Читать книгу Lumpenelse - Anny von Panhuys - Страница 4

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„Lumpen, Alteisen, Knochen, Papier,

Die höchsten Preise, die zahl’ ich dafür!“

sang eine absichtlich allzu laute Knabenstimme. Aufdringlich klangen die Worte in die Stille des dumpfen Lädchens, dessen Tür offenstand, um Luft einzulassen, wenn es auch nur die verbrauchte Luft der schmalen Altstadtgasse war.

Else Falkenhein unterdrückte einen Seufzer. Die Mutter, die eben in einer Ecke alte Zeitungen nachwog, hätte sich nur wieder geärgert über das dumme Getue, wie die robuste Frau alles nannte, was sie nicht begriff. Und die Tochter begriff sie fast niemals. Frau Ottilie Falkenhein war sehr zufrieden mit ihrem Leben, mit ihrer Person, und verstand das scheue und gedrückte Wesen ihrer Tochter ganz und gar nicht. Beim Himmel, welchen Grund hatten sie, die beiden alleinstehenden und aufeinander angewiesenen Frauen denn eigentlich, sich zu beklagen? Tausenden von Menschen ging es in dieser wirren, aufregenden Zeit hundeschlecht. Alles ward von Tag zu Tag teurer. Das Hungergespenst erschien jetzt so manchem, der noch vor wenigen Jahren im eigenen Auto durch die Strassen der Stadt gefahren war. Ottilie Falkenhein, Richard Falkenheins Witwe und Inhaberin des von ihm hinterlassenen Lumpenhandels, dagegen konnte sich mit ihrer Tochter am Sonntag die teuerste Loge im Opernhaus leisten und darin in einem schwerseidenen Kleide Platz nehmen, wenn es ihr beliebte. Natürlich verplemperte sie ihr Geld nicht für solchen Blödsinn. Von dem Gesinge in der Oper verstand sie doch nichts, und als ihr Mann sie in den ersten Ehejahren ein paarmal dorthin mitgenommen hatte, war sie müde und abgespannt wieder nach Hause gekommen. Der Komiker in „Meisters Singspielhalle“ gefiel ihr besser, da gab es doch etwas zu lachen, und man wusste, was man für sein Geld hatte!

Vorläufig galt es noch zu verdienen, tüchtig zu verdienen, die sich bietenden Gelegenheiten zu ergreifen. Das Geld lag heutzutage im wahren Sinn des Wortes auf der Strasse. Die schmutzigen, üblen Lumpen, die allerdings schon früher ganz netten Verdienst abgeworfen hatten, verwandelten sich jetzt förmlich in Gold.

Lumpen, Felle, altes Eisen und altes Papier! — Niemals hätte sie geahnt, welche Reichtümer darin steckten.

Später, wenn das Ausruhen kam, wollte sie sich auch des Wörtchens „von“ vor ihrem Namen wieder bedienen, wozu sie volles Recht besass, jetzt passte es allerdings nicht, jetzt stand es nur in den amtlichen Urkunden, und schon ihr Mann hatte im gewöhnlichen Leben keinen Gebrauch davon gemacht. Sein Vater war ein kleiner Schreiber gewesen, der gleichfalls keinen Wert mehr auf den Adel gelegt hatte. Nur Else konnte sich manchmal darüber freuen wie ein Kind über ein heimlich gehaltenes, besonders liebes Spielzeug, das man niemand zeigt. In der Schule war auf besonderen Wunsch ihres Vaters das „von“ vor ihrem Namen fortgeblieben, obwohl es in ihrem Geburtsschein stand. So kannten die Mitschülerinnen nur eine Else Falkenhein. Alle, ausser einer — alle, ausser Maria Römer!

Ottilie Falkenhein war mit dem Nachwiegen der alten Zeitungen fertig.

„Es sind dreihundert Pfund. Meinert soll das Papier nachher in den Keller schaffen“, sagte Frau Ottilie, sich aus ihrer gebückten Haltung zu ihrer imposanten Höhe aufrichtend. „Ich muss jetzt in die Küche, sonst verbrutzelt das Fleisch.“ Eine kleine Pause. „Else, hast du nicht gehört? Träumst du schon wieder?“

Die mütterliche Stimme klang ungeduldig. Das schmale, blonde Mädchen strich sich mit schneller Bewegung das flimmernde krause Stirnhaar zurück, und ihre Augen richteten sich wie in leichtem Erschrecken auf die in wuchtiger Üppigkeit vor ihr stehenden Frau.

