Читать книгу Du bist das Glück - Anny von Panhuys - Страница 5
II
ОглавлениеEs war ein herrlicher Frühherbsttag. Marlene von Bergener stand am Fenster ihres Zimmers, das sie allein bewohnte, und blickte hinaus. Marlene war vor kurzem einundzwanzig Jahre alt geworden.
Eben schlug es sieben Uhr. In einer halben Stunde wurde gefrühstückt. Sie wollte Elinor wecken, die schlief immer gern lange, und der Onkel ärgerte sich darüber. Sie öffnete leise die Tür zum Nebenzimmer und betrat auf den Zehenspitzen das hübsche Nest aus Hellblau und Weiß, das Elinor ihr Zimmer nannte. Im Bett lag das entzückendste Mädel der Welt und blinzelte verschlafen, als ihr Marlene über das dunkellockige Haar strich.
„Ach, du!“ kam es verstimmt aus dem hübschen Munde, und der schmale Körper drehte sich mit einem energischen Ruck auf die andere Seite. „Laß mich weiterschlafen, Marlene, ich bin noch so schrecklich müde.“ Verhaltenes Lachen folgte plötzlich, und mit einem neuen Ruck saß Elinor im Bette aufrecht. „Es war gestern abend großartig bei Käthe Klein. Die Kleins sind viel modernere Menschen als Vater und Mutter. Käthe hat getanzt, ach, du, hat die Talent! Vielleicht könnte man es auch wie sie, aber unsereins darf so was ja gar nicht riskieren. Ich glaube, Vater würde mich in eine Kaltwasserheilanstalt stecken, wenn ich mich vor unseren Gästen so zeigte, wie sich Käthe Klein gestern vor ihren Gästen gezeigt hat. Erst als Spanierin, na, das ging ja noch, da hatte sie einen weiten Rock an und einen andalusischen Hut auf, danach kam sie als Jockey in hohen Lackstiefeln, mit gelb und weiß gestreifter Jockeymütze, die hintenweg auf dem weißblonden Haar saß.“ Sie kicherte vergnügt. „Ich sage dir, entzückend sah sie aus, und getanzt hat sie — getanzt!“ Sie nickte Marlene zu. „Du bist ja für so was nicht und hockst lieber zu Hause, wenn du auch gerade kein Spielverderber bist. Übrigens, Gert Wendemann war auch da. Aber ich glaube, der ist ’n bißchen so wie du. Nach Käthes Tanzen hat er einen Flunsch gezogen und mich gefragt, ob mir so was gefalle. Ich habe auch einen Flunsch gezogen und versichert, so was gefiele mir gar nicht.“ Sie machte ein spitzbübisches Gesicht. „Ich mußte das doch tun, weil es möglich ist, er redet zum Vater vom gestrigen Abend.“ Sie seufzte. „Hoffentlich hält er den Schnabel, sonst verbietet mir Vater vielleicht gar, mit Käthe so viel zu verkehren, und sie ist doch die amüsanteste und schickste von all meinen Freundinnen.“
Marlene hatte still zugehört. Ihre braunen Augen blickten zärtlich auf die Jüngere.
„Steh jetzt vor allem gleich auf, Liebling, sonst kommst du unpünktlich an den Frühstückstisch, und du weißt, das kann dein Vater nicht ausstehen, das verstimmt ihn. Du bist doch sein Sonnenschein.“
„Na, denn man los!“ seufzte Elinor etwas burschikos und schob sich aus dem Bett. „Wie lange habe ich noch Zeit?“ Sie warf einen Blick auf die schmale, weiße Kastenuhr, die zu der Möbeleinrichtung des Zimmers paßte. „Uijeh, bloß zwanzig Minuten. Komm, Marlene, hilf mir rasch, sonst schaffe ich es doch nicht mehr.“
Sie ließ sich dann von Marlene in die Kleider helfen und das Haar bürsten.
Sie nahm alles hin ohne besonderen Dank. Elinor war es seit frühester Kindheit eine Selbstverständlichkeit, von der Älteren verwöhnt zu werden. Wie eine gute Kammerzofe bediente Marlene die junge Kusine.
Sie waren wie Schwestern zusammen aufgewachsen, aber Marlene neigte ein wenig dazu, die Jüngere zu bemuttern. Sie war fünf Jahre älter und um zehn Jahre reifer als der Irrwisch Elinor.
Ewald Förster betrat gleich nach den beiden jungen Mädchen das Eßzimmer. Frau Wanda waltete am Tisch schon ihres Amtes als Hausfrau.
Ewald Förster begrüßte die Mädchen mit einem Wangenkuß, Elinor gab er noch einen zärtlichen Schulterklaps. „Na, Elinor, wie ist es, hast du dich gestern bei Kleins gut unterhalten?“
Sie nickte. „Ach ja, es war ganz nett, Vati.“
Es klang so obenhin, als hätte sie sich beinahe gelangweilt. Marlene mußte daran denken, wie begeistert Elinor noch vorhin von dem Fest bei ihrer Freundin geschwärmt. Sie wunderte sich immer wieder darüber, wie es Elinor verstand, jedem das zu sagen, was ihr für die betreffende Person am richtigsten schien.
