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1. Des Richters letztes Urteil

Donnerstag, Richter Mühsams Todestag

Ibrahim Mühsam (63) galt seit Jahren als der unbequemste Vorsitzende am Strafgerichtshof Köln. Unbequem, aber nicht ungerecht. Im Gegensatz zu seinen Kollegen hinterfragte Mühsam Details, über die andere Richter hinwegzugehen pflegten.

Staatsanwälte mochten ihn nicht, weil er sich nicht von ihnen einlullen ließ. Verteidiger mochten ihn nicht, weil er sich selten auf Kompromisse einließ.

Trotzdem oder gerade deswegen wurde er ausnahmslos in Juristenkreisen respektiert, geachtet und sogar als das empfunden, was alle Richter sein sollten, aber selten sind: unparteiisch. Unter Mühsams Vorsitz gab es keine wortgewaltigen Dispute. Der Richter erteilte das Wort, der Richter entzog das Wort. Er quittierte Beleidigungen umgehend und ohne Vorwarnung mit Ordnungsgeldern, verwies Zwischenrufer aus dem Publikum sofort des Saales und duldete kein Gerangel oder Gemeckere auf den Zuschauerrängen. Ein laut werdender Staatsanwalt wurde umgehend von ihm zur Ordnung gerufen. Ein aufmüpfiger Strafverteidiger wurde von ihm gemaßregelt. Er hatte seine strikten Regeln, und alle befolgten strikt seine Regeln. Unter dem Strich hatte es nie einen ersichtlichen Grund gegeben, seinen Führungsstil zu kritisieren.

Daher sollte diesbezüglich besonders sein letzter Prozess, dem er wenige Stunden vor seinem Versterben vorsaß, einigen Leuten noch sehr zu denken geben.

Das Verfahren gegen Klaus Hummel (21) wegen des Doppelmordes an Wilfried Manherr (30) und Walter Hack (29) lag Richter Mühsam von Anfang an schwer im Magen. Vieles sprach eindeutig gegen den Angeklagten und nur wenig für ihn.

Mühsam hatte sich in den ersten drei Prozesstagen ein sehr genaues Bild von den Taten, den Umständen, den Zeugen, den Opfern und vom Angeklagten gemacht. Überwiegend hatte er es der Anklage und der Verteidigung überlassen, die Fragen zu stellen, und ihnen in Maßen erlaubt, gelegentlich ihre Zwischeninterpretationen kundzutun. Wie bereits erwähnt, hatte er sich im Wesentlichen darauf beschränkt das Wort zu erteilen oder zu entziehen. Da die Staatsanwältin Antonia Wimmer (34) und der Rechtsanwalt Volker Liebmann (46) bereits mit seinem Führungsstil von früheren Prozessen her vertraut waren, hatten sie sich artig seiner Moderation angepasst.

Alle anderen Richter hätten bei einem Doppelmord mindestens sieben Sitzungstage veranschlagt. Mühsam meinte aber, schon jetzt genug gehört zu haben, um ein Urteil fällen zu können. Die gesamte Anklage basierte auf Schwammigkeiten.

Um die wenigen Zweifel, die er noch hatte, auszuräumen, zitierte er eine halbe Stunde vor der anberaumten vierten Sitzung Antonia Wimmer, Volker Liebmann und den Hauptkommissar Harald Steiner, der den Fall bearbeitet hatte, in sein Richterbüro.

Der Richter sprach sogleich Klartext. „Meine Dame, meine Herren, ich kann es drehen oder wenden, wie ich will, aber der angeklagte Herr Hummel ist meines Erachtens nicht überführt. Was mir vorgetragen wurde, ist von geringem Gehalt. Da hieß es, Herr Hummel sei ein Alkoholiker, der in einem gewissen Zyklus von nüchtern und beschlagen zu lustig wechselt, dann zu nörglerisch, schließlich zu aggressiv, um dann nach einer Pause von zwei Tagen der Apathie wieder nüchtern zu sein. Die beiden Morde wurden nicht von einer Person ausgeführt, die halbwegs weggetreten ist. Sehen Sie das anders?“

Sofort erfolgte Liebmanns Reaktion. „Natürlich nicht.“

Anders die Wimmer. „Gerade der verwirrte Geist kann seltsame Dinge projizieren.“

Mühsam schien keinem der beiden Kommentare eine Bedeutung beizumessen und wandte sich nahezu demonstrativ KHK Steiner zu. „Was ist Ihre Meinung?“

