Читать книгу Der Glücksbecher von Willerstein - Anny von Panhuys - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеLorenz Hammerschlag ging langsamen Schrittes durch die schmalen Gassen des alten Frankfurt.
Ein kleines, diesem festgeprägten Männergesicht ungewohntes weiches Lächeln hatte sich um seine Lippen eingenistet, und wie ein Abglanz stiller, versonnener Herzensträumerei leuchtete es aus den grauen Augen, die für gewöhnlich sehr kühl zu blicken pflegten.. Augen, die sich geübt hatten, den Dingen auf den Grund zu sehen.
Wie gut es die Frühlingssonne schon meinte, sommerliche Wärme verschwendete sie und spann alle die uralten Häuschen in den engen Gassen in einen lichten goldenen Zauber ein.
Still war es hier um diese späte Nachmittagsstunde, nur ein paar Buben, denen die ersten Hosen einen drolligwichtigen Anstrich gaben, starrten den hochgewachsenen Mann verwundert an, der jetzt vor dem Hause „Zum goldenen Lämmchen“ stehenblieb und fortwährend nach dem Hause „Zum alten Uhu“ hinüberschaute.
Was es da nur zu betrachten gab?
Lorenz Hammerschlag bemerkte die verwunderten Knirpse und nickte ihnen zu. Dachte bei sich: War auch einmal einer wie ihr, und hätte damals nimmermehr begriffen, was es an so einem alten Häuschen zu sehen gibt, hätte damals nimmermehr geglaubt, daß man Wunder daran entdecken kann. Seine arme Kindheit hatte ja einstens in dem alten düsteren Kasten gewohnt — aber auch seine Knabenjahre. — Die heiße Sehnsucht seiner Knabenjahre lag da drüben in dem alten Steinkasten einmal eingekerkert, die Sehnsucht, die ins Weite fliegen wollte und nie müde ward, immer neue, immer lockendere Ziele zu suchen. Knabensehnsucht wurde zu Lebenswünschen, die sich dem Manne erfüllten, wenn auch um vieles anders, als sie dereinst die pochende junge Brust durchzitterten.
Lorenz Hammerschlag lächelte stärker.
Allzu junge Sehnsüchte laufen Irrlichtern nach, — es war wohl gut, daß manches sich so völlig anders gestaltet hatte, als er es sich ausspintisiert in jenen fernen Tagen, da er noch unter dem Dache des Hauses „Zum alten Uhu“ schlief. Mit achtunddreißig Jahren denkt man nicht mehr wie einer von vierzehn.
Er nahm den leichten Panama vom Kopfe und ließ die Sonne über seinen Scheitel spielen. Es tat ihm gut. Er sah zwei Paar neugieriger Kinderaugen noch immer beobachtend an sich hängen. Er griff in die Tasche, gab den beiden Hosenmätzen je ein Zehnpfennigstück: „Kauft euch Guts dafür, Kluntscher oder Kuchengebrocksel!“
Sie vergaßen vor jäher Glückseligkeit den staunend geöffneten Mund zu schließen, indes er weiterging und gleich darauf hinaustrat auf den „Hühnermarkt“, wo Frankfurter Bürgerdankbarkeit dem Violksdichter Friedrich Stolze ein Denkmal gesetzt. — Der rechte Platz für den Altfrankfurter Poeten.
Lorenz Hammerschlag sah die „Lange Schirn“ wieder, die in diese enge Gasse eingebauten Bäcker- und Metzgerverkaufsstände, und er meinte seine blasse Mutter da drüben an einem der Stände zu erblicken, wie sie um ein billiges Stück Fleisch feilschte.
Gewaltsam schüttelte er die Erinnerung ab, die gar so lebendig hier auf ihn eindrang. Er schritt zum Stolze-Denkmal zurück. Ein Kräuterladen befand sich in dem kleinen Haus zur Seite, der starke Kräutergeruch trieb die Erinnerung aber nur immer lebhafter hoch, denn täglich, da er dereinst zur Schule gegangen, hatte ihn der Weg an diesem Kräuterladen vorbeigeführt.
