Читать книгу Der Glücksbecher von Willerstein - Anny von Panhuys - Страница 5
Zweites Kapitel
ОглавлениеEin leichter Jagdwagen harrte an der Station. Der Kutscher stand daneben, und die blanken Knöpfe mit der neunzackigen Krone machten vergessen, daß der dunkelblaue Rock schimmerte, als habe man ihm schon zu viel Behandlung mit Wasser und Bürste angedeihen lassen. Der Zug von Frankfurt fuhr eben ein.
Mit angezogenem Hut öffnete ein Diener ein Abteil erster Klasse und nahm aus den Händen der Frau von Brinken den Gepäckschein entgegen.
Anne stand mit zwei raschen Schritten auf dem Bahnsteig. Eine kleine Mißmutsfalte saß zwischen ihren Augenbrauen.
„Ach, Frau von Brinken, nun kehren wir wieder ins Exil zurück.“
Sie seufzte ganz laut auf.
Der Bahnvorsteher, der achtungsvoll in einiger Entfernung stand und dem Zugführer eben das Zeichen zum Weiterfahren gab, riß vor Schreck die Augen weit auf. Eine leibhaftige Komtesse seufzte so laut! Da mußte doch ein großer Kummer dahintersitzen.
Er grüßte ehrerbietig und strahlte, da ihm Anne lächelnd zunickte. Seine Haltung straffte sich, und er dachte: Gott sei Dank, sie scheint wieder vergnügt. Er schwärmte für die junge Komtesse, wie alle, die sie kannten, und keiner begriff recht, warum diese liebliche Mädchenblume nicht längst von irgendeinem vornehmen Herrn geholt worden war. War doch gewiß eines der schönsten Komteßchen, die es im deutschen Lande gab — nur arm war Komteß Anne. Doch das mochte wohl auch ihr einziger Fehler sein.
Frau von Brinken sagte halblaut:
„Sie dürfen sich nicht so gehen lassen, Komtesse, man seufzt doch nicht derartig, noch dazu, wenn jemand in der Nähe ist.“
Anne lachte.
„Aber Frau von Brinken, wenn mir so trostlos zumute ist wie eben, dann kann ich doch nicht damit warten, bis ich allein bin.“
Die Damen schritten nebeneinander dem Jagdwagen zu. „Komtesse Ilse befolgte alle meine Hinweise, und jedermann behauptet von ihr, daß sie das Muster einer vornehmen Frau werden wird“, sagte Malvine von Brinken.
„Meine Schwester Ilse ist zuweilen unausstehlich langweilig, ihre Seele läuft dann wie in einem mit Stahlstangen gepanzerten Leibchen umher.“
Frau von Brinken konnte eine leichte Gebärde des Mißmuts nicht unterdrücken. Wie sonderbar sich die Komtesse zuweilen ausdrückte. Ganz anders war sie als die ältere Schwester Ilse, die zukünftige Burggräfin von Weststetten, so gar nicht von der Auszeichnung ihrer hohen Geburt durchdrungen. — Wie sie zum Beispiel jetzt wieder in den Wagen sprang! Keine Würde, keine Würde.
Frau von Brinken folgte ergebungsvoll.
Die Damen wechselten nur ab und zu ein Wort, und in flottem Trabe ging es die breite Landstraße entlang. Rechts und links zeigte Buchenwald sein erstes sattes Grün, und die Bergkette, die sich fern am Horizont hinzog, war wie in bläulichen Nebel gehüllt. Mauern tauchten auf, und bald fuhr der Wagen durch das weit offenstehende schmiedeeiserne Gittertor ein.
Zu beiden Seiten, auf den breiten Sandsteinsäulen, saßen mächtige Löwen als Schildträger, in den erhobenen grimmen Tatzen das Wappen der Zettingen-Willerstein tragend. Im Felde zwei Lilien und einen Dolch. Darunter auf einer breiten Fläche der Wappenspruch: Fortem fortuna adjuvat. (Dem Mutigen hilft das Glück.)
„Wie dicht die Blätter der Kastanien in den paar Tagen geworden sind, seit wir abreisten“, sagte Anne, da der Wagen die Kastanienallee hinunterfuhr, die gerade auf Schloß Willerstein zuführte.
Frau von Brinken nickte.
„Wenn die Kastanien blühen, dann feiert Ilse schon Hochzeit.“
Anne wandte ungeduldig den Kopf.
„Nun, zunächst ist ja erst die Verlobung“, sagte sie kurz.
Ilse, immer wieder Ilse!
Schließlich war eben jeder, wie ihn der liebe Himmelsvater geschaffen. Ilse war das Muster einer echten Komtesse, wie sie dem Geschmack der Frau von Brinken entsprach, sie selbst aber das Gegenteil davon. Das war nun einmal so und ließ sich nicht ändern.
Ein trotziger Zug hing um den Mädchenmund, und die braunen Augensterne leuchteten tiefdunkel.
Der Wagen hielt vor der Brücke, die hinüberführte über den breiten Wassergraben, der das Schloß umgab. Weiß und hoch und schlicht war das Schloß, nur zwei kleine Türme und das massige Wappen über dem Eingang gaben ihm eine gewisse Feierlichkeit.
Anne sprang aus dem Wagen und eilte auf den breitschultrigen Herrn in einfacher Jagdjoppe zu, der eben vor dem Hause erschien.
„Grüß Gott, Papa, da sind wir wieder.“
Sie lachte den Vater an und drückte ihm kräftig die Hand. „Wir haben alle Besorgungen in Frankfurt gut erledigt und uns auch noch ein bissel vergnügt.“
Frau von Brinken war inzwischen herangekommen. Sie grüßte. „Guten Tag, Erlaucht.“
„Tag, Frau von Brinken, na, ist alles gut gegangen?“
„Gewiß, Erlaucht, gewiß, unsere Reise war sehr hübsch und angenehm.“
„Freut mich“, nickte er, und Frau von Brinken kannte den Tonfall des Grafen zu genau, um nicht zu wissen, wenn er so sprach, hieß das, sie konnte nun gehen.
