Читать книгу Um Gold und Glück - Anny von Panhuys - Страница 6
III
ОглавлениеTrude Berger hatte das Haus noch offen gefunden. Sie tastete sich die zwei Treppen empor, schloß leise die Korridortür auf und gelangte in ihr Zimmer, ohne jemand zu begegnen. Sie atmete auf, als sie sich in ihrem eigenen kleinen Heim befand. Schnell war das Gas entzündet, und danach blickte fich Trude Berger in dem Raum um, als wäre sie lange, lange von hier fern gewesen. Der Hut flog auf den nächsten Stuhl, die Jacke folgte. Dann nahm sie den kleinen Spiegel von der Wand, besah sich darin wie eine Fremde, mit einer Art von Neugier.
„Lügnerin! Betrügerin!“ lag es auf ihren Lippen, aber sie mußte denken, daß sie trotz aller Angst im Herzen eigentlich viel hübscher aussah als je zuvor. Die stubenblasse Gesichtsfarbe war einem sanften Rot gewichen, die Augen leuchteten, und ihre Lippen brannten. War sie es denn wirklich, diese rosige, strahlende Blondine, deren Spiegelbild ihr jetzt entgegenlächelte? Wie doch ein paar angenehme, glückliche Stunden einen Menschen verschönen konnten!
Sie hängte den Spiegel wieder an seinen Platz, dachte trotzig, es hinderte sie doch niemand, sich für immer fortzuschleichen aus der Armseligkeit und Enge ihrer Existenz, denn Lothar Bürger zweifelte nicht daran, daß sie wirklich seine Cousine war, und Lotte Bürger würde niemals etwas davon erfahren, daß sie ihre Stelle eingenommen.
Sie entkleidete sich langsam, drehte das Licht aus und kroch ins Bett. Wohlig dehnte sie die Glieder. Der Abend hatte ihr gefallen, und morgen vormittag erwartete Lothar Bürger sie schon wieder. Sie mußte die Verabredung einhalten, sonst würde er hierherkommen. Sie mußte ihm aber endgültig erklären, daß sie nicht zu seinem Vater wolle, mußte dabei bleiben, mußte ihm jede Lust nehmen, sich weiter um sie zu kümmern. Schwer würde das halten!
Ach, wenn sie nur ein paar Legitimationspapiere hätte von denen, die drüben in Lotte Bürgers Laubsägekasten lagen! Sie erinnerte sich, daß Lotte dem Kasten zuerst ein Ledertäschchen entnommen und dabei erklärend gesagt hatte: „Meine Legitimationspapiere sind da drinnen, Geburtsschein und so weiter, auch die Sterbepapiere der Eltern.“ O, wenn sich dieses Ledertäschchen in ihren Händen befände, wäre alles weitere Kinderspiel! In ihrem Kopfe arbeitete es lebhaft. Vielleicht war noch ein Rest der Weinstimmung in ihr, die ihr schließlich alles leicht erscheinen ließ. Und dann schlief sie tief und traumlos ein, um sich, wie immer, um halb acht zu erheben.
Um acht Uhr brachte Frau Klockow den Kaffee. Ihr dickes Gesicht lächelte wohlwollend. „Nu, wie war es denn jestern abend? Mir scheint, Sie haben Anschluß jefunden? Is ja auch so doof für’n junget Mächen, jeden Abend zu Hause zu sitzen. Ich wunderte mir man bloß, daß Sie so früh jekommen sind. Ich habe Ihnen jehört.“ Sie blinzelte vertraulich. „Hat er was? Ich meine, daß er Ihnen ein bißken was bieten kann? Hübschet Mächen wie Sie muß immer schnucke aussehen.“
Trude Berger lächelte auch. „Nein, Frau Klokkow, was Sie denken, ist nicht. Ich war gestern mit ’ner Dame zusammen, ich habe mich auf ’ne Annonce gemeldet. Die sucht nämlich eine Zofe, die auch kleine Näharbeiten machen kann, Änderungen und so was. Ich habe ihr gefallen. Frisieren und alles Nötige soll ich auf ihre Kosten noch lernen. Heute muß ich mich entscheiden.“ Sie log drauflos, was ihr gerade einfiel.