Steiner zeigte sich ziemlich desinteressiert, während er antwortete. „Ich pflichte Ihnen bei, Herr Vorsitzender, Klaus Hummel ist in keinem Punkt der Anklage überführt.“

„Aber Herr Steiner“, regte sich die Wimmer auf, „Sie selber haben doch sämtliche Beiträge geliefert, die zur Anklage geführt haben.“

Hierauf widersprach Harald energisch. „Meine Leute und ich haben Beiträge geliefert, aber die Entscheidung, daraufhin eine Anklage zu erheben, lag in Ihrem Ermessen.“

Mühsam brach diesen Abschnitt der Diskussion entschieden ab. „Frau Wimmer, meine Herrn, wir brauchen gar nicht über den Geisteszustand des Herrn Hummel während der Tatzeiten zu diskutieren, nicht über seine Alibis oder Motive. Die Beisitzer und ich werden darüber zu entscheiden haben, ob ein junger Mann für fünfzehn Jahre oder mehr hinter Gittern wandert oder nicht. Wenn Ihnen jetzt nichts Besseres einfällt, als was Sie mir während den letzten drei Sitzungstagen vorgetragen haben, werde ich mich gezwungen sehen, den Angeklagten in dubio pro reo freizusprechen.“

„Aber Herr Vorsitzender…“, sprudelte es aus dem Mund der Staatsanwältin hervor, ohne dass eine Fortsetzung folgte.

Ehe das überhaupt geschehen konnte, ergriff Mühsam wieder die Parole. „Noch habe ich mir kein endgültiges Urteil gebildet. Hummel ist nicht der Mann, dem ich meine Spargroschen anvertrauen würde. Er ist aber auch nicht der Typ, der mir beim bloßen Ansehen Angst einflößen könnte, wenn ich ihm im Dunkeln auf der Straße begegnete. Mich hat mein Gefühl für Menschen noch selten getäuscht.“

Wie untertänige Lakaien beugten sich gleichzeitig Liebmann und Wimmer vor und lächelten heuchlerisch zustimmend, während Harald Steiner ungerührt stocksteif in seinem Sessel saß.

Der Richter setzte seinen Diskurs fort. „In wenigen Minuten beginnt die vierte Sitzung dieses Verfahrens. Der Angeklagte ist gehört worden, die Zeugen sind gehört worden, die Ermittler sind gehört worden, die Anklage hat ihre Fragen vorgetragen, und die Verteidigung hat ihre Fragen vorgetragen. Mir ist nicht zu Ohren gekommen, es gäbe da noch etwas, was das Gericht sich in diesem Fall anhören müsste…“

Hier merkte die Wimmer an: „Da ist noch das psychiatrische Gutachten.“

„Ja, ja”, winkte Mühsam ab. „Der Wisch liegt uns vor, und wir werden ihn auch bei der Urteilsfindung berücksichtigen. Es liegt uns auch ein Gutachten vor, das von der Verteidigung in Auftrag gegeben wurde. Auch das werden wir berücksichtigen.“

„Das muss doch…“, begehrte die Wimmer erneut auf.

„Nein!“, schallte Mühsams Stimme herrisch laut durch den Raum. „Heute wird dieser Prozess beendet. Und wir werden heute auch das Urteil fällen und verkünden. Klaus Hummel ist seit fast einem Jahr inhaftiert. Drei Tage musste ich mir anhören, dass es viele Indizien, aber keine Beweise für Hummels Beteiligung an den Taten gibt. Andere mögen unser Gerichtswesen mit Talkshows verwechseln, aber meine Verfahren fallen nicht darunter. Haben Sie mich verstanden?“

Die beiden anderen Juristen ereiferten sich, in ihrer Gestik Zustimmung zu bekunden, während Steiner sich immer noch unbeteiligt gab.

Der Richter fuhr fort: „Für heute habe ich alle relevanten Zeugen erneut geladen. Sinn der heutigen Sitzung wird sein, dass ich, - wohlgemerkt ich persönlich -, noch einmal die kardinalen Fragen stellen werde, die dem Befragten und sonstigen Beteiligten vielleicht auch schon vorher in diesem Verfahren einmal gestellt worden sind. Von Ihnen, meine Dame und meine Herrn erwarte ich während meinen Interviews absolute Zurückhaltung.“

„Was soll es bringen, auf Wiederholung zu schalten?“, motzte die Wimmer. „Soll das etwa dem Beklagten die goldene Brücke zu einer Revision eröffnen?“

Bist du ein blödes Huhn, dachte Harald. Diese Wimmer schnallte einfach nicht, wie unbeliebt sie sich mit ihren dummen Sprüchen beim Richter zu machen drohte.