Sie war froh darüber, denn sie fühlte das Bedürfnis, sich den Reisestaub abzuwaschen und ein anderes Kleid anzuziehen. Das tat sie denn auch schleunigst, um sich dann, da ein dreimaliger Gongton auflärmte, in den Speisesaal zu begeben. Man saß, wenn kein Gast zugegen war, immer zu vier Personen bei Tisch, aber obgleich es mittags, abgesehen von Feiertagen, außer Suppe nur einen Gang und nicht einmal immer Nachtisch gab, so mußten doch zwei Diener die Speisen reichen. Erlaucht wünschte das so.
„Mir schmeckt es sonst nicht“, äußerte er sich zu Anne, die gelegentlich eine Bemerkung darüber hinwarf. Ilse war wie der Vater. Großzügig mußte alles sein, in einen prächtigen Rahmen eingespannt. Wie sehr man auch dafür zur Einschränkung gezwungen war. Aber darum hatte sich niemand zu kümmern. Und dabei wußten doch die meisten, die Seine Erlaucht Ferdinand Willerstein kannten, daß er schon seit Jahren ein Stück des prächtigen Waldbestandes nach dem anderen verkaufte, weil er Geld brauchte und nicht deshalb, weil ihm die Verwaltung, wie er behauptete, zu zeitraubend und umständlich war.
Bei Tisch drehte sich die Unterhaltung um die Reise, die Anne in Begleitung von Frau von Brinken gemacht, die seit zwei Jahren als Gesellschafterin der beiden mutterlosen Komtessen im Schlosse weilte.
Man hatte Besorgungen für Ilses Verlobung erledigt, bei denen Ilses Gegenwart nicht nötig war.
„Wunderhübsch hat es mir diesmal in Frankfurt gefallen“, sagte Anne und nahm wie zur Bekräftigung ihrer Worte einen ordentlichen Schluck des leichten Tischweines. Ilse, deren Gesicht immer wie von Spott überhaucht war, fragte in ihrer langsamen Art:
„Und weshalb gerade diesmal?“
Anne wiegte den Kopf ein paarmal hin und her.
„Tja“, das kam zögernd heraus, als wollte sie ausdrücken: du verstehst mich ja doch nicht! Aber dann fuhr sie rasch fort: „Die Gassen in Altfrankfurt haben mir so prachtvoll gefallen, und der Römerberg mit all den altehrwürdigen Giebelhäusern. — Die paarmal, die ich vordem in Frankfurt war, bin ich niemals dort in die Gegend gekommen.“
Sie brach ab und dachte an einen hochgewachsenen Mann mit ernstem, stolzem Gesicht, der neben ihr hergegangen durch die alten Gassen, und in dessen Nähe ihr so eigen gewesen, als ob sie ihn schon lange, lange kenne. Und war ihm doch niemals vordem im Leben begegnet — und würde ihn, aller Voraussicht nach, auch wohl niemals wiedertreffen.
Frau von Brinken saß wie auf glühenden Kohlen, hoffentlich fing Anne nicht von dem Menschen an zu erzählen, der gar keinen Hehl daraus gemacht hatte, woher er stammte, trotzdem das doch gar nicht nötig gewesen wäre, denn angesehen hätte man es ihm wirklich nicht, so vornehm war er gekleidet.
Nein, gottlob, Anne unterschlug die Bekanntschaft, sie wußte ja schließlich auch, wie peinlich Erlaucht in solchen Dingen war.
Die Zettingen-Willersteins waren früher reichsunmittelbar gewesen und gehörten jetzt zu den mediatisierten Geschlechtern. Da galt es tausend Rücksichten zu nehmen, man durfte nicht tun, was Hinz und Kunz tun durften. Malvine von Brinken war so stolz auf die gräfliche Familie, als gehöre sie durch Bande des Blutes dazu.
„Wird Frau Rank mein Kleid rechtzeitig zur Verlobung senden?“ fragte Ilse.
„Ja“, antwortete Anne, „und auch alle die anderen Dinge werden pünktlich eintreffen, es ist alles in bester Ordnung, doch werde ich dir nach Tisch ausführlichen Bericht erstattten, jetzt möchte ich Papa nicht damit langweilen.“
„Bist sehr vernünftig, Mädelchen“, lachte der Graf, „hab‘ sowieso schon zu oft von Ilse hören müssen, wie geschmackvoll das Muster des Kleides sei, und daß die Rank in Frankfurt, als sie das letztemal zum Anpassen dort war, gesagt habe, nur Damen mit so schimmerndem kupferfarbenem Haar dürften mattes Grün tragen.“
Sein Lachen hatte etwas Dröhnendes, Urwüchsiges, und derb wie sein lautes Sprechen und Lachen wirkte auch das Äußere des Grafen. Sein Gesicht von gutem Schnitt war stark gerötet vom vielen Aufenthalt in frischer Luft. Fast ständig befand sich der Graf unterwegs, gleichviel ob zu Fuß oder zu Pferde. Im Aussehen stellte er so recht den Typus eines vornehmen Landjunkers dar und kümmerte sich doch dabei schon seit Jahren nicht mehr um den Gutshof, den er verpachtet hatte.
Er war niemals damit zurechtgekommen. Die rassigen Hände von Großvater und Vater hatten niemals das Geheimnis des Geldfesthaltens ergründet, und er quälte sich deshalb erst gar nicht damit ab, es zu lösen, denn was den Vätern nicht gelang, würde auch ihm nicht gelingen.
„Ich habe die Bestellungen für die Wirtschaft bei Peschler und Hermann in Frankfurt aufgegeben, Erlaucht“, begann Frau von Brinken, doch eine ungeduldige Geste des Grafen wehrte ihr, weiterzusprechen.
„Erzählen Sie das der Wirtschafterin, liebste Brinken. Daß ich den Kaviar und alle die anderen Delikatessen, die bei Ilses Verlobung gegessen werden, bezahlen muß, genügt mir vorläufig zum Glück!“
Malvine Brinken sagte mit dem liebenswürdigsten Lächeln, dessen sie fähig war:
„Wie Erlaucht wünschen.“
Bei sich aber dachte sie: Wenn Seine Erlaucht nur nicht diesen auf die Nerven fallenden lauten Ton hätte, das konnte einem zuweilen die sonst so angenehme Stellung vergällen, ebenso wie Annes Wesen.
