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ОглавлениеBernd Deininger
Du sollst deines Bruders Hüter sein · Genesis 4,1–16
In der Geschichte von Kain und Abel zeigt sich eine menschliche Urerfahrung. Das Motiv, die Rivalität zwischen zwei Brüdern, taucht in vielen unterschiedlichen mythischen Erzählungen auf. Auch wenn die Erzählung von Kain und Abel die älteste ist – das Alte Testament steckt voller Mordgeschichten: In der Folge der Patriarchate werfen Jakobs Söhne ihren verhassten Bruder, der immer bevorzugt wurde, in die Grube. In der Zeit der Könige lässt David den Ehemann der von ihm begehrten Batseba töten. Sein Sohn Absalom wiederum wird getötet, weil er seinen Halbbruder Amnon ermordet hat. Kann das bedeuten, dass die Aggression dem Menschen angeboren ist? Wie wird das Töten vom sozialen Umfeld mitgestaltet?
Es gibt aus vielen Fachdisziplinen zahlreiche Erklärungsversuche für den Sadismus und die Grausamkeit, mit der Völker sich untereinander, aber auch Einzelne einander traktieren. Die Bibel ist sicherlich nicht dazu geschrieben worden, um die Strukturen geschichtlicher Ereignisse zu beschreiben. Dennoch wird in manchen biblischen Geschichten herauszuspüren versucht, was sich an der Oberfläche zeigt und sichtbar wird. Bevor Menschen zu Mördern werden, müssen sie selbst eine Geschichte durchlaufen haben, die sie verängstigt und schwer beeinträchtigt hat. Auch ein späterer Mörder kam als unschuldiger Säugling auf die Welt und wurde durch seine psychische Entwicklung zu dem gemacht, was er später wurde. Auch ein Mörder muss sich selbst wie vernichtet gefühlt haben.
Vielleicht kann uns die Beschäftigung mit diesem Bibeltext einige Erklärungen liefern. Hier wird vor Augen geführt, was eine Besonderheit des menschlichen Daseins ist: der Fluch, die Tragik, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das selbst der Würger seines Nächsten werden kann. Die Frage lautet, was ist das Wesen, wenn ein Mensch gegen den anderen oder ein Volk gegen ein anderes aufsteht? Warum nehmen Krieg, Feindschaft, Mord und Vergewaltigung ein so breites Feld in der menschlichen Geschichte ein, dass wir in all dem, was wir bisher über den Menschen sagen können, keine Erklärung finden?
Wenn wir diese überlieferte Geschichte aus heutiger Perspektive betrachten, könnten wir uns Fragen stellen nach der Persönlichkeit Kains, nach seiner Familie, nach den menschlichen Beziehungen, in denen er stand, bis hin zu den Ansprüchen, die Gott an ihn stellte. Zudem: Was ging dem Mord voraus und wie das Leben danach weiter? Gibt es nicht auch Sympathien für den Mörder Kain, der an sich und der Welt leidet? Nach der biblischen Erzählung ist ihm nach dem Mord sein Leben gelungen: Er arbeitet, zeugt Nachkommen und lebt in einem Sozialgefüge. Kain, dieser schuldbeladene Mann, löst Fragen, Projektionen und Identifikationen aus.
Wir können das, was sich im Menschen abspielt, wenn Kain als Mörder seines Bruders aufsteht, nie anders begreifen, als dass sich ein Zerwürfnis wiederholt, das allem zugrunde liegt. Ist nicht das Zerbrechen der menschlichen Gemeinschaft nur die Widerspiegelung des Zerwürfnisses des Menschen mit seinem Gott? Was sich im Inneren eines Menschen abspielt, wenn er sich von Gott zurückgewiesen und gedemütigt fühlt, das tritt nach außen als eine zerstörerische Kraft, die unter den Menschen wirkt. Wenn wir uns den Genesis-Text noch einmal anschauen, begegnet uns ein Gott, der unheimlich und schrecklich erscheint. Es findet sich nichts Bergendes, nichts Versöhnliches, kein Gott mehr, der tröstet, sondern nur noch einer, der rächt. Es wirkt so, als ob Gott in gewisser Weise darauf hinweisen würde, dass nach der Trennung des Menschen von seinem Schöpfer auch die Gemeinsamkeit der Menschen selbst extrem gefährdet ist und dass sich unter ihnen eine Angst breitmacht, vom anderen bedroht und verfolgt zu werden. Durch die Trennung und das Zerwürfnis zwischen Gott und Mensch ist der Glaube an etwas Jenseitiges, etwas Göttliches verlorengegangen. Es bleibt nur noch die naturwissenschaftlich-materialistische Weltsicht.
