in solchen und verwandten Situationen gut. Andererseits hat Frau Stechmann in vielfältigen Gesprächen mit betroffenen Frauen deren Fähigkeit erlebt, ihre Situation auch mit der Entwicklung jeweils „eigener Theologien“ jenseits christlicher Orthodoxie zu bewältigen.

Es zeichnet diese Forschungsarbeit aus, sich naheliegenden Umgehungsstrategien zu verweigern und weder zu fordern, die Frauen vorsichtig, aber bestimmt auf den Weg zum kirchlichen Glauben zurückzuführen, noch dafür zu plädieren, die christliche Gottesrede mehr oder weniger verschämt zurückzunehmen und es bei jenen kommunikativen Prinzipien Empathie, Authentizität und Respekt zu belassen, die etwa die Humanistische Psychologie empfiehlt und wie sie die neuere Krankenhausseelsorge in berechtigter Ablösung älterer sakramentenpastoral orientierter Konzepte übernommen hat.

Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet vielmehr, wie es heute angesichts des Leidens von Müttern totgeborener Kinder noch oder wieder möglich ist, vom christlichen Gott zu sprechen, also weder zu verstummen, noch einfach auf vergangene theologische Sprachmuster zurückzugreifen. Diese Frage motivierte die Arbeit, treibt sie voran, und findet zum Schluss auch eine spezifische und weiterführende Antwort; sie besitzt zudem Relevanz weit über das engere Forschungsfeld hinaus.

Am „locus theologicus existentialis“ trauernder Mütter wird deutlich, dass es die Kraft weiterzuleben ist, die diese Frauen eint, obwohl oder gerade weil sie erfahren haben, wie zerbrechlich das Leben ist. Die hier interviewten Frauen entwickeln „eigene Theologien“. Sie verwenden dazu christliche, aber auch andere religiöse Traditionen und teilweise entwickeln sie selbst neue religiöse Diskurse. Ihre Theologien liegen quer zu einschlägigen theologischen Fach-Diskussionen. Die Zerbrechlichkeit wie das Neuwerden religiöser Sprache dokumentieren sich hier in einem.

Annette Stechmann hält zu Recht fest, dass die christliche Theologie angesichts der in den Interviews erhobenen, existentiell bewährten unorthodoxen Theologien der Frauen realisieren muss, dass sie mit ihren Traditionen nur noch auf fragilem Boden steht. In einem innovativen methodischen Schritt hat Frau Stechmann eine Reihe renommierter deutschsprachiger systematischer Theologen und Theologinnen eingeladen, diesen Boden zu betreten und sich den spezifischen Theologien der trauernden Frauen auszusetzen. Die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen aus der Systematik dokumentieren die Bereitschaft zu hören, sich berühren zu lassen, verletzbar und angreifbar zu werden, ohne zu verstummen. Diese Theologinnen und Theologen hören, denken und lernen – um dann ihre Theologie zu wagen.

Dies und auch das Schlusskapitel der Autorin selbst belegen nachdrücklich Dorothee Sölles Feststellung, Theologie habe mehr mit Poesie und Kunst zu tun, als nur Wissenschaft zu sein.1 Wenn Annette Stechmann das Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Zärtlichkeit ortet und Zärtlichkeit dabei mit Isabella Guanzini als elementare Wahrnehmung der Endlichkeit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge begreift, dann eröffnet sich von hierher eine Perspektive auch auf die Frage nach dem zukünftigen Design der wissenschaftlichen Theologie.

Annette Stechmanns Arbeit ist an der Schnittstelle von Systematischer und Praktischer Theologie angesiedelt, denn sie fragt nach den abduktiven, also überraschenden und nicht direkt planbaren Konsequenzen der neuen Situation der Rede von Gott für diese Rede selber. Sie reiht sich damit ausgezeichnet ein in jenen neueren Forschungsstrang der Praktischen Theologie ein, der, meist mit Mitteln der empirischen Sozialforschung, in den konkreten Praktiken des Volkes Gottes innovative und kreative Orte einer zukünftigen zeitgemäßen Pastoral eruieren und explorieren will.

Auf jeder Seite der hier vorgelegten Arbeit spürt man die langjährige pastorale Erfahrung der Verfasserin. Man spürt aber auch das Vertrauen in die christliche Gottesrede, ein Vertrauen, das freilich nur im Wagnis der ungeschützten und liebevollen Begegnung eingelöst werden kann.

Rainer Bucher

Graz, 10.1.2018

1 Vgl.: D. Sölle, Gegenwind. Erinnerungen (Gesammelte Werke, Bd. 12), hg. v. Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Freiburg/Br. 2010, 62.

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder

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