„Am schönsten ist es bei uns, Vati“, schwärmte die kleine Komödiantin, „so hübsch wie bei uns finde ich es nirgends. Die anderen verstehen keine Feste zu feiern.“
Ewald Förster strich über seinen graugesprenkelten Scheitel.
„Hast Beobachtungsgabe, Mäuschen; aber ich meine auch bei uns geht es, wenn wir Gäste haben, am lustigsten und nettesten zu.“
Die beiden Mädchen begleiteten Ewald Förster nach dem Frühstück bis hinüber zur Fabrik. Auf halbem Wege begegnete den drei Gert Wendemann, der Prokurist der Fabrik. Er grüßte respektvoll, und man ging gemeinsam weiter. Gert war dreißig Jahre und Ewald Försters rechte Hand. Er war so groß wie sein Chef, aber schmaler. Sein Gesicht war dunkelgetönt und ziemlich scharf, die hochgesattelte Nase sprang ein wenig vor.
Elinor schritt mit dem Vater voran, Marlene folgte an der Seite Gerts.
Gert Wendemann war als Neuzehnjähriger, nach bestandenem Abiturium und dem Besuch einer Handelsschule, als Lehrling in die Fabrik Försters eingetreten und hatte sich hier bis zum Posten eines Prokuristen emporgearbeitet. Er kannte die beiden Mädel seit elf Jahren. Er hatte sie beide noch als Kinderchen draußen auf dem Fabrikgelände herumspielen sehen mit Reifen und Ball und hatte ihnen geholfen, im Herbst große Drachen steigen zu lassen, obwohl das eigentlich mehr ein Jungenspiel war. Jetzt aber tanzte er mit ihnen, wenn er sie zuweilen in Gesellschaft traf, oder wenn er von seinem Chef eingeladen wurde. Offiziell sollte Elinor noch keine Bälle mitmachen, aber bei kleinen Hausfestlichkeiten, bei Geburtstags- und Hochzeitsfeiern nahm man es nicht so genau mit dem wunderhübschen, lebhaften Geschöpf. Jedermann war in das Püppchen mit dem glänzenden, dunklen Haar und den reinen, tiefblauen Augen vernarrt. Sie hatte so eine eigene Art, die langen, dunklen Wimpern aufzuschlagen und zu lächeln, daß man sofort in ihrem Bann war.
Sie lachte eben laut. Eine Reihe klingender Töne, die einem Musikinstrument entlockt zu sein schienen, ließ das zweite Paar aufhorchen, und unwillkürlich sahen sich Marlene von Bergener und Gert Wendemann mit einem Lächeln an.
Gert sagte leise: „Elinors Lachen ist so harmonisch, wie ich noch nie ein Lachen gehört habe.“
Marlene erwiderte mit Zärtlichkeit: „Elinor versteht es, mit so einem Lachen ihrem Vater die böseste Stimmung zu verscheuchen. Worüber der klügste Mann mit meinem Onkel nicht fertig würde, das regelt meine kleine Elinor mit einer Reihe von melodischen Tönen, die sie sieghaft hinauslacht.“
Gert Wendemann nickte. Sein Gesicht war sehr ernst, als er sagte: „Verzeihen Sie, Marlene, wenn ich die Gelegenheit ergreife, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Elinor, die mit Fräulein Klein sehr befreundet ist, an der jungen Dame keine Freundin besitzt, deren Umgang vorteilhaft für sie ist. Ich war gestern von Herrn Klein eingeladen worden zu seinem Geburtstag, und ich muß bekennen, der Ton im Hause ist reichlich frei. Wie man dort Feste feiert, das mag modern sein, höchstwahrscheinlich ist es sogar sehr modern; aber schön ist es nicht. Ich verstehe die Eltern nicht, die ihrer Tochter erlauben, den Gästen solche Art Tanz vorzuführen, und die junge Dame, die Vergnügen daran findet, sich vielen jüngeren und älteren Herren unseres lieben Städtchens so zu präsentieren, verstehe ich noch viel weniger.“
Marlene dachte genau so wie Gert Wendemann; aber sie machte doch einen Versuch zur Ehrenrettung der von ihm verurteilten Freundin Elinors.
