Читать книгу Das Harfenmädchen - Anny von Panhuys - Страница 5
Zweites Kapitel
ОглавлениеDer Herbstmorgen hüllte sich in ein goldflimmerndes Tuch, überall lagen die blitzenden Enden seines Saumes, und dennoch trat Steffi Woschilda mit einer kleinen Falte auf der sonst so klaren Stirn ihren Gang ins Haus des Fabrikanten Oswaldic an.
Ziemlich weit draußen vor dem Dorfe lag die ausgedehnte Knopffabrik, in der mehr als der dritte Teil der Dorfbewohner arbeitete, und in einiger Entfernung davon erhob sich in grellem Weiß die Villa des reichen Mannes. Sein Großvater war ein einfacher Bauernbursche gewesen, aber ein gescheiter, kluger Kopf, der, nachdem er einige Zeit außerhalb in einer großen Knopffabrik gearbeitet hatte, selbst einen Betrieb anfing. Nur in allerkleinstem Maßstabe, nur in den allerbescheidensten Grenzen. Aber sein fester Wille, vorwärtszukommen, dem sich das Glück zugesellte, ermöglichte es ihm, bald sein Unternehmen zu vergrößern. Es wuchs von Jahr zu Jahr, und als er starb, hinterließ er seinem Sohne eine Fabrik, in der fünfzig Arbeiter und Arbeiterinnen schafften, vorzügliche Geschäftsverbindungen und ein schon ganz ansehnliches Barvermögen. Dieser Sohn baute das von dem Vater Ererbte im Sinne des Toten weiter aus, und die Fabrik vergrößerte sich zusehends. Als er sich zur Abreise in die Ewigkeit rüstete, konnte er seinem Sohne mehr als das Doppelte von dem hinterlassen, was er einst von seinem Vater erhalten. Und unter Franz Oswaldic wuchs und wuchs nun das Werk zu einem großen Unternehmen von Klang.
Steffi Woschilda bog rechts ab von der Fabrik. Ein schmaler, gutgehaltener Pfad führte geradewegs auf die Villa zu, während die Fahrstraße einen weiten Bogen darum beschrieb, ehe sie vor dem leuchtenden Weiß des Fabrikantenheims mündete. Ein Diener trat Steffi Woschilda schon auf der breiten Freitreppe entgegen.
„Ich möchte Frau Oswaldic sprechen.“ Leichte Schüchternheit verriet sich in der Stimme des jungen Mädchens.
Der Diener lächelte nachsichtig. „Sie meinen natürlich, Sie möchten die gnädige Frau sprechen? Wen muß ich der gnädigen Frau melden?“
Eine brennende Röte überflog Steffis Wangen, die Zurechtweisung, die in der Frage des Dieners lag, empörte sie, aber sie sagte sich sofort, daß er von seinem Standpunkt aus recht habe, und erwiderte: „Ich heiße Stefanie Woschilda, bin die Tochter des verstorbenen Dorfschullehrers und möchte mich um die Stellung bei den Kindern der Herrschaft bewerben.“
Des Dieners Miene ward zutraulich. „Ehrlich gesagt, sind Sie zu schade für die Bälge, ein hübsches Mädel wie Sie wäre doch besser als Kammerjungfer aufgehoben.“
Steffi blitzte den Sprecher zornig an. „Ich bitte Sie, mich der gnädigen Frau zu melden.“
„Mit dem Ton werden Sie hier nicht weit kommen“, brummte der Diener, entfernte sich dann aber eilig. Wenige Minuten später geleitete er sie die Treppe hinauf und öffnete eine breite Flügeltür vor ihr, um sie eintreten zu lassen.
„Die gnädige Frau wird gleich erscheinen“,. sagte er dabei und ließ sie allein.
Steffi blickte sich in dem großen Gemache um, und wie ein Alp überfiel es sie in der Pracht, die darin herrschte.
Der Spiegel gegenüber gab ihr Bild wider, und sie fand, ihre schwarze, einfache Kleidung nahm sich wie ein häßlicher, dunkler Fleck in der strahlenden Umrahmung des wundervollen venezianischen Glases aus, dessen prismenförmig geschliffener Rand in dem Sonnenstrahl, der darüber hinzitterte, in buntem Feuer aufleuchtete. Ein leises Geräusch schreckte Steffi aus ihren Betrachtungen auf. Unter dem leicht zurückgezogenen Vorhang zum Nebenzimmer stand Frau Jutta Oswaldic. Ihre großen, schwarzen Augen musterten Steffi von oben bis unten.
