Читать книгу Aber ich bin doch selbst noch ein Kind! - Annette Weber - Страница 5

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„Gestern stand es wieder in der Zeitung. Viele Schüler kriegen keinen Ausbildungsplatz, weil sie beim Einstellungstest nicht die kleinste Kleinigkeit können. Noch nicht mal Bruchrechnen. Oder Prozentrechnen.“

Herr Dinger wanderte in der Klasse auf und ab und schimpfte vor sich hin.

„Nicht mal das kleine Einmaleins kriegen sie gebacken. Von der Rechtschreibung ganz zu schweigen.“

Die Klasse schwieg.

„Heiß heute“, dachte Laura. „Schrecklich heiß.“ Sie zwang sich, ruhig zu atmen.

Die Sonne knallte unbarmherzig durch das Fenster. Es war Mitte August. Die Sommerferien waren schon zu Ende, da schlug der Sommer noch einmal zu. Aber jetzt war es nichts mehr mit Freibad und Feten. Jetzt musste gepaukt werden. Das 9. Schuljahr musste geschafft werden. Und gut geschafft werden, wenn man in die bessere Leistungsgruppe wollte. „Vladimir, kannst du die Fläche eines Rechtecks berechnen?“

Vladimir gab ein leises Grunzen von sich. Natürlich konnte er es nicht. Er hatte nie den großen Durchblick in Mathe.

„Dacht ich ’s mir.“ Herr Dinger stapfte wütend weiter. „Was willst du denn mal werden?“ Vladimir grinste. „Papieraufpicker im Park.“

Die Klasse grölte. Nur Herr Dinger konnte nicht lachen. Im Gegenteil. Er schien immer wütender zu werden.

„Kommst dir wohl sehr witzig vor, was?“

Er drehte sich zu Coral um. „Kannst du die Fläche berechnen, Coral?“

„axb.“

„Und von einem Dreieck?“

„Grundseite mal Höhe?“

Coral war gut. Das merkte auch Herr Dinger. Er lachte. Seine Laune stieg.

„Und der Umfang?“

„Alle drei Seiten werden addiert. a+b+c.“

„Und der Umfang des Kreises, Laura?“

Laura spürte eine unbestimmte Übelkeit. Umfang eines Kreises. Das war eigentlich kein Problem. Nur Herr Dinger wurde plötzlich so klein. Und der Raum so groß.

„Laura? Der Umfang. Weißt du es?“

Seine Stimme klang wie von ganz weit weg.

Laura spürte Schweißperlen auf der Stirn.

„2r mal Pi“, flüsterte Coral.

„Ich weiß es doch“, dachte Laura.

Aber irgendwie kam kein Laut aus ihrem Mund. „Ist dir nicht gut?“ Herr Dinger klang beunruhigt. Er stand jetzt genau neben ihr. Seine dunklen Augen sahen sie aufmerksam an.

„Alles okay?“

„Ich weiß nicht. Mir ist …“ Laura stöhnte leise. „… irgendwie geht es mir nicht so gut.“

„Mir ist auch ziemlich übel“, rief Manuel.

Die Klasse lachte wieder.

„Willst du mal raus?“

„Ja, gerne.“


Laura stand auf. Dann ging sie zur Tür. Genauer gesagt, sie versuchte es.

Sie schwankte und hielt sich an der Wand fest. „Ist die besoffen oder was?“ Das war Hakan. „Nur weil du immer besoffen bist, muss sie es doch nicht sein!“, zischte Coral. Sie war wirklich Lauras beste Freundin.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Laura an der Tür war. Sie öffnete sie und wankte auf den Flur.

Zum Glück war die Toilette nicht weit. Laura stolperte hinein. Es roch nach Zigarettenqualm. Der Gestank verstärkte Lauras Übelkeit. Himmel, was war denn los mit ihr? Ihr war noch nie im Leben so schlecht gewesen.

Laura hängte sich über ein Klo und würgte, aber es passierte nichts.

„Sogar zu schlecht zum Kotzen“, dachte sie.

Die Klozelle schwankte. Laura klammerte sich an den Toilettendeckel. Sie schloss ihn, drehte sich schwankend um und ließ sich darauf fallen. Geschafft. Der Schweiß lief. Laura schloss die Augen. Das Drehen verstärkte sich. Sie würde gleich umkippen und vom Klo fallen.