Er sah sie an. „Aber, Marlene, das ist doch etwas anderes. Ich bin kein Tanzkunstverständiger und kann Ihnen nicht richtig klarmachen, wie ich es meine, aber ich habe schon mehrmals berühmte Tänzerinnen in Berlin auftreten sehen, und war begeistert. Aber mir scheint es etwas ganz anderes, wenn eine junge Dame unseres Städtchens da vor allen ihren guten Freunden auf ein Podium hüpft und die unmöglichsten Gliederverrenkungen zu machen beginnt. Ich kann es nicht so erklären, aber auf mich wirkte es abstoßend. Ich hatte das Gefühl, das junge Ding von dem Podium herunterreißen zu müssen und aus dem Saal zu jagen.“ Er zuckte die Achseln. „Vielleicht denke ich altmodisch, aber ich möchte kein Mädchen heiraten wie diese Käthe Klein. Und ich habe die Idee, sie ist kein guter Verkehr. Sie sollten Elinor etwas von der Freundin abzubringen suchen.“
In Marlenes Ohr saß der Satz fest: Ich möchte kein Mädchen heiraten wie diese Käthe Klein! Und daran fügte Gert Wendemann noch einmal seinen Rat. Ihm schien viel daran gelegen, Elinor vor einer Freundin zu bewahren, die einen schlechten Einfluß auf sie haben konnte. Er lag im Bann des reizenden Geschöpfes wie alle, die Elinor kannten. Vielleicht liebte er sie? Warum tat ihr der Gedanke nur so bitter weh? Noch niemals hatte sie bisher daran gedacht, und jetzt plötzlich drängte er sich ihr gebieterisch auf.
Sie erwiderte leise: „Ich danke Ihnen für Ihren Rat, Gert, und werde versuchen, Elinor zu beeinflussen.“
Ewald Förster war stehengeblieben, rief: „Nun mal ein bißchen schneller, die Herrschaften da hinten!“
Marlene ging rascher und ward, als sie die Vorangehenden erreicht hatte, ein wenig rot, sie wußte selbst nicht, warum, sie spürte nur, daß ihre Wangen heiß wurden.
Auf dem Rückweg fragte Elinor lachend: „Nun, hat Gert Wendemann etwas über den gestrigen Abend geredet?“
Marlene wiederholte ihr, was er gesagt hatte.
Elinor lachte vergnügt: „Na, ich erzählte dir ja schon, er hat gestern abend ’n Flunsch gezogen, als Käthe tanzte. Weißt du, Marlene, Gert Wendemann ist nicht mehr richtig jung, darum hat er so altmodische Begriffe. Aber er stellt was vor. Ich finde ihn, wie soll ich mich ausdrücken, feudal aussehend. Wenn ich zum Beispiel nicht ganz genau wüßte, er heißt Gert Wendemann und ist Prokurist in Vaters Tuchfabrik, würde ich ihn für einen unwahrscheinlich hochgeborenen Aristokraten halten. Wirklich! So einen von der Sorte, die Waldemar, Justinian, Erdmann, Kraft Prinz von Moorburg — Kuckuckbaum — Haidedorf — Löwenhals heißen. Schade, wenn er so ’ne Titulatur mit sich ’rumschleifte, würde ich mich mordmäßig in ihn verlieben und ihn heiraten. Vielleicht täte ich es auch so. Aber Elinor Wendemann, geborene Förster, ist mir zu spießig.“ Sie faßte die Ältere unter. „Marlene, Gert Wendemann wäre was für dich! Manchmal meine ich, er hat was für dich übrig. Als er neulich bei uns abends gegessen hatte, schielte er immer so komisch nach dir rüber, und Verliebte schielen so, weißt du.“
Marlene war sich mit einem Male darüber klar, warum ihr vorhin der Gedanke so weh getan. Gert Wendemann könnte Elinor lieben. Sie liebte ihn selbst. Sie empfand eine starke Erschütterung, und ihre Gedanken verwirrten sich. Seligkeit und Angst erfüllten sie, kein Wörtlein brachte sie über die Lippen.
Elinor drängte sich dichter an sie heran. „Du, Marlene, vorhin hast du ganz rot ausgesehen, und jetzt sieht dein Gesicht aus wie das vom Geist im Hamlet. Liebst du Gert Wendemann? Mir kannst du’s ruhig anvertrauen, ich kann Geheimnisse bewahren.“
Marlene wußte ja erst seit Minuten, sie liebte den Mann; aber sie hätte es Elinor nicht anvertrauen können. Elinor war imstande, eine ihrer Bemerkungen, die ihr immer auf der Zunge lagen, zu machen, und das hätte sie nicht ertragen.
Sie zwang ein Lächeln um ihren Mund. „Kleine, du redest viel Blech zusammen, wenn der Tag lang ist. Gert Wendemann ist unser guter Freund, anders habe ich noch nicht an ihn gedacht.“
Elinor zog die wundervoll gezeichneten Brauen hoch. „Schade, Marlene, ich meine, ihr zwei müßtet ein schönes Paar sein. Du siehst nämlich auch aus, als wenn du einen Namen mit einem Titel spazieren führst, du hast auch so was Feudales. Ausgesprochen schön bist du nicht; aber vor allem hochinteressant. Käthe Klein meinte neulich, du sähest mit deinem Kupferhaar und deinem matten Teint hübsch aus. Außerdem hättest du ein Lächeln wie eine Undine, aber brav wärest du wie ein Schaf!“
Marlene mußte wider Willen lachen. „Sage deiner Freundin meinen ergebensten Dank für ihre Kritik.“ Sie wurde ernst. „Im übrigen rate ich dir, dich wirklich etwas von Käthe zurückzuziehen, sie gefällt mir nicht als deine intimste Freundin.“
„Mir gefällt sie aber, Marlene, und darauf kommt es doch nur an“, erwiderte Elinor ein wenig schnippisch und ließ Marlenes Arm los. „Jetzt hat dir Gert Wendemann einen Floh ins Ohr gesetzt, und nun krabbelt der darin herum und macht dich aufsässig. Nein, Marlene, Käthe lasse ich mir nicht wegnehmen, damit habt ihr kein Glück. Und falls du vorhaben solltest, die Eltern in deinem Sinn zu beeinflussen, dann ist’s mit uns beiden aus.“
„Elinor, Mädelchen, so etwas darfst du nicht sagen, du. weißt, ich will nur dein Bestes.“ Marlenes Stimme bebte ein wenig.