„Sie sind die Tochter des verstorbenen Lehrers Woschilda, ich erinnere mich, Sie schon gelegentlich, wenn ich durchs Dorf fuhr, gesehen zu haben.“
Steffi neigte den Kopf. „Mein Vater starb vor einem Jahr, und nun möchte ich gern etwas verdienen, deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn Sie es mit mir bei Ihren Kindern versuchen wollen, gnädige Frau.“
Die winzig kleine Frau unter dem Vorhang nickte. „Weshalb sollte ich nicht, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Josef und Josefa sehr eigenartig veranlagte Kinder sind.“ Sie trippelte auf hochhackigen Schuhen näher, und ihr lose niederfallendes weißes Tuchkleid umwogte die überschmale Gestalt im Tanzrhythmus. „Lassen Sie sich mal ganz von nahe anschauen“, sagte sie und ging im Kreise um Steffi herum, als betrachte sie ein Kleidungsstück, ein Tier oder auch ein Spielzeug von allen Seiten. „Hm, nett, wirklich, einfach und nett, nicht so ein aufgetakelter Fratz wie das vorige Kinderfräulein, auch keine Vogelscheuche wie ihre Vorgängerin.“ Sie lächelte mit kleinen scharfen Zähnen und zupfte an dem schwarzen Lockengekräusel über der schmalen Stirn herum. „Was können Sie denn? Verfügen Sie über gute Elementarbildung, ich meine, können Sie richtig schreiben und lesen?“
Steffi entgegnete ernst: „Mein Vater war Lehrer, wie ich Ihnen sagte, gnädige Frau.“
Jutta Oswaldic zog mit leichtem Unwillen die schmalen Brauen etwas hoch. „Weshalb denn so empfindlich, meine Liebe? Wer sich in abhängige Stellung begibt, darf nicht stets Prinzessin auf der Erbse spielen.“
Steffi schwieg bis ins Herz erkältet. Jutta Oswaldic fuhr fort: „Also will ich es mit Ihnen versuchen. Wann können Sie eintreten?“
„Sogleich, gnädige Frau.“
„Gut, dann erwarte ich Sie morgen im Laufe des Vormittags. Außer Ihrem Lohn erhalten Sie natürlich freie Wohnung und Essen.“
Steffi verneigte sich. „Ich werde morgen kommen, gnädige Frau.“
Vor der Tür des Lehrerhauses empfing sie schon die Mutter mit fragender Miene. Steffi zwang sich, trotz der Herzensbangigkeit, die sie beherrschte, ein frohes Antlitz zu zeigen.
„Frau Oswaldic hat mich angenommen.“ Julie Woschilda krauste die Lippen. „Man muß zufrieden sein, aber wenn ich bedenke, daß du es gar nicht nötig gehabt hättest, dich mit fremden Kindern abzuplagen. Der Matausch-Alois ist ein feiner städtischer Mann, für den kein Mädel zu schade ist.“
Steffi schlüpfte rasch ins Zimmer, die ewigen Vorwürfe der Mutter quälten sie.
— — —
Am nächsten Vormittag zog sie in der weißen Villa ein. Ein Dorfjunge fuhr ihr auf einem kleinen Handwagen den Korb mit ihren Kleidungsstücken ans Ziel, sie selbst aber trug die Harfe, die in einem verblaßten grünen Tuchfutteral steckte. Ob sie in der Villa würde spielen dürfen, darüber gab sie sich keinen allzu großen Hoffnungen hin, aber sie mußte ihr geliebtes Instrument wenigstens bei sich haben, es betrachten können.
Sie erhielt eine ziemlich große Stube im zweiten Stock neben dem Schlafzimmer der Kinder, und die sechsjährigen Zwillinge Josef und Josefa, beide schwarzhaarig, schwarzäugig, wie dickbackige Engel auf alten spanischen Kirchenbildern, standen erwartungsvoll dabei, als Steffi ihrer Harfe einen Platz anwies.
„Was ist da drin?“ fragte Josef in seiner kurzen, herrischen Art.
„Eine Harfe“, gab die Gefragte freundlich Auskunft.
„Harfe?“ wiederholte der Kleine. „Kenne ich nicht, zeige mir die Harfe.“
Josefa nickte wichtig. „Ich will sie auch sehen.“
Steffi lächelte und schälte das Instrument aus der sackartigen Verhüllung.
Die Kleinen starrten neugierig auf die blanken Saiten. „Was macht man damit?“ fragte Josef.