„Ich habe gehört, Mutter, was du gesagt hast — natürlich. Geh nur in die Küche. Ich bleibe im Laden. Wenn Meinert kommt, soll er das Papier in den Keller tragen.“

Frau Ottilie lächelte schnell versöhnt.

„Na, weisst du, geträumt hast du doch wieder, wenn du auch gehört hast, was ich sagte.“

In einer kleinen Aufwallung von Zärtlichkeit, die diese sonst kühle und äusserst nüchterne Geschäftsfrau zuweilen beim Anblick ihrer zarten und hübschen Tochter überfiel, zupfte sie sie leicht an dem mattgoldenen Haargespinst.

„Lass gut sein! Ich weiss, du passt nicht recht hierher, aber vielleicht kommt einmal ein Prinz vorbei und macht dich zu seiner Prinzessin.“ Sie lachte. „Ob’s gerade ein Glück wäre? Denn Prinzen haben heutzutage nicht mehr viel. Die meisten, die sich in die neue Zeit nicht haben hineinfinden können, sind arme Luder geworden.“ Sie reckte sich. „Meine Tochter kann Ansprüche machen. Deine Mutter, Else, hat verstanden, alten Lumpenkram in wertvolle Aktien und gediegene Devisen zu verwandeln, und im Kassenschrank der Schmuck, den ich gelegentlich und unter der Hand kaufte, ist auch nicht zu verachten. Bist ’ne gute Partie, Elschen, brauchst nicht zu träumen! Ist ja doch alles dummes Zeug! Wenn man reich ist, darf man leben. Wer Geld hat, hat Macht. Aber zunächst wollen wir noch ein paar Jahre das Wort Verdienen gross schreiben, dann können wir tun, was uns Spass macht.“

Sie tätschelte flüchtig die Schulter der Tochter und verschwand durch die Tür, die aus dem Laden in die Wohnräume führte.

Von draussen klang es wiederum, fast noch lauter und aufreizender als vorhin:

„Lumpen, Alteisen, Knochen, Papier,

Die höchsten Preise, die zahl’ ich dafür!“

Und nach einem Weilchen rief die helle Knabenstimme das entsetzliche Wort, das Else, trotzdem sie es seit einiger Zeit zu hören gewohnt war, noch immer wie ein scharfer Peitschenschlag traf. Zwei-, nein, dreimal rief die helle Knabenstimme „Lumpenelse!“

Röte flammte über ihr zartes Gesicht, es entriss sich ihr ein leises Stöhnen.

Wie ein Mal der Schande haftete ihr der Name an, schon aus der Schulzeit; und ihr war oft, als schleppe sie ständig eine Kette am Bein hinter sich her, die klirrte und klirrte, deutlich klirrte — das schlimme Wort: „Lumpenelse!“

Es gab damals vier Mädel in der Klasse, die Else hiessen, und die anderen Kinder legten jeder von ihnen, um sie zu unterscheiden, einen Spitznamen bei.

Die eine nannte man die „Blumenelse“. Sie war die Tochter eines Grossgärtners. Eine andere rief man „Müllerelse“. Ihr Vater besass die Mühle. Dann taufte man noch die „Rektorelse“, und als man nach einer näheren Bezeichnung für sie suchte, überschrie eine feine, kleine Schulkameradin alle anderen: „Das ist die Lumpenelse!“

Sie hätte das kleine Geschöpf erwürgen mögen für seine Erfindungsgabe!

Die anderen lachten, als sie ihren Zorn sahen.

„Dein Vater handelt doch mit Lumpen, und eigentlich gehörst du gar nicht in eine höhere Schule!“ spöttelte die Vornehmste der Klasse.

Da hatte sie ergeben den blonden Kopf gesenkt. Doch als sie zu Hause ihren Jammer klagte, lachten die Eltern, und der Vater meinte: „Eigentlich haben die kleinen Kröten recht, und ‚Lumpenelse’ finde ich riesig komisch!“

Komisch nannte der Vater, was ihr so schmerzlich weh tat! Es war ihr erster, grosser Kinderschmerz; es blieb davon eine Wunde zurück, die noch immer offen war, noch immer blutete.

Von jenem Tag an war sie die „Lumpenelse“, war es geblieben. Es hatte sich breitgemacht, das Wort, hatte sich an sie geklammert, und sie duckte sich scheu, wenn es laut ward.

Als sie es zuerst hörte, war sie acht Jahre gewesen. Heute war sie achtzehn Jahre, und seit drei Jahren lag die Schulzeit hinter ihr. Damals, als der Vater starb, meldete die Mutter sie von der Schule ab.

