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II

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Trude Berger saß untätig vor ihrer Nähmaschine. Sie hatte gar keine Lust zur Arbeit. Es war widerwärtig, immer eine stumpfsinnige Naht nach der anderen zu nähen. Sie hatte das satt und übersatt.

Nicht nur von der buckligen Merkel wurde Charlotte Bürger beneidet, sie selbst beneidete sie noch viel mehr. Wenn diese armselige Klavierlehrerin wirklich eine berühmte Sängerin würde, verlor sie ja gar nichts dadurch, daß sie ihr den Brief vorenthielt. Es wäre wahrlich zuviel des Guten, wenn ihr zu der Aussicht auch ganz urplötzlich noch ein reicher Onkel beschert würde.

Sie erhob sich. Vor allem wollte sie den Brief vernichten. Verbrennen wollte sie ihn. Dadurch beseitigte sie ihn sicher und endgültig. Sie hielt das Schreiben dann in den Händen, konnte der Versuchung nicht widerstehen, es noch einmal durchzulesen. Ihre Augen blieben an dem letzten Satz haften: „In der Erwartung einer baldigen Antwort grüßt Sie vielmals Ihr Cousin Lothar Bürger.“

Sie wurde sehr nachdenklich. Vielleicht nützte es gar nichts, daß sie den Brief unterschlug? Vielleicht machte dieser Herr Lothar Bürger, wenn er keine Antwort erhielt, eines Tages einen Besuch bei der Cousine? Dann stellte sich heraus, es war ein Brief verlorengegangen, was ja schließlich vorkommen konnte, und die beiden einigten sich dahin, daß Charlotte mitreiste in ein reiches, vornehmes Heim, um dort ihre Gesangstudien in aller Sorglosigkeit zu vollenden.

Charlotte Bürger hatte ihr nichts getan, aber sie gönnte ihr ein solches Glück nicht. Sie selbst mußte sich plagen, mochte die sich auch weiterplagen, bis sie so müde wurde vom Klavierstundengeben, daß ihre blödsinnigen, verstiegenen Träume von Ruhm einschliefen.

Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Sie wollte einem eventuellen Besuch dieses Cousins vorbeugen. Sie wollte nach Frankfurt am Main an die angegebene Adresse schreiben, als ob Charlotte es schrieb: Sie verzichte ein für allemal auf ein Kennenlernen mit ihm und der Familie von ihres Vaters Bruder. Er würde keinen Augenblick daran zweifeln, daß Charlotte die kurze, schroffe Antwort selbst geschrieben habe. Sie konnte sogar noch besser jede Möglichkeit eines Kennenlernens zwischen Charlotte Bürger und ihrem Cousin verbauen, wenn sie selbst mit dem Briefschreiber sprechen würde. Sie wollte ihm also lieber mitteilen, sie sei zu einer Unterredung bereit und erwarte die Antwort, wann und wo man sich treffen könne, postlagernd, da sie in ihrem sehr einfachen Stübchen keinen Besuch empfangen möchte, besonders weil ihre Wirtin eine sehr böse Zunge hätte.

Trude Berger lachte laut auf. Sie fand ihre Idee originell. Auf diese Weise würde sie sich Herrn Lothar Bürger einmal ansehen und ihm dann deutlich erklären, daß sie, seine Cousine Charlotte, nichts von ihm und seinem Vater wünsche. Daraufhin würde wohl die wirkliche Charlotte Bürger nie mehr etwas von ihren Verwandten hören.

Immer fester nahm der Gedanke von Trude Berger Besitz. Ihr Vorhaben erschien ihr wie ein drolliger Spaß. Sie besaß eine ganz nette Schrift, und als sie den fertigen Brief vor sich liegen hatte, war sie äußerst zufrieden mit sich. Sie überflog die wenigen Sätze noch einmal und fand nichts daran zu verbessern. Sie holte sich vom Grünkramhändler im Nebenhause eine Marke und trug den Brief sogleich in den nächsten Kasten. Ein bißchen bedrückt war ihr doch zumute, nachdem der Brief in den Spalt des blauen Kastens verschwunden war, wenn auch die Anwandlung nicht lange dauerte. Die ganze Geschichte blieb sehr komisch, war nichts als ein famoser Witz.