Elinor wußte genau, wie sehr die Ältere an ihr hing. Sie lächelte ihr süßes, herzbezwingendes Lächeln. „Ist ja schon gut, mein Altchen, ich meine es nicht so schlimm. Was sollte denn aus mir werden ohne dich!“ Ihr Arm schob sich wieder unter den Marlenes. „Glaube mir, Liebste, Käthe ist so’n harmloses Viehchen wie ich. Wir sind wie junge Katzen, liegen gern in der Sonne und räkeln uns. Sind ein bißchen falsch, aber bloß ein ganz klein bißchen, dazu ein bißchen faul und machen uns schön. Viele junge Mädels von heute sind so. Den geistreichen Ausspruch hat Käthes Anbeter, Harry Raumer, gemacht, der sie heimlich unheimlich liebt. Aber er hat nix und ist nix, und sie will einen reichen Mann.“
Marlene schüttelte den Kopf. „Elinor, du solltest an andere Dinge denken, und Käthe hat auch noch Zeit mit der Liebe.“
„Sie ist zwei Jahre älter als ich“, trumpfte Elinor auf. „Und jetzt wollen wir das Thema lassen, sonst raufen wir uns doch noch wegen Käthe. Ich muß nachher zu ihr, ich habe ihr versprochen, sie um elf Uhr zu wecken.“
Marlene erwiderte nichts mehr, ihr war es, als wäre sie doch nicht ganz bei dem, was sie sprach. Sie sehnte sich nach ein paar Augenblicken des Alleinseins, um wenigstens leidlich innerlich zur Ruhe zu kommen; denn ihr war es, als müsse es ihr jedermann vom Gesicht ablesen, was ihr Herz fühlte.
Endlich befand sie sich allein in ihrer Stube. Elinor war zu Käthe Klein gegangen, und sie brauchte nicht zu fürchten, der Irrwisch würde sie stören. Sie setze sich an den breiten Schreibtisch, der noch von ihren Eltern stammte, stützte den Kopf in die Hand und dachte darüber nach, daß sie Gert Wendemann liebte. War diese Erkenntnis nicht das Schwerste und zugleich Schönste, was es auf Erden gab? Konnte sich noch irgendetwas anderes daneben behaupten?
Er liebte sie nicht, sein Herz gehörte vielleicht Elinor. Es gehörte ihr wohl sicher, denn Elinor war doch das reizvollste Wesen, das man sich denken konnte, und vielleicht hätte er sich seine Liebe auch schon deutlicher anmerken lassen, wenn Elinor nicht noch so blutjung wäre. In ein paar Monaten wurde sie siebzehn Jahre.
Marlenes Augen feuchteten sich. Es war ein so schmerzlicher Gedanke, daß sie sich ihrer Liebe bewußt geworden, sich aber auch gleichzeitig darüber klar war, es gab keine Gegenliebe für sie.
Sie erhob sich und ging durch das Zimmer. Die Möbel, die hier standen, stammten alle noch aus dem Elternhause. Sie konnte sich nicht mehr an die Eltern erinnern. Beide waren tot. Onkel und Tante hatten ihr die Eltern treu ersetzt. Sie hatte es hier immer gut gehabt; aber heute erwachte mit einem Mal eine unbändige Sehnsucht nach der Mutter in ihr. Es müßte schön sein, sich am Mutterherzen ausweinen zu dürfen, sich von zärtlichem Mutterverständnis beruhigen und trösten zu lassen.
Marlene preßte die schmalen Hände gegen die Schläfen, hinter denen ein rastloses, feines Pochen war. Sie sann, was sie schon so oft gesonnen. Warum war ihre Mutter nur so weit fortgereist, irgendwo ins Blaue hinein, scheinbar zielund zwecklos? Es mußte da ein Geheimnis geben, das man vor ihr verborgen hatte.
Es war ihr im Laufe der Jahre mehrmals aufgefallen, daß Bekannte, wenn sie ihre Mutter erwähnte, ein verlegenes und betretenes Gesicht machten. Sie fragte, seit sie das gemerkt, nie mehr jemand, ob man ihre Mutter gekannt, und ähnliches. Sie wollte gar nichts hören, denn schließlich kam es doch wohl darauf hinaus, daß ihre Mutter um irgendeines Mannes willen die kleine Stadt verlassen hatte. Und darüber mochte sie nichts wissen.