„Hast genug gelernt“, äusserte sie zu Else. „Für unsere Lumpen hat das doch keinen Wert. Ich brauche dich jetzt daheim!“

Von da an stand sie im Laden und half der Mutter, die eins der bestgehenden derartigen Geschäfte in der grossen Stadt besass. Eine wahre Goldgrube war das Geschäft der Frau Ottilie Falkenhein, so klein und schmutzig das Lädchen auch wirkte.

„Mir braucht niemand in die Karten zu gucken“, pflegte Frau Ottilie zu sagen und behielt trotz ihres sich ständig mehrenden Reichtums Laden und Wohnung in der elenden Altstadtgasse.

Else lebte in den dumpfen, immer halbdunklen Räumen, lebte wie in einem stumpfen grauen Traum, aus dem sie doch einmal erwachen musste.

Wie herrlich würde es sein, dieses Erwachen, fernab der engen, armseligen Gasse, fernab dem muffigen Lumpengeruch, irgendwo in heller, reiner Umgebung! Wie herrlich würde es sein, ein neues Leben zu beginnen und zu vergessen, dass es einmal eine Lumpenelse gab.

Ein plumper, vierschrötiger Mensch stapfte herein, Tobias Meinert, das Faktotum und die rechte Hand der geschäftstüchtigen Frau Falkenhein. Auch seine Frau arbeitete bei ihr. Er stand bei seiner Brotherrin hoch in Gunst und pflegte von ihr zu sagen: „Der gerissenste von allen Altwarenhändlern hier in Frankfurt ist ein Weib, ist meine Chefeuse. Hut ab vor ihr! Die haut den Deibel übers Ohr, wenn er sich mit ihr in ein Geschäft einlässt.“

Meinert hatte einen hochbeladenen Handwagen mit lumpengefüllten Säcken vor der Tür stehen, die er von Privaten abgeholt.

„Ist die Mutter da?“ fragte er kurz.

Er hatte nicht viel für die schmale, zierliche Else übrig. Dieses blonde zarte Menschenkind störte ihm das Bild der Frau, zu der er mit einer gewissen Verehrung emporblickte. So ein mageres Spätzchen, so ein blasses Wachspüppchen sah man ja gar nicht neben der breiten, rotwangigen Ottilie Falkenhein!

„Mutter ist in der Küche. Wenn Sie die Säcke im Hof abgeladen haben, möchten Sie das Papier in den Keller bringen“, entledigte sich Else in ihrer leisen Art des mütterlichen Auftrags.

Meinert brummte etwas und ging. Er schob den Handwagen durch den Hausgang in den engen Hof und kam dann wieder, um das Papier wegzuräumen.

Else trat an die Ladentür. Meinert umschwebte immer ein Geruch von Fäulnis, und sie wollte einen Augenblick Luft schöpfen. Es war Frühling, und ein linder, erfrischender Odem hatte sich auch in die enge Gasse verirrt. Strahlender Sonnenschein umwob all die altersgrauen, verwitterten Häuschen mit schimmerndem leuchtendem Glanz. Doppelt düster sahen sie aus in dieser grellen Helle. Ihre finsteren Torbögen waren wie riesige dunkle Mäuler, die furchterregend offenstanden und die armseligen Menschlein, die sich nahten, zu verschlingen drohten.

Else blickte gedankenlos die Gasse hinauf und hinab und bemerkte den Jungen nicht, der, in der Nachbarschaft wohnend, sie so oft durch seine Frechheit ärgerte.

„Guten Tag, Lumpenelse!“ Mit dem lauten Ruf trabte er eben, höhnisch grinsend, an ihr vorbei, gerade als von der anderen Seite ein schlanker, vornehm aussehender Herr kam. Er konnte deutlich das jähe Erröten des Mädchens beobachten, fing einen traurigen Blick aus zwei grossen Augen auf, dann schloss sich mit rasselndem Läuten die Tür des kleinen Ladens.

Unwillkürlich blieb Axel von Rechberg stehen. Hatte er die liebreizende Blondine auch erst bemerkt, nachdem der Gassenjunge „Lumpenelse!“ gerufen, so schien ihm doch, seit sich die niedrige Tür hinter ihr geschlossen, all der Sonnenschein ringum verschwunden. Er hätte den Bengel ohrfeigen mögen, der das süsse Ding verscheucht hatte.

