Читать книгу Lumpenelse - Anny von Panhuys - Страница 5
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ОглавлениеMaria Römer war Elses einzige Freundin. Die Freundschaft datierte noch von der Schule her. Maria hatte keine Mutter mehr. Wer weiss, ob ihr sonst der Umgang mit der Tochter Ottilie Falkenheins erlaubt worden wäre. Ihr Vater kümmerte sich wenig um Maria und liess das ziemlich ernst veranlagte Mädchen tun und treiben, was ihm behagte. Er war froh, wenn er Marias Blick nicht fragend auf sich gerichtet fühlte; denn ihre graublauen Augen schienen ihm auf den Grund der Seele zu schauen.
Eduard Römer war, was man im allgemeinen unter einem Lebemann versteht. Er liebte in seiner freien Zeit Weib, Wein und Kartenspiel, bummelte auch gern ein bisschen und gönnte, wenn es ihm sebst gut ging, jedem das Seine. Er besass ein gutfundiertes Bankgeschäft, das er von kleinsten Anfängen zu hohem Ansehen gebracht hatte, und gehörte zu den reichsten Leuten der Stadt. Seinem Haushalt stand ein ältliches Fräulein vor.
Fräulein Gumpen gegenüber verbarg Maria die Herkunft Else Falkenheins sorgfältig; denn sie wusste genau, sobald die Dame etwas davon erfuhr, würde sie nicht eher rasten und ruhen, als bis der Vater den Umgang für unmöglich erklärte. So wusste Fräulein Gumpen nur, dass Elses Mutter eine Witwe war, die von ihrem Geld lebte. Und sie hatte bisher niemals Interesse gezeigt, mehr zu erfahren. Der Name „von Falkenhein“ klang ihr zu gut.
Maria hing an Else, vielleicht besonders deshalb, weil sie mitempfand, wie wenig die Freundin in dem muffigen Laden der engen Altstadtgasse am Platze war. Sie bewunderte ehrlich die Schönheit Elses, ohne Neid zu empfinden. Sie selbst hatte ein grosszügiges kluges Gesicht, und flockiges, kastanienbraunes Haar gab ihr eine auffallende Note.
Als Maria Römer heute das Lädchen betrat, kam ihr Frau Falkenhein entgegen.
„Ah, gnädiges Fräulein, welche Ehre! Else wird sich freuen über Ihren Besuch. Sie fühlt sich leider nicht wohl und ruht ein wenig!“ Sie führte Maria in die Wohnung und liess sie in Elses Zimmer eintreten.
„Else, du bekommst lieben Besuch!“ Darauf verschwand sie sofort wieder.
Es war ein lauschiges, anheimelndes Zimmer, das Else bewohnte. Niemand hätte in diesem hässlichen, düsteren Hause einen so lichten Raum vermutet. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte Frau Falkenhein der Tochter die Zimmereinrichtung geschenkt.
Die weissen Möbel waren mit schmalen silbernen Leisten geschmückt. Das Sofa und die dazu passenden niedrigen Sessel überspannte lichtblauer Samt. Dazu gab es noch einen passenden Teppich und einen grossen Spiegel in goldenem Rahmen. Von den niedrigen Fenstern hingen entzückend gemusterte Spitzenstores, durch die man leider auf den engen Hof blickte, wo die Karren standen und ein grämliches Hintergebäude die Lumpenvorräte barg. Trübe Scheiben glotzten herüber, hatten etwas Böses und Feindseliges.
Else hatte auf dem Sofa gelegen. Sie erhob sich bei Marias Eintritt sofort, ein Lächeln ging über ihr schmales Gesicht.
„Wie lieb von dir, heute zu kommen, Maria! Ich habe vorhin so stark an dich denken müssen. Ja, ich hatte grosse Sehnsucht nach dir.“
Maria drückte die Freundin wieder auf das Sofa nieder und zog sich einen Sessel heran.
