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Der Absturz – Einsatz im Studentensommer

Wolfgang Schüler


(picture alliance / imageBROKER / Michael Nitzschke)

Von 1973 bis 1977 habe ich an der Leipziger Karl-Marx-Universität Wirtschaftsrecht studiert. Ich erhielt – wie die meisten meiner Kommilitonen – 180 Mark Stipendium im Monat. Ein Internatsplatz kostete damals zehn Mark monatlich und eine Essenmarke in der Mensa etwa eine Mark. Alle Studenten waren krankenversichert, und sie konnten überdies zu stark verbilligtem Preis öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Die Grundversorgung war gesichert. Niemand musste Existenzangst haben.

Doch auch in der DDR gab es nichts umsonst. Von den Studenten wurde beispielsweise erwartet, dass sie in den Semesterferien drei Wochen lang am sogenannten FDJ-Studentensommer teilnahmen. Mit der Freiwilligkeit war das so eine Sache. In der Endkonsequenz konnten sich nur Kranke oder Fußlahme drücken.

Die Einsätze fanden zumeist in sozialistischen Großbetrieben statt und waren in der Regel sehr speziell. Die Studenten mussten beispielsweise in Brikettfabriken Kohlengruß schaufeln, für Nahverkehrsbetriebe Kabelgräben ausheben oder in Wäschereien die Lauge in den Bottichen umrühren. 1975 hatte es mich während des FDJ-Studentensommers in das Plattenwerk Neuwiederitzsch verschlagen, einen Zweigbetrieb des volkseigenen Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinats (WGK) Leipzig.

Bei der Einweisung wurde ich angenehm überrascht. Pro Doppelschicht sollte ich 100 Mark plus eine kostenlose Mahlzeit erhalten. Nach den drei Wochen mit ihren 15 Arbeitstagen würde ich demzufolge 1.500 Mark bar ausgezahlt bekommen und könnte völlig sorgenfrei mit meiner Freundin eine Reise nach Bulgarien antreten.

Doch wer mit dem Teufel frühstücken will, braucht einen langen Löffel. Das merkte ich, nachdem ich meine Arbeitsschutzbekleidung – Fußlappen, blaue Kombi, schwarze Gummistiefel, rote, bis an die Ellenbogen reichende Gummihandschuhe und einen gelben Schutzhelm – angelegt hatte und in meine Arbeit eingewiesen wurde.


Studenten erhalten Arbeitsaufgaben für den FDJ-Studentensommer. (picture alliance / ZB / Thomas Uhlemann)

In der Halle verharrte die Quecksilbersäule des Thermometers bei 35 Grad. In großen, zu Batterien zusammengefassten Formen wurden aus Beton Fertigteile für Neubau­blocks gegossen. Dazu brauchte es viel Dampf, Öl und Hitze. Flüssiger Beton glitschte aus Steigleitungen in die Formen. Überschüssige Reste tropften in Abwasserkanäle.

Der Brigadier war Ende dreißig, groß, hager und hatte schlechte Zähne. »Ich heiße Leonhard, Klaus. Klaus ist mein Vorname. Studenten sind Parasiten an der Volksgesundheit, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Hier in meiner Halle hat es noch nie einer länger als eine Woche ausgehalten. Dir Milchreisbubi gebe ich zwei Tage.«

Er sollte sich irren, wie sich bald herausstellen würde.

Der Brigadier drückte mir einen Presslufthammer in die Hand. Damit sollte ich die versandeten Kanäle von den Betonresten befreien. Es war eine Knochenarbeit. Ich musste mit aller Kraft den Presslufthammer nach unten drücken. Die Betonbrocken ließen sich nur mühsam lösen. Bereits nach einer Viertelstunde zitterten mir Arme und Beine.

Als es zur Frühstückspause klingelte und ich die Höllenmaschine abstellen durfte, vibrierten meine Hände im Rhythmus des Presslufthammers weiter. Nach einigen Minuten Ruhe kam der Brigadier auf mich zu. Hoffentlich gibt er mir eine andere Arbeit, betete ich im Stillen. Doch mit den Wünschen ist es so eine Sache. Manchmal gehen sie in Erfüllung.

Klaus reichte mir einen Schraubenschlüssel und deutete auf eine Art Hochspannungsmast, in dessen Inneren ein Rohr von etwa 20 Zentimetern Durchmesser nach oben lief.