Sie konnte kaum die drei Tage abwarten, die sie sich als Frist für die erste Nachfrage auf der Post gesetzt. Sie hatte die Antwort Lothar Bürgers postlagernd auf ein Postamt im Zentrum Berlins erbeten. Für alle Fälle muß man vorsichtig sein, dachte sie. Sie fragte keck, ob etwas angekommen sei für „Lotte 22“. Der Schalterbeamte lächelte die sehr hübsche, blonde Fragerin vertraulich an und reichte ihr nach kurzem Suchen einen schmalen Brief. Trude Berger verließ hastig das Postamt. Im Torweg eines nahen Hauses las sie dann:

„Meine liebe und verehrte Cousine! Ihre Zeilen, die ich mit bestem Dank bestätige, sind zwar sehr kühl, aber ich hoffe dennoch, eine persönliche Unterredung zwischen uns überzeugt Sie, daß mein Vater es wirklich gut und aufrichtig mit Ihnen meint und es sehr bereut, Ihnen damals, als Sie elternlos wurden, nicht verwandtschaftlich geholfen zu haben. Er hat unsäglich unter dem Tode meiner Schwester gelitten und wird Sie väterlich bei sich aufnehmen. Ich bin ab Donnerstag in Berlin, aber da Sie keine Briefe und keinen Besuch in Ihrer Wohnung wünschen, bitte ich Sie, mich kurz zu benachrichtigen, wann ich Sie im Hotellesezimmer oder sonstwo erwarten darf. Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung, liebe Cousine. Nachricht erbitte ich an das dortige Hotel Exzelsior.“

Nun folgte noch ein Gruß. Trude Berger barg den Brief in ihrer Handtasche. Die Sache fing an ihr immer mehr Vergnügen zu bereiten. Ihr war es, als ob sie ein interessantes Stelldichein vor sich hätte. Sie antwortete am nächsten Tage, schrieb an Lothar Bürger, sie würde am Freitagabend gegen sechs Uhr beim Portier des Hotels nach ihm fragen.

Von nun an saß sie oft bei ihrer Näharbeit, ohne zu wissen, was sie tat. Manche Naht mußte wieder aufgetrennt werden, weil ihre Gedanken sich fortstahlen und sich die Zusammenkunft mit Lothar Bürger ausmalten. Spät abends saß sie dann etwas weniger unaufmerksam über ihrer eigenen Garderobe, denn sie beabsichtigte, möglichst hübsch zu erscheinen bei der Zusammenkunft. Darauf konnte ihre weibliche Eitelkeit nicht verzichten, wenn sie auch die Rolle einer anderen spielen wollte.

Charlotte Bürger traf sie nur noch am Mittagstisch. Frühstück und Abendbrot brachte Frau Klokkow jeder Mieterin aufs Zimmer. Trude empfand jetzt Scheu vor Charlotte, ging ihr möglichst aus dem Wege, als fürchtete sie, diese könnte ihr das, was sie vorhatte, vom Gesicht ablesen. Charlotte aber spürte es wie einen Hauch von Feindseligkeit von Trude Berger zu sich herüberwehen. Man paßte doch nicht zusammen, die kurze, warme Stimmung von letzthin war sehr flüchtig gewesen, war schon verflogen, ehe Trude Berger noch ihr Zimmer verlassen hatte, dachte Charlotte.

Am Freitagnachmittag stand Trude in heller Erregung vor ihrem kleinen Spiegel. Sie fand sich immer noch nicht hübsch genug. Aber wie sollte man auch hübsch aussehen, wenn man sich nur billige Kleidung anschaffen konnte. Das dunkelblaue Jackenkleid hatte sie selbst geschneidert, aber wenn sie auch einfache Blusen und Röcke fertigbrachte, fehlte ihr doch die leichte Hand, um den richtigen Sitz und Schick in so ein Kostüm hineinzubringen. Dennoch sah sie darin, da ihre schmale Figur selbst über den schlechten Schnitt des Jackenkleides triumphierte, nicht übel aus. Darunter trug sie eine weiße Tuchbluse in Jumperform, und auf dem Blondhaar einen kleinen, dunkelblauen Seidenhut.