„Hast du geweint, Fee?“ fragte sie, und ihre Augen forschten in dem Antlitz der anderen.
Sie nannte Else immer Fee; sie fand das zärtliche Wort am bezeichnendsten für die zarte Freundin.
„Bewahre! Weshalb sollte ich weinen?“ gab Else etwas allzu hastig zurück.
„Mache mir nichts vor, Liebste!“ Maria streichelte sanft die Hände der Freundin. „Ich sehe ganz deutlich noch die Tränenspuren.“ Sie blickte teilnahmsvoll. „Haben dich die schmutzigen Lumpen wieder geärgert, meine Fee? Oder hast du dich wieder einmal über den penetranten Gestank empört, der dem Anzug eures sonst braven Tobias Meinert entströmt?“
Elses Lippen zuckten. Sie hätte gern erzählt, was ihr heute geschehen war, hätte der Freundin gern ihr Herz ausgeschüttet, aber es wurde ihr schwer.
Sie verstand sich selbst nicht. Sie hatte doch keinen Grund, einen unverschämten, ihr noch dazu völlig unbekannten Menschen zu schonen. Und nachdem sie sich darüber klar geworden war, brach sich ihre Empörung Bahn.
Maria hatte die gleichaltrige Freundin schweigend angehört. Nun war Else zu Ende. Wie in verhaltenem Schluchzen hatte sie das Letzte gesprochen. Maria strich ihr tröstend über die Stirn.
„Armes Ding! Also war es im Grunde doch wieder einmal dieselbe Geschichte, um die es bei dir immer geht! Sei ruhig, Liebes! Es wird doch auch einmal ein Tag kommen, wo du aus der Umgebung hier, in die du herzlich schlecht hineinpasst, herauskommen wirst. Ihr seid wohlhabend, vielleicht reich. Du wirst irgendeinen Mann heiraten, der aus anderen Kreisen stammt, und die Lumpenelse hat dann aufgehört zu existieren.“
Ihr fiel nichts anderes ein, was sie hätte sagen können.
Else lächelte bitter.
„Du meinst es gut, Maria, und ich bin dir dankbar für jedes liebe Wort. Mutter findet mich überempfindlich; deshalb verberge ich es vor ihr schon seit langem sorgfältig, wenn ich mich wieder einmal wundgestossen.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die brennenden Lider. „Weisst du, Maria, meine Eltern hätten mich in die Volksschule schicken sollen; vielleicht hätte ich dort nicht so scharfe Augen bekommen. Ich lernte in der höheren Schule Unterschiede machen, beobachtete zu schroffe Gegensätze zwischen dem Milieu, in dem sich meine Kindheit abspielte, und dem, aus dem die anderen Mädchen kamen. Mein Weg, alle Morgen, war ziemlich weit von der dunkelsten Altstadt bis hinaus in den vornehmen Westen. Ihr anderen wohntet fast alle näher. Und so weit der Weg, rein räumlich gemessen, bis zur Schule, so weit war er auch, wenn man die Entfernung aufs Seelische überträgt.“ Fast laut war ihre bis dahin zu halbem Flüstern gebändigte Stimme. „Ihr alle, die ihr aus euren Villen und grossen, eleganten Mietswohnungen den allmorgendlichen Schulgang antratet, ahntet ja nichts davon, wie weit ich laufen musste bis zu euch. Aus der fernsten, fremdesten Fremde kam ich, aus der Altstadt mit ihren anrüchigen Bewohnern, wo sich Faulenzer und Dirnen verbergen, wo arme, heimatlose Stromer aus den elenden Herbergen krochen, wenn ich zu euch wanderte, um ein paar Vormittagsstunden zu euch zu gehören. Dem Schein nach zu euch zu gehören, denn in Wirklichkeit war ich den meisten eine Art Paria. Endlos war auch mein Heimweg von der Schule. Ich verlängerte ihn noch, denn immer noch viel zu früh betrat ich dieses Haus hier, in dem ich leben musste. Immer noch viel zu früh erzeugte mir der muffige Lumpengeruch den Widerwillen, den ich eigentlich niemals in meinem Elternhause richtig losgeworden bin.“ Sie stöhnte tief auf. „Lumpenelse bin ich, und Lumpenelse werde ich bleiben mein Leben lang, denn die nächsten Jahre geht meine Mutter aus dem allen hier doch nicht heraus, und später — du lieber Himmel, da wehre ich mich wohl überhaupt nicht mehr, da füge ich mich — fühle mich vielleicht ganz wohl hier und spotte über die Sehnsucht, die mich jetzt noch Tag und Nacht fortlocken will.“
Maria nahm den feinen Kopf der anderen zwischen ihre schlanken, doch nervigen Hände.