Das Bild in der biblischen Geschichte zeigt uns nach dem Hinauswurf aus dem Paradies einen Menschen von zunächst äußerster Friedfertigkeit. Kain wendet sich zu Gott mit den Früchten des Ackers und Abel bringt von den Erstlingen seiner Schafherde dar. Diese Szene zeigt sich zunächst als unverdächtig. Und dennoch taucht schon hier eine wesentliche Frage auf: Was geht in Menschen vor, wenn sie glauben, dass sie Gott Opfer bringen müssen? Können wir uns vorstellen, dass in einer Paarbeziehung, in der beide sich lieben und miteinander glücklich sind, einer auf die Idee kommt, er müsste dem anderen etwas opfern, um womöglich noch ein bisschen mehr geliebt zu werden? Erst wenn wir diese Frage stellen, können wir das Schreckliche, das hier unter dem Deckmantel des Harmlosen auftritt, begreifen. Wir haben mit Kain und Abel zwei Menschen vor uns, die nur glauben können, von Gott geliebt und beschützt zu werden, wenn sie Opfer darbringen – und zwar das Beste, das sie haben. Das Gefühl, von Gott nur geliebt zu werden, wenn Opfer gebracht werden und etwas geleistet wird, kann nur dann entstehen, wenn sich vorher ein Gefühl von Abgelehnt- und Ausgestoßensein eingestellt hat. Dieses Grundgefühl wird die Situation von Kain und Abel am ehesten beschreiben. Es handelt sich um zwei Menschen, die sich nicht vorstellen können, nur wegen ihrer bloßen Existenz und ihrem So-Sein gemocht und geliebt zu werden. Es gibt viele Menschen, die das Gefühl haben, das Recht, auf dieser Welt zu leben, hinge davon ab, dass sie alles tun, was von ihnen verlangt wird. Manchmal so, als ob es eine Schuld zu begleichen gäbe, die sie vielleicht gar nicht selbst auf sich geladen haben, die aber doch das gesamte eigene Dasein durch und durch prägt.
Ich denke dabei zum Beispiel an jene Kinder, die bei einem One-Night-Stand gezeugt wurden und beide Elternteile niemals vorhatten, zusammenzubleiben. Oder jene, die aus einer destruktiven, gewalttätigen Beziehung heraus entstanden sind und die ihre Mütter durch ihre Anwesenheit immer wieder an diese destruktiven Szenen erinnern. Oder auch die Kinder, die nur einen Zweck erfüllen, zum Beispiel, ein Selbstobjekt – etwas, das das Selbstwertgefühl stärkt und Identität stiftet – für die Mutter zu sein. Dieses Gefühl, abgelehnt zu werden, eigentlich nur einen Zweck zu erfüllen oder gar nicht erst geboren werden zu sollen, nötigt viele Menschen dazu, sich mit besonderem Fleiß, einer besonderen Anstrengung und einer besonderen Duldsamkeit der Außenwelt gegenüber hervorzutun. Es geht also um das fundamentale Gefühl, anerkannt zu werden in seinem So-Sein und angesehen zu werden. Dieses Gefühl ist so zentral und wesentlich, dass es jeden Menschen betrifft.
Daher kann man sagen: Kain und Abel, das sind wir alle. Kein Mensch glaubt wirklich von Grund auf, dass er so, wie er ist, genügt, ausreicht, liebenswert ist. Für viele wäre das zu einfach, zu bequem – geradezu zu naiv.
Viele Kinder hören von ihren Eltern in etwa: »Wenn du gut und im Frieden mit uns leben willst, dann musst du dich anstrengen, dass aus dir einmal etwas (Gutes) wird.« Spätestens im Kindergarten wird dies den Kindern schon beigebracht und so zieht sich dieses Denken durch die gesamte Kinder- und Jugendzeit bis ins Erwachsenenleben hinein: Du wirst geliebt für das, was du leistest und was du hervorbringst.
In dem Film »Ich will doch nur, dass ihr mich liebt« von Rainer Werner Fassbinder bildet sich die Geschichte von Kain und Abel in einem gewissen Sinn ab. Er erzählt von einem jungen Mann, der zum Mörder wird, weil er auf verzweifelte Weise die Liebe seiner Freundin erringen möchte. Er tut alles, was er kann: bringt Blumensträuße, die überdimensioniert sind, schreibt Briefe und wirbt um sie in einem Übermaß. Sie hält das nicht aus und empfindet es als Belästigung. Sie fühlt sich von ihm bedroht, sodass sie ihm so gut wie möglich aus dem Weg geht. Er aber erlebt dies als Ablehnung und Zurückweisung, was ihn so in seinem Selbstwertgefühl kränkt, dass es zu der Mordtat kommt, die es ihm dann noch unmöglicher macht, von irgendjemandem geliebt zu werden.