Er las das grosse Schild, das im Schaufenster hing: Zahle die höchsten Preise für Lumpen und Felle, Alteisen, Metalle. Grössere Posten werden aus der Wohnung abgeholt. Über der Tür stand: Friedrich Gollingers Nachfolger.

Eine breite, wuchtige Frau trat aus dem Laden, hinter ihr ein vierschrötiger Mensch. Axel von Rechberg hörte, wie die Frau, über die Schulter gewandt, in den Laden zurückrief: „Wir gehen zum Wantalowicz hinüber, Else! In ’ner halben Stunde spätestens bin ich wieder da.“

Axel von Rechberg blickte den zweien nach, die jetzt den Fahrweg überquerten und auf der gegenüberliegenden Seite in eins der verwahrlosten und ältesten Häuser der ganzen Gasse traten. Alte Röcke und Stiefel hingen vor der Tür, sollten Sehnsüchte nach ihrem Besitz wachrufen. Ein Trödlerladen niedrigster Ordnung.

„Lumpenelse!“

Die vier Silben klangen noch immer in Axel von Rechbergs Ohr, aber nicht mehr, wie im ersten Augenblick, hart und hässlich, sondern eher wie ein leises, heimliches Singen. Der Spottname schien ihm zu einem Märtyrerkranz zu werden, aus dem rote Rosen sprossten und ein entzückendes Köpfchen umrahmten. Braune Augen blickten erschreckt. Über zarte Wangen glutete Scham.

Ohne weiter zu überlegen, drückte Axel von Rechberg die Klinke nieder. Das rasselnde Läuten erwachte.

Aus dem Hintergrund des Lädchens löste sich ein schmales Figürchen.

„Sie wünschen, mein Herr?“ wollte Else Falkenhein fragen, aber sie brachte kaum die Hälfte des Satzes hervor, denn sie erkannte jetzt in dem Eintretenden den fremden Herrn, der Zeuge ihrer Erniedrigung gewesen war.

„Lumpenelse!“ sauste und brauste es in ihren Schläfen. Mit tiefgesenkten Wimpern stand sie vor Axel von Rechberg.

Der Mann lächelte.

„Mein Fräulein“, begann er, „ich habe vielleicht in Kürze allerlei zu verkaufen, wofür dieses Geschäft Verwendung hat, und ich möchte Sie bitten, mir die Preise zu nennen, die Sie zur Zeit zahlen.“

Else blickte nicht auf.

„Dann müsste ich erst wissen, um was es sich handelt“, erwiderte sie leise.

„Natürlich!“ Er lächelte stärker. Der alberne Vers, der jetzt überall auf den Strassen gesungen wurde, zuckte ihm durch den Sinn. Fast übermütig zitierte er den Anfang:

„Lumpen, Alteisen, Knochen und Papier!“

Else trat unwillkürlich einen Schritt zurück. War es nicht Spott, der von den Lippen des Fremden zu ihr hinüberzüngelte und sie flammenheiss verbrannte?

Was wollte der Fremde von ihr?

Er hatte sicher nichts zu verkaufen an Friedrich Gollingers Nachfolger. Sie zu verhöhnen stand er hier in dem immer von leichtem Dämmer erfüllten Laden — sie zu verhöhnen, weil er ihren Spitznamen „Lumpenelse“ aufgefangen hatte.

Ihr Blick hob sich vom Boden, ward gross und dunkel.

„Kommen Sie wieder, wenn meine Mutter hier ist“, sagte sie kurz, „und zwar ungefähr in einer halben Stunde. Sie hat vergessen, mich über die heutigen Tagespreise zu unterrichten.“

Wie süss das Mädchen in seinem Zorn war! Es hatte ihn durchschaut. Aber so überempfindlich brauchte es doch auch nicht zu sein.

Er dachte nicht daran fortzugehen, sondern erwiderte: „Dann nennen Sie mir doch die Tagespreise von gestern, mein Fräulein! Ich möchte nur einen Massstab haben, ehe ich verkaufe.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie haben nichts zu verkaufen, und wenn, dann lässt ein Herr wie Sie das durch jemand besorgen.“

Er lächelte noch immer.

„Sind Sie eine so grosse Menschenkennerin, Lumpenelschen?“

Kaum war das Wort seinem Munde entflohen, hätte er es gern zurückgenommen. Aber es war zu spät. Und wie konnte er denn auch ahnen, was er damit anrichten würde? Eigentlich hätte er es wissen müssen, denn er hatte das blonde Mädchen vorhin vor dem Laden genau beobachtet und gesehen, wie der Spottname aus dem Gassenbubenmund sie getroffen.