Sie blieb vor einem Spiegel stehen, der auf einem wundervoll geschweiften Untersatz ruhte. Es war ein echtes Empirestück, und sie hatte eine besondere Vorliebe dafür. Sie betrachtete sich scharf prüfend im Glas und stellte sich daneben Elinor vor. Ein müdes Lächeln zog um ihren Mund. Wie konnte sie nur Vergleiche ziehen zwischen Elinor und sich! Gewiß, sie war nicht häßlich, aber neben der sieghaften Lieblichkeit Elinors fiel es der Hübschesten schwer, sich zu behaupten, neben Elinor verblaßte jede.
Sie wußte nicht, wie reizvoll ihr Äußeres war, sonst wäre sie sich nicht so unscheinbar vorgekommen neben Elinor. Vielleicht trug auch das die Schuld daran, daß mit Elinor von je zu viel Kult im Haus getrieben worden war.
Es klopfte. Marlene fuhr sich blitzgeschwind mit dem Taschentuch über die Augen, ehe sie „herein!“ rief.
Eins der Mädchen trat ein. „Fräulein von Bergener, Herr Förster ist am Telefon.“
Marlene eilte hinüber in das Privatarbeitszimmer des Onkels, nahm den Hörer auf, meldete sich.
„Marlene, wie weit bist du mit der Zeichnung für Katalog B? Er muß jetzt in Druck gegeben werden.“
Marlene gab Antwort: „Sie ist fertig, Onkel, nur ein bißchen überholen möchte ich sie noch, es ist die Arbeit einer Stunde.“
„Gut, mach dich gleich daran, Mädel, und bringe die Zeichnung dann in mein Büro, damit wir sie nochmals kritisch betrachten. Herr Wendemann brennt geradezu darauf, dein neuestes Werk kennenzulernen.“ Ein gutmütiges Lachen folgte den Worten.
Marlene versprach: „In ungefähr einer Stunde bringe ich die Zeichnung, Onkel.“
Sie stand noch ein Weilchen regungslos, starrte vor sich nieder, dachte, wie sonderbar das war. Seit so vielen, vielen Jahren, von Kind an, war sie mit Gert Wendemann zusammengetroffen, oft hatte sie mit ihm getanzt, oft hatte sie sich eingehend und kameradschaftlich mit ihm unterhalten, und jetzt, mit einem Male, empfand sie Scheu, ihn wiederzusehen.
Sie atmete gepreßt. Herrgott, warum hatte sie auch entdecken müssen, daß sie ihn liebte! Alle Ruhe und Sicherheit hatte ihr das genommen. Aber ausweichen konnte sie ihm nicht. Der Onkel würde sie pünktlich erwarten.
Die Tür ging leise auf, Frau Wanda sah die wie erstarrt Dastehende und weckte sie aus ihrer Versunkenheit. „Marlene, du schläfst wohl im Stehen?“ schalt sie gutmütig. „Denkst du über ein so wichtiges Problem nach, daß du nichts hörst und siehst?“
Marlene war zusammengefahren und stotterte etwas verwirrt: „Onkel will die Umschlagezeichnung für Katalog B, und … und … ich dachte darüber nach, ob sie wohl leidlich gelungen sei.“
Die kleine, in den letzten Jahren sehr dick gewordene Frau Wanda schüttelte den Kopf. „Wie kannst du denn daran noch zweifeln? Du heimst doch wirklich Lob genug ein für alles, was deine geschickten Hände entwerfen.“ Sie nickte ihr zu. „Famos ist das eigentlich, so ein Talent zu besitzen wie du!“
Marlene verbesserte: „Talentchen, liebe Tante; denn wenn es ein Talent wäre, würde es ausreichen zur Malerin; so aber bannt es mich in die Grenzen des Plakatzeichnens. Und für wen entwerfe ich Plakate? Für Onkels Tuchfabrik, für ein paar seiner Bekannten, außerdem durfte ich Werbekarten für ein Wohltätigkeitsfest zeichnen. Ob man mein Können in einem weiteren Kreise anerkennen würde, ist noch höchst zweifelhaft.“
„Doch, Marlene, doch; dein Zeichenlehrer, Herr Bürger, den ich neulich traf, hat mir wieder mal versichert, du wärst als Reklamezeichnerin geradezu genial, und es sei ein Jammer, daß du dich nur so nebenher damit befaßt. Er meinte, wenn du darauf angewiesen wärest, davon zu leben, könntest du die Aufträge gar nicht bewältigen, die man dir geben würde, du hättest Einnahmen über Einnahmen.“
Marlene lächelte ein wenig. „Es wird viel Schmeichelei an Dilettanten verschenkt, und nachher, wenn so ein Dilettant in die Notlage kommt, Geld verdienen zu müssen, dann sieht er erst ein, daß sein Können nirgends langt.“
Frau Wandas Gesicht war weich und zärtlich. „Mag es sein, wie es will, voraussichtlich hast du es nicht nötig, deine Begabung zu verwerten, um dein tägliches Brot damit zu verdienen, Mädchen.“
Marlene befand sich dann wieder allein in ihrem Zimmer, saß am Schreibtisch und überprüfte mit kritischem Auge eine vor ihr liegende kolorierte Zeichnung.