„Musst dich nicht in Bitternis verlieren, Fee, du darfst es nicht!“ Sie schlug absichtlich einen leichten Ton an. „Bist töricht, so zu sprechen! Wenn man jung und schön ist wie du, gibt es doch eine Menge Hoffnungen! Eine erfüllt sich sicher für dich. Wenn du jetzt die Tochter irgendeiner vornehmen Familie, aber dafür hässlich wärest, stünde es viel schlimmer für dich. Dann würdest du nicht aus Liebe geheiratet werden, wie es doch sicher bei dir einmal geschieht. Also freue dich auf die Erlösung aus der Altstadt durch die Liebe.“
Else entzog ihren Kopf den Fingern der Freundin.
„Lass, Maria, ich bin manchmal grässlich schwerblütig. Heute zerschellt all dein Trost! Sei mir nicht böse. Ich weiss, ich habe dir in dieser Beziehung schon sehr viel Arbeit gemacht.“
Maria lächelte. „Ja, zuweilen bist du ein bisschen unbequem, aber ich hänge an dir, habe dich lieb. Mir ist, als gehörst du in mein Leben.“
Elses zarte Züge waren plötzlich wie erleuchtet von einer starken, inneren Freude.
„Ich wäre ja bettelarm, wenn du dich nicht meiner angenommen hättest, du Liebe, du Gute! Ich bin undankbar, überhaupt zu klagen. Aber manchmal werde ich mit all dem Flachen, Niedrigen, zwischen dem ich meine Tage hinbringen muss, nicht fertig. Dann bedarf es nur eines kleinen Anstosses, und ich werde so klein und verzagt wie heute und quäle dich mit meiner Verstimmung. Doch nun ist’s genug damit! Ich besorge jetzt Kaffee, und später begleite ich dich ein Stückchen.“
Mit leichtem Sprung war Else aus ihrer halb ruhenden Haltung aufgeschnellt und verliess mit raschem: „Entschuldige mich nur wenige Minuten!“ das kleine, lauschige Gemach.
Maria blieb nachdenklich zurück. Sie hätte der Freundin öfter eine Abwechslung verschafft, sie ins Theater oder in ein Konzert mitgenommen, sie eingeladen, aber Else hatte ihr immer wieder gesagt, sie wisse ganz genau, dass sie offiziell nicht der passende Umgang für die Tochter des reichen und angesehenen Bankiers Römer sei, und sie wolle sich nicht in Gefahr bringen, über die Achsel angesehen zu werden.
Frau Meinert, Tobias Meinerts Frau, die im Geschüft und Haushalt half, brachte den Kaffee, stellte dazu Kuchen auf den Tisch und ging dann, der stadtbekannten Bankierstochter mit ehrerbietigem Gruss ihre Achtung bezeigend.