Mühsam blieb souverän. „Es ist nicht meine Aufgabe, mir über eine Revision Gedanken zu machen. Herrn Hummel kann nach unserem Urteil der Einspruch genauso wenig verwehrt werden wie Ihnen, Frau Staatsanwältin. Nur sehe ich nach Sachlage der Dinge nicht ein, wieso wir nicht heute zum Abschluss kommen sollten. Ich werde also meine Fragen stellen und mir die Antworten anhören, während Sie, Frau Wimmer und Herr Liebmann, schweigen. Sobald ich meine Befragungen beendet haben werde, überlasse ich es Ihnen, Fragen zu stellen. Dann werde ich Sie auffordern, Ihre Plädoyers zu halten.“

„Das ist aber äußerst ungewöhnlich”, sagte Liebmann.

„Was die Schlussworte angeht, mögen Sie Recht haben, Herr Verteidiger”, entgegnete der Richter. „Es ist allerdings der Entscheidung des Vorsitzenden vorbehalten, wann er die Plädoyers hören will. Da gibt es im Gesetz keine Dispens, die den Parteien einen Aufschub gewährt. Als Juristen müssten Sie immerhin gelernt haben, aus dem Stehgreif argumentieren zu können.“

Was der Richter da von Klägerin und Verteidiger verlangte, war außergewöhnlich, aber so, wie er es dargelegt hatte, gesetzeskonform. Üblich war, dass es eine letzte Sitzung gab, in der irgendwelche (un-)qualifizierten Experten ihren Senf beitrugen, bevor dann nach einer oder zwei Wochen Pause die mündlichen Vorträge der Plädoyers der beiden Parteien erfolgten. Und dann, wenn das Richterkollegium zufällig mal belustigt sein sollte, würde nochmals eine, zwei oder auch drei Wochen später ein Urteil erfolgen. Wenn Mühsam in seiner Funktion aber darauf bestand, alles an einem, und zwar an diesem Tage geregelt sehen zu wollen, brauchte er sich dafür bestimmt keine Genehmigung an höherer Stelle und erst recht nicht bei der Wimmer oder bei Liebmann einzuholen.

„Herr Steiner, haben Sie noch etwas beizutragen, was nicht zur Sprache gebracht worden ist?“

Harald musste hierauf einen negativen Bescheid geben, womit für Mühsam das Programm für die anstehende Sitzung endgültig feststand.

Zum Erstaunen aller, die an dem vorher im Richterzimmer geführten Gespräch nicht teilgenommen hatten, rief Ibrahim Mühsam den Angeklagten erneut in den Zeugenstand.

„Herr Hummel, an dem Tag, an dem Ihre früheren Arbeitgeber Wilfried Manherr und Walter Hack ermordet wurden, waren Sie noch keine 21 Jahre alt. Wenn es also heute zu einer Verurteilung kommen sollte, hängt das zu verhängende Strafmaß ganz klar von unserer Einschätzung ab, ob Sie zum Zeitpunkt der Morde als geistig erwachsen oder noch als Jugendlicher zu betrachten waren. Ist Ihnen das klar?“

Klaus Hummel, dem dieses Prozedere nicht ganz geheuer war, weil sein Rechtsbeistand ihm wenige Minuten vor Beginn der Verhandlung ins Ohr geflüstert hatte, Mühsam sei des Verfahrens überdrüssig und neige zum Freispruch, starrte, statt eine Antwort zu geben, den Richter verwirrt an.