Erst fuhr sie bis zum Potsdamer Platz mit der Elektrischen, und von dort zog sie es vor, zu Fuß zu gehen. Sie mußte doch ein Stückchen laufen, denn je näher der Augenblick des Treffens heranrückte, desto stärker klopfte ihr Herz. Sie wanderte ganz langsam die Stresemannstraße hinunter, und immer zögernder wurde ihr Schritt. Schließlich war sie, angesichts des großen Hotels, so weit umzukehren. Ihr Vorhaben dünkte sie jetzt ungeheuerlich, unausführbar und gefährlich.

Sie blieb vor dem Hotel stehen, sah hinüber nach dem Anhalter Bahnhof. Die Uhr drüben wies gerade auf sechs. Um keinen Preis würde sie in das Hotel hineingehen! Sie hatte plötzlich gar keinen Mut mehr. Lieber Himmel, wie hatte sie überhaupt so etwas Blödsinniges anstiften können — nur weil sie es einer Mitschwester nicht gönnte, daß sie es besser haben sollte als sie! Wenn sie aber nicht kam, würde Lothar Bürger morgen bei Frau Klockow nach seiner Cousine Charlotte Nachfrage halten, und dann würde sicher ihr plumpes Spiel ans Licht gezerrt werden, weil der Brief vorhanden war, den sie ihm geschrieben.

Sie biß nervös auf ihrer Unterlippe herum, machte eine unschlüssige Bewegung und sah dann, wie aus der Erde gewachsen, einen ziemlich großen Herrn, Mitte der Zwanzig, vor sich stehen, der, den Hut lüftend, mit leichtem Lächeln fragte: „Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich in Ihnen Fräulein Charlotte Bürger vermute, nicht wahr?“

Über Trudes blasses Gesicht schoß jähe Röte wie eine Flamme. Sie starrte den vor ihr Stehenden, obwohl er ein Mann war, der Frauen gefallen konnte, mit einem Ausdruck des Entsetzens an. Was sollte sie jetzt tun, wie sich verhalten? Sie stammelte irgendetwas Unverständliches. Alle kecke Sicherheit, über die sie im allgemeinen verfügte, hatte sie verlassen.

Der sehr elegant gekleidete Herr machte eine etwas belustigte Miene. „Sie sind meine Cousine Lotte, ich brauchte gar nicht zu fragen. Und nun bitte ich Sie, mit mir ins Konversationszimmer zu kommen oder vielleicht ins Hotelcafé, wo wir uns so weit anfreunden können, daß Sie mich mit weniger mißtrauischen Augen betrachten.“ Er berührte leicht ihren Arm, führte sie. „Ich freue mich ja so sehr, daß Sie gekommen sind, und glaube Ihnen, nun ich Sie sehe, gar nicht mehr, daß Sie so kühl und schroff zu sein vermögen, wie es mir Ihr Brief vorzutäuschen beabsichtigte.“

Mechanisch ließ sich Trude Berger durch den Hoteieingang geleiten und begriff kaum, daß sie es war, die dann in einem bequemen Sessel einem fremden Herrn gegenübersaß und dabei angestrengt überlegte, wie sie sich weiter verhalten müßte. Es blieb ihr jetzt eigentlich nichts weiter übrig, als ihre Rolle weiterzuspielen, sonst beschwor sie allerlei Unannehmlichkeiten für sich herauf. Sie mußte also so tun, als wäre sie Charlotte Bürger, und erklären, sie wünsche ernstlich weder jetzt noch später irgendwelche Beziehungen zu dem Bruder ihres Vaters und seiner Familie. Sie blickte Lothar Bürger an, der eben dem Kellner seine Bestellung gemacht hatte. Sie wollte sprechen, doch ihr Gegenüber verhinderte sie daran.

„Liebe Cousine, Sie sind viel reizender und blonder, als ich Sie mir vorgestellt habe. Es würde Sie nicht kleiden, wenn Sie etwas sagen wollten, was den Worten Ihres Briefes ähnelt. Vater hat sein Unrecht gegen Sie spät erkannt, aber immerhin noch erkannt. Ich bitte Sie recht, recht herzlich, lassen Sie das Böse vergeben und vergessen sein. Meine Mutter starb schon vor Jahren, nun folgte ihr meine Schwester, ich schrieb es Ihnen ja. Unserm Hause fehlt ein weibliches Wesen, das zu uns gehört, zu Vater und mir, das unseres Blutes ist.“ Seine braunen Augen blickten bittend. „Seien Sie Vaters Tochter, seien Sie meine Schwester. Glauben Sie mir, es wird Ihnen bei uns gefallen.“

Das Café war um diese Zeit fast leer, die beiden saßen außerdem noch abseits und konnten sich ungestört unterhalten. Der Kellner brachte Kaffee und Gebäck.