„Laura? Laura, wo bist du?“

Das war Coral. Manchmal geschahen noch Wunder. Laura wollte antworten, aber es kam kein Wort über ihre Lippen.

„Laura?“

Corals Stimme klang schrill.

Mühsam öffnete Laura die Augen. Da klopfte jemand an die Tür.

„Wer ist da drin? Bist du es, Laura?“

Öffnen, befahl sich Laura. Mach einfach die Tür auf. Ihre Hand reichte genau bis zum Schloss. Langsam drehte sie das Schloss um.


Sofort wurde die Tür aufgerissen. Coral stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihr.

„Was ist los?“

Laura versuchte, sich zu sortieren. Ihr Verstand schien allmählich wieder zu arbeiten.

Sie war hier auf der Schultoilette der Liese- Meitner-Schule. Und vor ihr stand Coral, ihre allerbeste Freundin seit der Kindergartenzeit. „Ich weiß nicht“, flüsterte Laura. „Mir ist sauschlecht.“

Coral nickte.

„Das ist so ein Magen- und Darmvirus. Der ist echt teuflisch. Meine beiden Brüder hatten den auch.“

„Wer, Juan und Paco?“

„Nein, Carlos und Felipe.“

Laura lachte, so gut es ging.

Coral hatte sechs Brüder. Einer schrecklicher als der andere. Fanden die beiden Mädchen jedenfalls.

Coral grinste. „Gut, dass du wieder lachen kannst. Komm, wir sagen dem Dinger Bescheid. Besser, du gehst nach Hause.“ Sie kicherte.

„Und ich bringe dich natürlich. Du findest bestimmt nicht allein aus der Schule.“

Coral fasste Laura fest am Oberarm und zerrte sie aus der Kabine.

Als Laura an den Waschbecken vorbeikam, warf sie einen Blick in den Spiegel. Himmel. Sie war kreideweiß. Ihre Sommersprossen hatten sich wie kleine schwarze Punkte über das Gesicht verteilt. Die dunkelblonden langen Haare klebten am Kopf.

„Oh Gott, seh ich scheiße aus!“

„Machst du bei einem Casting mit oder willst du schulfrei haben?“

Das war typisch Coral. Sie konnte immer irrsinnig praktisch denken.


Langsam gingen die beiden in die Klasse zurück. Die Mitschüler schauten von ihren Heften auf. Herr Dinger musterte Laura besorgt.

„Geht es nicht besser?“

Laura schüttelte den Kopf.

„Mir ist total schlecht. Ich weiß auch nicht …“, hauchte Laura und stützte sich auf Corals Arm. „Bist du schwanger?“, grölte Vitali.

„Ja klar, von dir Mann!“, schoss Manuel zurück.

Die Klasse brüllte wieder vor Lachen.

Herr Dingers Augen ruhten auf Lauras Gesicht. Beunruhigt sah er aus. Und fragend. „’Ne Magen- und Darmgrippe“, sagte Coral schnell. „Hatten meine Brüder auch.“

„Stefano und Enrico?“, fragte Herr Dinger. „Carlos und Felipe“, erwiderte Coral ruhig. Laura hätte gern gelacht. Aber irgendwie war ihr nicht danach. Vitalis Bemerkung hatte ihr total Panik gemacht. Schwanger? Aber das wäre ja Quatsch. Sie konnte unmöglich schwanger sein. Blöder Spruch. Typisch Vitali. Coral ließ sie los und ging zu ihrem Platz, um ihre Sachen einzupacken. In der Zeit hielt sich Laura an der Wand fest.

„Willst du dich nicht lieber setzen?“, fragte Herr Dinger.

Laura schüttelte den Kopf. Sie wollte hier weg. So schnell wie möglich. Endlich! Coral warf sich Lauras Rucksack über die Schulter, klemmte sich ihre eigene Tasche unter den Arm und schnappte sich ihre Freundin.

„Auf geht’s“, sagte sie.

Herr Dinger nickte. „Gute Besserung.“

Aber ich bin doch selbst noch ein Kind!

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