Frau Klockows breites Gesicht ward sehr ernst. „Um des Himmels willen, fallen Sie man nicht auf so’n Schwindel rein! Wenn eine ’ne Zofe will, find’t sie jetzt ’ne Menge, die firm in alles sind, was ’ne feine Madam braucht. Eine, die Ihnen noch nicht kennt, läßt Ihnen auch nicht ausbilden, damit Sie, wenn Sie frisieren und massieren können, in ’ne andre Stellung laufen. Achtung, Fräulein Trude, da stimmt was nicht! Ich wittere da was von Mädchenhandel. Janz bestimmt, das könn’ Sie mir jlauben. Jeben Sie der Madam die Antwort, die sie verdient, am besten, Sie jeben ihr jar keine.“
Trude wehrte ab. „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Frau Klockow, ich mache mir Ihretwegen auch keine.“ Trude war ärgerlich, daß die Dicke sie aufhielt, und ihre Worte klangen ziemlich schroff, schroffer, als sie beabsichtigt waren.
Frau Klockow warf den Kopf zurück. „Das hat man davon, wenn man jute Ratschläge jibt. Na, ich werde es mir merken. Meinswejen tun Sie, was Sie nicht lassen könn’, un wenn das dicke Ende nachkommt, denn denken Sie an mir.“ Sie ging bis zur Tür, drehte sich dort um und schrie giftig, sich sprachlich nicht den geringsten Zwang mehr auferlegend: „Und wenn et Ihnen bei de Klockow’n nich mehr paßt, denn brauchen Se sich nich schenieren. Eene, die froh is, wenn ihr ’ne Meechenhändlerin haben will, an die verlier’ ick nischt.“
Raus war sie, die Tür knallte ins Schloß. Einen Augenblick verharrte Trude Berger in einer Art von Betäubung, dann aber lachte sie laut auf. Sehr laut sogar, und das Lachen flog spottend hinter der dicken Vermieterin her.
Frau Klockow hörte es und ärgerte sich. Schade, daß sie ihr Erlebnis mit dieser frechen Person nicht gleich brühwarm weitererzählen konnte. Aber Fräulein Merkel war schon fort, und vorhin hatte auch Charlotte sich auf den Weg gemacht. Ausnahmsweise früh heute. Sie hatte seit kurzem eine Schülerin, eine junge Frau, die zweimal in der Woche vormittags von halb neun bis halb zehn Klavierunterricht nahm. Frau Klockow schlüpfte in den grauen Lodenmantel, schob ihren künstlichen, rotbraunen Zopf zurecht, der zu den grauen Vorderhaaren wenig paßte, und verließ die Wohnung mit der Einkaufstasche am Arm. Sie wollte der Gemüsehändlerin nebenan ihr Leid klagen.
Trude wußte zufällig, daß Charlotte Bürger heute sehr früh Unterricht erteilte, sie wußte auch, daß Fräulein Merkel schon um acht Uhr im Geschäft sein mußte, und hatte die Korridortür hinter Frau Klockow zuschlagen hören. „Jetzt oder nie!“ durchzuckte es sie wie Alarm. Die Gelegenheit war günstig, würde sich so bald nicht mehr bieten. Sie wollte wenigstens ihr Heil versuchen. „Nur dem Mutigen lacht das Glück!“ klang es in ihr.
Blitzgeschwind war sie aus ihrem Zimmerchen geschlüpft, dann schob sie den großen Nachtriegel vor die Korridortür, denn von Frau Klockow durfte sie sich auf keinen Fall erwischen lassen. Sie raste in Charlotte Bürgers Stube, sah den Schlüssel im oberen Kommodenschubfach. Gleich darauf hielt sie den Kasten aus Laubsägearbeit in den Händen, der sich willig unter dem Druck ihrer Finger öffnete. Eine Minute später war das Kommodenschubfach schon wieder in Ordnung.