Der reagierte behutsam auf Hummels Schweigen. „Sie haben meine Frage nicht verstanden?“

Klaus antwortete kleinlaut: „Nein.“

Der Richter erklärte: „Sollten wir Sie des zweifachen Mordes für schuldig befinden, droht Ihnen im ungünstigsten Fall fünfzehn Jahre Haft, insofern wir der Meinung sein sollten, Sie müssten unter das Jugendstrafrecht fallen, oder lebenslängliche Haft, wenn wir der Meinung sind, Sie fallen unter das Erwachsenenstrafrecht. Haben Sie es jetzt verstanden?“

„Ja, aber ich bin unschuldig.“

„Unschuldig, Herr Hummel?“, sprach Mühsam mit skeptischem Unterton. „Immerhin gibt es viele Anzeichen dafür, Sie könnten die Taten ausgeführt haben. Da wäre zunächst das Motiv. Wenige Wochen, bevor die Herrn Hack und Manherr ermordet wurden, sind Sie von Ihren beiden Arbeitgebern entlassen worden. Weshalb?“

Der junge Hummel kam sich vor, als sei er der Hauptdarsteller in Lola rennt oder in Und täglich grüßt das Murmeltier. In beiden Filmen durchlebt der jeweilige Protagonist mehrfach dieselben Situationen. Wieso sollte er jetzt erneut eine Frage beantworten, die ihm die Staatsanwältin schon einmal am zweiten Sitzungstag gestellt hatte? Sie zu beantworten, war ihm peinlich gewesen, und so war es auch jetzt wieder, weshalb er nun auch seine Antwort sehr knapp hielt.

„Ich bin mehrfach betrunken zur Arbeit erschienen.“

„Genau das hatten Sie bereits ausgesagt, und so haben es auch mehrere Zeugen bestätigt. Was noch nicht erörtert wurde, war das, was Sie ob Ihrer Entlassung empfanden. Können Sie uns das beschreiben?“

„Im ersten Moment hatte mich die Wut gepackt. Doch dann habe ich eingesehen, dass die beiden Recht hatten.“

„Seltsam”, äußerte sich der Vorsitzende. „Sie wollen das eingesehen haben, haben sich aber dennoch weiter volllaufen lassen. Das ist doch irgendwie unlogisch.“

„Das kommt auf die Situation an. Jetzt nach fast einem Jahr Haft, in der ich nichts mehr getrunken habe, finde ich das auch unlogisch. Aber damals trieb mich die Entlassung erst recht zur Flasche.“

„Also erneut in die Wut”, hielt ihm Mühsam entgegen.

„Ja…Nein. Ich weiß nicht mehr, was alles in mir vorging.“

Der Richter redete gleichmütig weiter. „Halten wir nur fest, es ist durchaus denkbar, dass Sie sich aus einer Alkohol bedingten Wut heraus zu mehr als dem berühmten Schmollen in der Ecke hätten aufraffen können.“

„Nein, nein, nein!“, rief Klaus. „Das habe ich nicht.“

„Das sind Ihre Worte, aber keine Beweise.“ Der Richter wandte sich an die vom Gericht bestellte Psychologin, die neben dem Staatsanwalt saß. „Frau Doktor Nadler, Sie haben nun schon über neun Monate Herrn Hummel, also seit seiner Verhaftung, betreut. Wenn ich nicht irre, haben Sie zum Thema alkoholisierte Straftäter Ihre Doktorarbeit geschrieben und haben auch darüber promoviert. Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Herr Hummel seinerzeit in seinem von Alkohol bedingten Unvermögen zu einer sehr ausgeklügelten Gewalttat befähigt gewesen sein könnte?“

Es war schon erstaunlich, dass der Richter über die fachspezifische Orientierung der Nadler Bescheid wusste. Normalerweise werden Gerichtspsychologen aufgrund ihrer Diplome, aber nicht aufgrund ihrer Befähigungen berufen. Die Leute von der Justiz bekümmern Befähigungen in der Regel wenig, wenn die Diplome von Universitäten ausgestellt worden sind. Für Juristen sind Sachverständige sachverständig, wenn sie ein beglaubigtes Diplom vorweisen können. Ob und für was genau sie sachverständig sind, ist ihnen kaum eine Nachfrage wert. Hauptsache sie sind für irgendein weitläufiges Fachgebiet auf der Liste gerichtlicher Sachverständiger eingetragen.

Richter Mühsam waren solche Details nie egal gewesen. Die sogenannten gerichtlich bestellten Experten, vor allem die Psychologen, hielt er für das, was sie nicht selten auch sind, - für Dummschwätzer, denen es nur um das Einheimsen ihrer üppigen Honorare geht.

Es war der reinste Zu- und Glücksfall gewesen, dass Frau Doktor Nadler sich ausgerechnet mit der Psyche von Alkoholikern auskannte, und es war kein Zufall, dass Mühsam sie für diesen Fall auserkoren hatte.