„Mein Vetter ist nun auch vor zwei Tagen angekommen“, begann Maria und trank. „Euer Kaffee schmeckt besser als unserer“, lobte sie. „Ich glaube, unsere Köchin zählt uns die Bohnen zu.“ Und nach dieser kleinen Bemerkung glitt sie wieder zurück. Ja, der Vetter sei jetzt da und habe heute früh seine Lehrlingsstellung im Bankhause ihres Vaters angetreten. Ein etwas alter Lehrling sei er allerdings, denn er sei schon siebenundzwanzig Jahre, aber heutzutage dürfe niemand zu alt für einen neuen Beruf sein, sonst ginge man zugrunde. Nach dem Kriege hätten ja die verschiedenen Berufe eine vollständige Umwertung durchgemacht, und jeder müsse jetzt versuchen, aus dem Chaos, in dem die Vorkriegszeit untergegangen, herauszufischen, was möglicherweise als Sprungbrett für unsere Tage zu verwerten sei. Und wer kein solches Sprungbrett fände, müsse eben einen grösseren Anlauf nehmen.
Maria sprach gern in Bildern. „So einen grösseren Anlauf nimmt nun mein Vetter“, plauderte sie weiter. „Ursprünglich zum Landwirt bestimmt, war er noch Primaner, als er Soldat wurde und in den Krieg ziehen musste. Als er heil und gesund zurückkehrte, war das väterliche, ohnehin schon schwerbelastete Gut noch schwerer belastet. Mein Onkel Werner ist nämlich herzleidend und hat sich nicht so um seinen Besitz kümmern können, wie es notgetan hätte. Einen Inspektor zu halten, langte es zuletzt nicht mehr. Da kam denn mein Vetter zurück und sprang ohne besondere Fachkenntnisse ein, und, wie seine Eltern erzählen, arbeitete unermüdlich. Aber die Karre war verfahren und konnte nicht mehr recht flott gemacht werden. Ein paar Missernten und einiges Pech anderer Art gesellten sich dazu, und es ging nur mühsam weiter. Da machte denn mein Vater den Verwandten klar, dass sie der neuen Zeit Zugeständnisse machen müssten.“ Sie zuckte die Achseln. „Vater hat wohl schon immer einen Sohn vermisst, glaube ich, und wäre sicher sehr froh, eine Hilfe und einen Nachfolger im Geschäft zu haben, der ihm nahesteht. Der Sohn seiner einzigen Schwester kommt natürlich als erster dafür in Frage.“ Sie lächelte Else an. „Jetzt verstehst du wohl, weshalb mein Vetter sich entschlossen hat, als Lehrling in das Bankhaus Römer einzutreten? Nebenbei bemerkt, ist er ein lieber, hübscher Mensch“, schloss sie, und Else schien, als bemerke sie ein Aufleuchten in den meist so kühlblickenden Augen Marias.
Sie nickte nur. Sie wusste nichts zu sagen und dachte bei sich: Ging da wohl schon die Liebe um in dem Herzen der Freundin? Bereiteten sich schon Dinge vor, ihr die einzige Freundin zu rauben? Denn damit musste sie rechnen: Wenn Maria sich verheiratete, würde die Freundschaft zu Ende sein. Marias Mann würde eine „Lumpenelse“ als Freundin seiner Frau kaum gelten lassen.
Maria brach das Thema ab und meinte, sie müsse aufbrechen. Else begleitete sie ein Stück des Weges.
Wie belebt die Gasse war! Manch neidischer Blick traf die beiden elegant gekleideten Mädchen. Denn auch Frau Falkenhein hielt darauf, ihre Tochter für die Ausgänge immer mit tadelloser Kleidung zu versorgen. Der leichte stahlblaue Seidenmantel und das modern geformte Hütchen liessen Elses strahlende Blondheit zu fast verblüffender Wirkung kommen. Maria trug ein neues, rehfarbenes Frühlingskostüm.