Trude hatte, trotz ihrer Aufregung, sorgfältig darauf geachtet, keine Spur ihres Besuches in Charlotte Bürgers Zimmer zurückzulassen. Ihre Rechte aber umklammerte krampfhaft die alte, lederne Brieftasche. Sie steckte sie vorn in ihre Bluse, zog dann wieder den Nachtriegel vor der Korridortür zurück. Wäre Frau Klockow aus irgendeinem Grunde umgekehrt, hätte sie nicht hereingekonnt mit ihrem Schlüssel und hätte klingeln müssen. Dann hätte sie ihr einfach eine Schauergeschichte von einem unheimlichen Menschen erzählt, der stark geklopft habe und den sie durch das Guckloch beobachtet hätte.
Dem Himmel sei Dank, sie hatte die begehrte Brieftasche ohne jeden Zwischenfall erlangt. Sie zitterte erst nachträglich vor Erregung, trank dann eine Tasse von Frau Klockows dünnem Kaffee und aß eine halbe Schrippe dazu. Es schmeckte ihr nicht, es schmeckte ihr gar nicht. Nun, die Klockow hatte es ihr ja freigestellt zu gehen. Das wollte sie tun. Jetzt war schon alles gleich. Sie setzte ihr ganzes Spiel auf eine Karte. Es mußte gelingen! Charlotte Bürger würde ihren Verlust ja nicht gleich entdecken.
Sie sah auf die Uhr. Es war inzwischen halb neun geworden. Sie begann sehr sorgfältig Toilette zu machen, sie wollte pünktlich um elf Uhr am Hotel sein. Ehe sie ging, untersuchte sie den Inhalt der Brieftasche und nickte zufrieden. Es war alles vorhanden, was sie brauchte. Charlotte Bürgers Geburts- und Taufschein, das Konfirmationszeugnis, dazu die Sterbedokumente von Charlottes Eltern. Trude Berger las die Daten. Sie waren leicht zu merken. Charlotte Bürger war um zwei Monate älter als sie, auf den Tag um zwei Monate.
Sie barg alles in ihrem Handtäschchen, rief, als sie ging, zu Frau Klockow in die Küche hinein: „Heute komme ich nicht zu Tisch, ich esse außerhalb.“
Die Dicke antwortete patzig: „Sie essen woll zusammen mit Ihre Meechenhändlerin? Na, denn wünsche ick juten Appetit und det sie Ihnen ’ne feine Stelle verschafft.“ Sie drehte der Fortgehenden direkt den Rücken.
Trude war das in ihrer Stimmung nur Wasser auf ihre Mühle. Vielleicht hätten ein paar freundliche Worte, irgendein versöhnender Satz sie noch zurückgehalten von dem, was sie zu tun im Begriff stand. Vielleicht!
Am Spätnachmittag kehrte sie in übermütiger Stimmung zurück. Sie lachte Frau Klockow ins Gesicht. „Ich reise mit meiner Mädchenhändlerin ab. Morgen schon! Ich zahle Ihnen aber vierzehn Tage Miete voraus. Sie sehen also, ich bin nobel. Die Abmeldung können Sie nachher schon immer schreiben.“
Daß Trude Berger wirklich so schnell von ihr fortziehen würde, das hatte Frau Klockow doch nicht gedacht. Sie war bestürzt. „Machen Sie doch keine Witze!“ stieß sie hervor, und nach einem Weilchen tappte die Frage nach: „Bleiben Sie denn in Berlin, oder wohin soll es denn jehen? Ich muß das auch für die Abmeldung wissen.“
„Sie können mich mit dem Vermerk ‚auf Reisen‘ abmelden,“ gab Trude Berger zurück.