Steffi zog die Harfe zu sich heran und riß mit schlanken Fingern ein altböhmisches Kinderlied aus den Saiten. Wie das so koseweich wiegte und wogte, wie das neckisch quirlte und lachte und schmeichelnd trostreich schloß.
Josef und Josefa standen mit vorgeneigten Köpfen. „Das war fein!“ entschied Josef.
„War fein!“ bestätigte seine Schwester.
Von dem Tage an mußte Steffi den Zwillingen oft vorspielen, und so wild, trotzig und ungebärdig die Kinder sonst waren, unter dem Zauber der Harfenklänge wurden sie still und lieb. Durch ihr Harfenspiel erreichte Steffi alles bei ihnen, und es dauerte nicht lange, so hingen sie Steffi Woschilda fast mehr an als der sie maßlos verwöhnenden Mutter. Jutta Oswaldic empfand zuweilen ein Gefühl von Eifersucht gegen die blasse Lehrerstochter.
Eines Nachmittags spielte Steffi den Kindern wieder vor, da kam der Fabrikherr den Gang entlang und blieb ein Weilchen wie gebannt vor der Tür des Kinderzimmers stehen, um dann leise einzutreten. Das junge Mädchen unterbrach sofort ihr Spiel.
Josef rief heftig: „Weiterspielen, weiterspielen!“
Der Fabrikherr nickte. „Ja, bitte, spielen Sie weiter, Fräulein Woschilda, und gestatten Sie mir, ein Viertelstündchen Zuhörer zu sein.“
Steffi zierte sich nicht und spielte, glücklich darüber, daß nun auch der Herr des Hauses ihr Harfenspiel in seinem Heim nicht als Störung empfand, wie sie immer heimlich gefürchtet. Ihre frohe Stimmung riß sie hin, und wie ein Jubelgesang quoll es unter ihren Fingern auf.
Franz Oswaldics etwas gedrungene Gestalt stand wie versunken an einen Schrank gelehnt, in dem Kinderspielzeug aufbewahrt wurde, und seine Augen folgten den über die Saiten huschenden Mädchenfingern. Franz Oswaldic war ein Mann der Arbeit, und Vergnügungsstätten suchte er nur um seiner Frau willen Geschmack abzugewinnen. Aber dieses zu Herzen gehende Spiel Steffi Woschildas ließ seine von steter Arbeit des Nachdenkens, Rechnens und Anordnens gestrafften Nerven ein wenig ausspannen. Wie ein wohltuendes Ausruhen kam es dabei über ihn.
Plötzlich ward die Klinke von rascher Hand niedergedrückt. Jutta Oswaldic in einem dunkelgrünen Samtkleid mit grauer Pelzverbrämung klapperte auf hohen Holzhacken über die Schwelle, und unmutig rief sie: „Also hier finde ich dich, Franz, ich suchte dich schon überall.“ Sie wandte sich Steffi zu: „Sie sollten auch weniger auf der Harfe herumklimpern, mich stören und langweilen Sie jedenfalls sehr damit, ich kann so krassen Dilettantismus nicht ertragen.“
Steffi war die kurze, schroffe Art der Dame schon gewöhnt und gewissermaßen dagegen abgehärtet, dieses wegwerfende Urteil über ihr Harfenspiel aber tat ihr empfindlich weh. Bleich bis auf die Lippen stellte sie das Instrument beiseite, und tonlos zwängte sie hervor:
„Ich werde in Ihrem Hause nicht mehr spielen, gnädige Frau.“
Josef schrie laut auf: „Du sollst aber spielen, Fräulein, sonst bin ich schrecklich ungezogen.“
Der Fabrikherr machte einen Schritt auf Steffi zu. „Vergönnen Sie meinen Kindern weiter die Freude, ab und zu Ihre kleinen Zuhörer sein zu dürfen. Mir haben Sie jedenfalls einen schönen Genuß geschenkt. Ich bin kein Musiksachverständiger und kann nicht fachmännisch urteilen, doch meine ich, wer einem durch sein Spiel so das Innerste zu packen weiß, der ist weit über den Dilettantismus hinausgewachsen.“
Er betonte den letzten Satz, und Frau Jutta merkte dieses Unterstreichen.
Sie zuckte die Achseln. „Mein guter Franz, ein paar melodiöse Töne machen dein Urteil befangen, Fräulein Woschilda ist sicher nicht so eingebildet, ihr bißchen Harfengezupf als Kunst einzuschätzen. Josef, Josefa, kommt, wir wollen eine lustige Fahrt machen, hinüber nach Grafendorf zur Waldschenke, ich nehme für unterwegs ein Schächtelchen von den dicken Marzipanküchlein mit.“
Die Kinder sprangen auf, Steffi Woschildas Harfenspiel trat vor so süßer Lockung vorläufig in den Hintergrund.