Am Nachmittag hockte Anne in einem Kahn und ruderte sich auf dem alten breiten Graben herum, der das Schloß wie ein kleiner See umgab.
Frau von Brinken stand, von einem Gang durch den Park zurückkehrend, droben auf der Brücke und rief.
Anne hatte sich in ihre Gedanken eingesponnen wie eine Spinne in ihrem eigenen Gewebe, sie hörte nicht.
Die Dame rief lauter.
Rief zweimal, dreimal, da schaute das Mädchen endlich auf.
„Komtesse, ich möchte gern etwas mit Ihnen wegen der Tischordnung bei der Verlobung besprechen, mit Komtesse Ilse ist nicht viel anzufangen.“
Anne nickte eifrig.
„Glaube ich gern, Frau von Brinken.“ Sie steuerte den Kahn ans Ufer und hüpfte mit einem Vorwärtsschnellen des geschmeidigen Körpers ans Land, um gleich darauf neben der Gesellschaftsdame zu stehen.
„Ich bin überzeugt, Frau von Brinken, die Zeit vor Verlobung und Hochzeit ist wie eine Krankheit. Ilse hat entschieden den Brautrappel, denn für andere Menschen, als den Christian Weststetten, den sie sich erkoren, ist sie ungenießbar wie saurer Schlagrahm!“
Frau von Brinken zuckte zusammen. Schrecklich, wie Anne sich ausdrückte — sie konnte es einfach nicht lassen.
„Jede glückliche Frau ist ein wenig verträumt“, entgegnete sie, um weiteren drastischen Vergleichen vorzubeugen, „und andere, die nicht Braut sind, träumen ja auch“, redete sie in leichtem Plauderton weiter, „denn ich kenne ein Komteßchen, das mußte ich vorhin erst wieder und wieder rufen, um es aus dem Phantasieland zur Wirklichkeit zurückzuführen.“
„Stimmt, Tante Brinken, stimmt, und nun raten Sie mal, wo ich mit meinen Gedanken herumgestrolcht bin?“
‚Tante Brinken‘ pflegte Anne ihre Gesellschafterin nur in sehr guter Laune zu nennen, aber die Dame hörte es gern, wenn das Töchterchen der Erlaucht es tat. „Oh, von was träumen junge Mädchen, schwer zu erraten ist das wohl nicht? Vom Zukünftigen natürlich, wie er aussieht und ähnliches.“
Wie eine Flamme lohte es über das feine Gesichtchen der Komtesse, und die Antwort klang gequält.
„Falsch geraten, ganz falsch. Ich dachte an Frankfurt und an den Herrn, der uns ein kurzes Wegstück durch die alten Gassen begleitete, ich sann darüber nach, was er wohl sein mag.“
Malvine von Brinken riß die Augen auf. Hatte Anne den unangenehmen Menschen noch nicht vergessen, der sie kurzweg ‚Frau Brinken‘ genannt und getan hatte, als gäbe es den Titel ‚Gnädige Frau‘ überhaupt nicht? Gut, daß man so gar nichts von ihm wußte, daß er wieder so untergetaucht, wie er plötzlich erschienen war, denn Annes Aufmerksamkeit für den Menschen war ihr sofort unangenehm aufgefallen. Die Welt war riesengroß, und der Weg der Komtesse und dieses Fremden kreuzte sich sicher nicht mehr. Aber sie ärgerte sich über Anne, und sie konnte sich die heimtückische Freude, eine kleine Bosheit auszuspielen, nicht versagen.
„Vielleicht ist der Herr Schneidermeister, denn er war wirklich tadellos gekleidet“, sagte sie leichthin.
In Annes Augen blitzte hellste Empörung.
„Nun, Frau von Brinken, ich achte und ehre jeden Menschen, der auf anständige Weise seinen Lebensunterhalt verdient, aber daß Lorenz Hammerschlag etwas anderes ist, als Sie eben meinten, das steht fest.“
Ihre kleinen Hände bewegten sich heftig hin und her.
„Er ist etwas Besonderes, ist ein Herr über viele.“ Ihre Stimme ward warm. „Ein Baumeister könnte er wohl sein oder ein mächtiger Fabrikherr — oder ein Grubenbesitzer.“
Sie lachte kurz auf.
„Aber schließlich ist es doch gleich, was er ist, ich sehe ihn ja doch nicht wieder.“
Weshalb zitterte die junge Stimme nur plötzlich, weshalb legte es sich wie ein feuchter Schleier über die braunen Mädchenaugen?
Malvine von Brinken erschrak. Herrgott, stand es so? Aber wie konnte denn das nur so rasch geschehen?
Armes Ding, dachte sie mitleidig, und ein warmes Wort wollte ihr über die Lippen springen, doch ehe sie noch eine Unüberlegtheit zu beklagen hatte, lachte Anne abermals und sagte im oberflächlichsten Tonfall:
„Wenn ich mich mal verliebte, tue ich es nicht unter einem Manne, der mir eine geschlossene Krone bringt.“
„Das sind gesunde Ansichten, Komtesse“, lobte Frau von Brinken, und dann gingen sie ins Haus und besprachen die Tischordnung für das Verlobungsmahl der Komtesse Ilse.
*
Ilses Verlobungstag war herangekommen. Vom frühen Morgen an herrschte reges Leben auf Schloß Willerstein. Es waren viele Einladungen ergangen, und die Pferde vom Lindenwirt und vom Kreuzbauern aus dem nahen Dorfe waren eingespannt worden, um die verschiedenen Herrschaften von der Bahn abzuholen.
Die Söhne der Pferdebesitzer saßen in stocksteifer Haltung auf dem Bock, sie fühlten sich zwar sehr würdig in den blauen Röcken mit der neunzackigen Krone auf den Knöpfen, aber auch etwas unbehaglich. Der Kreuzbauern-Schorsch erklärte einem ihn bewundernden Dorffreund im Vertrauen: Mistfahren sei viel gemütlicher.
Auch zur Bedienung im Schlosse waren ein paar junge Leute aus dem Dorfe geborgt, und Frau von Brinken hatte es übernommen, sie ‚auszubilden‘. Leicht war das nicht gewesen, und ob der Erfolg die Mühe aufwog, schien ihr äußerst zweifelhaft, aber Erlaucht hatte es gewünscht.