In der Gegend gab es überhaupt viele Geschäfte, die sich gar nicht verändert hatten. Man hätte zuweilen meinen können, hier in den engen Gassen wäre die Zeit gar nicht weitergewandert.
Lorenz Hammerschlag trat einen Schritt zurück, zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, stellten sich vor dem Denkmal auf und betrachteten es eingehend. Nach einem Weilchen meinte die Jüngere:
„Es gibt da ein sehr hübsches, launiges Gedicht, in dem dieser Dichter seine Vaterstadt verherrlicht, doch fällt es mir leider nicht ein.“
Lorenz Hammerschlag verneigte sich leicht: „Es kommt wohl nur auf den Anfang des Gedichtes an, und da kann ich als Frankfurter vielleicht aushelfen.“
Und ohne zu zögern begann er:
„Es is kä Stadt uff der weite Welt,
Die merr wie mei Frankfort gefällt,
Un es will merr net in mei Kopp enei:
Wie kann nor e Mensch net von Frankfurt sei!
Un wär’sch e Engel un Sonnekalb,
Er Fremder is immer von außerhalb!
Der beste Mensch is e Ärjernis,
Wann err net aach von Frankfort is.“
Die Ältere nickte etwas steif und gemessen, während die Jüngere vergnügt lächelte:
„Die Verse sind reizend und der ganze Lokalstolz des Dichters auf sein Frankfurt darin wunderbar zum Ausdruck gebracht. Alle echten Frankfurter müssen ihm dafür dankbar sein.“
Zwei samtene braune Mädchenaugen blickten den Mann wie prüfend an.
„Da Sie auch Frankfurter sind, müssen auch Sie dem toten Dichter dankbar sein, denn auch für Ihr Empfinden fand er wohl die rechten Worte?“
Es klang wie eine halbe Frage.
Das strenggeschnittene Männergesicht überrann ein flüchtiger Schatten, der jedoch so rasch wieder verschwand, wie er gekommen.
„Ich bin schon zu lange von Frankfurt fern, um eigentlich noch richtig dazuzugehören.“ — Seine Stimme änderte sich, warf die Gleichgültigkeit ab. „Bin nach langen Jahren einmal heimgekehrt, und nun ich die alten Gassen wiedersehe, in deren einer“, seine Hand wies um die Ecke, „ich geboren bin, da wächst es aus dem Boden und greift wie mit Armen nach mir, da strecken sich aus jedem der alten Häuser Fühlfäden, die tastend auf mich zuschweben, da erwachen tausend Stimmen in mir, von denen ich in langen Jahren nicht eine einzige hörte — und wirklich“, — er machte eine kleine Pause, „ich empfinde es hier auch wieder voll und lebendig wahr: Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei.“
Die ältere Dame stand da, als wäre sie aus Holz.
„Sehr interessant, Ihre Ausführungen, mein Herr, wirklich sehr interessant, leider gestattet uns die Zeit nicht mehr, länger zuzuhören.“
Sie nickte pagodenhaft, und die etwas tief gescheitelten grauen Haare nickten leicht im Takte mit.
Die junge Dame klopfte mit der Spitze ihres dunkelblauen Sonnenschirms mehrmals wie in leichtem Ärger auf das unregelmäßige Pflaster.
„Aber, liebste Tante Brinken, Sie geben sich mal wieder irgendeiner Täuschung hin, wir haben ja mächtig viel Zeit, und wenn es dem Herrn recht wäre, so möchte ich ihn herzlich bitten, uns doch ein bißchen durch das Gäßchengewirr als Führer zu dienen.“
Sie sah ihn mit den braunen Augen warm an.
„Sie verbrachten Ihre Kindheit hier, es mutet wie ein Märchen an, in solchen Gassen geboren zu sein.“
Er zuckte die Achseln.
„Es wohnt meist Armut in den niedrigen Stuben.“
„Verzeihen Sie“, sagte sie weich, und über das schmale zarte Gesichtchen huschte eine Blutwelle.