„Du begleitest uns wohl nach unten.“ Jutta Oswaldic lächelte ihren Mann an, und er, wie stets bezwungen, wenn diese zierliche wunderhübsche Frau liebenswürdig und zärtlich zu ihm war, legte seine Hand in ihren Arm und verließ mit ihr das Zimmer.
Steffi Woschilda blickte wie betäubt vor sich nieder. Ihr war sterbenselend zumute. Wie stolz und selbstbewußt war sie noch vor kurzem gewesen und wie elend und in Fetzen gerissen lag nun ihr Stolz und Selbstbewußtsein im Staube. Nun durfte sie nicht mehr spielen, ihr „krasser Dilettantismus“ erregte die Nerven der schönen verwöhnten Frau, und ihre Tage würden deshalb fortan keine Feierstunden mehr haben. —
Sie sann einen Augenblick, schlüpfte dann in ihren alten dunklen Mantel, der ärmlich, eng und ausgewachsen die schlanken Glieder umschloß und band einen Wollschal um das blondumkrauste Köpfchen. Steffi wußte, daß Frau Oswaldic von solcher Ausfahrt wie heute nicht vor zwei bis drei Stunden heimzukehren pflegte. Deshalb wollte sie ins Dorf gehen, um die Mutter zu besuchen. Vor vierzehn Tagen hatte diese das Lehrerhaus räumen müssen, und der neue Lehrer war mit seiner Mutter dort eingezogen. Julie Woschilda hatte alle überflüssigen Möbel, darunter auch das Tafelklavier, verkauft und sich ein Stübchen beim Schneider Wenzel unfern dem Schulhause gemietet.
Julie Woschilda empfing die Tochter wie stets mit brummigem Gesicht, trotzdem ihr Steffi bisher ihren ganzen Lohn getreulich abgeliefert hatte. Verkniffen stöhnte sie über die enge Stube, in der sie nun hausen müsse, und darüber, daß die Mutter des jungen Lehrers Matausch an gewöhnlichen Arbeitstagen einen funkelnagelneuen schweren Rock trage und ein wollenes Tuch mit langen Fransen.
Hinter all dem neidischen Gestöhn lagen viele Vorwürfe für Steffi, die sich darunter ergebungsvoll zusammenduckte, aber die erste Gelegenheit wahrnahm, aufzubrechen.
Langsam wanderte sie wieder der weißen Villa zu. Unterwegs holte sie ein Herr ein, groß, schlank und vornehm aussehend. Er trug keinen Bart, und seine Augen standen dunkel und leuchtend in dem scharfgezeichneten Gesicht. Ein voller Blick traf Steffi, dann ging der Herr weiter, und das junge Mädchen sah ihn vor sich in der Villa verschwinden.
Steffi wollte ihr Zimmer aufsuchen, auf dem oberen Flur trat ihr die Zofe von Frau Oswaldic entgegen. „Wo bleiben Sie denn nur? Die gnädige Frau ist heute schon nach einer knappen Stunde heimgekehrt und hat bereits dreimal nach Ihnen gefragt.“
Steffi zog eilig den Mantel aus, warf den Schal ab und eilte, so schnell sie vermochte, die Treppe hinunter.
Jutta Oswaldic befand sich nicht allein, der Herr, der Steffi vorhin begegnet, stand neben ihr und ließ eben ihre beiden ringfunkelnden Hände los. Über Jutta Oswaldics Antlitz flog es wie ein Schatten beim Anblick der Eintretenden und gereizt rief sie ihr entgen: „Was wollen Sie denn um des Himmels willen ausgerechnet jetzt, da ich meinen jahrelang abwesenden Bruder begrüße, während man Sie vorhin im ganzen Hause wie eine Stecknadel suchte?“
Steffi stotterte, befangen unter den Männerblicken, die unausgesetzt auf ihr ruhten: „Ich dachte, weil gnädige Frau mit den Kindern ausfuhren, ich dürfte inzwischen vielleicht einmal nach meiner Mutter sehen.“
Jutta Oswaldic machte eine abwehrende Bewegung mit der Rechten. „Wenn Sie Ihre Mutter zu besuchen wünschen, so haben Sie dazu erst vorher meine Erlaubnis einzuholen. Ich liebe es nicht, wenn meine Leute fortwährend ins Dorf hinunterpilgern.“ Sie unterbrach sich. „Aber wie sehen Sie denn aus, Ihr Haar ist ja völlig durcheinander, als kämen Sie eben aus dem Bett. Und so laufen Sie hier im Hause herum? Gehen Sie und kämmen Sie sich — und dann hier, Sie sagten mir, daß Sie sticken können, nehmen Sie das Dutzend Taschentücher und sticken Sie mein Monogramm hinein. Die Zeichnung dazu liegt bei. Hoffentlich leisten Sie Besseres im Sticken als im Musizieren“, setzte sie mit einem kleinen Spottlächeln hinzu.
