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ОглавлениеWenn ich mich einsam fühle
Anselm Grün
In Gesprächen höre ich immer wieder die Klage: »Ich fühle mich so allein, so einsam. Keiner hat Zeit für mich. Vor allem abends, wenn ich allein in meiner Wohnung bin, habe ich das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt. Ich fühle mich verlassen von allen Freunden. Keiner ruft mich an. Keiner denkt an mich. Ich frage mich dann oft, welchen Sinn mein Leben hat. Mich vermisst ja doch kein Mensch.«
Die Bibel kennt solche Situationen der Einsamkeit. Im Alten Testament in den Klageliedern bedauert der Autor zunächst das Schicksal des Volkes Israel nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem: »Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder ist zur Fron erniedrigt. Sie weint und weint des Nachts, Tränen auf ihren Wangen. Keinen hat sie als Tröster von all ihren Geliebten. Untreu sind all ihre Freunde, sie sind ihr zu Feinden geworden« (Klagelieder 1,1f).
Diese Worte kann ich auch auf mein persönliches Leiden an der Einsamkeit beziehen: »Früher stand ich einmal im Mittelpunkt vieler Menschen; in meinem Beruf war ich anerkannt. Jetzt sitze ich einsam da, und niemand denkt mehr an mich. Was ich geleistet habe, das ist für immer vergessen.«
Im dritten Kapitel der Klagelieder bedenkt ein einzelner Mensch seine Einsamkeit. Er nimmt sie an und spürt zugleich die Hoffnung, dass Gott sie wandelt: »Er sitze einsam und schweige, wenn der Herr es ihm auflegt. Er beuge in den Staub seinen Mund, vielleicht ist noch Hoffnung. Er biete die Wange dem, der ihn schlägt, und lasse sich sättigen mit Schmach. Denn nicht für immer verwirft der Herr. Hat er betrübt, erbarmt er sich auch wieder nach seiner großen Huld. Denn nicht freudigen Herzens plagt und betrübt er die Menschen« (Klagelieder 3,28–33).
Wenn ich diese beiden Texte lese, erlaube ich mir, über meine Einsamkeit zu klagen und mich selbst zu bedauern, dass ich mich so allein fühle. Aber zugleich spüre ich mitten in meiner Klage die Hoffnung, dass Gott meine Einsamkeit verwandelt. Wenn ich mich in meiner Einsamkeit an Gott wende, bin ich schon nicht mehr ganz allein. Ich kann mit Gott über mein Alleinsein sprechen.
Der Schweizer Psychoanalytiker Peter Schellenbaum meint, die Antwort auf den Schmerz über mein Alleinsein sei, mein Alleinsein in ein All-Eins-Sein zu verwandeln. Wenn ich mich in meinem Alleinsein eins fühle mit Gott und mit allen Menschen, dann fühle ich mich getragen. Ich fühle mich nicht mehr allein gelassen, vergessen, verachtet. Ich bin zugehörig zur großen Gemeinschaft der Menschen. Ich spüre im Einssein mit Gott und mit den Menschen zugleich ein Einssein mit mir selbst, ein Einverstandensein mit mir als dieser einmaligen Person, die sich jetzt allein fühlt, die aber in der Tiefe ihrer Seele eins ist mit allen Menschen auf der weiten Welt. Dann bin ich nicht mehr fixiert auf mich selbst, sondern spüre die Verbundenheit mit allen Menschen und mit der Schöpfung.
Ein Text, der uns in der Einsamkeit trösten kann, ist für mich Jesaja 54. Die ersten Sätze lauten: »Freu dich, du Unfruchtbare, die nie gebar, du, die nie in Wehen lag, brich in Jubel aus und jauchze! Denn die Einsame hat jetzt viel mehr Söhne als die Vermählte, spricht der Herr. Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen. Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest!« (Jesaja 54,1f).
In diesem Text wird die Einsamkeit verbunden mit zwei anderen Nöten: der Erfahrung der Unfruchtbarkeit und des mangelnden Selbstvertrauens. Wer sich allein fühlt, hat den Eindruck, dass sein Leben keine Frucht bringt, dass niemand sich um ihn kümmert, dass man sein Leben lebt, ohne dass jemand anderer davon Kenntnis nimmt. Oft genug nagt das Gefühl des Alleinseins am Selbstvertrauen. Man macht sich Vorwürfe, warum man allein ist. Man ist offensichtlich nicht wichtig für die anderen. Man hat ja nichts anzubieten, fühlt sich langweilig. Im Gespräch kann man nichts zur Unterhaltung beitragen. So vergräbt man sich immer mehr in diese drei Gefühle: Ich bin einsam, ich bringe keine Frucht und ich habe kein Selbstvertrauen.