„Herr Vorsitzender, der Angeklagte verfügt in nüchternem Zustand über ein sehr hohes Auffassungsvermögen”, referierte die Seelenklempnerin. „In diesem Zustand agiert er ausgewogen und sehr überlegt. Er erfasst komplizierte Zusammenhänge überdurchschnittlich schnell. Leider hatte ich nicht die Gelegenheit gehabt, seine Reaktionen zu testen, wenn er betrunken ist. Allerdings kann ich aus seinen eigenen Aussagen und den Berichten anderer, die ihn in solchen Situationen schon öfter erlebt hatten, ableiten, wie sich Alkohol auf seine Psyche auswirkt. Da muss es einen gewissen Punkt gegeben haben, bei dem seine gesamte Motorik abrupt auf physische Gewalt und verbale Abartigkeiten umschaltete. Wenn dieses Schema der Realität entspricht, könnte Herr Hummel tatsächlich eine brutale Aggressivität begangen haben, aber er wird sich wohl kaum im Vollrausch aufgerafft haben, um einen ausgeklügelten Doppelmord zu begehen. Im nüchternen oder angeheiterten Zustand wäre er wohl dazu in der Lage gewesen, aber, so glaube ich, festgestellt zu haben, hätten ihn dann moralische Skrupel letztendlich davon abgehalten, ein Verbrechen zu begehen.“

Mühsam befasste sich wieder direkt mit dem Angeklagten.

„Das ist ja das Schöne an psychologischen Gutachten, Herr Hummel. Sie basieren auf Annahmen und Wahrscheinlichkeiten. Mit anderen Worten, sie sind unfehlbar fehlbar und daher sehr nützlich, wenn man sie zu verwerten versteht.“ Er hätte stattdessen auch sagen können, wenig von psychologischen Gutachten zu halten, aber so deutlich durfte er das nicht hervorheben. Er fuhr fort: „Dennoch bleibt für uns die Frage offen, in welchem Zustand Sie an jenem Diensagabend im Juli des vergangenen Jahres verkehrten. Waren Sie nüchtern, waren Sie angeheitert, oder waren Sie voll wie zehn Haubitzen? Sagen Sie es uns.“

„An dem Tag war ich echt besoffen.“

Der Richter sah zu Steiner hinüber. „Stimmt das, Herr Hauptkommissar?“

Harald sagte: „Als wir Herrn Hummel am Vormittag des Tages nach der Ermordung des Herrn Hack in seiner Wohnung aufsuchten, - da wussten wir noch nicht, dass auch Herr Manherr ermordet worden war -, befand sich Herr Hummel in einem… in einem ziemlich erbärmlichen Zustand. Er war nicht betrunken im eigentlichen Sinne, sondern befand sich in einer Phase, die man landläufig verkatert nennt.“

„Was schlossen Sie daraus, Herr Hauptkommissar?“, hakte der Richter nach.

„Dass Herr Hummel wohl am Abend zuvor ziemlich gut gebechert hatte.“

„Anzunehmen”, schloss sich Mühsam Steiners Vermutung an. „Und eines der größten Probleme, die sich für die Verteidigung des Angeklagten stellt, geht aus einhelligen Aussagen seiner nächsten Nachbarn hervor. Wenn Herr Hummel betrunken war, konnte man sehr gut hören, wie er sich in seiner Wohnung von einer Stelle zu einer anderen bewegte, weil er dabei heftiger als üblich mit seinen Füßen auf den Boden auftrat. Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, will keiner dieser Nachbarn solche Geräusche am Tatabend vernommen haben. Wie erklären Sie sich das, Herr Hummel?“

„Weiß nicht. Vielleicht bin ich vor dem Fernseher eingeschlafen.“

„Lassen wir das mal im Raum stehen”, sagte der Richter und führte weiter aus. „Dann war da die Sache mit der Mordwaffe. Die ist nie gefunden worden, aber bei Ihren Ermittlungen, Herr Hauptkommissar, sind Sie auf eine gewaltige Ungereimtheit gestoßen.“