Frau Klockow fragte nichts mehr. Wozu auch? Sie merkte, die blonde Trude wollte ihr nicht die Wahrheit sagen. Die Geschichte mit der Dame, die sie als Zofe engagiert hatte, war Blödsinn. In der Geschichte spielte ein Mann die Hauptrolle. Wahrscheinlich handelte es sich um so einen, der an keine Heirat dachte. Eigentlich hätte sie Trude Berger das nicht zugetraut. Aber solche anscheinend Soliden, wie die Berger, waren meistens die Allergerissensten.
Am anderen Tage zog Trude Berger aus, ohne Charlotte Bürger und Fräulein Merkel Lebewohl zu sagen. Vorher aber war ein sehr eleganter Koffer gebracht worden. Was Trude von ihren wenigen Sachen nicht mehr gefiel, das ließ sie zurück, sagte zu Frau Klockow, sie möge es verschenken. Im Auto fuhr sie fort. Frau Klockow, die mit hinunterging, hörte, wie sie dem Schofför als Fahrtziel: „Görlitzer Bahnhof!“ angab. Ein paar Straßen weiter aber rief Trude dem Schofför zu, er möge zum „Anhalter Bahnhof“ fahren.
Dort, im Wartesaal zweiter Klasse, wartete Lothar Bürger schon auf sie, gegen ein Uhr fuhr der Zug nach Dresden. In den Polstern eines Abteils zweiter Klasse saßen sich dann die beiden gegenüber.
Trude spürte ein wenig Herzklopfen, als der Zug mit ihr aus der großen Bahnhofshalle hinausfuhr, sie einem neuen Leben entgegenführte. Ja, ein völlig neues Leben würde für sie beginnen. Sie hieß jetzt Charlotte Bürger, das vor allem mußte sie sich fest einprägen, es war gefährlich, wenn sie aus der Rolle fiel.
„Tut es dir nicht ein bißchen leid, die Stadt zu verlassen, wo du geboren bist?“ fragte Lothar und vertauschte seinen Hut gegen eine Reisemütze.
„Nein!“ erwiderte die Gefragte aus vollem Herzen. „Ich wollte aus Stolz, weil ihr so spät an mich gedacht, von euch nichts wissen, aber von Berlin sehne ich mich schon lange fort.“ Sie seufzte. „Ich habe ja noch gar nichts von der Welt gesehen.“
Lothar Bürger nickte lächelnd. „Wenn du aus Berlin noch nicht herausgekommen bist, dann fängt ja für dich gleich hinter Berlin die Welt an. Um Dresden herum ist’s wunderschön, dann kommt die Sächsische Schweiz mit ihrer Perle, dem Königstein, und dann fahren wir hinüber ins böhmische Land. Aber so weit ist’s noch nicht. Erst machen wir in Dresden Station, da müssen wir für dich allerlei einkaufen, damit du so zu uns kommst, daß — entschuldige, Lotte, ich will dich nicht verletzen — daß die Dienstboten sich nicht in unnütze Betrachtungen verlieren.“
Sie sagte ein wenig scharf: „Ich bin in meiner jetzigen Kleidung nicht fein genug für euch, nicht wahr?“
„Lottchen, fasse es, bitte, nicht böse auf, aber es ist wirklich so. Vater ist reich, weshalb soll seine Nichte Kleider tragen, die —“
„Die zu billig aussehen,“ unterbrach sie ihn. Setzte wie vorwurfsvoll hinzu: „Hättet euch eher um mich kümmern müssen.“ Sie staunte innerlich selbst, wie gut sie sich schon in ihre neue Rolle hineingefunden hatte.