Trude Berger fühlte jedes warme Wort wie einen scharfen Stein, der gegen sie geschleudert wurde. Wie gern hätte sie laut gerufen: Ja, ja, ich bin zu allem bereit! Aber sie konnte es nicht tun, weil sie ja gar nicht Charlotte Bürger war, zu der dieser Mann zu sprechen glaubte. Und wie er ihr gefiel, dieser fremde Mann, den sie belogen durch ihren Brief und ihr Erscheinen! Wie sehr er ihr gefiel! Gut nur, daß er so viel sprach, daß sie wenigstens noch ein Weilchen seine tiefe, angenehme Stimme hören durfte, ehe sie wieder gehen mußte. So eigen war ihr zumute, so glücklich und unglücklich zu gleicher Zeit. O, was hätte sie dafür gegeben, wenn sie in Wahrheit die gewesen wäre, für die sie sich ausgab.

Der Kellner war wieder gegangen. Trude saß wie unter einem Bann. Irgendeine Macht ging von Lothar Bürger aus, die sie in einen eigenartigen Zustand versetzte. Es war ihr, als müsse sie ihm bekennen: Ich bin ja nur ein mißgünstiges Frauenzimmer, eine Lügnerin, die einem fleißigen, strebsamen Mädel das Glück nicht gönnt, aus dem Alltagsfrondienst herauszukommen! Aber sie war zu feige zu dem Bekenntnis. Sie fürchtete sich davor, die jetzt so freundlich blickenden Männeraugen kühl und befremdet auf sich gerichtet zu sehen, fürchtete sich vor dem verächtlichen Lächeln, das sich dann um den scharfgeschnittenen Mund festsetzen würde.. Nein, den Mut zur Offenheit brachte sie nicht auf!

Lothar Bürger betrachtete das wechselnde Mienenspiel auf dem hübschen Gesicht, das er sehr reizvoll fand. „An was denken Sie, Cousine Lotte? Ich darf Sie doch so nennen? Eigentlich darf ich es doch, nicht wahr? Wir sind doch so nahe verwandt, wenn wir uns auch heute erst kennenlernen.“

„Sagen Sie zu mir, was Sie wollen,“ erwiderte sie mit gequältem Lächeln.

Was kam es darauf an, wie er sie nannte? Heute nannte. Nur jetzt nannte. Denn bald würde sie wieder zu Hause sein und beim Licht der summenden Gaslampe Naht auf Naht an irgendeinem armseligen, billigen Fummel nähen. Heute abend schon, und morgen vormittag wieder, und auch am Nachmittag und so weiter Tag für Tag, Woche für Woche. Vielleicht lernte sie dann Sonntags beim Tanz irgendeinen biederen Handwerker kennen und ward seine Frau. So sah ihre Zukunft aus. Diese Stunde hier in dem eleganten Café würde dann ihre schönste und beste Erinnerung sein fürs ganze Leben. Sie hob den Kopf. Deshalb aber wollte sie diese Stunde auch ausnützen, wollte die Rolle, in die sie sich gesteckt, bis zu Ende spielen. Lothar durfte nicht wissen, wie schlecht sie war.

Der Mann sprach lebhaft auf sie ein. „O, liebste Cousine Lotte, Sie werden sich wirklich sehr wohl bei uns fühlen, wir wohnen herrlich. Das Dörfchen, in dem unsere Fabrik liegt, wird von hohen Felswänden vor allzu rauhen Stürmen geschützt, und wir fahren oft nach Dresden oder nach Wien, damit wir auch Großstadtluft atmen, Theatervorstellungen und Konzerten beiwohnen können. Wir haben allerdings auch daheim nette, liebe Geselligkeit. Warten Sie nur ab, Cousinchen, Sie werden sich sehr wohl bei uns fühlen. Zur Zeit ist’s ja ziemlich still und kalt im Hause, weil mein Schwesterchen gestorben ist, aber gemütlich und traulich wird es wieder werden, wenn Sie bei uns sind. Vater und ich brauchen jemand, der unserem Daheim wieder Sonnenschein gibt. Es ist so traurig, wenn man nur auf bezahlte Hände angewiesen ist.“ Er unterbrach sich. „Aber unser Kaffee wird kalt, weil ich plausche und plausche.“ Er schob den mit einer reichen Auswahl versehenen Kuchenaufsatz näher an Trude Berger heran. „Bitte, essen Sie doch, Cousinchen.“