Warum ist das so? Wenn wir noch einmal auf unseren biblischen Text blicken, so schaut Gott auf Abel und seine Gabe, aber auf Kain schaut er nicht. Wieso hat Gott nicht beide in gleicher Weise angeschaut? Liegt nicht darin auch eine Mitschuld an dem Mord?
Wenn wir so fragen, werden wir in die Irre gehen. Denn was die Bibel in dieser Geschichte erklärt, ist erschütternd: Gott bleibt, wie er ist. Auf der Seite Gottes hat sich nichts verändert. Aber auf der Seite der Menschen erscheint es ganz anders. Daraus entsteht das Problem. Kein Mensch kann in dem Gefühl, abgelehnt zu sein, an irgendeinen gerechten Gott glauben. Für ihn wird es viele Gründe geben zu sagen: Der andere neben mir ist der Attraktivere, der Bessere, der Wichtigere, unabhängig davon, worauf sich diese Annahme gründet. Irgendetwas hat der andere, was man selbst nicht hat, und manchmal ist es nur, dass er anders ist. Das Gefühl, selbst wertlos zu sein, ist oft so tief verwurzelt, dass es sich buchstäblich in jeden anderen hineinprojiziert. Es ist ein ständiger Kampf des einen gegen den anderen, der aus dem Gefühl entsteht, abgelehnt und nicht akzeptiert zu sein. Wir müssen davon ausgehen, dass dieses Gefühl Kain begleitete. Er hat alles gegeben, was er hatte. Er hat alles getan, was er konnte. Mehr ist ihm nicht möglich. Und nun mit ansehen zu müssen, dass sich am Ende alle seine Bemühungen, alle Anstrengungen nicht gelohnt haben, ist für ihn nicht auszuhalten. Er fühlt sich abgeschoben und in die zweite Reihe gestellt.
Stellen wir uns eine Familie vor. Die Mutter übertrug nach der Geburt des zweiten Kindes ihre Mutterliebe von dem erstgeborenen, schwierigen Sohn (Kain) auf den fröhlichen und zugewandten zweiten Sohn (Abel). Kain erleidet dann den Rückzug der Mutter als lebensbedrohend. Sie wird sich mit Kain auseinandersetzen und ihn dafür zurechtweisen, wenn er auf seinen Bruder Gefühle wie Zorn, Hass und Neid entwickelt. Doch wenn die Mutter ihn schon ablehnt, gibt es noch immer den Vater. Stellen wir uns ihn als einen verschlossenen, wortkargen Menschen vor, so wird auch dieser ihm nicht die Angst nehmen können, nun abgeschoben und ungeliebt zu sein. In seinem Roman »Jenseits von Eden« hat John Steinbeck die Geschichte von Kain und Abel romanhaft verarbeitet. Er beschreibt zwei Brüder namens Caleb und Aaron, die beide um die Liebe des Vaters ringen. Der Vater hat aber Aaron lieber als Caleb. Caleb versucht auf unterschiedliche Weise, sich die Anerkennung seines Vaters zu erwerben, zum Beispiel, indem er Bohnen zieht und diese gut verkaufen kann, um damit die Schulden seines Vaters zu begleichen. Der Vater nimmt aber das Geld nicht an. Aaron hingegen wird von seinem Vater immer gelobt und bevorzugt. Caleb ist so verzweifelt, dass er seinem Bruder Aaron erzählt, seine Mutter sei eine Hure geworden. Die Scham über die Mutter führt dazu, dass sich Aaron freiwillig zum Kriegsdienst meldet – in dem er möglicherweise umkommen wird.