»Das ist das Betondruckrohr. Mit ihm pumpen wir den flüssigen Beton auf die Batterie. Dort oben« – der Brigadier zeigte auf eine Stelle in fünf Metern Höhe – »ist ein Segment geborsten. Du musst am Mast hochklettern, die Metallmuffen lösen, die Dichtungsringe auswechseln und ein neues Rohrstück einsetzen. Dann schraubst du alles fest. Die Arbeit ist völlig ungefährlich, weil kein Druck mehr auf der Leitung ist. Klaro?«

Ich nickte und begann den Aufstieg. An sich wäre es kein Problem gewesen, weil ich mich an den Metallstreben gut festhalten konnte. Doch es triefte alles vor Öl. Ständig rutschte ich mit den Gummistiefeln ab, und auch die unförmigen Handschuhe behinderten mich sehr. Oben angekommen, klammerte ich mich fest. Ein Arbeiter warf mir von der Batterie gegenüber ein Seil zu. Ich band es um das defekte Segment und begann, die Schrauben zu lösen. Schweiß floss mir über die Stirn und stach mir brennend in die Augen.

Öl und warmes Wasser tropften mir ins Gesicht, vermischten sich mit dem Schweiß und liefen mir die Brust und den Rücken hinunter. Ich schob die Muffen nach unten und nach oben, zerrte die Dichtungsringe heraus und kantete das Rohr aus der Führung. Der Arbeiter ließ es herunter. Ein neues Segment schwebte nach oben. Ich musste mich weit strecken, um es erreichen zu können. Ich passte das Rohr ein, nahm vorsichtig den ersten Dichtungsring aus der Tasche, hob die Zuleitung ein Stück an und schob den Dichtungsring dazwischen. Eigentlich hätte ich vier Hände haben müssen: Zwei zum Heben des Segments, eine für den Dichtungsring und eine zum Festhalten.

So blieb mir nichts weiter übrig, als den Eisenträger von außen zu umklammern und gleichzeitig am Rohr zu hantieren. Immer wieder rutschte ich mit den Gummi­stiefeln ab, der Vierkantstahl der Gerüstkonstruktion schnitt schmerzhaft in die Oberarme ein. Das wird eine Menge hübscher blauer Flecke geben, dachte ich mir.


Studenten der Karl-Marx-Universität arbeiten auch im Sommer 1982 in einem Plattenwerk in Leipzig. (picture alliance / ZB / Waltraud Grubitzsch)

Nachdem ich auch den obersten Dichtungsring nach zahllosen schweißtreibenden Versuchen eingepasst hatte, war der schwierigste Teil der Arbeit getan. Die öligen Muffen rutschten leicht über das Rohr und ließen sich problemlos festschrauben. Ich blickte nach unten in die Tiefe. Der Abstieg konnte beginnen.

Ich schlotterte am ganzen Körper, so hatte mich die ungewohnte Anstrengung erschöpft. Zentimeter um Zentimeter tastete ich mich an den schmierigen, glitschigen Metallstützen nach unten, bis ich wieder Halt auf einer Querstrebe fand. Plötzlich rutschte ich mit der Sohle meines linken Gummistiefels ab. Das geschah dummerweise genau in dem Moment, als ich mit dem rechten Fuß noch nach dem nächsten Halt suchte. Mit einer Hand hing ich an dem Gerüst. Ich wollte mit der anderen Hand nachfassen, aber ich erreichte die Querstrebe über mir nicht mehr. Ich zappelte hilflos mit den Beinen. Dann stürzte ich schreiend ab.

Aus vier Metern Höhe prallte ich auf einen aus Eisenbahnschienen zusammengeschweißten Rahmen, in dem eine zum Trocknen aufgestellte Betonplatte stand. Ein unbestimmter Reflex veranlasste mich, meine Bauchmuskulatur anzuspannen. Es gab ein hässliches Geräusch, als der ölverschmierte Stahl meine blaue Arbeitskombi zerriss und sich in meine Bauchdecke bohrte. Um mich herum wurde es dunkel, sehr dunkel. Mein mildtätiger Organismus hatte sich dafür entschieden, den unsagbaren Schmerz zunächst nicht in mein Bewusstsein dringen zu lassen.

Ich wurde wieder wach, als grelles Tageslicht zwischen meine Lider drang. Zwei Arbeiter hatten mich links und rechts gepackt und schleppten mich den Plattenweg draußen vor der Halle entlang. Meine Gummistiefel schleiften über den rauen Boden. Ich stöhnte. Der Brigadier seufzte erleichtert auf, weil ich offensichtlich noch nicht gestorben war. Er dirigierte die beiden Träger in die Bereichsbaracke.