Die Gäste fuhren an. Als erster, Burggraf Christian von Weststetten, der Bräutigam. Er bewirtschaftete das große Rittergut Guldenhof, eine Bahnstunde von hier entfernt. Er kam mit den Eltern, die sich seit Jahresfrist gar nicht mehr um das Gut kümmerten und es vollständig dem Sohn übergeben hatten. Sie sahen sehr vornehm aus, ebenso die Tochter, die in einer entfernten kleinen Residenz Hofdame und Vertraute der jungen Fürstin war.
Christian von Weststetten trug ein Monokel, sein Gesicht war schmal und klug, die hochgesattelte große Nase verschönte es nicht gerade, gab ihm eher das Gepräge einer interessanten Häßlichkeit. Rassig und gepflegt und vornehm von dem schnurgeraden braunen Scheitel bis zu den tadellosen Stiefeln sah er aus. Er paßte in seinem ganzen Wesen ausgezeichnet zu Ilse.
Bei der Begrüßung rief Anne dem Brautpaare zu:
„Nun gebt euch aber an solch hohem Tage einen ordentlichen, schallenden Kuß, sowas macht gleich Stimmung!“
Ilse warf ihr einen empörten Blick zu, und Frau von Brinken seufzte. Wann würde Anne es lernen, ihre spontanen Gedanken für sich zu behalten?
Christian von Weststetten tat, als habe er nichts gehört, er neigte sich ein wenig und zog Ilses Hand an die Lippen. Nicht um den Bruchteil einer Sekunde schneller, als es sich, ohne aufzufallen, gehört, und nicht wärmer, als sei es die Hand einer Königin, bei der man es nicht wagt, die Etikette auch nur um ein winziges zu überschreiten.
Ein huldreiches Lächeln spielte um Ilses Mund. So liebte sie die Männer, vor der Welt kühl und beherrscht bis in die Fingerspitzen. Ihre Küsse kümmerten niemand etwas, die brauchte kein neugieriges Auge zu erspähen. Daß Burggraf Christian von Weststetten auch anders küssen konnte, das ging nur sie ganz allein an. — — —
Wunderhübsch sah die junge Braut in dem mattgrünen Kleid aus, zu dem sie nur eine Schnur Perlen trug, die ihr Christian Weststetten gestern gesandt. Die Seide des Stoffes war von einem feinrankigen Muster durchwebt, und alte ererbte Spitzen aus dem Nachlaß der toten Mutter krausten sich um Halsausschnitt und Ärmelabschluß. Wie rötliche Bronze flammte das köstliche dichte Haar und Graf Ferdinand mußte, da er seine beiden, sich im Äußeren sehr ähnlichen Mädchen ansah, daran denken, wie sehr sie der toten Mutter glichen. Dasselbe wundervolle Haar, dieselben Augen hatte sie besessen, und er war bis zu ihrem Tode der schönen Gattin eifrigster Anbeter gewesen. In der vollen reifen Blüte ihrer Schönheit war sie gestorben.
Schade, ewig schade, daß sie die Freude des heutigen Tages nicht mehr erlebt hatte.
Ilse hatte eine glückliche Hand in der Wahl des Zukünftigen bewiesen. Tadellose alte Familie, ausgezeichnete Verbindungen bis zu den höchsten Höhen und ein gut fundiertes Vermögen.
Seine Erlaucht war sehr zufrieden und vergnügt, weil seine Älteste solch einen Treffer in der Ehelotterie machte. —
Ein Mahl im Rüstungssaale vereinigte die Eingeladenen. Der Saal führte den Namen von vier Rüstungen, die dort, je eine an jeder Wand, standen. Das Brautpaar nahm bei Tisch den mittleren Platz der einen Tafelseite ein, rechts davon saß Graf Ferdinand mit der Mutter des Bräutigams, links davon der Vater desselben mit Anne.
Anne hatte erklärt, die Anordnung sei ihr am liebsten, denn sie habe keine Lust, mit irgendeinem jungen Unverheirateten „zusammenzuhocken“. Die besäßen meist das Talent, sie grenzenlos zu langweilen.
Man saß in heiterster Stimmung beieinander, und nachdem Graf Ferdinand gesprochen und das Brautpaar beglückwünscht hatte, stieß alles mit den Kelchen an.
Anne huschte während des Durcheinanderredens und des Gläserklingens auf einen Wink des Vaters hinaus, den ‚Glücksbecher‘ zu holen, aus dem jedes junge Paar der Familie Zettingen-Willerstein bei Verlobung und Eheschließung einen Trunk tun mußte.
Sie schalt sich selbst, weshalb sie den Becher nicht schon bereitgestellt hatte — nun mußte sie erst hinüber in den alten Raum, der neben der kleinen Hauskapelle lag und früher die Sakristei gewesen war.
Sie huschte wie ein beschwingter schlanker Spukgeist den Gang hinunter.
Der langgestreckte Raum neben der Hauskapelle war unfreundlich und düster und man hatte hier allerlei Möbel und Dinge aufgestellt, die man in den sonstigen Zimmern nicht unterbringen konnte oder wollte. Schwere massige Schränke und dazu ein zierliches verschüchtertes Spinettchen. Stühle, durch deren gebrochenen Bezug das Futter schaute, und Bilder in invaliden Rahmen.
In mehreren Mauernischen standen, noch aus der Zeit, da hier die Sakristei gewesen, Heilige mit frommen, stillen Augen und Hirtenstäben in den Händen. Anne, die sonst gern hier weilte, hielt sich heute nicht auf. Weder für die alten Heiligen hatte sie einen Blick übrig, noch für die Sessel, über deren alte Polster sie sonst immer mit zärtlicher Hand zu streichen pflegte. Schnurstracks ging sie auf einen kleinen Schrank zu und öffnete ihn mit dem dazu passenden Schlüsselchen. Sie schlug die längliche Tür zurück, um in der nächsten Minute die Hände vor fassungslosem Schreck bewegungslos an den Seiten niedersinken zu lassen. — Der ‚Glücksbecher‘ stand nicht an seinem Platze, stand nicht da, wo er gestanden, solange sie von dem Vorhandensein des Bechers wußte.