Wenn ich diesen Text in diese drei Haltungen hineinfallen lasse und für mich meditiere, dann kann er zum Trost werden, nicht zur Vertröstung. Ich kann erahnen und vielleicht auch glauben: Ja, ich bin einsam. Aber es gibt doch auch Freunde. Ich fühle mich mit vielen Menschen verbunden. Ich werde auch wahrgenommen und gesehen. Es liegt an mir, ob ich mich für die Menschen öffne und mich mit ihnen verbunden fühle. Ich werde spüren: Ja, gegenüber anderen kann ich nicht viel vorweisen. Aber mein Leben hat doch schon Frucht gebracht. Ich durfte anderen helfen, sie stützen. Ich war für andere schon ein Segen.
Für die ersten beiden Haltungen – Alleinsein und Fruchtlosigkeit – gelten die Worte der Verheißung. Es geht darum, diesen zu trauen. Für die dritte Haltung – das Selbstvertrauen – fordert uns der Text auf, selbst etwas zu tun. Wir sollen den Raum unseres »Zeltes« weit machen und die »Zelttücher ausspannen«. Ich darf nicht darauf warten, bis Gott mir von sich aus mehr Selbstvertrauen schenkt. Ich soll vielmehr seiner Verheißung vertrauen und selbst aktiv werden. Ich soll mich innerlich weiten.
Der Prophet spricht in Bildern: Ich soll den Raum meines Zeltes weit machen, damit viele Menschen darin Platz finden, damit ein Miteinander entstehen kann. Doch wie kann ich diese Bilder konkret umsetzen?
Für mich könnte da helfen: Ich setze mich hin und atme langsam ein und aus. Ich stelle mir vor, dass sich beim Einatmen mein Brustkorb weitet. Und mit dem Brustkorb weitet sich mein Herz. In der Weite des Herzens wird auch meine Fixierung auf mein mangelndes Selbstvertrauen aufgebrochen. Da ahne ich etwas von der eigenen Würde, vom eigenen Selbstwert. Mein Herz wird offen für die Menschen, die ich kenne. In diesem weiten Herzen finden viele Platz. Da bin ich nicht mehr allein. Wenn ich mein Herz weite, sind noch keine anderen Menschen da, die in mein Zelt eintreten. Aber ich bin offen für sie. In dieser Offenheit spüre ich schon eine Beziehung zu ihnen. Ich isoliere mich nicht mehr, sondern ich öffne mich, dass andere Menschen bei mir eintreten können.
Ansgar Stüfe
Kürzlich saß ich mit mehreren Personen zusammen, die unterschiedlich alt waren. Der Älteste schilderte schließlich seine Empfindungen, die ihn plagten. Vor allem fühle er sich einsam, sagte er. Niemand besuche ihn, niemand frage nach seinen Gedanken, und überhaupt werde er nur noch als Auslaufmodell bezeichnet.
Diese Schilderung hat mich getroffen, weil die Vorwürfe auch mich trafen. Ich fragte ihn nie nach seinen Ansichten und war auch noch nie auf die Idee gekommen, ihn zu besuchen. Warum wohl? Viele seiner Ansichten gefielen mir nicht und es war auch schon immer schwierig, ihm zu widersprechen. Dann wurde er in der Regel heftig und hielt bestimmte früher vorgetragene Ansichten nach Jahren noch als Vorwurf bereit. Ein solches Verhalten lädt andere nicht zur Unterhaltung ein. Andererseits traut sich auch niemand zu, genau diese Ursachen darzulegen. Denn auch das würde wieder zu Angriffen führen.
Diese Art von Einsamkeit ist also letztlich selbst verursacht. Gerade im Alter tritt solches Verhalten vermehrt auf.