Er mußte lächeln. Er freute sich ihres raschen Begreifens.
„Ich will Sie gern ein Stück Weges begleiten“, sprach er und achtete kaum darauf, daß die ältere Dame immer versteinerter dareinblickte.
Das junge Mädchen mit den kupferfarbenen dicken Zöpfen und den samtenen braunen Augen ging gleich einem holden Wunder neben ihm her, und ihm fiel es in diesem Augenblicke zum erstenmal ein, wie wenig er sich bisher doch Zeit und Gelegenheit genommen, sich um Frauen zu kümmern. Arbeit! war sein Feldgeschrei gewesen, und nicht rechts noch links hatte er geblickt bisher, weil er die Augen immer geradeaus auf die Arbeit gerichtet hatte.
Arbeit, Arbeit war das starke Seil gewesen, an dem er hinaufgeklettert aus der Enge des Frankfurter Gäßchens. Arbeit, viel Arbeit. Aber Freude hatte sie ihm gegeben, die Arbeit, nie hatte er ihre Last gespürt, nie war sie ihm Feindin, immer nur Freundin gewesen.
Die junge Dame, die ihm zur Seite schritt, deutete wohl sein etwas langes Schweigen falsch.
„Verzeihen Sie, es war vielleicht unbescheiden, Sie so schlankweg als Fremdenführer in Anspruch zu nehmen, möglicherweise haben Sie Wichtigeres vor.“
Er widersprach lebhaft.
„Aber ich bitte Sie, mein Fräulein, dann hätte ich das unbedingt gesagt, nein, ich habe wirklich genügend Zeit, um Sie sogar kreuz und quer durch Frankfurt zu führen. — Doch dürfte Ihnen mein Wissen nur hier in dem alten Stadtteil von Nutzen sein, hier hat sich nicht allzuviel geändert, — aber sonst — —. Du lieber Himmel, wie hat sich die Mainstadt herausgemacht, seit ich sie vor zwanzig Jahren verließ.“
„Zwanzig Jahre“, wiederholte die junge Dame und zog die schmalen dunklen Augenbrauen hoch, so alt bin ich gerade vor einigen Wochen geworden.“
„Anne“, mahnte die Ältere.
„Ach, lassen Sie uns doch plaudern, Tante Brinken, komme sonst wenig genug dazu“, lachte der Jungmädchenmund.
Lorenz Hammerschlag freute sich des frischen Wesens der jungen, einfach aber vornehm gekleideten Fremden und unwillkürlich ging er auf den Ton ein.
„Vor vier Wochen jährte es sich zum zwanzigsten Male, seit ich, als armer Glücksritter aus Frankfurt auszog.“
„Vor vier Wochen jährte es sich zum zwanzigsten Male, seit ich, jedenfalls mit einem äußerst angenehmen Freudengeschrei, das Licht der Welt begrüßte.“
Sie lächelten sich beide, über die Entdeckung, die sie eben gemacht, an.
Die ältere Dame zog die Schultern wie fröstelnd zusammen. Was fiel nur der Anne ein, sich so zwanglos mit diesem Manne zu unterhalten, von dem man so gar nichts wußte, als daß er in einer engen Gasse Altfrankfurts geboren ward und vor langen Jahren seine Vaterstadt als „armer Glücksritter“ verließ. Er sielbst hatte sich dieses Ausdruckes bedient.
Graf Ferdinand Zettingen-Willerstein liebte dergleichen Bekanntschaften nicht, und wenn er davon erführe, würde es eine schöne Strafpredigt setzen.. Selbstverständlich trüge sie, Malvine von Brinken, die Schuld, daß so etwas überhaupt vorkam. Sie hörte bereits im Geiste die überlaute Stimme des Grafen, wie er sie abkanzelte: Meine liebste Brinken, Sie werden alt, man kann sich nicht auf Sie verlassen. Eine Komtesse Zettingen-Willerstein macht eben keine Straßenbekanntschaft, selbst wenn sie inkognito reist. Um solche Ausfälle Annes zu verhindern, sind Sie da, meine liebe Brinken, und ich bitte Sie, davon Notiz zu nehmen!
