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ОглавлениеWenn ich Angst habe
Anselm Grün
Angst kennt jeder. Sie gehört wesentlich zum Tier und zum Menschen. Im Tier erzeugt sie den Drang, entweder mit Kraft zu kämpfen oder möglichst schnell zu fliehen. Bei uns Menschen hat die Angst noch einen anderen Sinn. Sie will uns auf unser Maß aufmerksam machen und uns einladen, uns von falschen Erwartungen und Grundannahmen zu befreien, etwa von der, dass wir keinen Fehler machen dürfen, weil wir sonst abgelehnt werden. Aber oft tauchen Ängste in uns auf, die uns einfach nur lähmen. Wir geraten in Angst und können uns nicht dagegen wehren. Diese Art von Ängsten haben vielerlei Ursachen. Die Bibel erzählt uns von einigen, die über die Menschen kommen und sie bedrücken.
Im Alten Testament gibt es die Geschichte von Joseph, den seine Brüder in die Zisterne werfen, weil sie ihn loswerden, ihn töten möchten. Sie sehen, »wie er sich um sein Leben ängstigte« (Genesis 42,21). Wenn wir bedroht werden, haben wir Angst um unser Leben. Wir möchten gerne weiterleben. Das erfährt auch der Prophet Elija, als Isebel ihn verfolgt und ihn töten möchte. Die Angst treibt ihn an, vor ihr davonzulaufen (1 Könige 19,3). Auch König Saul kennt das Gefühl, als er sah, wie groß das feindliche Lager der Philister war. Er »bekam große Angst, und sein Herz begann zu zittern« (1 Samuel 28,5). Der Evangelist Lukas beschreibt uns die Angst von Eltern, die ihr Kind nicht finden können: Als Maria und Josef ihren zwölfjährigen Sohn nach drei Tagen im Tempel wiederfinden, sagt Maria zu Jesus: »Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht« (Lukas 2,48).
Das Buch der Weisheit im Alten Testament beschreibt die Angst der Menschen in Worten, die man heute wohl ähnlich in psychologischen Büchern finden könnte. Es geht darum, dass Gott die Israeliten, als sie aus Ägypten auszogen, in einer Feuersäule begleitete. Das machte den Ägyptern Angst. Das Buch der Weisheit, in dem deutliche Anklänge an die stoische Philosophie und Psychologie zu finden sind, erzählt nun, wie selbst die Zauberkünstler, die sonst anderen Menschen ihre Angst nehmen wollten, in eine Angst gerieten, die sie völlig durcheinanderbrachte: »Jene, die immer versprachen, Furcht und Verwirrung von der kranken Seele zu bannen, krankten nun selbst an einer lächerlichen Angst. Auch wenn nichts Schreckliches sie ängstigte, wurden sie durch raschelndes Getier und zischelnde Schlangen aufgescheucht und vergingen vor Furcht. Nicht einmal in die Luft wollten sie blicken, der man doch nirgends entfliehen kann« (Weisheit 17,8f).
Wenn also die Angst von einem Menschen Besitz ergreift, dann ängstigt er sich vor allem. Jedes Knarzen des Holzbodens macht ihm Angst. Ja, er kann sogar nicht mehr in die Luft schauen. Überall fühlt er sich verfolgt. Alles macht ihm Angst. Der Autor sieht als Grund für diese Angst das schlechte Gewissen: »Unter dem Druck des Gewissens befürchtet sie immer das Schlimmste« (Weisheit 17,10).
Wer ein schlechtes Gewissen hat, hat Angst vor allem. Als Heilmittel gegen diese Angst empfiehlt der Autor die eigene Vernunft. Er sagt: »Furcht ist ja nichts anderes als der Verzicht auf die von der Vernunft angebotene Hilfe. Je weniger man solche Hilfe erwartet, umso schlimmer erscheint es, die Ursache der Qual nicht zu bekennen« (Weisheit 17,11f).
Das ist eine erstaunliche Einsicht. Heute würden wir von der Psychologie her sagen: Ich muss den Grund meiner Angst erkennen. Ich muss durchschauen, was mir Angst macht. Vielleicht sind es Schuldgefühle. Vielleicht sind es auch traumatische Erlebnisse in der Kindheit. Nur wenn ich den Grund meiner Angst erkenne, kann ich damit umgehen. Wenn ich meine Angst mit meiner Vernunft anschaue, komme ich dadurch in eine gesunde Distanz zu ihr. Wenn ich jedoch auf die Hilfe meiner Vernunft verzichte, gerate ich immer tiefer in sie hinein. Und ich kann sie mir nicht erklären. Sie hat mich einfach im Griff.
Für mich ist ein Trosttext, den ich immer wieder in meine Angst hineinhalten kann, die Rede Jesu an seine Jünger, die er zu den Menschen schickt, damit sie seine Botschaft weiter verkünden: »Fürchtet euch nicht vor ihnen! Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können« (Matthäus 10,26–28).