In Steffi kochte der rasche Zorn hoch, der stets da war, wenn sich ihr Empfinden mit aller Gewalt gegen ungerechte Behandlung sträubte. Sie fühlte die Blicke des fremden hochgewachsenen Mannes mitleidig über sich hinstreifen, und das raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.
Trotzig hob sie den schmalen Kopf, um den das lichtblonde Lockenhaar so aufrührerisch strudelte, und ihre grauen Augen waren fast dunkel vor Empörung.
„Ich muß sehr bitten, gnädige Frau, mich nicht wie ein hergelaufenes unverschämtes Schulmädel zu behandeln, denn ich gab Ihnen niemals Grund dazu, im übrigen steht es Ihnen nicht zu, ein Urteil über meine Musik zu fällen. Mein seliger Vater war Musiker mit Leib und Seele, er gab mir all sein Können und Wissen, und Sie beleidigen in mir meinen toten Vater, wenigstens empfinde ich es so. Ich versprach Ihnen ja schon, in Ihrem Hause nicht mehr zu spielen, mehr kann ich nicht tun.“
Jutta Oswaldic war bei dieser Rede Steffi Woschildas sehr blaß geworden. Jetzt hob sie die Rechte und auf die Tür weisend sagte sie scharf: „Verlassen Sie mein Zimmer und bis spätestens morgen früh mein Haus, Ihren Lohn wird Ihnen der Diener bringen. Sie scheinen aufrührerisches Blut in den Adern zu haben, und solche Elemente dulde ich nicht um mich.“
Steffi legte die Taschentücher still auf einen kleinen Tisch und schritt der Türe zu. Als sie die Finger schon auf die Klinke gelegt hatte, wandte sie sich noch einmal um und schien etwas sagen zu wollen, vielleicht eine demütige Bitte, doch ein Blick auf das stolze Männergesicht verschloß ihr sofort den Mund, und gleich darauf drückte sie die Tür hinter sich ins Schloß.
„Nun, Werner, was sagst du zu der kleinen Giftkröte?“ lächelte Jutta Oswaldic den Bruder an, neben dem sie sich wie ein zerbrechliches Püppchen ausnahm.
Werner Arneburg zuckte mit den breiten Schultern. „Ich kenne die junge Person ja gar nicht und weiß nichts über ihren Charakter, wenn ich aber ehrlich sein soll, finde ich, du behandeltest sie ein bißchen sehr schlecht, was sie in meiner Gegenwart wohl doppelt peinlich berührte.“
Er ließ das Thema rasch fallen.
„Das Mädchen hat unsere Begrüßung vorhin unterbrochen, also nochmal, Jutta, ich freue mich riesig, daß mir meine Besuchsüberraschung so gut gelungen ist. Denke, ich komme geradewegs aus Rotterdam, wo man, wie du weißt, durchaus eine neue Kirche von Werner Arneburg gebaut haben wollte.“
Jutta Oswaldic drückte den Bruder in einen Sessel nieder, und mit aufleuchtenden Augen fragte sie: „Und sind die Rotterdamer zufrieden mit dem Werk, das ihnen der berühmte Kirchenbaumeister schuf?“
Um die strenggeschnittenen Lippen des Mannes huschte es wie leise Verträumtheit. „Wie kann ich das sagen. Ehrungen, nun ja, die wurden mir in Menge zuteil, Ihre Majestät überreichte mir selbst den Hausorden von Oranien-Nassau, auch konnte ich meiner Berliner Bank einige hohe Geldnoten überweisen, aber ob die Menschen, die nun fortan in dieser von mir erbauten Kirche ihre Predigt hören und zu Gott beten, zufrieden mit mir sind, das weiß ich nicht. Glücklich wäre ich, wenn mir das gelang. Der Gedanke überwältigt mich oft, wenn ich mir ausdenke, da und dort steht nun ein Gotteshaus, und ich durfte die Form dazu ersinnen, ich durfte dadurch so etwas wie ein Mittler sein zwischen Gott und den Menschen.