Ein Bursche, dem ein aufgeputztes Ding am Arm hing, sagte halblaut: „Die Blonde, Deibel, das wär’ was für meiner Mutter ihren Sohn! Da sitzt Adel und Rasse drin.“
Ein schrilles, eifersüchtiges Lachen seiner Begleiterin gab zuerst Antwort, dann schimpfte sie: „So was sollte sich lieber nach seinem Stand anziehen! Das ist doch der dicken Falkenhein ihre Tochter, is doch bloss die Lumpenelse, also wird die andere auch nicht allzu weit her sein.“
Mit abermaligem keifendem Lachen zog sie ihren Begleiter schnell mit sich fort.
Else suchte den Blick der Freundin.
„Siehst du, Maria, wie ich hier angesehen werde? Und dich versuchte die abscheuliche Person noch mit in den Schmutz zu stossen! Deine Freundschaft wird dir schwergemacht.“
„Sei still, Fee! Vergessen wir die Episode. Sie darf dir keinen Eindruck hinterlassen.“
Eng aneinandergeschmiegt gingen die beiden weiter, bogen bald in eine neuere Strasse ein und plauderten von allerlei Dingen, die ihrer Jugend zu denken gaben.
In der Nähe von Marias Wohnung verabschiedete sich Else und wanderte langsam zurück.
Ein Herr kam ihr entgegen, stutzte flüchtig, drehte sich um.
War das nicht das hübsche, blonde Ding aus der Altstadtgasse, das ihm so energisch die Tür gewiesen hatte, war das nicht die — Lumpenelse?
Aber nein, er täuschte sich! So kleidete sich das im verborgenen blühende Veilchen der Altstadt sicher nicht! Immerhin, es hätte ihn gereizt, der zierlichen Gestalt nachzugehen, um festzustellen, ob die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem entzückenden Altstadtmädel wirklich so gross war, wie es ihm eben geschienen. Denn so dumm die Sache war und ihn ärgerte, musste er doch viel zuviel an die junge Schönheit denken, deren Mund ihm ein verächtliches „Pfui!“ nachgerufen.
Leider hatte er jetzt keine Zeit, der jungen Dame im stahlblauen Seidenmantel nachzusteigen; sein Onkel erwartete ihn, und da von Onkel Römer so ziemlich die ganze Zukunft abhing, war Pünktlichkeit ratsam. Überhaupt war er ja nicht nach Frankfurt gekommen, um blonde Mädel zu studieren, sondern um zu lernen, mit Zahlen umzugehen, Bank- und Börsenkenntnisse zu erwerben, ein neues Leben aufzubauen, fernab von dem kleinen Elterngute, an dem doch sein Herz hing.
Er ging jetzt langsamen, schweren Schrittes. Wenn er an daheim dachte, dann wollte der Beruf, in den er sich einarbeiten musste, ihm doch recht schwer scheinen. Eigentlich durfte er sich noch gar kein Urteil darüber anmassen, denn dass er gestern und heute ein paar Stunden im Bankhaus Römer zugebracht hatte, um von Eduard Römer dort allen möglichen Herren als Neffe vorgestellt zu werden, das hatte wohl mit seiner zukünftigen Laufbahn wenig zu tun. Aber ihm schien die Luft in den hohen, weiten Räumen dunstig. Zahlen — endlose, vielstellige Zahlen — füllten sie wie mit einem Nebel. Und die vielen über Schreibtische geneigten Gestalten addierten und multiplizierten, jonglierten mit Schecks und Geldscheinen, dass ihm schon vom blossen Zusehen schwindelig wurde.
Zahlen wurden genannt, dass er vor hellem Neid hätte laut hinausschreien mögen. Eine diesen Bankleuten nur gering scheinende Summe hätte vielleicht genügt, das väterliche Gut wieder auf leidliche Höhe zu bringen; das Weitere hätte er dann allerdings allein tun müssen.