Lothar Bürger erwiderte sehr ernst: „Ja, wir hätten uns wohl eher um dich kümmern müssen. Ich bewundere auch aufrichtig, wie gut du dich allein durchgearbeitet hast. Ich hörte ja durch die Auskunft, wie fleißig du billige Klavierstunden gegeben, um nebenher die Ausbildung deiner Stimme zu ermöglichen. So etwas ist anerkennenswert. Nun wirst du nur noch zu deiner eigenen Freude Klavier zu spielen brauchen, und es wird auch Rat werden, daß du deine Gesangsstudien wieder aufnehmen kannst.“
Trude Berger fühlte plötzlich wieder die Angst im Nacken, wie eine kalte drohende Faust. „Ich habe so viele Klavierstunden gegeben, daß mich schon der Ekel packt, wenn ich daran denke, vor einem Klavier Platz nehmen zu müssen. Ach, und die Gesangsstudien nahm ich nur, weil man mir versicherte, ich hätte eine gute Stimme, und ich doch nicht immer Klavierlehrerin bleiben mochte. Im übrigen mache ich mir gar nichts daraus, es strengt so an, das Singen, ich habe davon immer gleich Schmerzen im Hals bekommen.“
„So?“ Lothar Bürger schüttelte ein wenig den Kopf. „Dann wärest du wahrscheinlich auch nicht besonders weit mit dem Studium gekommen, wenn dich das Singen jetzt schon anstrengt.“
Sie blickte zum Abteilfenster hinaus, lenkte das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema, denn vom Klavierspiel und vom Gesang verstand sie gar nichts. Ihr Mut, mit dem sie sich zuletzt in das Abenteuer eingelassen, war wieder stark zurückgeschnellt. Dieses verdammte Klavierspiel und die dumme Singerei waren die Klippen, an denen sie schließlich noch Schiffbruch leiden würde. Am besten war es vielleicht doch, wenn sie in Dresden bei der ersten besten Gelegenheit Reißaus nahm.
Lothar Bürger bemerkte den Schatten auf dem hübschen Mädchengesicht und deutete den Schatten falsch. „Weißt du, Lotte, wenn die Erinnerung an das Stundengeben und dein Gesangsstudium dich so verstimmt, dann will ich dich nicht mehr daran erinnern, denn ich muß dir offen gestehen, ich bin herzlich unmusikalisch.“
Trude Berger klang das wie ein Trost. Sie lächelte schon wieder, und ihr Mut stieg auch. Es war ja alles nicht so schlimm, wie es im ersten Augenblick aussah. Man durfte sich nur nicht verblüffen lassen.
In Dresden fuhr Lothar Bürger an einer Pension vor, in der er schon seit Jahren wohnte, wenn er nach Dresden kam. Auch sein Vater pflegte hier abzusteigen, ebenso hatte seine Mutter hier öfters gewohnt mit seiner Schwester. An Frau Dr. Wald, die Pensionsinhaberin, hatte er gestern einen Eilbrief vorausgesandt und Zimmer bestellt, hatte ein paar erklärende Worte hinzugefügt über seine Cousine Charlotte. Die Dame kam Trude Berger sehr freundlich entgegen und war auf Lothars Wunsch gern bereit, dem jungen Mädchen in der Auswahl neuer Kleidung beratend zur Seite zu stehen.
Frau Dr. Wald hatte kein schweres Amt, sie fand, Fräulein Bürger besaß guten Geschmack. Lothar aber war verblüfft, als ihm seine blonde Cousine nach dem Besuch in einem ersten Konfektionshause entgegentrat. Wunderhübsch war sie jetzt. Sein Vater konnte zufrieden sein mit dem, was er ihm heimbrachte.
Die beiden blieben einige Tage in Dresden, besuchten zusammen Theater, Kinos, und Lothar zeigte Trude Berger die Sehenswürdigkeiten Dresdens. Er machte mit ihr einen Ausflug nach Königstein, und die sonnigen Herbsttage, die unaufhörliche Abwechslung ließen Trudes Bangen gar nicht mehr aufkommen.