Er erhob sich. „Aber wo ist Franz, wo sind die Kinder, ich möchte sie doch begrüßen?“
Jutta Oswaldic legte die Arme um den Hals des Bruders und zog seinen Kopf zu sich nieder. „Ich bin so unbändig stolz auf dich, Werner.“
Er küßte ihr schwarzes Scheitelhaar. „Liebes, kleines Schwesterchen.“
Sie ließ ihn frei. „Franz ist in der Fabrik, und die Kinder sind in der Küche, sie schauen zu, wie die alte Köchin Waffeln bäckt, die mögen sie so gern, aber ich lasse sie rufen, sie sollen kommen.“
Der Diener nahm den Befehl entgegen und bald trappelten überhastige kleine Füßchen über den Gang, die Tür flog auf, und zwei dunkellockige Kinder stürmten ins Zimmer.
— — —
Steffi Woschilda packte ihre Habseligkeiten, und obgleich sie das Bewußtsein erfüllte, gegen die stolze, hochmütige Herrin recht gehandelt zu haben, marterte sie sich dennoch mit Vorwürfen.
Über alles die Pflicht! Wie kläglich war sie schon nach so kurzer Zeit über diesen Satz, den sie hoch und stolz wie ein Banner vor sich hatte hertragen wollen, gestrauchelt. Wenn die Mitleidsblicke des fremden Mannes nicht gewesen wären, vielleicht hätte sie sich doch nicht so weit hinreißen lassen. Nein, sicher hätte sie es dann nicht getan. Unwillen beschlich sie gegen ihn, der so vornehm und herrisch in dem reichausgestatteten Raume gestanden und die harten Reden seiner verwöhnten, launischen Schwester stumm mit angehört und ihnen durch sein schweigendes Mitleid erst die rechte schmerzende Schärfe verliehen hatte. Blicke wie die seinen waren einem armen zerlumpten Bettler, aber nicht ihr gegenüber am Platze.
Sie reckte sich auf. Sie brauchte kein Mitleid, sie nicht, mochte er andere damit beglücken. Sie drehte die Beleuchtung an und zog die Vorhänge vor den Fenstern zusammen. Es klopfte. Der Diener schob sich mit einem vertraulichen Lächeln auf dem glatten, gutrasierten Gesicht ins Zimmer. Er hielt ihr einen Umschlag entgegen.
„Von der gnädigen Frau, Ihr Lohn einschließlich Kostgeld für die nächsten vierzehn Tage und ein Zeugnis.“
„Es ist gut“, sagte sie kühl und wandte sich ab. Das vertrauliche Lächeln des Dieners tat ihr förmlich weh.
Sie wollte froh sein, wenn er erst wieder gegangen war. Doch der schien gar nicht daran zu denken, leise sagte er:
„Ich dachte mir’s gleich, schon damals, als Sie sich hier vorstellten und um die Stellung bewarben, daß Sie nicht hierherpassen. Die Gnädige ist eine verwöhnte Dame, die mag nur Leute um sich haben, die ihr schöntun und katzbuckeln. Der Herr geht ja mit ihr um, als sei sie eine leibhaftige Prinzessin, und da ist ihr der Dünkel zu Kopf gestiegen. Früher soll sie gar nicht so gewesen sein. Geld hat sie gar keines gehabt, bitterarm war sie, als sie den Herrn geheiratet hat. Und ihr Bruder war damals auch noch ein unbekannter Baumeister, nun freilich soll sein Name oft in den Zeitungen stehen, Kirchen baut er, und überall will man von ihm Kirchen gebaut haben. Nun, die Gnädige ist auch unbändig eingebildet auf den Bruder, sie vergöttert ihn und tut, als sei ein regierender Fürst eingekehrt.“
Steffi fuhr sich über die Stirn und glühendes Rot schoß über ihr Gesicht hin.
Mit finsterer Miene drehte sie sich herum. „Ich mag kein Geklatsch, Sie haben den Auftrag der gnädigen Frau erledigt, folglich können Sie gehen.“
Der Diener blickte sie einen Augenblick starr an. „Sie haben eine eigentümliche Art, die Menschen, die es gut mit Ihnen meinen, zu behandeln.“
Steffi beachtete ihn kaum. „Ich will allein sein“, sagte sie kühl.