Es ist die bekannteste Geschichte der Welt, schreibt Steinbeck, denn sie ist jedermanns Geschichte. Es ist die sinnbildliche Geschichte der menschlichen Seele. Die größte Angst, die ein Kind befallen kann, ist die, nicht geliebt zu werden. Jeder Mensch hat wohl in größerem oder kleinerem Ausmaß solche Gefühle verspürt, die in der Folge in Zorn und Hass münden und zu Taten führen, die uns schuldig werden lassen. Das ist ein Mechanismus, der in die Geschichte der Menschheit eingegraben ist. Darin liegt vieles begründet: Ein Kind, dem die Liebe verweigert wird, nach der es sich sehnt, lebt seine Aggressivität manchmal dadurch aus, dass es Spielsachen zerstört oder Tiere quält. Andere stehlen, um sich mithilfe von Geld oder Dingen Liebe zu sichern. Immer wieder resultiert daraus Schuld und Rache und weitere Schuld. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Schuldbewusstsein kennt, auch wenn es nur kurz aufscheint. Darum ist diese alte biblische Geschichte so bedeutsam, weil sie ein Spiegel der verborgenen, verworfenen, schuldbewussten Seele ist. Äußerst verzweifelt sieht Kain sich ungesehen und abgelehnt – mit einer einzigen Erklärung: Es gibt neben ihm Abel, seinen Bruder. Er ist der Bessere, der Bevorzugte. Könnte er ihn ausschalten, wäre alles gut. Er wäre dann endlich allein mit seinem Gott und kein anderer könnte sich mehr dazwischenschieben.
In vielen Familien stellt es sich genauso dar: Da kommt eine jüngere Schwester oder ein Bruder zur Welt. Schon das genügt, um ein labiles Gleichgewicht zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind zu erzeugen. Dieses neue Kind ist »überzählig«, es ist zu viel auf der Welt, zumindest in den Augen dessen, der sich einfach durch die Anwesenheit des anderen aus seinem Paradies vertrieben fühlt. In anderen Familien erscheint dem Jüngeren der Ältere über alle Maßen bevorzugt. Er darf Dinge, die es selbst nicht darf. Mit ihm tauschen die Eltern Gedanken aus, die sie ihm selbst vorenthalten. Allein der Altersunterschied kann so viel an Neid heraufbeschwören, dass das Zusammenleben unter den Geschwistern umso schmerzlicher werden muss, je weniger sie der Liebe ihrer Eltern gewiss sind.
Dies, generalisiert betrachtet als Verhältnis unter all den menschlichen Schwestern und Brüdern, ist die Geschichte von Kain und Abel. Wäre der andere erkennbar schlechter, so könnte man gut mit ihm leben. Aber gerade die Eigenschaften, die gut an ihm sind, die man loben müsste, die eine Auszeichnung verdienen, werden zur Gefahr. Um Gefühle jedoch grundsätzlich zu ändern, müsste der eine dem anderen sagen: »Als mein Bruder bist du nicht mein Feind, nicht meine Konkurrenz, du nimmst mir nicht das weg, was ich brauche, sondern ich erkenne dich an in deinen Vorteilen und Vorzügen.« Eine solche Aussage kann nur treffen, wer selbst das Gefühl hat, anerkannt und akzeptiert zu sein. Wie schwer das ist, zeigt uns die vorliegende Geschichte. Kain wird sein ganzes Leben lang umgetrieben, er wird seine Heimat finden in der Heimatlosigkeit, Grund finden in der Grundlosigkeit und zu Hause sein im Unbehausten.
So erleben wir, dass die Bibel an dieser Stelle eine bittere, fast bösartige Kulturgeschichte der Menschen nacherzählt. Es endet damit, dass der Mörder Kain auf einem verfluchten Boden als Flüchtling sesshaft wird und später sein Sohn Henoch zum Gründer der ersten Stadt heranwächst. Das gibt uns Hoffnung, dass Gott trotz der furchtbaren Tat ihn und seine Nachkommen nicht verlässt.
Die altjüdische Konflikt- und Mordgeschichte von Kain und Abel ist noch nicht zu ihrem Ende gekommen. Nach mehr als zwei Jahrtausenden erscheint sie immer noch als schmerzliche Zeitgeschichte der Menschheit. Das Lebensmuster aus Aggressivität und Lebenswillen, Mord und Erkennen, aus Verweigerung, Frust und Flucht zeigt sich hier exemplarisch. Die Aktualität des Konfliktes in dieser Geschichte kann unserem sozialen Blick auf die biblische Geschichte und unserer eigenen Gegenwart helfen. Das Schwierigste zwischen den Menschen ist bis heute das Zusammenleben in Frieden. Eine geschwisterliche Gesellschaft – wer wollte das nicht? Dann müsste auch der andersartige und sogar der konkurrierende Kain Bruder bleiben oder werden dürfen. Dies wäre der biblische Auftrag seit den Tagen nach dem Entstehen dieser Geschichte.
Möglich ist dies, wenn wir spüren, dass wir Vertrauen in Gott haben dürfen: geliebt zu werden, nur weil wir sind. Dies wäre das Fundament, um Hass, Feindschaft, Mord und Krieg untereinander zu überwinden.