Dem Meister entglitten die Gesichtszüge, als er meiner ansichtig wurde. Aber er war ein beherzter, lebenserfahrener Mann. Er ließ den Stift fallen, sprang auf und wühlte im Aktenschrank, bis er das entscheidende Papier gefunden hatte.

Ich saß auf einem Holzstuhl mit Seitenlehne, die Beine steif von mir gestreckt, den Rücken gekrümmt. Mit der linken Hand drückte ich den tiefen Riss in meiner Bauchdecke zusammen. Blut quoll zwischen meinen Fingern hervor und tropfte im stetigen Fluss auf den Fußboden.

Ich sah, wie der Meister seinen Mund öffnete und schloss, doch die Worte drangen nicht an mein Ohr. Stattdessen hörte ich ein Summen und ein Brausen. Express­züge fuhren vorbei und Motoren heulten auf. Immer, wenn der Schmerz in weißen Wellen kam, verschwamm das Zimmer vor meinen Augen. Doch alles war weit, weit weg von mir. Nichts von alledem ging mich das Geringste an. Ich saß auf meinem Platz als unbeteiligter Beobachter, wie ein Besucher im Kino, der zwar die Handlung auf der Leinwand betrachten, aber nicht in sie eingreifen oder ihren Verlauf ändern kann.

Aus einem Reflex heraus wollte ich aufstehen. Es misslang. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Die Verbindung zur Außenwelt wurde fragiler. Ich schwankte vor und zurück. Viel, viel später erfuhr ich, dass der Meister mit mir zusammen das Unfallprotokoll aufgesetzt hatte. Mein Schweigen und das Hin-und-her-Wiegen fasste er als Bejahung oder Verneinung seiner Fragen auf, je nachdem, welche Aussage der jeweilige Tatbestand im Formular »Arbeitsunfall durch Selbstverschulden« erforderte.

Irgendwann ergriff der Meister meine rechte Hand und führte mit ihr einen Stift über das Papier. Mit meiner Unterschrift war es verbrieft und gesiegelt, dass ich keinerlei Schadensersatzforderungen an den Betrieb stellen würde, weil ich den Unfall selbst grob fahrlässig verursacht hatte.

Die beiden Arbeiter hoben mich aus meinem Stuhl und schleppten mich zur Sanitätsstation. Die Betriebsschwester schnitt mit einer Schere meine blutverkrustete Kombi auf und untersuchte die Wunde. Ich hörte sie aus weiter Ferne sagen: »Der Mann muss sofort ins Krankenhaus und operiert werden. Er schwebt in Lebensgefahr. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind innere Organe verletzt worden.« Die Schwester legte mir einen Notverband an.

Der Meister telefonierte inzwischen mit der Fahrbereitschaft. »Der Betriebswagen holt ihn gleich ab und bringt ihn in die Klinik. Sorgen Sie dafür, dass er die Polster nicht schmutzig macht.«

Die Zeit dehnte sich und zog sich wieder zusammen. Irgendwann saß ich in einem Wolga auf der Rückbank. Der Wagen fuhr. Dann hielt er an. Er war nicht weit gekommen. Wir befanden uns immer noch auf dem Betriebsgelände, und zwar in Sichtweite vom Werkstor.

Der Fahrer, ein junger Bursche mit Lederjacke, schmalem Oberlippenbärtchen und Elvisfrisur, hievte mich nach draußen und setzte mich auf einen Sandhaufen. Er sagte irgendetwas und deutete auf den Hinterreifen des Wolga. Schließlich verstand ich. Der Wagen hatte einen Platten und der Chauffeur wollte ein Ersatzrad holen.

Ich lehnte mit dem Rücken an einem Baum. Die Beine lagen weit ausgestreckt im gelben Sand. Der Verband färbte sich rot. Vom tiefblauen Himmel stach die warme Julisonne. Die Schmerzen von der aufgerissenen Bauchdecke strahlten in alle Richtungen. Mein Körper wurde zu einer einzigen, quälenden Wunde. Die Schläfen pochten, meine trockenen Lippen sprangen auf, und meine Zunge klebte am Gaumen. Ich röchelte.

Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ein Mann im blauen Dederonkittel stand vor mir. Ich blickte auf graue Sandalen und ausgeleierte gelbe Socken.

»Was ist mit Ihnen? Sind Sie verletzt?« Ich nickte. Eine einzelne Träne lief mir über das heiße Gesicht und kühlte es angenehm.

»Können Sie nicht sprechen?«

Mit der allergrößten Anstrengung schüttelte ich den Kopf.

Der Mann hüstelte: »Wissen Sie, ich bin nur ein einfacher Ingenieur. Ich würde Sie sofort mit meinem Auto ins Spital fahren, aber das ist strengstens untersagt. Keinerlei Dienstfahrten mit Privatautos, kein Verlassen des Betriebsgeländes während der Arbeitszeit ohne Genehmigung. Sicherlich wird der Krankenwagen bald hier sein.« Der Mann entfernte sich in Richtung Speisesaal.

Ich vermochte plötzlich das Kunststück zu vollbringen, aus meiner Person her­auszutreten und über mir zu schweben. Ich sah zu meinen Füßen den leidenden, gequälten Körper, mit dem mich nicht mehr viel verband. Wenn ich wollte, konnte ich meine Schwingen ausbreiten und in den Himmel fliegen. Ich probierte es, und es gelang mir auf Anhieb.

Ich war erneut ohnmächtig geworden und kam wieder zu mir, als mich der Ingenieur schüttelte. »Ich komme vom Mittagessen zurück, und Sie liegen immer noch hier in Ihrem Blut. Jetzt ist mir alles egal. Ich fahre Sie ins Krankenhaus. Warten Sie einen Moment. Ich bin gleich zurück. Ich hole nur meinen Wagen.«

Wieder gab es einen Schnitt. Das Nächste, was mir im Gedächtnis haften blieb, waren sanft zugreifende Hände, die mich auf eine mit Rollen versehene Liege legten. Ich schaute auf die hellen Neonröhren über mir, als ich lange Korridore entlanggeschoben wurde. Langsam versank ich wieder in einer warmen, weichen Watteschicht. Die Schmerzen verschwanden.

»Sie dürfen nicht einschlafen! Bleiben Sie wach!«, war das Letzte, was ich hörte, bis ich endgültig im Nichts versank.

Aber ich sah kein gleißendes Licht. Ebenso wenig zog mein gesamtes bisheriges Leben im Zeitraffer an mir vorbei. Vielleicht erwachte ich deshalb wieder. Diesmal befand ich mich auf der Männer-Unfallstation vom St.-Georg-Krankenhaus. Auf der einen Seite standen 15 Betten in einer Reihe, auf der anderen Seite ebenso viele. Jeder Patient besaß ein eigenes Nachtschränkchen. Außerdem gab es zwei Tische und zehn Stühle. Es stank nach menschlichen Ausdünstungen und Desinfektionsmitteln.

Links neben mir lag ein Dachdecker, der Tag und Nacht ununterbrochen stöhnte. Er war von der Leiter gefallen und hatte sich die Wirbelsäule gestaucht. Rechts von mir jammerte ein Zuhälter. Ein Konkurrent hatte ihm mit einer abgeschlagenen Flasche den Hals aufgeschlitzt. Schräg gegenüber greinte ein ungetreuer Ehemann. Seine Gattin hatte ihm eine Tranchiergabel bis zum Knauf in die Brust gerammt.

Ein Jahr darauf – ich konnte bereits seit einigen Wochen wieder ohne Schmerzen aufrecht gehen – las ich im Seminargebäude auf einem Anschlag am Schwarzen Brett, dass für den Studentensommer 1976 zwei Studenten mit einer Elektrikerausbildung gesucht würden. Sie sollten in Dranske an der Ostsee Stromleitungen in Bungalows verlegen. Ich meldete mich sofort, obwohl sich meine Kenntnisse auf diesem Gebiet darin erschöpften, dass ich als kleiner Junge einmal meine Puppenstube unter Verwendung von Klingeldraht und einer Flachbatterie erleuchtet hatte.

Tatsächlich wurden in den erst halbfertigen Bungalows noch gar keine Elektriker benötigt. Stattdessen verlegte ich von morgens um acht bis mittags um zwei Uhr Fußbodendielen. Anschließend ging ich an den Strand, um mich zu erholen. Meine Kommilitonen vergnügten sich unterdessen unter demselben blauen Himmel wie ich beim Kiesschippen in einer Leipziger Zementmischanlage.



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