„Wenn Sie glatt durch die Welt kommen wollen, müssen Sie noch viel lernen“, brummte er, beeilte sich aber, die ungastliche Stätte zu verlassen.
Steffi warf den Briefumschlag auf ein niedriges Schränkchen und wanderte mit raschem Schritte, als müsse sie eine innere Unruhe bekämpfen, durch das weite Gemach. Also ein Kirchenbaumeister war er, der breitschultrige, vornehme Herr, dessen Blicke voll Mitleid sie für Minuten jeden klaren Nachdenkens beraubt? Oh, wenn sein Mitleid wahr und echt gewesen, hätte er wohl ein beschwichtigendes Wörtlein zu seiner Schwester, die ihn ja vergöttern sollte, äußern können, hätte es nicht mitansehen brauchen, daß man das arme Kinderfräulein mit schroffen Reden so reizte, daß sie ihre Stellung vergaß und das Wagnis einer Verteidigung unternahm.
Um Steffis Mundwinkel grub sich ein Zug von Bitternis. Da unten in den reichen vornehmen Räumen der schönen Frau Oswaldic saß die Familie jetzt sicher sehr vergnügt beisammen, und keiner dachte auch nur flüchtig an sie, die morgen früh ins Dorf zurück mußte; und doch vor diesem Gange bangte ihr, als begehe sie ein Unrecht damit, wenn sie vor die Mutter hintrat und ihr sagte: Ich konnte mich nicht kränken lassen, Mutter, deshalb wies man mir oben in der Villa die Tür!
Sie fürchtete sich vor dem vergrämten, verbitterten Antlitz der Mutter, und hinter ihren Schläfen pochte es wie mit harten, grausamen Knöcheln.
Kleine Füßchen trippelten den Gang entlang und traten nebenan ins Kinderzimmer.
Josef rief: „Huh, hier ist es noch finster, wo bist du, Fräulein Steffi?“
Josefa piepste: „Huh, wie finster!“
Steffi eilte nach nebenan, das Licht aufflammen zu lassen. Da standen die Geschwister und lachten sie strahlend an.
„Der Onkel ist lustig“, rief Josef.
„Er hat uns soviel mitgebracht, eben ist sein Koffer angekommen“, jubelte Josefa und hielt ihr mit Stolz eine teure Puppe entgegen.
„Mama hat gesagt, du gehst morgen wieder fort“, rief Josef, „und Mama nennt dich ein ungezogenes Mädchen. Onkel sagt, du siehst aus wie die Bernsteinhexe in einem alten Märchenbuch von ihm, weil du so gelbes Haar hast“, erzählte Josefa.
Steffi kämpfte mit neuer Bitternis.
Bernsteinhexe! Häßlich und abscheulich dünkte ihr diese Bezeichnung. Sie wollte nicht mehr hören, was der berühmte Kirchenbaumeister vielleicht noch über sie geäußert, und sich zu den Kleinen niederbeugend, sprach sie leise:
„Ja, ich muß euch morgen wieder verlassen, und deshalb will ich mich eilen, mit dem Packen fertig zu werden.“
„Schade, daß du weg mußt“, klagte Josef, doch verweilte er nicht lange bei dem Gedanken, seine Mutter mußte ihm wohl durch mancherlei Versprechungen den Abschied von ihr in tröstlichem Lichte hingestellt haben, „kannst uns noch einmal auf der Harfe vorspielen“, bat er, und Josefa wiederholte seine Bitte getreulich nach.
Steffi überlegte. Durfte sie die Bitte der Kinder erfüllen, ohne sich damit der Gefahr auszusetzen, Frau Jutta Oswaldic gegen sich aufzubringen? Ach, was kam es darauf noch besonders an. Sie war abgelohnt wie ein lästiger Dienstbote, und morgen verließ sie dieses Haus für immer. Sie wollte wenigstens bei den Kleinen ein gutes Andenken hinterlassen.
Sie holte ihre Harfe herbei und hatte schon nach den ersten Tönen vergessen, daß sie lediglich für die Kinder spielte. Sie spielte für sich und nur für sich. Ihr Schmerz, ihre Bitternis, ihr Zagen und Bangen ward zu Klängen, die da weinten und schluchzten, trotzten und sich matt durchhofften zu neuen Lebensplänen, von denen doch keiner fest umrissene Gestalt zeigte.
Die Zwillinge saßen eng aneinandergeschmiegt, zwischen sich die Puppe, und lauschten mit großen Augen. Es mußte viel angeborenes musikalisches Verständnis in den Kindern sein, sonst hätten sie wohl kaum so mäuschenstill verharrt, als Steffi Woschilda all ihr Leid und ihre Ängste, ihr Ringen und Sehnen und ihren verletzten Stolz in weichen Harfenklängen laut werden ließ.