„In der Tat”, erwiderte Steiner. „Natürlich suchten wir auch die Eltern und Geschwister des Verdächtigen in Dellbrück auf. Wir hatten da bereits rausgefunden, dass der Vater des Verdächtigen, Herr Gerhard Hummel, einen Waffenschein besaß und mehrere Waffen des Kalibers 9 mm auf ihn eingetragen waren. Herr Hummel war sofort bereit, uns seinen Waffenschrank in einem der Kellerräume seines Hauses zu zeigen, und stellte dann selber fest, dass drei Waffen dieses Kalibers und die dazugehörige Munition fehlten. Die Schlösser zu dem Kellerraum und zum Waffenschrank wiesen keine Spuren auf, die ein gewalttätiges Eindringen hätten nahelegen können. Auch war nicht in das Haus der Hummels eingebrochen worden.“

Hierzu merkte der Richter an: „Genau das haben Sie und Herr Hummel senior bereits in einer der vorigen Sitzungen ausgesagt. Und es soll sogar nahezu unmöglich gewesen sein, dass ein anderer als Herr Gerhard Hummel Zugang zu den Schlüsseln für den Kellerraum und den Waffenschrank gehabt hatte. Kaum, das heißt, bis auf die Bewohner des Hauses oder eben Klaus Hummel, der seine Eltern regelmäßig besuchte. Was sagen Sie dazu, Herr Hummel?“

Klaus zuckte mit den Achseln. „Was weiß ich?! Meine Brüder sind in einem Alter, in dem man nie genug Taschengeld hat. Wozu hätte ich drei Knarren stehlen und Wilfried und Walter dann mit ein und derselben Puste abknallen sollen?“

„Gewiss, Herr Hummel, das ist schon etwas skurril”, gab der Richter zu. „Nochmals zu Ihnen, Herr Steiner.“ Harald begann sich zu fragen, wieso Hummel und nicht er auf dem Zeugenstuhl saß, so oft wie Mühsam ihm jetzt schon Fragen gestellt hatte. „Nach allem, was wir wissen, muss der Täter über ein Fahrzeug verfügt haben. Herr Hummel besaß einen VW Golf. Was gibt es dazu zu sagen?“

„Dass zumindest ein Fahrzeug im Spiel gewesen sein muss, ergibt sich aus den Zeitabläufen der beiden Morde. Herr Manherr hatte an jenem Tag einen Termin bei einem Großkunden in Dormagen. Er litt an einer Inkontinenz seiner Blase, weshalb er jedes Mal, wenn er nach Dormagen fuhr, am Worringer Bruch anhielt, um sich zu erleichtern. Dort fand man auch am Tag nach seiner Ermordung seinen Wagen und Blutspuren, die von ihm stammten. Herr Manherrs Leiche wurde zwei Tage später in der Nähe eines Truckstopps bei Frechen gefunden. Da Herr Manherr nicht, wie vereinbart, bei seinem Kunden in Dormagen erschienen war, wohl aber kurz vor 16 Uhr das Geschäft in der Kölner Innenstadt verlassen hatte, ist davon auszugehen, dass seine Ermordung vor der Ermordung seines Kompagnons stattgefunden hatte. Ungeachtet dessen, ob sein Mörder seine Leiche nun sofort anschließend nach Frechen zu der Stelle verbrachte, wo man sie später fand, oder ob er erst in die Innenstadt gefahren ist, um Herrn Hack zu erschießen, muss er Manherrs Leiche in ein Fahrzeug verstaut haben. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Herr Manherr bereits beim Zusammentreffen mit dem Täter am Worringer Bruch getötet worden ist, weil bis auf die tödliche Schusswunde in seinem Herzen keine anderen Verwundungen festgestellt wurden, die die Blutrückstände am Tatort erklären könnten.“

„Ja, ja“, reagierte Mühsam leicht gereizt, „das wissen wir ja alles schon. Mir ging es aber in erster Linie um den Golf des Herrn Hummel.“

„Der wurde natürlich sofort am Tag nach den Morden in die KTU verbracht. Spuren von Herrn Manherr darin konnten nicht nachgewiesen werden.“

„Hierzu hatte sich ja bereits die Staatsanwältin auf den Standpunkt gestellt, Herr Hummel habe die Leiche des Opfers sorgfältig in Plastik verpackt”, erinnerte sich der Richter. „Aber was wissen wir denn nun über den Verbleib des Golfs während der Tatzeiten?“

„Für gewöhnlich stellte Herr Hummel seinen Wagen wenige hunderte Meter von seiner Wohnung entfernt ab. Wir befragten die Bewohner der an dem Parkplatz umliegenden Häuser und erhielten drei unterschiedliche Antworten. Einige behaupteten, der Golf habe seit Tagen dort gestanden und sei nicht von der Stelle bewegt worden, andere glaubten, er habe nicht laufend dort gestanden, und wieder andere wussten es einfach nicht. Jedenfalls hat niemand eindeutig gesehen, dass Herr Hummel am Tattag in sein Auto gestiegen, weggefahren und später zurückgekehrt ist.“

„Und wie bewerten Sie normalerweise solche Aussagen?“, interessierte es den Richter.