Malvine von Brinken schauerte bei der Ausmalung des Schrecknisses nochmals zusammen, und dann sagte sie, so fest es ihr der Jüngeren gegenüber möglich war:
„Anne, wir wollen uns eilen, weil wir uns noch umkleiden müssen, denn wir haben doch Plätze für die Oper genommen.“
„Aber Tante Brinken, eins nach dem anderen, jetzt muß erst Altfrankfurt erledigt werden“, lächelte die junge Dame, und ein kleiner spitzbübischer Blick suchte den Blick des Mannes. Ein Blick, der zu sagen schien: Ich habe gar keine Eile, erkläre und zeige mir nur in aller Ruhe, was es hier zu erklären und zu zeigen gibt.
Aber zugleich fühlte Lorenz Hammerschlag einen strengen Blick der alten Dame auf sich ruhen.
Ich habe mich noch nicht vorgestellt, zuckte es ihm durch den Kopf, vielleicht störte diese kleine Vergeßlichkeit die alte Dame. Nun, das konnte er nachholen. Er zog den Hut und nannte seinen Namen.
Name ist Schall und Rauch, dachte Malvine von Brinken ärgerlich. „Lorenz Hammerschlag“, das verriet gar nichts. Der Träger des Namens konnte ebensogut ein Hochstapler sein, wie der Inhaber eines Ladens oder ein Fabrikbesitzer. Und ihr war es, als habe sie den Namen schon öfters gehört — aber sie wußte ihn nirgends unterzubringen.
Sie zog ein sauersüßes Gesicht. Immerhin blieb es ihr nicht erspart, die Höflichkeit zu erwidern.
„Ich heiße Malvine Brinken, und dies ist meine Pflegetochter Anne Zettingen.“
„Frau oder Fräulen Brinken?“ fragte er höflich.
Die graugekleidete Dame zuckte zusammen, als wäre ihr ein körperlicher Schmerz zugefügt worden. Ein empörter Blick irrte wie anklagend zur blauen Himmelsdecke empor, aber die Lippen blieben fest geschlossen.
„Frau, bitte, Frau Brinken“, übernahm Anne statt ihrer Erwiderung, und es war dem Manne, als liefe ein bißchen Spott neben der Antwort her.
Aber schon in nächster Minute fand Lorenz Hammerschlag, daß er sich das wohl nur eingebildet habe, denn die junge Dame war mit vollster Aufmerksamkeit bei dem, was sie sah. Er kam gar nicht dazu, viel zu erklären, sie plauderte, was hier und dort in den alten Häuschen mit den vorstehenden oberen Stockwerken wohl alles geschehen sein könne. Sie las die Inschriften über den Haustüren und lächelte. Da war links der prächtige Bau „Zur goldenen Waage“, weit hielt ein Arm eine goldene Waage hinaus. Nicht weit davon die Häuschen „Zum kleinen Vogelsang“ und „Zum Weißfisch.“
Anne sprach die Hausnamen förmlich andächtig aus.
Sie gingen wieder bis zum Hühnermarkt zurück, und Anne bog in die Gasse „Hinter dem Lämmchen“ ein.
„Darin bin ich geboren“, Lorenz Hammerschlag zeigte auf das Haus „Zum alten Uhu“. Er sagte es ruhig und selbstverständlich.
„Ohhh —!“
Nur diesen langgezogenen Laut brachte die alte Dame hervor, aber er ersetzte ganze Bände.
„Das Haus sieht müde aus, — die anderen ringsum haben frohere Farben“, meinte Anne.
„Es ist in den letzten Jahren hier viel erneuert und ausgebessert worden, wie ich hörte“, gab er zurück und öffnete den breiten Torgang des Hauses gegenüber dem „Alten Uhu“.
Man trat ein.
„Wie wunderhübsch“, begeisterte sich Anne und stand mit einem leichten Staunen in den braunen Augen und ließ die Blicke umhergleiten.