Es sind hier zwei Ängste angesprochen, die durch die Worte Jesu aufgelöst oder verwandelt werden können. Das eine ist die Angst davor, dass die Menschen meine Schwächen oder meine Fehler oder meine Schattenseiten entdecken könnten. Wir wollen nach außen hin gerne eine fehlerfreie Fassade zeigen. Wir wollen unsere Schwächen hinter einem Schleier aus Perfektion und Coolness verstecken. So leben wir ständig in der Angst, die anderen könnten hinter die Fassade sehen und dort entdecken, wie kleinkariert und ängstlich, wie engstirnig und empfindlich wir sind.
Jesus sagt uns: Du brauchst keine Angst vor dem Chaos in deinem Inneren zu haben. Gott sieht alles. Und Gott nimmt dich an mit allem, was in dir ist. Vor ihm brauchst du nichts zu verbergen. Er kennt dich durch und durch und liebt dich so, wie du bist. Vertraue dieser Liebe Gottes, dann vergeht dir deine Angst. Du musst den anderen nicht deine Fehler und Schwächen sofort offenbaren. Aber du brauchst keine Angst zu haben, wenn sie hinter deiner Fassade auch manche Schwächen entdecken. Du stehst dazu, Gott steht dazu. Dann können dich die Menschen nicht zu Fall bringen.
Die zweite Angst, die Jesus hier anspricht, ist die Angst vor denen, die den Leib töten könnten. Es ist die Angst, von anderen verletzt zu werden. Das bezieht sich nicht nur auf die körperlichen, sondern auch auf die seelischen Verletzungen. Wir haben Angst, dass andere uns in der Öffentlichkeit angreifen und uns kränken könnten. Dann versuchen wir uns zu schützen, indem wir eine Mauer um uns aufbauen. Doch diese Mauer schirmt uns nicht nur vor anderen ab. Sie schneidet uns auch von der Beziehung zu ihnen ab.
Jesus will uns sagen: Die Menschen können nur deinen Leib oder deine Psyche verletzen, aber nicht den innersten Raum der Stille in dir. In diesen können die verletzenden Worte nicht vordringen. Da bist du geschützt, da wohnt Gott in dir. Und wo Gott in dir wohnt und in dir herrscht, hat kein Mensch Macht über dich. Da bist du wirklich frei. In diesen Raum der Stille kann auch die Angst nicht eindringen. Hier bist du frei von jeder Angst.
Ansgar Stüfe
Das Gefühl der Angst wird bei uns im Gehirn ausgelöst. Bestimmte Teile dessen sind darauf spezialisiert, uns das Gefühl von Bedrohung zu vermitteln. Diese Gehirnteile müssen aber durch bestimmte Reize aktiviert werden. Bei Tieren scheinen viele dieser Reize schon »programmiert« zu sein. Sie reagieren daher auf bestimmte Geräusche oder Gerüche mit Angst. In der afrikanischen Wildnis kann man das gut beobachten: Wittern Gazellen Löwen, rennen sie sofort weg. Einige Vögel fliegen beim Erspähen von Raubtieren auf und geben bestimmte Schreie von sich. Diese wiederum lösen Angst und Flucht bei dadurch bedrohten anderen Tieren aus. Angst ist also primär Lebensschutz.
Es ist immer noch umstritten, welche Angstauslöser beim Menschen angeboren sind. Die allermeisten entstehen jedoch durch Lebenserfahrung. Eine meiner Tanten war Schneiderin und hatte ein großes Atelier. Dort gab es Scheren und Bügeleisen, die eigentlich gefährlich für Kinder waren. Die vielen kleinen Nichten und Neffen, zu denen auch ich gehörte, hatten aber gar keine Angst vor Scheren oder Bügeleisen. Meine Tante sagte mir damals, es ist völlig nutzlos, Kinder vor der Gefahr zu warnen. Sie werden erst dann Angst haben, wenn sie sich am Bügeleisen verbrennen und mit der Schere schneiden. Das ist ein gutes Beispiel, wie Angst zu unserem eigenen Schutz entsteht.
Der Mensch hat aber nicht nur Angst vor wirklichen Gefahren. Viele leben in Angst vor dem Unbekannten oder anderen, völlig ungefährlichen Dingen. Mäuse sind sicher harmlose Tiere. Sobald aber eine Maus auftaucht, rennen manche Menschen davon und klettern aus Furcht vor ihnen auf Stühle. Hier geht es oft um Kindheitserfahrungen, die Angst ausgelöst haben. Wie kann man damit umgehen?