Immer sicherer lebte sie sich in ihre Rolle hinein und erschrak dann doppelt stark, als Lothar eines Tages sagte: „Nun müssen wir aber deinen Reisepaß besorgen, Lotte. Eigentlich hätten wir das schon in Berlin tun müssen. Du hast doch deine polizeiliche Abmeldung bei dir?“
Sie stotterte: „Nein, die habe ich nicht, ich wußte ja nicht, daß ich sie brauchte.“ Was nützte ihr eine Abmeldung auf den Namen Trude Berger?
Er sann nach. „Es wird auch so gehen. Du besitzest doch Legitimationspapiere?“
„Gewiß,“ versicherte sie hastig. „Taufzeugnis und Geburtsschein, die Mündigkeitserklärung und auch —“
„Genug, genug,“ unterbrach er sie hastig, „so viel wirst du gar nicht benötigen.“
Er hatte recht. Trude war mit einer Art von Galgenhumor Lothar zur Polizei gefolgt und hatte alle Fragen nach den nötigen Daten so ruhig wie möglich beantwortet, obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie wunderte sich dann, daß sich alles so merkwürdig glatt abwickelte, so überaus glatt.
Lothar hatte vorher Paßbilder von ihr anfertigen lassen. Zum ersten Male unterschrieb sie ein behördlich gestempeltes Dokument mit dem Namen Charlotte Bürger. Dann erhielt sie vom Konsulat ihres neuen Heimatlandes das Visum. Und in diesem Augenblick war es ihr, als sei der Name rechtmäßig ihr Eigentum geworden. Es war wirklich alles viel leichter, als sie gedacht. Jede Angst war Torheit.
Wie im Rausch vergingen ihr die Tage bis zur Weiterreise. Sie hatte sich an Lothars ständige Gegenwart gewöhnt, ihr war es, als gehöre er zu ihr. Doch als sie wieder im Zuge saß, kam es abermals wie ein Erwachen aus tiefem Rausch über sie. Mit Lothar Bürger war die Komödie verhältnismäßig leicht gewesen. Sein Vater aber fühlte ihr vielleicht schärfer auf den Zahn, tat vielleicht Fragen, daran ihre Lügen zerbrachen, und dann folgte die Entlarvung. Schrecklich mußte dann Lothars Verachtung sein. Sie schauerte zusammen, wenn sie daran dachte.
Bodenbach, die Grenze, lag bereits hinter ihnen, da bekannte sie ehrlich: „Ich möchte am liebsten umkehren.“
„Warum?“ fragte Lothar.
„Mir bangt vor deinem Vater.“
Lothar lächelte beruhigend. „Früher war Vater ein bißchen das, was man einen Gewaltsmenschen nennt. Aber seit dem Tode meiner Schwester hat sich das geändert. Es ist, als wenn seine sonst kraftvolle Natur seitdem einen Sprung hat. Er ist viel weichherziger als früher, und du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten.“
Aber die Worte beruhigten Trude nicht. Je näher das Ziel der Fahrt rückte, desto aufgeregter ward sie.
Lothar sagte einmal zu ihr: „Eigentlich müßte dem Vater ein bissel vor dir bangen, weil er damals jede Hilfe für dich so schroff verweigerte. Du hast jedenfalls keinen Grund dazu.“
„O, wenn du wüßtest, welche raffinierte Betrügerin ich bin!“ dachte Trude Berger, und ihr war ganz jämmerlich zumute, als sie auf der kleinen Endstation der Reise das Eisenbahnabteil verließ.
Lothar half ihr beim Aussteigen, und danach sah sie, wie er einem großen, breitschultrigen Herrn, mit dickem, grauem Schnurrbart, die Rechte schüttelte, fühlte gleich darauf Lothars Finger an ihrer Schulter, empfand, daß sie davon förmlich vorwärts geschoben ward.
Scharfe Augen unter halbgeschlossenen Lidern blitzten auf sie nieder, eine stahlharte Stimme sagte laut: „Das also ist Charlotte! Ich habe sie mir eigentlich anders vorgestellt, mehr ihrer Mutter ähnlich.“
Trudes Blick senkte sich. Herrgott, was gäbe sie dafür, wenn sie jetzt hätte weglaufen dürfen!