Trude naschte gern, aber ihr Geldbeutel gestattete ihr nicht oft, sich etwas Gutes zu gönnen. Die Törtchen lachten sie an, und sie nahm sich einen glänzenden Mohrenkopf auf das Tellerchen, vergaß über dem süßen Genuß für ein Weilchen alle Seelennöte von vorhin und konnte nicht widerstehen, auch noch einen zweiten Mohrenkopf zu nehmen. Der Kaffee regte sie an, erfrischte sie, die sie an Frau Klockows Zichorienbrühe gewöhnt war.

Lothar Bürger hatte heimlich beobachtet, wie gut es dem blonden Mädel schmeckte, und er dachte ein bißchen gerührt, daß Lotte wohl nicht häufig eine Konditorei oder ein Café besuchen könnte. Man sah es ja ihrer netten, aber billigen Kleidung an, wie genau sie rechnen mußte. Sie würde entzückend aussehen in gut sitzenden, eleganten Kostümen, durchzuckte es ihn. Der Gedanke reizte ihn. Ein Vergnügen mußte es sein, diesem einfachen Geschöpf einen geschmackvollen, mondänen Rahmen zu geben.

Sie schien sehr schüchtern, denn es war schwer, sie zum Plaudern zu bringen. Es wollte ihm gar nicht recht gelingen.

Aber gerade jetzt begann die neben ihm Sitzende zu sprechen. Sie sprach hastig, als vermöge sie ihm gar nicht rasch genug zu sagen, daß sie eigentlich heute nur gekommen sei, um ihm mitzuteilen, sie könne und wolle das Angebot seines Vaters nicht annehmen. Habe sie sich so lange ohne Verwandtschaft behelfen müssen, brauche sie jetzt auch keine mehr, und man dürfe ihr auf keinen Fall mehr schreiben, das bitte sie sich besonders aus. Das störe sie, bringe ihr nur Unruhe.

Lothar Bürger machte ein sehr betroffenes Gesicht. Auf so eine radikale Abfertigung war er nicht im mindesten gefaßt gewesen. Er fand im ersten Moment gar keine Erwiderung. Dann aber drang er in sie. Mit Bitten und Zureden, mit Fragen. Weshalb sie so unversöhnlich sei? Dabei legte er seine Hand auf die ihre. Sie fühlte den warmen Druck seiner nervigen Finger, als er sagte: „Sie dürfen mich so nicht abspeisen, ich dulde es nicht, gebe es nicht zu. Recht haben Sie in einer Beziehung, wir hätten uns eher um Sie kümmern müssen, aber wir sind alle Menschen mit Fehlern und Schwächen, und Sie sehen so — nun, so lieb und herzig aus, daß die Unversöhnlichkeit einfach nicht zu Ihnen paßt. Bitte, vergessen Sie doch das Unrecht, das Ihnen angetan ward, und überlassen Sie Vater und mir das Gutmachen.“

Trude Berger atmete gepreßt. „Ich kann es nicht, es ist unmöglich. Nie mehr will ich etwas davon —“

Sie stockte, und Angst drückte ihr die Kehle zu. Hätte sie nur den unglückseligen Brief nicht unterschlagen!

„Liebes Cousinchen, ich glaube wirklich nicht an Ihre Unversönlichkeit, irgendein anderer Grund bewegt Sie zu Ihrem Entschluß.“ Seine Finger strichen leicht über ihre Hand. „Seien Sie offen zu mir, ich will versuchen, Sie dann zu verstehen!“

Trude Berger schüttelte den Kopf. „Das werden Sie nicht, und es hat darum keinen Zweck. Aber jetzt muß ich fort. Doch wiederhole ich Ihnen, ich will nicht, daß Sie oder Ihr Vater mir jemals wieder schreiben, ich will gar nicht für Sie existieren.“