„Ein wirkliches Stückchen Mittelalter.“
„Das ist der Hof zum ‚Lämmchen‘“, erklärte Lorenz Hammerschlag, „und wir haben ähnliche, aber für meinen Geschmack nicht ganz so schöne Bilder am Domplatz im ‚Hainer Hof‘ und ‚Köppler Höfchen‘.“
Er erzählte ein paar halb sagenhafte Geschichten, die sich hier zugetragen haben sollten, und freute sich der reizenden Zuhörerin, deren Züge einen verträumten Ausdruck trugen.
„Anne, wir dürfen nicht mehr länger säumen“, mahnte die alte Dame und schreckte die beiden auf, die sich ganz in die alten Zeiten versenkt hatten, die alte Zeit, deren Odem man hier noch so lebendig spürte, hier in dem Hof, um dessen kleine Häuser geschnitzte Holzgalerien führten.
„Verzeihung, Frau Brinken, ich verlor mich in Weitläufigeiten!“
Lorenz Hammerschlag trat beiseie, um die Damen durch den Torweg voranzulassen.
Malvine Brinken krauste die Stirn und ging neben den beiden her, als sei sie stumm.
Lorenz Hammerschlag machte noch auf das „Steinerne Haus“ aufmerksam, auf das Haus „Zu den drei Römern“ und „Zu den zwölf Himmelszeichen.“
Das Schaufenster eines Antiquars zog Annes Aufmerksamkeit auf sich. Darin stand auf den Saumfalten eines niederhängenden, nach unten weit ausgebreiteten, seidenbrüchigen Meßgewandes, ein Kelch aus dunklem Golde mit kunstvoll getriebenen Engelsköpfen, düsterrote Steine schmückten den Rand und saßen da in ihrem tiefen Rot wie erstarrte Blutstropfen.
„So einen Becher haben wir daheim“, sagte Anne und zeigte auf das goldene, stark gedunkelte Gefäß. Und wie zu sich selbst, setzte sie hinzu: „Daß es noch ein zweites derartiges Stück gibt — — —“
Aber vielleicht waren sich bei genauem Betrachten die Becher doch nicht völlig gleich. Sie neigte sich ein wenig, um genauer zu sehen. Möglich, daß es doch einen Unterschied gab zwischen diesem Becher, der hier im Schaufenster des Antiquars stand, und dem Becher, den man daheim sorgfältig in einem Schränkchen aufbewahrte und der nur herausgeholt wurde, wenn sich ein Mitglied der Familie verlobte oder Hochzeit hielt. Das Brautpaar mußte daraus trinken, das bedeutete eine glückliche, gute Ehe.
Schon ein paar hundert Jahre sollten es die Zettingens so gehalten haben, und die Ehen sollten auch alle glücklich gewesen sein.
Lorenz Hammerschlag betrachtete den Becher.
„Ein reizvolles, eigenartiges Stück, ich habe auch eine große Vorliebe für dergleichen.“
Annes Blick hing sehnsüchtig an dem goldenen Becher, und für einen Menschenkenner stand deutlich auf der reinen klaren Mädchenstirn geschrieben: Wie gerne kaufte ich den Becher!
Und das las Lorenz Hammerschlag und zugleich, daß wohl die Geldbörse solche Ankäufe verbot.
Schade, daß er es nicht wagen durfte, dem hübschen Geschöpf ein Geschenk zu machen.
Und Anne dachte wirklich, wie bedauerlich es doch sei, den Becher nicht erstehen zu können, der ein Zwillingsbruder des Bechers daheim zu sein schien. Ein und dieselbe Meisterhand mußte beide gefertigt haben. Von dem Becher daheim hieß es, ein berühmter Goldschmied, der zu Nürnberg ausgangs des sechzehnten Jahrhunderts gelebt, sei der Schöpfer. — Ach ja, nett wäre es, immer so viel Geld in der Tasche zu haben, um ohne Skrupel in einem Laden fragen zu können, was das kostete, wonach man Begehr trug, und es kaufen zu können.
Sie wandte sich fast ungestüm ab und streifte dabei ihre hinter ihr stehende Begleiterin.