Sie griff sich an die Stirn, sich gleichsam vergewissernd, daß sie nicht träume, dann aber begann sie eifrig zu suchen, tastete die paar Schrankbrettchen ab wie eine Blinde, um sich dann doch zu sagen: Der Becher ist nicht da! Vor ungefähr drei Wochen hatte sie ihn noch gesehen, an der Stelle gesehen, wo er immer zu stehen pflegte . .
Nein, länger als drei Wochen war das nicht her.
Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesichtchen, bis ihr einfiel, der Vater hatte den Becher wahrscheinlich schon geholt und ihn der Bequemlichkeit halber schon irgendwo im Rüstungssaal hingestellt.
Sie hatte sein Zeichen falsch verstanden.
Gott, wie töricht sie doch war.
Sie eilte, so rasch sie konnte, zurück, man hatte sie nicht vermißt, nur der Vater sah ihr wie fragend entgegen.
Sie schaute sich im Saale um, doch da sie den Becher nirgends erblickte, setzte sie sich wieder nieder. Man hielt noch immer Reden und stieß noch immer an.
Anne fand Gelegenheit, dem Vater ein paar Worte zuzuraunen.
Er schüttelte den Kopf.
„Der Becher muß da sein, es hat niemand an dem Schrank etwas zu suchen, und der Schlüssel dazu ist noch in deinem Besitz. Vielleicht hast du den Becher verkramt?“
„Das ist ausgeschlossen. Aber auch du hast einen Schlüssel dazu, Papa.“
„Ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr benützt“, erklärte er hastig, und als man nach dem Essen aufstand, um sich in Gruppen in die anstoßenden Gemächer zu verteilen, suchten Vater und Tochter die ehemalige Sakristei auf.
Anne schlug die Schranktür weit zurück.
Der Graf stieß einen Fluch aus.
„Das ist eine verflixte Bummelei, Mädel. Niemand als du kann den Becher verkramt haben, wer weiß, wo du ihn in Gedanken untergebracht hast. Scheußlich, zu scheußlich, — der Glücksbecher gehört doch als notwendiges Requisit zu unseren Verlobungen.“
Anne ließ sich von dem barschen Tone nicht einschüchtern, den kannte sie zur Genüge, wußte auch, daß es nicht so schlimm gemeint war, wie es sich anhörte.
„Nein, Papa, ich verkramte den Becher nicht, vor ungefähr drei Wochen war ich zum letzten Male an dem Schränkchen, und damals befand er sich an seinem Platze. Heute in all dem Trubel vergaß ich, mich früher um die Sache zu kümmern, — aber schließlich was wäre dadurch, daß ich die Entdeckung bereits gestern abend gemacht hätte, anders gewesen?“ fuhr sie fort. „Ilse kann nun nicht aus dem sogenannten ‚Glücksbecher‘ trinken, er muß, ich kann es mir zwar nicht erklären wie, aber er muß gestohlen worden sein.“
„Jahrhunderte hat niemand daran gedacht, ihn zu stehlen“, gab der Graf heftig zurück. „Verschlampt ist er, liegt irgendwo, wo er nicht hingehört, weil junge Mädels die Gedanken nicht zusammen haben.“
Anne sagte ganz ruhig:
„Ich kann dir nur meine Worte von vorhin wiederholen.“
Da begann der Graf eine hastige Wanderung durch den langgestreckten Raum, seine Schritte hallten von den Wänden wider, und er redete dabei ununterbrochen und ärgerlich vor sich hin.
„Wer soll der Dieb sein, wer soll sich an dem Becher, nach dem sich noch keine gierige Hand ausstreckte, vergriffen haben. Teufel, daß so was geschehen kann! Dumm für Ilse. — Es heißt doch, der Becher bringe Brautleuten Glück — und sie hat doch Glück verdient, ebenso wie alle Zettingens, die vorher daraus tranken. — Dumme Geschichte.“
„Papa, die Gäste könnten uns vermissen“, erinnerte Anne den Grafen an seine Hausherrnpflichten.
Er brummte erst etwas in seinen kurzen, dunklen, erst von wenigen grauen Fäden durchzogenen Vollbart hinein und sagte dann ruhiger:
„Hast recht, Mädel, die Gäste können uns vermissen.“ Und nach einer kleinen Pause: „Von unseren Gästen kennen ja die wenigsten die Geschichte des Glücksbechers, und keinem Menschen wird es auffallen, wenn das Brautpaar nicht daraus trinkt, außer Ilse. Und die dürfte in der Erregung des heutigen Tages, trotz ihrer immer so auffällig zur Schau getragenen Besonnenheit, es vergessen. Wollen es wenigstens hoffen. Dann kommen wir heute um die Sache herum und morgen, — nun, morgen muß eben alles gründlich durchgekramt werden nach dem Ausreißer“, schloß er, jetzt wieder ein leichtes Lächeln in dem gesund gefärbten Gesicht.
Anne muß sich dabei bescheiden, was hätte sie auch anders tun sollen?
Aber sie wußte mit Bestimmtheit, da der Vater den Becher nicht von seinem Platz genommen, mußte er gestohlen worden sein. Sie fühlte es förmlich, der Becher, der alte Glücksbecher war fort.
Vater und Tochter mischten sich wieder unter die Gäste und Anne lachte und war so lustig, als es ihr möglich, aber ihr Denken irrte immer wieder von neuem ab und beschäftigte sich mit dem Becher.
Wo mochte er sein? Wessen Hand nahm ihn von seinem Platz?
Ilse dachte wirklich nicht mit einem einzigen Gedanken an den Becher. Man feierte die schöne junge Braut, darüber vergaß sie den Glücksbecher, dessen Geschichte sie doch ebenso kannte, wie sie alle Zettinger-Willersteins gekannt.
Am späten Abend reisten die ersten Gäste ab, am nächsten Vormittag die anderen. Da erst konnte Anne sich wieder mit dem Verschwinden des Bechers beschäftigen. Und am Morgen fiel es auch Ilse ein, sich daran zu erinnern.
„Weshalb haben Christian und ich nicht aus dem ‚Glücksbecher‘ getrunken?“ fragte sie etwas verstimmt. „Du als jüngere Schwester hättest ihn mir bringen müssen.“
Da erklärte Anne, weshalb das nicht geschehen.