Die Stimme Hubert Bürgers sprach weiter: „Bist du betrübt, Charlotte, weil du deiner Mutter nicht ähnelst? Ich bildete es mir ja nur ein, und du gefällst mir auch so, Mädel. Das genügt doch! Ich danke dir vor allem, daß du nun bei uns bleiben willst, und heiße dich herzlich willkommen.“ Seine Hand nahm liebevoll die ihre. „Komm, Mädelchen, jetzt fahren wir heim.“
Er zog ihren Arm unter den seinen, führte sie zum Auto. Der Schofför hatte sich inzwischen der Koffer bemächtigt. Trude durfte wieder einmal aufatmen, aber so ganz leicht und frei fühlte sie sich doch nicht. Vor Hubert Bürger würde sie viel mehr auf der Hut sein müssen als vor Lothar.
Das Auto fuhr durch hügliges Gelände, in der Ferne tauchten Häuser auf. Die Herren unterhielten sich, machten das junge Mädchen nur ab und zu irgendwie auf die Landschaft aufmerksam. Graue Steinfelsen wuchsen plötzlich steil und kahl gen Himmel.
„Das sind die Tyssaer Wände,“ erklärte Lothar, „allerlei Sagen geistern hier. Und dort drüben links, der viereckige Steinkasten mit dem Hintergrund von herbstlichen Akazienbäumen ist unser Wohnhaus.“
Trude nickte nur zu allem. Sie empfand trotz der Sicherheit, die sie sich einzureden suchte, den scharfen Blick des älteren Mannes unangenehm.
Das Auto hielt. Frau Mattausch, die Wirtschafterin, eine dunkelhaarige Vierzigerin, mit einem wohlwollenden Lächeln um den Mund, stand vor dem Gittertor, grüßte respektvoll die Nichte ihres Brotherrn. Sie zeigte Trude Berger ihre Zimmer, war ihr behilflich, den Koffer auszupacken.
Dabei plauderte sie: „Jesses, Maria und Josef, war das ein Jammer, als unser herziges Fräulein Lottchen starb! Der Herr ist rein irr geworden vor lauter Leid. Fräulein Lottchen war sein Herzblatt. Und so rauh und hart der Herr manchmal war, unser Fräulein hat nur ein bissel mit den Augen zu blinzeln brauchen, dann wurde er ganz weich und mitleidig. Und jetzt, zuletzt, war es schrecklich trübe und einsam hier, weil der Herr Lothar auch fort gewesen ist. Ach, ich bin so froh, daß Sie mitkamen! Sie haben so ein liebes Gesicht. Ich hoffe, nun wird unser armer Herr bald wieder froher werden. Er braucht das, er braucht das sehr.“
Trude Berger atmete auf, als die Redselige endlich das Zimmer verließ. Sobald sie allein war, schaute sie sich genauer in ihrem neuen Heim um. Die zwei ineinandergehenden Stuben, die man ihr angewiesen, waren sehr hübsch ausgestattet. Das Schlafzimmer war ganz in weiß und hellgrün gehalten, das Wohnzimmer in dunkelbraun und lila.
Sie wusch sich, bürstete über ihr Haar und blickte dann zum Fenster hinaus. Sie sah, nicht allzu fern, die grauen Felswände. Das sind die Mauern, hinter denen meine Vergangenheit liegt, durchschauerte es sie. Irgendwo, weit hinter den düsteren, grauen Felsenwänden, ruhte Trude Berger in einem Grabe, das niemand kannte. Sie, Charlotte Bürger, hatte mit der Nähmamsell, die für ärmliche Frauen und Kinder des östlichsten Ostens von Berlin armselige Garderobe zusammengestoppelt, nichts Gemeinsames mehr. Eine hohe, schroffe Mauer trennte sie von dem kleinen Nähmädchen, die so hoch und abgrenzend war wie die Tyssaer Wände.