Weshalb tat er das gleiche?

Totenblass ward das feine Gesicht, und die Augen schauten ihn an mit einem so schmerzvollen Blick, dass ein jähes Mitleid in ihm aufquoll.

Er neigte sich vor, griff nach den kleinen Händen, die matt ineinander ruhten, und streichelte sie. Die kleinen, hilflosen, ihm willig überlassenen Hände rührten ihn.

„Seien Sie mir nicht böse!“ flüsterte er, wollte die weissen Finger an seine Lippen ziehen.

Doch jetzt kam Leben in die Regungslose. Fast ungestüm machten sich die Hände frei.

„Gehen Sie! Gehen Sie auf der Stelle, und beleidigen Sie mich nicht länger! Einer wie mir küsst man nicht die Hand. Wenn man es aber tut, dann nur, um mich damit erst recht zu verspotten.“ Ihre Hände hoben sich flüchtig. „Lumpen habe ich damit sortiert und werde weiter damit sortieren, wenn Mutter und unsere Helfer es nicht allein schaffen können.“ Sie sah ihn mit unbeschreiblichem Blick an. „Ahnen Sie, wieviel Jammer und Elend an schmutzigen Lumpen hängen kann? Ich weiss es, weil ich es manchmal ganz leise daraus weinen höre.“

Er musste denken: Welch ein seltsames Geschöpf war doch das schmale Mädchen, dessen Antlitz jetzt einen leicht visionären Ausdruck trug!

„Liebes Fräulein, vergessen Sie, was mir vorhin über die Lippen schlüpfte, vergessen Sie das Gassenbubenwort!“ bat er.

Das Jungmädchengesicht wandte sich; es trug jetzt einen harten Ausdruck.

„Ich habe Ihnen nichts zu vergeben, Sie gehen mich nichts an! Ich will Ihnen nur noch sagen, dass ich den Gassenbuben das Wort nicht so übel vermerke als Ihnen. In der Schule schon nannte man mich Lumpenelse. Der Spitzname lief mir nach wie mein Schatten. Kinder können sehr grausam sein, ich habe es an mir erfahren; aber sie sind unbewusst grausam. Sie dagegen, der Erwachsene, sind bewusst grausam gegen mich gewesen! Gehen Sie sofort, sonst rufe ich telefonisch meine Mutter herbei! Sie ist nicht weit.“

Der Ärger übermannte Axel von Rechberg. Donnerwetter, spielte sich die Kleine auf! Es war auch töricht von ihm gewesen, in den Laden einzutreten, einem blonden Mädchen nachzulaufen in so ein Altstadthaus, in dem sicher allerlei lichtscheue Elemente wohnten.

„Gehen Sie!“ Scharf betont und feindlich klang es.

Da lachte er ärgerlich auf. „Nun, dann muss ich eben auf die Vergebung verzichten! Immerhin: Nichts für ungut! Und vielleicht auf Wiedersehen, schöne Lumpenelse!“

Er hatte nicht widerstehen können, es ihr noch einmal ins Gesicht zu werfen, das Wort, durch das sie sich beleidigt fühlte. Sie hatte ihm die Tür gewiesen. Das hatte ihn erregt, machte ihn ungerecht. Er war sich vollkommen klar darüber.

Er befand sich bereits am Ausgang und blickte noch einmal flüchtig zurück. Da stand das schlanke Mädchen und sah ihm mit blitzenden Augen nach.

Er fühlte, dass sein Lächeln, das er festzuhalten suchte, krampfig wurde. Warum tat sie ihm plötzlich wieder so bitterleid? Er ward nicht aus sich klug.

„Liebes Fräulein ...“ begann er, schon die Hand auf der Klinke.

Die grossen, dunklen Augen in dem weissen Gesicht schienen sich noch zu vergrössern, die rosigen Lippen öffneten sich.

„Pfui!“ sagte Else Falkenhein laut, und noch einmal „Pfui!“

Da verliess Axel von Rechberg, ohne sich nochmals umzusehen, den kleinen, dämmerigen Laden.

Hätte er sich umgeschaut, würde er vielleicht die Tränen bemerkt haben, die sich unter den langen Wimpern der blonden Lumpenelse hervordrängten und alle Dunkelheit der Augen fortwuschen, sie wieder zu scheuen Rehaugen wandelten. So aber sah er es nicht, ging seines Weges weiter, wollte denken: Dummes Ding! hörte aber immer nur das „Pfui!“ der Verachtung und begriff nicht, dass er nicht davon loskam.

Lumpenelse

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