Draußen, mitten auf dem Flur stand eine hohe Männergestalt und rührte sich nicht. Trank Ton um Ton in sich hinein, und die Seele ward ihm weit bei dem wundervollen Spiel, das zu ihm hinausdrang. Er befand sich in seinem Zimmer, um sich vor dem Abendessen endlich den Reisestaub abzuspülen, da war das süße Klingen zu ihm hereingezogen, wie ein sehnsüchtiges Rufen, und hatte ihn die Treppe hinaufgelockt, bis vor die Tür, hinter der das blonde Mädchen aus dem Dorfe auf ihrer Harfe spielte.
Vorsichtig und sacht öffnete Werner Arneburg ein wenig die Tür und blieb dann regungslos stehen, um das Bild, das sich ihm bot, voll in sich aufzunehmen.
Steffi Woschilda saß ein wenig seitlich, so daß er nur noch einen Teil ihrer Wange sah, die Kinder aber hockten auf zwei Stühlen nebeneinander, drehten ihm den Rücken zu und hielten sich eng umschlungen. Und auf das matte Blondhaar des jungen Mädchens floß das Licht des dreiarmigen Lüsters nieder und legte ein goldenes Schleiergespinst über das dichte Gelock. Die schmalen, blassen Finger rankten sich durch die leuchtenden Drähte wie weiße Blumenelfchen, die durch ein Netz von Sonnenstrahlen hin und her schwebten und huschten. Wie tiefer Orgelsang brauste es auf und zog in klingenden Wellen durch die Oktaven hinauf bis in die höchsten Register, wo ein unirdisch zartes Flüstern anhub, als raunten sich die hin und her wiegenden Elfchen süße traurige Märchen zu von Menschen, die Leid trugen.
Mit einem verhallenden Akkord, der einem vielstimmigen Amen in der Kirche vergleichbar war, schloß das Spiel. Die Kinder atmeten laut. „Das war schön“, lobte Josef, „du solltest doch bei uns bleiben, Fräulein Steffi.“
Werner Arneburg wollte sich ebenso leise, wie er gekommen, wieder fortschleichen, doch schon bei seinem ersten Tritt schauten sich alle drei Zimmerinsassen um. Da zog der Mann die Türe hinter sich zu und trat vollends ein. Die Kinder sprangen auf ihn zu, Steffi aber blieb sitzen, und ihr Blick flog ihm fast feindselig entgegen. Wieder glaubte sie in seinen Augen Mitleid zu lesen, und bebend rief sie:
„Die gnädige Frau schickt Sie wohl, mir das Spielen zu verbieten? Die Kinder baten darum, und es war zum letztenmal.“
Werner Arneburg lächelte, und sein ernstes, scharfes Gesicht sah viel jünger aus durch dieses Lächeln.
„Ihr Spiel zog mich aus meinem Zimmer treppauf und machte mich zum Lauscher. Verzeihen Sie mein heimliches Eindringen und lassen Sie mich danken —“
Steffi Woschilda stand schroff auf. „Ich spielte ja für die Kinder, nicht für Sie.“
Da verstummte Werner Arneburg, seine Schwester hatte nicht ganz unrecht, die Lehrerstochter aus dem Dorfe schien aufrüherisches Blut in den Adern zu haben. Ein seltsam weiches Gefühl erfaßte ihn für dieses hübsche blonde Geschöpf, aber er suchte vergebens, auf welche Art es ihm wohl gelingen konnte, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Steffi schauerte zusammen. Da war er wieder, der mitleidige Blick, der sie aufs äußerste aufstachelte und empörte, und ohne noch eine Silbe zu sprechen, trug sie die Harfe in das eigene Zimmer hinüber. Als sie nach einer geraumen Weile wiederkam, war das Kinderzimmer leer. Ein paar heiße Tränen quollen in Steffis Augen auf. Hastig riß sie ihr Taschentuch hervor und strich damit die glitzernden Tropfen fort. Hexen weinen nicht, dachte sie bitter, und ich bin ja eine Bernsteinhexe, weil ich so gelbes Haar habe. Die vielen ungeweinten Tränen aber, die alle den Weg durch die großen grauen Mädchenaugen nehmen wollten, mußten in ihren tiefen Quellen bleiben und brannten auf ihrem Herzen wie böses rotes Feuer.