Lothar Bürger zog seine Hand zurück. „Ich bedaure unendlich, liebe Cousine, daß Sie uns endgültig so schroff zurückweisen, und muß mich vorläufig damit bescheiden. Ich sage vorläufig, betone es noch, denn nun haben Sie mich gespannt gemacht zu erfahren, warum Sie anders sprechen, als Sie möchten. Ich habe den bestimmten Eindruck, irgendetwas verhindert Sie, Ihrem Wunsche zu folgen und zu uns zu kommen.“

Trude Berger war ganz benommen vor Angst. Lothar Bürger hatte unheimlich scharfe Augen. Er würde Erkundigungen einziehen, um zu erfahren, worauf sie ihn gespannt gemacht, wie er sich ausdrückte. Ein Besuch von ihm bei Frau Klockow förderte dann ihren dummen Schwindel zutage. Sie entgegnete fast heftig: „Sie sollen sich nicht mehr um mich kümmern, es soll Ihnen gleich sein, warum ich Ihres Vaters Anerbieten nicht annehme.“

Lothar Bürger blickte sie mitleidg an. „Irgendetwas stimmt da nicht bei Ihnen, Cousine Lotte, vielleicht kann ich Ihnen helfen, oder —“ unwillkürlich schob sich eine kleine Pause ein — „oder haben Sie jemand lieb, der Sie verhindert, zu uns zu kommen?“

Trude Berger fand jetzt ein Lächeln.

„Ich habe niemand lieb, und mich hat auch niemand lieb.“

War es nicht, als löse sich der angespannte Zug, der noch eben um den Mund Lothar Bürgers gelegen?

„Nun, dann ist ja alles gut, dann werden wir schon einig werden, Cousinchen,“ sagte er fast weich. „Wir müssen noch viel darüber reden. Ich gebe mich mit Ihrem Nein einfach nicht zufrieden. Aber ich schlage vor, wir begeben uns jetzt wo anders hin. Ich erinnere mich von früher noch an ein paar nette, kleine Weinlokale hier in Berlin. Wir essen in einem davon, und vorher fahren wir ein halbes Stündchen durch die Luft.“

Trude versuchte abzulehnen.

Doch die braunen Augen baten so dringend, der Männermund sprach: „Wenn Sie ausrücken, bin ich morgen früh in Ihrer Wohnung, um Ihnen aufs neue den Wunsch meines Vaters zu wiederholen.“

In Trude Bergers Ohren klang das wie eine Drohung. Ein einziger Besuch Lothar Bürgers bei Frau Klockow genügte, sie in die größten Unannehmlichkeiten zu stürzen. Sie folgte dem hochgewachsenen Manne in das vom Hotelboy herbeigewinkte Auto, schämte sich ihrer billigen Kleidung, als der Boy vor ihr den Schlag öffnete. Sie war erst ein einziges Mal in ihrem Leben eine ganz kurze Strecke im Auto gefahren, nun geschah es zum zweiten Male.

Die Herbstluft war heute lau, es fuhr sich gut durch die abendlich erleuchteten Straßen. Bequem schmiegte sich Trude Berger in die Kissen, und ein Gefühl von wohligem Geborgensein überkam sie. O, war das prächtig, so dahinzugleiten, vorbei an den hastenden oder langsam des Weges trollenden Menschen! Andere Autos fuhren vorüber, in vielen saßen hochelegante Damen, in kostbare Mäntel gehüllt. Sie beneidete alle, die sorglosere Tage hatten als sie, die sich kaufen konnten, was sie begehrten, die sich schmücken durften und den Neid, den fressenden Neid, an dem sie krankte, wohl gar nicht kannten.

Lothar Bürger aber erzählte von daheim, schilderte das Vaterhaus, lockte immer von neuem mit beredten Worten. Manchmal war es Trude, als könne sie sich gar nicht wehren gegen die lockenden Reden ihres Begleiters. Immer wieder mußte sie sich klarmachen, daß alles, was Lothar Bürger sprach, ja gar nicht für sie bestimmt war.