Marlene strichelte hier noch etwas nach und dort noch etwas nach, dann erhob sie sich. Nun konnte sie gehen. Sie gehörte nicht zu den Eitlen ihres Geschlechtes, aber es zog sie jetzt doch wieder vor den Spiegel. Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen. Sie dachte, es ist ja gleich, wenn Gert Wendemann sie auch nicht liebte, ein wenig hübscher durfte sie sich doch machen. So schnell wie möglich zog sie das graue Tuchkleid an mit der etwas dunkleren Samtjacke und dem schmalen Hermelinkragen. Es stand ihr am besten.
Die Tante begegnete ihr auf dem Gang. „Aber, Marlene, warum hast du dich denn für deinen Besuch im Fabrikbüro so in Gala geworfen? Das ist doch dein neuestes Kleid!“
Marlene lächelte unsicher. „An meinem blauen Kleid ist. eine Ärmelnaht aufgegangen, und um nicht zu viel Zeit zu vertrödeln, langte ich mir das erstbeste Kleid.“
Frau Wanda blickte der Davoneilenden sinnend nach. Was Marlene eben gesagt, trug den Stempel der Ausrede nur zu deutlich an der Stirn. Warum zieht sich ein junges Mädchen plötzlich, eigentlich grundlos hübscher an? dachte sie und beantwortete sich ihre eigene Frage schlau: Um irgend jemand besonders zu gefallen. Es war nicht schwer, denn weder die grünen Jüngelchen noch die alten, bebrillten Krauter, die es sonst noch in den Büros der Fabrik gab, würden Marlene zum Wechseln des Kleides bestimmt haben. Sie nickte vor sich hin. Also Gert Wendemann gefiel Marlene. Das war eine interessante Neuigkeit!
Sie begab sich in die Küche, half, wie es ihre Art war, dort tüchtig mit; aber ihre Gedanken waren noch immer bei Marlene. Sie malte sich schon die Hochzeitsfeier aus. Die beiden würden gut zueinander passen. Sehr gut sogar.
Gert Wendemann war der beste und geeignetste Mann für Marlene, die ihr lieb geworden wie eine Tochter, lieb wie Elinor. Nein, nicht völlig so, einen ganz kleinen Unterschied gab es doch zwischen ihrer Liebe zu den beiden Mädchen. Aber nur einen geringen. Und das war natürlich und begreiflich.
Marlene aber befand sich um die gleiche Zeit in der Fabrik im Privatbüro ihres Onkels, der ihre neue Zeichnung noch einmal eingehend prüfte. Er hatte dazu seinen Kneifer aufgesetzt und meinte anerkennend: „Ich bin wieder äußerst zufrieden mit dir, Marlene, die Schose hast du los! Ich zahle dir aber diesmal auch freiwillig mehr.“
Hinter ihm stand Gert Wendemann und betrachtete ebenfalls die Zeichnung.
„Mein Kompliment, Marlene, Sie haben eine Künstlerhand. Ich glaube, Sie könnten viel Geld mit Ihrer Phantasie und Geschicklichkeit verdienen.“
Sie saß auf einem der Klubsessel, und als sie zu ihm aufblickte und seine Augen sie voll ansahen, schlug ihr Glut vom Herzen hoch bis zu den Schläfen. Ihr Antlitz brannte.
Ihr jähes Erröten machte ihn stutzig, erweckte einen Gedanken in ihm, an den er eigentlich noch nie gedacht. Er hatte immer in der Art eines älteren Kameraden mit Marlene verkehrt, jetzt war es ihm mit einem Male, als sähe er sie mit anderen Augen.
Marlene war reizvoll und konnte einem Manne schon gefallen. Von allen jungen Damen seiner Bekanntschaft gefiel sie ihm eigentlich am besten. Elinor ausgenommen; aber die war ja noch ein Kind. Er hatte noch nicht daran gedacht zu heiraten. In diesem Augenblick lockte ihn der Gedanke, wenn er sich Marlene als seine Frau vorstellte und Elinor als seine Schwägerin.
Alt genug war er wirklich dazu, sich ein Heim zu gründen. Er saß gut und warm im Elternhaus, aber ein eigenes Heim hatte wohl auch seine Reize. Er machte die Feststellung, das Kleid stand Marlene ganz ausgezeichnet.
Sie erhob sich.
„Ich will wieder gehen, Onkel, sonst halte ich dich und Gert von der Arbeit auf.“
Ewald Förster holte sein Scheckbuch aus dem Schreibtisch.
„Nimm dein Honorar gleich mit, Marlene.“
Er füllte ein Formular aus und reichte es ihr. Marlene blickte darauf nieder.