Ilse lachte ärgerlich.
„Papa hat sicher recht, du hast den Becher verkramt.“
Anne zuckte die Achseln. Was hatte es für einen Zweck sich zu verteidigen. Ilse würde ihr so wenig glauben, wie gestern der Papa. Gut, mochten sie ihretwegen vorläufig annehmen, was sie wollten, sie würden sich ja schließlich bald fest überzeugen, daß sie an dem Verschwinden des Bechers schuldlos war. Und trotzdem sie es selbst für völlig nutzlos erklärte, hielt sie Razzia im ganzen Schlosse, ohne jedoch den vermißten Gegenstand zum Vorschein zu fördern.
Sie kramte gerade in einem der Riesenschränke der einstigen Sakristei — während Ilse das obere Stockwerk durchstöberte —, da sprang sie, die eben voir dem Schranke kniete, heftig empor, und wie eine Erleuchtung stand plötzlich das Bild des Bechers, den sie vor vierzehn Tagen in dem Schaufenster des Antiquars gesehen hatte, vor ihr. Daß ihr das noch nicht eher eingefallen war. Der Becher in dem Schaufenster des Antiquars war mit dem Glücksbecher der Zettingen-Wellersteins identisch, der im Schloß verschwundene Becher war derselbe, den sie in Frankfurt am Römerberg gesehen.
Schon wollte sie davonstürzen, um dem Vater und Ilse Mitteilung zu machen, da stockte ihr Fuß.
Noch konnte sie ja nicht behaupten, der Antiquar besitze den Becher, der ihnen gehörte, da galt es erst Erkundigungen einzuziehen, um sicher zu gehen.
Sie kauerte sich in einen der tiefen alten Sessel und grübelte sich einen Plan zurecht.
Wenn es ihr gelang, nach Frankfurt zu reisen, dann würde sich das Weitere schon von selbst entwickeln. Sie glaubte den Becher deutlich vor sich zu erblicken, die kunstvoll getriebenen Engelsköpfe und die Rubinen, deren düsteres Rot so schwermütig den Rand des alten Bechers säumte.
Eigentlich hatte sie gar nichts in Frankfurt zu tun, aber da mußte sie sich irgendeine Ausrede zurechtlegen, denn nach Frankfurt wollte sie auf jeden Fall. Sie versteifte sich förmlich in die Idee, und nach langem Hin- und Herüberlegen fand sie auch einen stichhaltigen Grund für diese sie jetzt so notwendig dünkende Reise.
Sie würde zum Zahnarzt fahren. Zahnschmerzen und eine herausgefallene Plombe mußten den Vorwand liefern.
Die List gelang. Schon am nächsten Morgen fuhr Anne nach Frankfurt. Sie hatte es sogar verstanden, ohne Frau von Brinken loszukommen, was gar nicht so leicht war.
In Frankfurt suchte sie sofort den Zahnarzt auf, bei dem sie vor Jahresfrist einmal gewesen, ließ ihre Zähne nachsehen und eilte dann zum Römerberg. Sie suchte und fand das Altwarengeschäft, aber zu ihrem Leidwesen stand der Becher nicht mehr hinter der Erkerscheibe.
Sie entschied sich, eine Kleinigkeit zu erstehen und bei dieser Gelegenheit das für sie Wichtige zu erfragen.
Rasch trat sie ein.
Ein alter kleiner Herr mit wallendem schneeweißen Bart verbeugte sich und fragte nach ihren Wünschen.
Anne erkundigte sich nach dem Preis eines Silberlöffelchens in der Auslage und erstand es für sechs Mark.
Danach meinte sie fragend:
„Es gab da vor ungefähr vierzehn Tagen einen goldenen Becher mit roten Steinen in Ihrem Schaufenster, der Becher gefiel mir ausnehmend, und ich möchte ihn gern besichtigen.“
Der alte Herr hinter dem einfachen Verkaufstisch wiegte den Kopf hin und her. Das sollte lebhaftes Bedauern vorstellen.
„Es tut mir sehr leid, Gnädigste, aber den Becher habe ich schon vor ungefähr vierzehn Tagen verkauft.“
„An wen?“ fragte sie und nahm sich zusammen, um es sich nicht anmerken zu lassen, wie es sie getroffen, daß sich ihrem Nachforschen gleich ein so großes Hindernis in den Weg stellte.
Verkauft, und schon vor vierzehn Tagen, also wahrscheinlich bald nachdem er ihr aufgefallen.
Der kleine alte Herr strich mit blaugeäderten Händen über seinen silbern glänzenden Bart und erteilte die Auskunft, er wisse leider nicht zu sagen, an wen er den Becher verkaufte. Ein wohlhabender Herr aber sei es sicher gewesen, denn er habe, ohne zu feilschen, den geforderten Preis bar bezahlt.
„Oh, wie mir das leid tut“, drängte es sich unwillkürlich von Annes Lippen.
Der Antiquar schaute verblüfft.
„Aber ich bitte Sie, wie kann Ihnen das leid tun, daß mir der Käufer ohne Feilschen den geforderten Preis bar bezahlte?“
Anne lächelte verlegen.
„Aber so habe ich das doch nicht gemeint. Sehen Sie, mir gefiel der Becher, aber ich war damals, als ich ihn in Ihrem Schaufenster sah, nicht in der Lage, ihn zu erwerben.“ Ihre Stimme wurde sicherer. „Ich ahnte, daß er wahrscheinlich nicht billig wäre, und um mir das Herz nicht unnötig zu beschweren, unterließ ich die Frage nach dem Preis. Aber ich konnte den Becher nicht vergessen und wollte mich nun doch danach erkundigen, um zu wissen, ob der Erwerb für mich nicht vielleicht doch erschwingbar war.“
Sie sagte das, in der Hoffnung, den Mann dadurch zu verleiten, sich etwas mehr über den Becher zu äußern.