Was könnte ihm also helfen? Offene Erklärungen sind meistens vergeblich, weil sie abgewiesen werden. Es hilft nur, Fragen zu stellen. Solche Menschen sollten sich erst einmal fragen, wen sie eigentlich mögen. Wie beurteilen sie ihre Umgebung? Gibt es Menschen, mit denen sie gern Kontakt haben möchten? Wenn sie sich über jemanden geärgert haben, sollten sie einmal darüber nachdenken, ob nicht eine Verzeihung fällig wäre. Oft erwarten sie eine Entschuldigung. Ohne Entschuldigung wollen sie nicht verzeihen. Jesus hat uns ein anderes Beispiel gegeben: Er verzeiht, bevor jemand in Reue und Zerknirschung fällt. Durch diese Verzeihung ohne Vorbedingungen öffnen sich die Menschen und können seine Liebe wahrnehmen. Es würde so vielen Menschen guttun, wenn sie mehr verzeihen könnten und ihre Zuneigung zeigen würden.
Es ist erstaunlich, welche Bagatellen zu Beziehungsabbrüchen führen. In unseren Missionsklöstern lebten die Missionare in unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Es gab das große zentrale Kloster und die vielen Pfarreien in der Umgebung. Einige Male im Jahr kamen alle im Kloster zusammen, wenn ein Fest gefeiert wurde oder wenn wichtige Beschlüsse zu fassen waren. In der Zwischenzeit waren die Missionare auf den Außenstationen oft alleingelassen. Einer von ihnen kam nur wenige Tage nach dem letzten Treffen wieder ins Kloster, weil er etwas vergessen hatte. Als der Abt ihn sah, sagte er: »Du bist aber oft hier!« Wahrscheinlich hatte der Abt sich keine großen Gedanken zu dieser Bemerkung gemacht. Der Missionar war aber so getroffen und verärgert, dass er mehrere Jahre lang nicht mehr in die Abtei ging. Bis ins hohe Alter klagte er über diesen Vorfall. Die Einsamkeit war der Preis.
Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu verzeihen, obwohl so Zusammenleben erst möglich wird? Die Verzeihung ist ein wirkliches Medikament in unserer Trostapotheke. Sie ist auch keine bittere Medizin, wie manche meinen. Sie muss nur auf Dauer eingenommen werden. Jesus sagt, dass wir sieben Mal sieben Mal verzeihen sollen – und das an jedem Tag. Es geht also um eine Grundhaltung.
Einsamkeit wird oft auch durch äußere Umstände ausgelöst. Jemand zieht in eine fremde Stadt, weil er einen neuen Arbeitsplatz bekommen hat. Das kann eine sehr schwierige Zeit werden. Zu allererst brauchen wir Geduld. Neue Bekanntschaften ergeben sich nicht in Sekunden. Trauen wir uns doch zu, Menschen kennenzulernen! Dazu gehört auch eine aktive Freizeitgestaltung. Jeder Mensch hat Vorlieben. Diese Lieben sollten wir pflegen, weil sie zu Kontakten mit anderen führen, die ähnliche Vorlieben haben. Dann kann Gedankenaustausch und gemeinsames Handeln die Einsamkeit beenden.
Bedrückender ist die Einsamkeit für ältere und hochbetagte Menschen, denen Bekannte und Verwandte wegsterben. Meine Großmutter wurde 90 Jahre alt. Ein paar Jahre zuvor erzählte sie mir, sie habe ausgerechnet, dass fünfzig ihrer Bekannten bereits gestorben waren. Sie war aber eine fromme Frau und ging täglich zum Gottesdienst. Das half ihr, diese Zeit zu bewältigen. Wer also alt wird, muss sich dieser Realität stellen, Menschen zu verlieren, weil sie eher sterben als man selbst.
In unserer Zeit erreichen sehr viele ein hohes Alter. Da wäre es wichtig, Kontakt zu Jüngeren zu haben, die man nicht so leicht überlebt. Menschen von heute haben oft niemanden, der ihnen zuhört. Das wäre die eigentliche Aufgabe vieler Älterer, sich als Hörer zur Verfügung zu stellen. Leider erzählen viele lieber über ihr eigenes Leben. Doch viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass ihr Leben so verlaufen ist wie das vieler anderer auch. Es ginge also darum, eine Haltung des Hörens zu entwickeln, die im Alter dann auch zur Verfügung steht.
Was wäre das für ein Segen für junge Menschen, wenn sie mit jemandem reden könnten, der keine negativen Kommentare abliefert. Ältere könnten aus ihrer Lebenserfahrung heraus Gelassenheit vermitteln und Mut machen. Ich selbst spreche äußerst gern mit jungen Menschen. Immer wieder bin ich erstaunt, wie sie auch heute über vieles nachdenken und ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Für die Älteren wäre damit die Einsamkeit beendet. Zuhören ist das große Geheimnis der menschlichen Begegnung.