„Aber, Onkel, so viel Geld ist doch die kleine Strichelei nicht wert! Fünfhundert Mark, ich bitte dich.“
Ewald Förster nickte ihr zu.
„Du hast das Geld verdient. Unser letzter Reklamezeichner hat seine Arbeiten tüchtig bezahlt bekommen, aber sie waren nicht so gut wie deine, und ich gebe dir nächstens wieder einen Auftrag. Übrigens hat mich der Schwanenapotheker gestern gefragt, ob du ihm nicht ein Plakat für ein Hustenmittel entwerfen würdest. Du siehst, die Kundschaft drängt sich dir förmlich auf.“
„Ich zeichne dergleichen gern“, gab Marlene zurück und knöpfte ihre Samtjacke zu.
Gert Wendemann sagte: „Ich komme gleich mit, Marlene, wenn Sie gestatten, ich muß nämlich in die Färberei hinüber.“
Als die beiden sein Kontor verlassen hatten, sann Ewald Förster flüchtig, es wäre gut, wenn aus den beiden Menschen ein Paar würde. Er dachte ähnlich wie seine Frau. War Marlene erst verheiratet, dann war die traurige Vergangenheit so gut wie völlig ausgelöscht, und Gert Wendemann paßte ausgezeichnet für Marlene. Er war immer mit seiner Arbeit zufrieden gewesen, und es wäre sehr gut, den tüchtigen und klugen Menschen durch verwandtschaftliche Bande an sich zu fesseln.
Gert Wendemann ging neben Marlene die Treppe hinunter, er sagte: „Das neue Kostüm steht Ihnen sehr gut, Marlene. Ich habe grau nie leiden mögen, seit ich Sie aber in diesem Kleid gesehen, finde ich, es ist eine hübsche und feine Farbe.“
Marlene war es, als klänge alles anders, was Gert Wendemann sprach, seit sie ihre Liebe zu ihm erkannt.
Der Satz, den sie wahrscheinlich noch gestern mit einem harmlos frohen Lächeln entgegengenommen hätte — denn welche Frau hört dergleichen nicht gern — trieb ihr wieder das Blut in die Wangen.
Gert Wendemann legte seine Hand auf ihren Arm.
„Gehen Sie doch nicht so schnell, Marlene! Ich alter, müder Mann kann mich Ihrer flinken Jugend ja gar nicht anpassen.“
Darüber mußte sie lachen, und er lachte mit.
„Sie haben wundervolle Zähne, Marlene“, stellte er fest, „jeder Filmstar könnte Sie darum beneiden.“
Marlene dachte, das war nun schon das zweite Mal, daß ihr Gert Wendemann innerhalb weniger Minuten etwas Schmeichelhaftes sagte. Und sie erinnerte sich nicht, daß es seine Art war, dergleichen zu tun. Aber sie empfand es wie Liebkosungen einer Hand, deren Streicheln unerwartet kommt.
Sie ging ganz langsam neben ihm, als man nun das Gebäude verließ. Man stand jetzt in der strahlenden Herbstsonne, und Gert Wendemann lächelte.
„Die Besorgung in der Färberei hat noch etwas Zeit, ich begleite Sie lieber ein Stückchen.“
Sie nickte stumm.
Gert Wendemann war schon oft so neben ihr hergegangen, aber heute schien es ihr etwas anderes, etwas ganz Besondere. Wie ein glückliches Hoffen war es in ihr.
Er sagte leise: „Marlene!“
Es klang wie ein Ruf. Sie hob den leichtgesenkten Kopf, und ein Fragen lag in ihren braunen Augen.
Er lächelte. „Was ich heute wegen Elinor sagte, war vielleicht etwas übertrieben, nicht wahr? Ich wollte nur warnen. Sie sind doch wie eine ältere Schwester Elinors, und ich bin der gute Freund von Ihnen beiden. Sie und ich zusammen sollten achtgeben auf die Kleine. Wenn man die Eltern warnt, wirkt das zu wichtig und anmaßend. Elinor ist noch ein Kind. Versuchen Sie ihre Freundschaft mit der übermodernen Käthe Klein etwas zu dämpfen. Wir beide, Sie und ich, wollen doch das Beste des Kindes.“
Marlenes Herz ward leicht. Wie er Elinor jetzt ein Kind nannte, fühlte sie, hinter seiner Besorgnis stand keine Liebe zu dem Kinde. Sie blickte ihn an.
„Ich will mein Möglichstes versuchen, ich tat es sogar schon, da auch mir diese Freundschaft nicht mehr gefällt, aber Elinor ist ein bißchen starrköpfig.“
Er lächelte. „Sie werden schon mit ihr fertig werden. Ich weiß, Sie haben Energie.“ Er sah ihr in die Augen. „Das ist ein Prachtwetter heute! Gar keine Lust habe ich mehr, wieder an die Arbeit zu gehen. Weit hinaus in die freie Gottesnatur müßte man wandern mit frohem Sinn und leichtem Gepäck. Wir beide müßten das tun! Sie in ihrem wunderhübschen Kleid, und ich so, wie ich bin. Einfach durchbrennen müßten wir, Marlene, und in allerlei Erleben des Sonnentages hineinlaufen.“
Er lächelte jungenhaft übermütig.