Und dann saß sie in der Nische eines vornehmen Weinlokals, kosende Musik erklang gedämpft. Wein wurde gebracht, glühte purpurn im Glase, und das Essen mundete ihr, wie nie etwas zuvor. Beim zweiten Glas Wein überfiel sie eine tolle Stimmung. Es war eine Art Galgenhumor. Sie dachte nichts weiter, als daß sie die paar erschwindelten Glücksstunden ausnützen und sich vorläufig nicht mehr den Kopf damit belasten wollte, was nachher werden würde. Sie war schon zweiundzwanzig Jahre und hatte noch so wenig vom Leben gehabt, während sie sich doch von je danach gesehnt mit heißer, wilder Sehnsucht. Und Lothar Bürger gefiel ihr immer besser. Beim dritten Glas meinte er, so nahe Verwandte müßten sich eigentlich duzen.

Sie fand das jetzt ganz in der Ordnung, lachte mit blitzenden Zähnen: „Lothar, du bist der netteste Mensch, den ich kenne, ohne dich würde ich vielleicht mein Lebelang nicht erfahren haben, wie es in einem schicken Restaurant aussieht und wie fein es da schmeckt. Bei Frau Klockow gibt es abends meistens Schmalzstullen mit ein paar dünnen Wurstscheiben, und Sonnabends Bratkartoffel mit Ei. Danach leckt man sich dann noch die Finger ab.“

Er lachte, fand sie drollig. Er hatte beobachtet, daß sie sich gut beim Essen benahm, und freute sich darüber. Ihre Allgemeinbildung schien ja etwas stark vernachlässigt. Aber sie hatte wohl nur eine einfache Schule besucht. Durch seine Erkundigungen wußte er, sie erteilte Klavierstunden und nahm Gesangsunterricht. Er stieß mit ihr an.

„Nun wir uns so gut angefreundet haben, Lottchen, brauche ich mich wohl auch nicht mehr davor zu fürchten, daß du bei deinem ‚Nein‘ von vorhin bleibst. Morgen reden wir ganz vernünftig über deine Übersiedlung zu uns. Vielleicht kannst du mich gleich, wenn ich abreise, begleiten. Deine Klavierschüler müssen sich halt über deinen etwas plötzlichen Fortgang trösten.“

Trude Berger, die jetzt ihren Hut und ihre Jacke abgelegt hatte, schob sich das leicht gelockte Haar aus der Stirn, blickte ihn groß an. „Meine Klavierschüler?“ sagte sie wie fragend. „Wie kommst du denn darauf, daß ich Klavierschüler habe?“

Sie richtete sich mit einem Ruck gerade empor. Beim Himmel, da war sie ja im Begriff, sich zu verplappern! Sie war ja Charlotte Bürger. Sie nickte Lothar zu. „Ich habe in der letzten Zeit die meisten meiner Schüler verloren, die Leute haben jetzt so wenig Geld.“

Er sah sie ernst an. „Arme Lotte, da hast du vielleicht gar Not leiden müssen?“

„Nicht zu knapp, Lothar. Ich sage dir, wenn man so Naht auf Naht macht, eine immer nach der anderen, und man kommt doch auf keinen grünen Zweig ...“

Er unterbrach sie. „Was redest du denn da von einer Naht nach der anderen? Wir sprachen doch von deinen Klavierstunden.“

Trude Berger riß sich abermals zusammen. Trinken durfte sie nichts mehr, sonst verriet sie sich doch noch selbst. Sie schaute an ihm vorbei. „Ach, das ist so ’ne Berliner Redensart. Naht auf Naht machen, heißt Stunde auf Stunde geben.“

„So, so!“ Er schüttelte den Kopf. „Eine sehr komische Bezeichnung ist das dafür.“

Die Erklärung leuchtete ihm nicht ein. Er dachte, die hübsche, blonde Cousine sei keinen Wein gewöhnt und habe einen kleinen Schwips. Er bestellte Kaffee. Der würde ihr den Kopf wieder klarer machen. Und dann wollte er sie mit dem Auto heimbegleiten. Aber entzückend sah sie aus mit den vom Wein geröteten Wangen, den leuchtenden Augen.

Die Musik spielte einen modernen Tanz. Trudes Oberkörper wiegte sich leicht im Rhythmus der Musik, die ganze schlanke Person sprühte von Lebenslust.