Hätte Onkel Eduard dem Vater Geld zur Verfügung gestellt, würde er das alte Stammgut über Wasser gehalten haben. Aber in dieser Beziehung hatte sich Eduard Römer schwerfällig gezeigt, und die Eltern hatten sich gefügt, waren der Ansicht, der reiche Bankier wisse tausendmal besser als sie, die mit ihrem ganzen Denken und Fühlen noch in einer vergangenen Zeit wurzelten, was für den Sohn das bessere Teil war. Namentlich die Mutter redete ihm zu, und er fügte sich, musste sich aber zusammennehmen, um Eduard Römer nicht schon jetzt rundheraus zu sagen: Lass mich heim nach Herrenhof! Ich glaube kaum, dass ich dir, trotz besten Willens, viel Freude machen werde!
Doch den Mut dazu brachte er niemals auf, denn so liebenswürdig und nett Eduard Römer auch im Umgang war, es gab auch noch eine andere Seite seines Wesens, die zum Vorschein kam, wenn er im Privatbüro seines Bankhauses sass und mit Kunden oder Angestellten sprach und verhandelte. Dann war er ein ganz kühler, glatter Geschäftsmann, und die Augen hinter der Hornbrille konnten so unsäglich nüchtern blicken, so nüchtern, wie sein Mund die schwindelerregendsten Summen nannte.
Wenn er dem Onkel sagen würde: Du, es ist Frühling draussen, und ich bin ein Narr gewesen, dir in dein Geldgewölbe zu folgen. Daheim lacht der Frühling, duftet aus jeder Ackerkrume, jubelt in jedem Vogelsingen! Daheim ist Sonne und erstes frisches Grün. Hier weiss man ja gar nicht, was eigentlich Frühling ist. Ach, Onkel Eduard, lass mich wieder heim, denn ich sehne mich danach, über unser Feld zu reiten, sehne mich nach tausend Dingen, die ich dir nicht erklären kann, weil du mich wahrscheinlich ja doch nicht verstehen würdest! —
Wenn er so gesprochen hätte, würde Eduard Römer wohl nur das Wörtchen „Narr!“ darauf erwidern. Aber er schwieg natürlich, denn seine Mutter würde vielleicht heimlich weinen, wenn er die Gelegenheit, vorwärtszukommen, aus so sentimentalen Gründen ausschlüge. Und er durfte die Mutter nicht in neue Sorgen stürzen, er wollte durchhalten. Noch hatte er ja gar keinen rechten Einblick in die neuen Verhältnisse; er würde sich eingewöhnen. So ein schwerfälliger Mensch war er doch schliesslich nicht.
Onkel Eduard hatte besondere Pläne mit ihm, das sah man ganz deutlich, und Maria war ein liebes, kluges Mädchen. Sein Herz war frei. Weshalb sollte es sich nicht Maria Römer zuwenden? —
Er blickte auf seine Uhr. Schon halb sechs! Eduard Römer erwartete ihn um diese Zeit. Aber da stand er auch schon vor der zweistöckigen schneeweissen Villa des Onkels. Er brauchte nur noch den kleinen Vorgarten zu durchschreiten.
Ein Diener nahm ihm Hut und Stock ab. „Herr Römer erwartet Herrn von Rechberg!“ sagte er betonungslos und führte ihn mit undurchdringlicher Miene zum Herrn des Hauses.
Eduard Römer sass in einem bequemen Klubsessel seines Zimmers, das halb den Charakter eines Arbeits-, halb den eines Wohnzimmers zeigte. Er trug die Hornbrille jetzt nicht, und sein gutgeschnittenes Gesicht mit dem noch vollen dunklen Haar war von äusserst liebenswürdigem Ausdruck.
„Na, bist du da, mein Junge? Komm, setz dich zu mir! Wir trinken ein Schnäpschen zusammen. Bis zum Abendessen dauert es noch zwei Stunden.“ Ein Tischchen mit Likören und Zigarren stand zwischen den beiden.
Axel von Rechberg liess sich einschenken, trank mit Wohlbehagen.