Ihr Herz schlug laut, als sie antwortete: „Wenn es ginge, würde ich mit fortlaufen, Gert, mich lockt die liebe Herrgottssonne auch.“
Er schaute zurück nach der Fabrik. „Was man wohl sagen würde, wenn wir Ernst machten mit dem Fortlaufen? Wenn wir jetzt ins Blaue hinauswanderten, ohne zu hinterlassen, wohin und wann wir wiederkommen?“
Sie erwiderte leise:
„Dann würde man jedenfalls sagen, die zwei sind verrückt oder …“
„Oder?“ drängte er, denn immer stärker ward er sich bewußt, Marlene war die Frau, die so liebenswert war, daß es ein Glück für ihn bedeutete, wenn sie die Seine würde.
Marlene empfand plötzlich ein unendliches, ein überströmendes Glücksgefühl, sie konnte nicht anders, sie mußte übermütig lachen.
„Denken Sie doch darüber nach, Gert, was man von uns sagen würde, wenn man uns nicht für verrückt hielte!“ Und dann eilte sie davon, rief zurück: „Ich habe keine Zeit mehr, Gert, nicht zum Fortlaufen, und nicht zum Weiterbummeln, Tante braucht mich im Haushalt.“
Sie winkte und verschwand so schnell in der Richtung der Villa, daß er keinen Versuch mehr machen konnte, ihr nachzueilen. Das hätte für Unbeteiligte sonst ausgesehen, als ob sie beide Haschen spielten.
Er blieb noch ein paar Sekunden nachdenklich stehen, dann wandte er seine Schritte zurück.
Er lächelte ein wenig. Wie leicht war der unvollendete Satz zu ergänzen!
Er wiederholte sich seine Frage: „Was man wohl sagen würde, wenn wir Ernst machten mit dem Fortlaufen? Wenn wir jetzt ins Blaue hinauswanderten, ohne zu hinterlassen, wohin und wann wir wiederkommen?“ Auch ihre Antwort wiederholte er sich: „Dann würde man sagen, die zwei sind entweder verrückt oder …“
Er vollendete den angefangenen Satz Marlenes: „Dann würde man sagen, die zwei sind entweder verrückt, oder verrückt ineinander verliebt! — Marlene!“ sagte er leise zärtlich.
Sonderbar, vor dem heutigen Tag war er gar nicht auf die Idee gekommen, die ihm mit einem Male schon so vertraut schien, als hätte er sie endlos überlegt.
Er schaute um sich. Eben verschwand die schlanke Gestalt in der Villa. Beim nächsten Zusammentreffen durfte ihm Marlene aber nicht weglaufen, da hielt er sie fest und wollte sie fragen: „Bist du mir gut, Marlene?“
Er begann eifrig Zukunftspläne zu entwerfen. Überlegte, ob Ewald Förster damit einverstanden sein würde, wenn er Marlene von ihm zur Frau begehrte. Er glaubte darauf mit einem sorglosen Ja antworten zu dürfen. Flüchtig sann er auch der trüben Geschichte nach, die in Marlenes Kindheit gespielt hatte. Es dachte wohl kaum noch jemand daran.
Er pfiff ein Liedchen in den sonnendurchstrahlten Herbstvormittag hinein. Ihm war so wohl, so vergnügt zumute. Er hatte heute eine wundervolle Entdeckung gemacht.
Es hatte schließlich keine allzu große Eile, Marlene davon zu sprechen, daß sie sich beide zu gemeinsamer Lebenswanderung zusammentun sollten, er traf sie so oft, und er würde die nächste Gelegenheit dazu ergreifen.
Marlene aber war in ihr Zimmer gestürmt, als würde sie verfolgt. Sie riegelte sich ein und sank auf den ersten Stuhl nieder. Ihr Atem stockte vor dem Glücksgedanken, der sie ganz und gar erfüllte. Der so stark, so überstark war, daß sie das Gefühl hatte, laut aufschreien zu müssen, um frei zu werden von einem wunderlich beseligenden Alpdruck, den sie bisher noch nicht gekannt.
Herrgott im Himmel, wie hatte sich auch seit vorhin alles geändert! Jetzt glaubte sie nicht mehr daran, daß Gert Wendemann Elinor liebte, jetzt wußte sie, er begehrte sie. Ganz nahe war er daran gewesen, es ihr zu sagen, und die süße Stunde würde bald kommen, wo er es tun würde.
Tränen trieb es ihr in die Augen, das Glück, auf das sie nicht zu hoffen gewagt, und ihre Hände falteten sich wie zum Beten. Und unwillkürlich, wie schon einmal heute, dachte sie mit Wehmut und Sehnsucht: Wie herrlich wäre es jetzt, eine Mutter zu haben, der sie alles, alles sagen könnte, was ihr Herz so stürmisch bewegte.