„Verzeihung“, bat Anne.
Die Ältere sagte ein rasches „Bitte“, schaute auch flüchtig das Schaufenster an, doch da ihr nichts darin besonderer Aufmerksamkeit wert schien, irrten ihre Augen wieder ab.
„Anne, wir müssen uns vor der Oper noch umkleiden, auch den Tee im Hotel nehmen.“
Leichte Ungeduld gab den Worten etwas Drängendes, Hastiges.
„Auf einige Minuten kann es doch nicht ankommen.“
Anne ging ein paar Schritte neben Lorenz Hammerschlag her. Dann blieben beide wie von einem Gedanken bewegt stehen. Sie befanden sich auf dem Römerberg.
„Wenn hier gerade niemand vorübergeht, der durch die jetzige Kleidung die Illusion zerstört, so könnte man sich um einige Jahrhunderte zurückversetzt fühlen“, meinte Anne, und sie las von einem der Giebel die Jahreszahl 1562 ab. In dem vollen Sonnenglanze, der über allem wie eine weitmaschiggewobene Golddecke lag, traten die Häuser, die ringsum den Platz säumten, lebendiger hervor.
„Stolze Patrizier haben einstens neben dem Römer gewohnt“, sagte Lorenz Hammerschlag, „und man meint fast, die Fenster müßten sich öffnen und ein schönes Fräulein in Miederkleid und gebundenen Puffenärmeln herausschauen. Man meint fast, vom Wasser her, vom Main drunten müßte ein Troß reisiger Knechte den Römerberg herauflärmen, oder Kaufleute, die zur Messe heranzogen, müßten ihre Waren hier aufbauen.“
Tiefes Glockenklingen kam plötzlich über die Häuser her. Schwer und gewaltig.
„Die Domglocken“, sagte Lorenz Hammerschlag, und er sprach davon, daß er sich als Junge beim Klange der Domglocken immer ausgemalt habe, nun würde ein deutscher Kaiser gekrönt, und unter der feierlichen, melodischen Begleitung der Glocken gehe er in Purpurmantel und juwelenbesetzter Krone mit seinem Gefolge vom Dom zum Römer und alles Volk am Wege jubele laut.
Anne sah den Mann mit verstehenden Augen an.
„Unser Heim, in dem wir wohnen, hat auch schon Jahrhunderte überdauert, und die zwei Freundinnen Geschichte und Sage hocken darin auf allen Gängen.“
Er wollte fragen: Wo leben Sie? Aber er tat es doch nicht, vielleicht weil die ältere Dame gerade in diesem Augenblick ihre Stummheit aufgab.
„Anne, dort kommt ein Wagen, wir müssen ihn nehmen, wenn wir nicht auf die Oper verzichten wollen.“
Anne reichte dem Manne die schmale, in einem hellen Handschuh steckende Rechte.
„Leben Sie wohl und vielen Dank.“
„Wofür?“ wollte er fragen und kam doch nicht dazu, denn schon fuhr der Wagen, den die alte Dame herangewinkt, vor.
„Leben Sie wohl“, er drückte die kleine Hand und einem raschen Gefühle nachgebend, fügte er leise hinzu: „Auf Wiedersehen!“
Sie schüttelte leicht den feinen Kopf, und in den braunen Augen lag es wie Bedauern, aber sie sprach kein Wort, neigte nur noch einmal das Haupt wie zum Gruße, während ihre Begleiterin steif nickte.
„Ich habe die Ehre, Frau Brinken!“
Der Wagen rollte davon. Und mitten auf dem Römerberg stand Lorenz Hammerschlag und lächelte einem wunderhübschen kleinen Erlebnis nach.
Habe nie Zeit gehabt, mich bisher um Frauen zu kümmern, sann er, aber so lieb und fein war auch noch keine von denen, die ich im Leben traf, sonst wäre sie mir aufgefallen. Und dann dachte er: Zwanzig Jahre ist sie, zwanzig Jahre. Was gingen seine achtunddreißig Jahre die knospenzarten zwanzig dieses Mädchens an.