„So, so, der Becher gefiel Ihnen so gut“, er liebkoste wieder seinen Bart. „Kann Ihnen das nachfühlen, mein Fräulein, ja, und zugleich imponiert es mir, bei einer so jungen Dame auf so viel Verständnis zu stoßen. Es war wirklich ein seltenes Stück, sehr seltenes Stück“, schmunzelte er, „und neunhundert Mark zahlte mir der Käufer dafür.“
„Neunhundert Mark“, wiederholte Anne, „nun, da haben Sie wahrscheinlich ein gutes Geschäft gemacht, denn so viel haben Sie natürlich nicht bezahlt?“
Der Alte schmunzelte stärker.
„Natürlich nicht, wo bliebe denn sonst das Wort Verdienst. Und verdienen muß unsereiner an so einzelnen Stücken, wenn es geht, doppelt und dreifach, denn wir haben auch viele Sachen, für die sich jahrelang kein Käufer findet. Dafür gibt es für manchen Gegenstand, wie es sich zum Beispiel bei diesem Becher zeigte, gleich Liebhaber. Keine acht Tage brauchte ich dem Herberge zu gewähren.“
Anne rechnete blitzgeschwind. Etwas über vierzehn Tage waren vergangen, seit sie den Becher in der Auslage erblickte. Vor drei Wochen aber hatte sie den Glücksbecher noch daheim im Schränkchen der ehemaligen Sakristei gesehen. Und nur ungefähr acht Tage hatte er hier in dem Geschäft gestanden. — Kein Zweifel mehr, es handelte sich wirklich um den Glücksbecher und gleich, nachdem sie ihn vor drei Wochen zum letzten Male sah, mußte er entwendet worden sein.
Der Vater und Ilse würden staunen, wenn sie mit ihrem Wissen heimkam, und keiner würde ihr mehr vorwerfen, sie habe das alte Erbstück leichtsinnig verkramt, außerdem ließ sich nun vielleicht noch herausbringen, wohin der Becher geraten.
Aber zunächst mußte man beweisen können, wessen Eigentum er gewesen und daß er auf unrechtmäßige Weise abhanden kam.
Der Mann hatte ein freundliches Wesen, sie wagte eine rasche Frage.
„Ich bedaure sehr, zu einem Kaufe zu spät gekommen zu sein, doch der Becher beschäftigt mich sehr, und ich gehe gern den Spuren seltener alter Stücke nach. Darf ich wissen, von wem Sie den Becher kauften?“
Sie lächelte äußerst liebenswürdig, aber ihr Herz pochte Generalmarsch.
Nun würde sie erfahren, wer es wagte, den Glücksbecher zu stehlen.
Der Alte kniff die Lippen ein, als sei ihm die Luft zu weiteren Auskünften vergangen.
„Es tut mir leid, das weiß ich nicht mehr.“
Anne merkte deutlich, der Antiquar wußte ganz genau, von wem er den Becher erhalten, aber er wollte es nicht sagen.
Der beste Beweis, daß da etwas nicht stimmte.
„Aber dergleichen kauft man doch nicht an, ohne sich den Verkäufer genau zu betrachten“, entschlüpfte es ihr.
Der Alte machte ein befremdetes Gesicht, die eingehenden Fragen schienen ihm jetzt aufzufallen. Kurz angebunden versetzte er:
„Ich weiß heute nicht mehr, wer mir den Becher brachte.“
Auf einem Stuhle im Hintergrund des Ladens saß ein ungefähr zehnjähriges kleines Mädchen, das dem Gespräch mit größter Aufmerksamkeit bis hierher gefolgt war. Wie ein Kätzchen glitt die Kleine nun heran.
„Aber Großpapa, wie kannste das nur vergesse habe!“ rief sie vorwurfsvoll, und ehe der Alte auch nur einen Ton herausbrachte, sprudelte das echte Frankfurter Mädelchen lebhaft mit einer gewissen Wichtigkeit heraus:
„Ei höre Se, Fräulein, e arg großer Herr ist’s gewese, sei Gesicht war e bissi sehr rot und e kurze Vollbart hatt‘ er gehabt un e sehr laute Sprach.“
„Rede doch keinen Unsinn, Kätche“, verwies der Alte der Kleinen die Einmischung.
Doch sie war sich der Wichtigkeit, mehr zu wissen als der Großpapa, voll bewußt.
„Ich bin doch dabei gesesse, als der Herr komme is“, ereiferte sie sich.
Der Alte machte, ehe sie weiterschwatzen konnte, kurzen Prozeß, er faßte das schmale Kind um die Schultern und schob es durch eine Seitentür, die wohl in die Wohnung führte, hinaus.
„Kinder haben sich nicht einzumischen, wenn Erwachsene reden“, sagte er mit einem kleinen Grollen in der Stimme.
Da er die Enkelin zur Tür hinausbugsierte, achtete der alte Herr gar nicht auf Anne, und so entging ihm der jähe Farbenwechsel auf dem feinen Mädchengesicht, entging ihm ihr heftiges Zusammenzucken.
Als sich der Alte ihr wieder zuwandte, hatte sie ihre Züge aber bereits so weit in der Gewalt, daß ihm nichts an ihr auffiel.
„Das Kind schwatzt dummes Zeug“, sagte er und strich wieder an seinem Barte herum. „Übrigens ist’s ja möglich, das Äußere des Herrn war so, wie meine Enkelin es beschrieb. Ihnen wird es ja gleichgültig sein.“
Anne dachte, wenn der alte Ladenbesitzer ahnte, wie wenig gleichgültig ihr bei der Beschreibung, die das Kind von dem Verkäufer des Bechers lieferte, zumute gewesen, denn die Kleine hatte mit wenigen Worten klar und deutlich einen Mann beschrieben, den sie sehr genau kannte, mit dem sie täglich beisammen war. Das Kind hatte durch seine kurze Beschreibung ein Bild ihres Vaters gegeben.
Groß, rote Gesichtsfarbe, kurzer Vollbart, laute Stimme — es stimmte. Alles paßte genau auf Seine Erlaucht den Grafen Ferdinand Zettingen-Willerstein.
„Ich hätte zu gerne gewußt, wer Ihnen den Becher verkaufte“, murmelte sie, unschlüssig, ob sie noch bleiben oder das Geschäft verlassen sollte. Eine kleine Hoffnung regte sich in ihrem Herzen, der Mann würde den Namen desjenigen nennen, von dem er den Becher gekauft, und dieser Name würde ein völlig anderer sein als der des Vaters.