„Du hast es gut, Onkel. Dergleichen habe ich schon lange nicht mehr geschmeckt“, meinte er. „Auch deine Zigarren scheinen erstklassig.“
„Sie scheinen es nicht, sie sind es“, lächelte der Ältere. „Aber ich denke, du wirst dir das ebenfalls bald leisten können, vorausgesetzt, du gibst dir Mühe und befolgst alle Ratschläge, die ich dir gelegentlich geben werde.“ Ein zufriedenes Schmunzeln irrte um seinen Mund. „Ich habe es geschafft und bin recht zufrieden, wenn ich so zurückblicke.“ Er sprach unwillkürlich leiser. „Es gibt ’ne Menge Menschen, die sind mächtig stolz darauf, wenn sie einem erzählen können, dass sie es aus eigener Kraft zu was gebracht haben, und dass sie irgendwo aus kleinsten Verhältnissen kamen. Sie wollen sich an dem Staunen und der Bewunderung anderer berauschen und suchen darüber alle die Mühe und Arbeit, die hinter ihnen liegen, und vielleicht noch eine Menge Demütigungen, die dazu gehören, zu vergessen. Ich bin anders. Ich erinnere mich selbst und andere nicht gern daran, dass meine Eltern zwar brave, aber arme Menschen gewesen sind, die sich für deine Mutter und mich die höhere Schule vom Mund absparten, und wie ich mich drehen und wenden musste, um das zu werden, was ich geworden bin. Ich habe es weiter gebracht, als ich einst gehofft habe, das genügt mir! Auf welchen mühevollen Wegen, das geht niemand was an. Man würde hinter meinem Rücken doch nicht von Streben, Arbeit und Erfolg sprechen, sondern nur von meinem Glück. Übrigens ist es mir schnuppe, was der liebe Nächste von mir denkt! Du stammst nun aus ganz anderer Sphäre als ich, bist der Sohn eines Gutsbesitzers, dein Onkel ist ein reicher Bankier, du kommst gewissermassen in ein gemachtes Bett bei ihm. Und diese Chance auszunützen, rate ich dir vor allem.“ Er streckte dem Jüngeren über den Tisch die Hand entgegen. „Ich meine es gut mit dir, mein Junge, habe viel mit dir vor, aber das verrate ich noch nicht, das muss sich von selbst entwickeln.“
Axel von Rechberg nahm die Hand, drückte sie leicht, dachte bei sich, dass er wohl wusste, was Eduard Römer ihm noch nicht verraten wollte, dass es um die Nachfolge des Bankhauses Römer ging und um Marias Person.
Ein lockendes Ziel, wenn ihm nicht die Sehnsucht nach der Scholle im Blute sässe. Er reckte sich auf. Damit musste er fertig werden.
Er gab seiner Stimme Festigkeit. „Onkel Eduard, ich werde mir die grösste Mühe geben, stets deinen Wünschen gerecht zu werden und deine Ratschläge zu befolgen.“
„Der Vorsatz genügt mir zunächst.“ Der Bankier nickte zufrieden. Er wechselte das Thema. „Hast du es in deiner Pension gut getroffen? Fühlst du dich dort wohl?“ fragte er, und dann glitt er auf politisches Gebiet über, und Axel von Rechberg war ein bisschen enttäuscht; er hatte sich etwas Besonderes von dieser Unterhaltung versprochen, ohne sich darüber klar zu sein, was er eigentlich erwartet hatte.
Punkt halb acht Uhr trat Maria ein und bat zu Tisch.