Es gibt die Theorie, dass jeder Mensch ein Kleintier oder Insekt hat, vor dem er sich ekelt oder fürchtet. Dann muss man solche Tiere meiden. Wenn diese Furcht vor dem Tier aber zu einem ständigen Angstzustand führt, sollte man aktiv dagegen angehen. Ein Beispiel ist Höhenangst. Recht viele Menschen können schon, wenn sie auf einer Treppe stehen, nicht nach unten schauen. Das behindert natürlich im Alltag sehr. Wie man damit umgehen kann, dafür gibt es ein Beispiel aus dem Leben Johann Wolfgang von Goethes. Er beschreibt es in seinen Memoiren »Dichtung und Wahrheit«. Als junger Mensch hatte er nämlich auch große Höhenangst. Er studierte damals in Straßburg und versuchte, auf den Turm des Straßburger Münsters zu klettern. Er kam nicht weit, musste sich auf die Treppenstufe setzen und die Augen schließen. Das gefiel ihm aber gar nicht. Er wollte doch auf die Spitze des Turms steigen! Beim nächsten Mal stieg er mit geschlossenen Augen weiter nach oben, setzte sich dann wieder, sodass er nicht fallen konnte. Dann öffnete er die Augen und hielt eine Weile den Blick aus. Das wiederholte er mehrere Tage lang. Langsam konnte er den Anblick immer länger aushalten. Nach einigen Wochen gelang ihm der Aufstieg zur Spitze. Bei späteren Reisen stieg Goethe auf hohe Berge und hatte keine großen Probleme mehr.
Dieses Beispiel ist die erste Verhaltenstherapie, die in der Literatur dokumentiert ist. Viele unserer Ängste können wir durch bestimmte Übungen in den Griff bekommen, was die Lebensqualität erhöht. Das kann man oft nicht wie Goethe ganz allein machen. Manchmal benötigen wir sogar professionelle Hilfe. Aber in der Regel ist Hilfe möglich.
Es gibt aber Menschen, die von viel mehr Ängsten geplagt werden. Oft projizieren sie diese auf allgemeine Probleme und kommen dann überhaupt nicht mehr mit ihrem Leben zurecht. Dazu gehört die Angst vor allem Fremden. Diese Menschen erklären, dass sie Angst haben, mit Fremden in ihrem Land zu leben, und fühlen sich in ihrer Kultur bedroht. In katholischen Kreisen gibt es die Behauptung, dass der Stephansdom in Wien im Jahr 2050 eine muslimische Moschee sein wird. Das löst bei einer Reihe von Menschen Ängste aus, die beim Anblick jeder Frau mit Kopftuch getriggert wird. Solche Menschen reagieren dann wie Gazellen, die einen Löwen wittern.
Vernünftige Argumente helfen da oft nicht viel. In den meisten Fällen geht es um tieferliegende Auslöser. Diese Menschen können nur Hilfe finden, indem sie sich einem Gesprächspartner erklären. Sie müssen ihrer Angst mehr nachgehen und die Ursachen finden. Wer in seiner Kindheit wenig Geborgenheit gefunden und nie erlebt hat, wie Gefahr bewältigt wird, ist besonders gefährdet. Dann machen sich Tiefenängste bemerkbar. Es sind Ängste, die um die ganze Existenz kreisen. Gerade für diese Menschen ist die Botschaft Jesu in besonderer Weise hilfreich. Habt keine Angst!, ist eine ihrer Kernaussagen. Es ist geradezu tragisch, wenn tief fromme Christen in Angst vor Fremden verfallen. Da stimmt etwas mit dem ganzen Gottesbild nicht. Pater Anselm hat das genau geschildert.
Ich hatte als Kind ein prägendes Erlebnis: In unserer Pfarrei wurden alte Bilder ausgeräumt. Es handelte sich um Schaubilder für den Religionsunterricht, die nicht mehr dem Stand der Zeit entsprachen. Ich war sechs Jahre alt und lief neugierig umher. Da entdeckte ich ein Bild, das an der Wand lehnte und in etwa meiner damaligen Körpergröße entsprach. Es zeigt den Tod des reichen und des armen Mannes. Der arme Mann starb im Kreis seiner Familie, die alle im Gebet versunken waren. Von oben öffnete sich der Himmel und Engel stiegen herab, um die Seele des Sterbenden in Empfang zu nehmen. Weit in der Ecke sah man einen kleinen Teufel, der keine Chance hatte, die Seele zu erobern. Ganz anders der Tod des reichen Mannes. Er lag einsam in seinem Bett. Im Zimmer waren Säcke mit Geld. An seinem Bettende brannte schon ein Feuer, das die Hölle zeigte. Aus diesem Feuer entstieg ein Teufel, der ihn bei den Haaren packte, um ihn in die Hölle zu ziehen. Kleinen Engeln in der Ecke blieb nur die Flucht. Sie hatten ähnlich wie der kleine Teufel der anderen Seite keine Chance auf die Seele.
Mich packte die Darstellung der Hölle viel mehr als die des Himmels. In der Nacht wachte ich mit großer Angst auf. Ich war davon überzeugt, dass der Teufel auf meiner Bettdecke sitzt und mich packen wird. Plötzlich stand mein Vater neben dem Bett. Ich hatte wohl geschrien. Ich erzählte ihm von meinen Ängsten. Da hat er recht weise keine großen Erklärungen gegeben, sondern mir gesagt: »Jetzt betest du ein Vaterunser und ein Ave Maria, dann kann der Teufel dir nichts antun.« Ich tat, wie geraten, und hatte nie wieder in meinem Leben große Angst vor imaginären Dingen. Dieses Beispiel zeigt, dass wir nicht mit großen Erklärungen anrücken dürfen, sondern dass wir Mittel zur Angstbekämpfung brauchen.