Lothar sann, wie falsch ihn doch sein Gewährsmann, der ihm die Auskunft über seine Cousine gegeben, unterrichtet hatte. Charlotte sollte eine sehr ernste Natur sein, während er fand, daß sie ziemlich fidel sei und sich anscheinend für Tanzmusik mehr interessierte als für ihre Gesangsstudien, denn sie hatte noch keine Silbe davon erwähnt. Jedenfalls, jetzt hatte sie einen kleinen Schwips, den sie erst ausschlafen mußte, ehe er Wichtiges mit ihr besprechen konnte. Aber der kleine Schwips kleidete sie.

Nach dem Kaffee half er ihr in die Kostümjacke, und sie lehnte sich dabei ein wenig an ihn. Die Erkenntnis durchzuckte ihn, daß ihm Charlotte sehr gefiel. Wer weiß, wie das noch alles kam, wenn sie erst ein Weilchen in dem hübschen Heim bei seinem Vater und ihm lebte. Sie würde vor allem dort Gelegenheit haben, die Lücken in Ihrer Bildung auszufüllen.

Trude Berger saß dann wieder neben ihm im Auto, aber dieser Wagen war geschlossen, und Trude lachte etwas gezwungen: „Nun werde ich zu Mutter Klockow gebracht, und morgen ist Aschermittwoch, der Karneval ist vorbei.“

Lothar Bürger amüsierte sich. Die Weinstimmung machte seine hübsche Cousine jetzt sentimental, wie es schien. „Höre, Mädel, rede nicht solchen Unsinn! Morgen ist kein Aschermittwoch, sondern morgen werden wir uns, wenn du durchaus nicht willst, daß ich mir dein Heim einmal ansehe, wieder treffen und sehr ernst miteinander alles, was nun mit dir geschehen soll, festlegen. Du wirst dich gründlich ausschlafen wollen, und ich schlage vor, du holst mich vielleicht um elf Uhr vom Hotel ab.“ Er lachte. „Bist du um elf Uhr nicht dort, dann hole ich dich, Lotte.“

Trude Berger sagte zu allem: „Ja.“ Sie sehnte sich jetzt nach ihrem unfreundlichen, kleinen Stübchen. In ihren vier Wänden konnte sie wenigstens ruhig überlegen, denn in ihrem Kopfe sah es kunterbunt aus. Sie riß sich aber so viel zusammen, um sich keine Blöße mehr zu geben wie vorhin. Sie bat: „Laß das Auto nicht direkt vor meiner Haustür halten.“

Sie spähte durch die Scheiben und wünschte schon eine Straßenecke vorher auszusteigen. Er begriff das nicht.

„Es darf doch alle Welt wissen, daß ich dein Cousin bin. Auch wohnst du ja nicht mehr lange in der Gegend.“

Trude Berger wehrte ab. „Du weißt ja nicht, wie klatschsüchtig die Weiber in diesem Viertel sind.“

Lothar Bürger nahm die ihm entgegengestreckte Hand. „Wirst ja bald in eine andere Umgebung kommen. Übrigens ist es noch nicht zehn Uhr.“

Sie sagte hastig: „Dann ist das Haus noch offen, und ich brauche nicht aufzuschließen.“ Ehe er noch etwas zu erwidern vermochte, war sie schon davongerannt.

„Ein komischer Zwickel ist deine Cousine,“ lächelte er in sich hinein. Aber sie gefiel ihm, und er freute sich auf das Wiedersehen morgen. Er wollte ihr beweisen, daß morgen noch nicht Aschermittwoch war. Die Wirtsmadame schien ja ein leibhaftiger Drache zu sein, vor dem die hübsche, blonde Lotte einen Heidenrespekt hatte. Denn immer, wenn er erwähnt hatte, sie in ihrer Wohnung aufsuchen zu wollen, war sie sofort ganz verdattert.

Er fuhr mit dem Auto in sein Hotel und saß dann in der Ecke, wo Trude Berger noch kurz zuvor gesessen. Ihm war es, als sei noch ein leichter Hauch des billigen Parfüms, das ihrem Kleid entströmte, in den Polstern hängengeblieben. Morgen wollte er ihr ein Fläschchen guten Wohlgeruch schenken. Ihre großen, blauen Augen konnten so froh aufblitzen. Und das wollte er sehen. Es gab wohl überhaupt eine Menge, was er ihr schenken könnte. Was Luxus war, das wußte sie ja nicht. „Armes Ding!“ dachte er und sog den Hauch des billigen Parfüms ein.

Um Gold und Glück

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