Der Antiquar verspürte der hartnäckigen Fragerin gegenüber leichte Ungeduld.
Sie brachte ihn gewissermaßen mit seinem Geschäftsprinzip in Konflikt.
Er hüstelte, ehe er wieder zum Sprechen ansetzte, es war ihm immerhin unangenehm, einer so wunderhübschen jungen Dame nicht gefällig sein zu dürfen. Aber Geschäft ist Geschäft! Auch hatte sie vorhin gemeint, man kaufe dergleichen wie den Becher nicht, ohne den Verkäufer genau zu betrachten. Damit hatte sie ihm eine Kränkung angetan, und er durfte darüber nicht so mir nichts dir nichts hinweggehen.
„Es tut mir leid, Gnädigste, Ihnen nicht verraten zu dürfen, woher der Becher stammt.“ Er richtete seine kleine Figur stolz auf. „Ich weiß es allerdings, denn ich würde nie ein derartig wertvolles Stück, ohne daß sich der Bringer genügend legitimiert, kaufen, tat es also auch in diesem Falle nicht, aber ich sicherte dem Herrn vollste Verschwiegenheit zu, und gedenke mein Versprechen auch zu halten, da kein Grund vorliegt, es zu brechen. Dieser Grund wäre nur bei polizeilichen Nachforschungen gegeben. Ihr Privatinteresse berechtigt mich nicht dazu, möglicherweise jemand bloßzustellen, der in der Verlegenheit ein Wertstück veräußert. Sie wissen, dergleichen kann in den vornehmsten Familien vorkommen.“
„Ja, dergleichen kann vorkommen“, nickte Anne, und es war, als wisse sie gar nicht, wo sie sei, denn sie ließ einen langen Blick durch den Laden schweifen, sich dabei gleichsam darauf besinnend.
„Besten Dank“, sagte sie plötzlich kurz und dann „Guten Tag!“ und drehte sich darauf nach dem Ausgange um.
Der Alte rief ihr nach:
„Sie vergaßen das Löffelchen, das Sie gekauft.“
Er trug es ihr nach.
Sie dankte und mühte sich, Haltung zu bewahren. Wie oft hatte ihr Frau von Brinken gepredigt, eine Dame müsse es fertig bringen, in allen Lebenslagen ruhig zu erscheinen. „Kleine Leute dürfen sich gehen lassen, aber eine Dame muß vor der Welt noch lächeln können, und wenn ihr das Herz bricht.“ — Und das Herz brach ihr fast, da sie sich unerbittlich klarmachen mußte, niemand als ihr eigener Vater hatte den ‚Glücksbecher‘ genommen und veräußert.
Haltung bewahren! rief sie sich selbst zur Ordnung und überschritt die Schwelle des Ladens.
Nur mit ihren peinigenden Gedanken beschäfti{gt, wanderte sie aufs Geratewohl die Gasse hinunter.
Der Vater mußte in sehr großer Bedrängnis gewesen sein, sonst wäre er nun und nimmer darauf verfallen, den Glücksbecher zu verkaufen. Aller Wald war doch noch nicht abgerodet, und es gab doch auch noch andere Gegenstände im Schlosse, deren Verkauf weniger bemerkbar gewesen wäre als just der Becher, aus dem zu trinken einem jungen Paare der Familie Glück bringen sollte. Wie konnte er nur das tun? Einer alten Tradition ein Ende machen, um dafür ein paar hundert Mark einzustecken, die er sich doch wohl auch auf anderem Wege hätte verschaffen können. Und dazu schrie er sie noch an, sie habe den Becher verräumt, anstatt die Sache totzuschweigen oder zu vertuschen.
Unfaßbar war das alles und es paßte so gar nicht zu dem Charakterbild des Vaters.
Und doch, kein anderer als er war der Verkäufer des Bechers, die Beschreibung der Kleinen war deutlich, und was der Antiquar noch geredet von der Verschwiegenheit, die er dem Herrn zugesichert, und die Bemerkungen, die er daran geknüpft, schlugen jeden wohltätigen Zweifel in die Flucht.
Wie weh die Gedanken taten, wie unsäglich weh!
Und das schmerzlichste war, sie durfte keinem Menschen ihr Herz ausschütten und selbst dem Vater gegenüber mußte sie schweigen, denn es ziemte der Tochter nicht, offen an dem Tun des Vaters Kritik zu üben, wenn sie auch innerlich nicht darüber hinwegkam.
Und wiederum bedauerte sie den Vater. In welcher Zwangslage mußte er sich befunden haben, um solchen Ausweg zu wählen.
Wie betäubt ging Anne und achtete kaum darauf, wohin sie steuerte, bis sie dann, gleich einer Schläferin, die man aufgeweckt, stehenblieb. Irgendeine laute Stimme klang an ihr Ohr: Diese kleine Straße führt den Namen ‚Hinter dem Lämmchen‘!
Sie schaute auf. Ein paar Fremde, einen rotgebundenen Baedeker in der Hand, gingen vorüber. Sie lächelte plötzlich. Ein bißchen wehmütig und ein bißchen versonnen.
Dort drüben befand sich das Haus „Zum alten Uhu“.
Wie müde und arm es aussah. Gar nicht freundlich wie die frisch gestrichenen Häuser ringsum. Und aus dem Hause stammte Lorenz Hammerschlag.
Sie meinte den hochgewachsenen Mann mit dem leichtgebräunten Gesicht wieder neben sich zu sehen. Aus dem armen dunklen Hause dieses Gäßchens stammte er und sah doch so vornehm und gebietend aus wie nur irgendein großer Herr, dessen Wiege in einem Schlosse gestanden. Lorenz Hammerschlag! Ihre Lippen formten den Namen und freuten sich der Kraft, die darin lag.
Warum wußte sie so gar nichts außer seinem Namen von ihm? Und sie hätte ihn doch so gerne, ach so gerne noch einmal, nur ein einzigesmal, wiedergesehen. — Aber davon brauchte niemand zu wissen, ebensowenig wie von dem Bösen, was sie heute erfahren.
Sie verfiel in einen schnellen Schritt und seufzte heimlich.
Das Herz lag ihr ob der übergroßen Last gar zu schwer in der Brust.