Überreich und üppig geht es hier nicht zu, musste Axel von Rechberg denken, als er von dem schweren Burgunder trank, den der Hausherr bevorzugte, und wohlgefällig musterte er Maria. Es war wirklich nicht allzu schwer, sich in sie zu verlieben. Sie trug ein Kleid aus leichter Seide; das kupfern schimmernde Haar hing ihr in schwerem Knoten tief im Nacken. Sie hatte jeden Schmuck verschmäht und sah sehr einfach und vornehm aus. Wie ein Papagei nahm sich neben ihrer Schlichtheit die Hausdame, Fräulein Melitta Gumpen, aus. Sie trug einen aus den Regenbogenfarben gestrickten Jumper zu einem ebenfalls bunt gemusterten Rock. Ihr schwarzes Haar war zu dunkel gefärbt. Lippen und Wangen waren zu rot. Fräulein Melitta Gumpen stammte aus guter Familie. Ihr Ehrgeiz war es, vollendete Dame zu sein, und doch strauchelte sie stets, wenn es sich um die Kleidung handelte, weil sie sich einbildete, in bunten Farben und nach der Behandlung mit kosmetischen Mitteln recht jugendlich auszusehen. Sie litt an dem Fehler vieler ihrer alternden Mitschwestern.
Maria sass dem Vetter gegenüber, und wenn sie ihn ansah, huschte zuweilen ein schattenhaftes Lächeln über ihre Züge, das ihm ein verstohlenes Grüssen dünkte.
Er gefiel Maria. Das merkte er deutlich.
Er wurde lebhaft, erzählte allerlei Schnurren und lachte vergnügt, als Onkel Eduard ihm sein Glas entgegenhob und sagte: „Nun wollen wir auf das Wohl des neuen Lehrlings des Bankhauses Römer anstossen!“
Hell klangen die Gläser aneinander, und Axels braune Augen blitzten übermütig. Er konnte wohl zufrieden sein mit dem Geschick, das vorsorgliche Hände ihm bereiten wollten.
Ziemlich spät erst wanderte er seiner Pension zu, die von der Villa des Onkels einige Strassen entfernt lag.
Er begegnete nur wenigen Menschen, und die Luft tat ihm gut, denn er hatte dem Burgunder besonders fleissig zugesprochen. Er dachte an Maria. Sie würde als Frau eine gute Rolle spielen. In ein paar Jahren war er vielleicht schon Teilhaber der Firma Römer und Maria seine Gattin. Dann konnte er etwas für das elterliche Gut tun, Kapital hineinstecken, es sich als Sommersitz erhalten. Er spann Zukunftsträume, spann immer eifriger.
Fast wäre er an dem Hause, in dem er wohnte, vorbeigelaufen. Er schloss die Haustür auf, blieb plötzlich, angespannt lauschend, stehen.
Hatte nicht eine süsse, aber vor Erregung bebende Stimme eben ein lautes, empörendes Pfui! hinter ihm hergerufen?
Doch niemand war zu sehen, niemand! Er drückte die Tür heftig ins Schloss. Was kümmerte ihn das törichte blonde Mädel, das keinen Spass verstand? Weshalb lief ihm ihr verächtliches Pfui nach? Weshalb musste er auch immer wieder an sie selbst denken, die so zart und fein aussah?
Lumpenelse! dachte er und wollte sich hochmütig wehren; aber es nützte nichts. Während er die Treppen hinaufstieg, meinte er, sie deutlich neben sich hergehen zu sehen. Er sah die schmale Figur, das blasse, zarte Antlitz, das sich ihm mit scheuen Augen zuwandte.
Er ging schneller. Der Wein hatte den Teufel in sich, und der plagt mich nun! dachte er ärgerlich. Er schlief schwer ein. Gegen Morgen erwachte er mit hämmernden Schläfen. Er hatte böse Träume gehabt, und im Mittelpunkt stand immer das blonde Mädchen aus der Altstadt. Ihr Pfui war ihm, wo er ging und stand, mit entsetzlicher Stärke nachgelaufen, war wie Sturm und Donner gewesen, wie eine mächtige Gewalt, die ihn zu Boden drückte.
Axel von Rechberg gelobte sich, nie mehr so viel von dem Burgunder des Onkels zu trinken — er vertrug die Marke anscheinend nicht.