„Wenn 90% der Befragten eine eindeutige Aussage machen und der Rest das Gegenteil behauptet oder es nicht genau zu wissen vorgibt, neigen wir dazu, der Mehrheit zu glauben. So, wie die Antworten ausfielen, konnten wir nur in Erwägung ziehen, dass Herr Hummel möglicherweise am Tattag sein Auto benutzt hatte.“

„Sie haben doch gewiss auch die Öffentlichkeit um Hinweise zu dem verdächtigen Fahrzeug gebeten”, nahm Mühsam an.

Harald lächelte gequält. „Das liegt auf der Hand, aber es liegt auch auf der Hand, dass es uns nicht erlaubt ist, die kompletten Kennzeichen eines Fahrzeugs preiszugeben. Der Golf des Angeklagten ist kein Unikat. Von der Sorte in der Farbe fahren hunderte durch die Stadt, und dementsprechend wollten auch viele Zeugen ein solches Auto zur passenden Zeit mal am Worringer Bruch, mal in der Nähe des Truckstopps und mal in der Nähe des Geschäfts der Herrn Manherr und Hack gesehen haben. Übrigens wusste keiner der Zeugen, jemals ein komplettes Kennzeichen des von ihnen beobachteten Fahrzeugs zu benennen, geschweige denn eine Beschreibung seines Fahrers zu geben, die auf Herrn Hummel zutrifft.“

Der Richter seufzte. „Herr Hummel, setzen Sie sich bitte zu Ihrem Anwalt. Und Sie Herr Steiner nehmen bitte im Zeugenstand Platz.“

Also doch, dachte Steiner.

„Herr Steiner, lediglich die Schüsse auf Walter Hack sind von Zeugen beobachtet und gehört worden. Mich interessiert nun exakt das, was die Zeugen gesehen haben wollen. Berichten Sie bitte.“

„Insgesamt gibt es acht direkte Zeugen dieser Tat. Man sah Herrn Hack aus dem Geschäft kommen. Er schloss die Tür ab und drehte sich um, wohl um zu seinem Auto zu gehen. Ein Mann trat vor ihm hin, zog eine Waffe, feuerte zwei Schüsse auf ihn ab und rannte davon.“

„Soweit, so gut. Mich interessiert das, was man über den Täter aussagte.“

„Er war etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß, trug Bluejeans, braune Schuhe, und einen dunklen, vielleicht gar schwarzen Kapuzenanorak, dazu überlange Handschuhe. Niemand hat sein Gesicht oder seine Haupthaare gesehen. Bei der späteren Gegenüberstellung mit dem Verdächtigen glaubten die Zeugen, Herrn Hummel am ehesten als den Mörder wiederzuerkennen.“

„Am ehesten, Herr Hauptkommissar, was ist das, ‚am ehesten‘?“

„Körpergröße, Statur, Körperhaltung eben.“

„Ist das nicht reichlich subjektiv?“, fragte Ibrahim Mühsam vorwurfsvoll.

„Wir haben nur Fakten zusammengetragen. Für die Anklageerhebung sind wir nicht zuständig. Wenn Sie mich aber um meine persönliche Meinung fragen, ja, das ist subjektiv.“

„Haben Sie denn wenigstens entsprechende Kleidungsstücke bei Herrn Hummel sichern können?“

„Ja, das haben wir bis auf solche Handschuhe.“

Hier meinte sich Klaus Gehör verschaffen zu müssen. „Als ob ich der Einzige wäre, der Bluejeans und einen Kapuzenanorak im Schrank hängen hätte. Da wird es doch wohl noch tausende andere Männer meines Alters in dieser Stadt geben.“

„Sicher, Herr Hummel, aber ich habe Sie nicht um eine Stellungnahme gebeten”, rügte ihn der Vorsitzende. „Herr Steiner, Sie betonten soeben, dass Sie nicht für die Erhebung der Anklage verantwortlich sind. Aber warum, denken Sie, ist ausgerechnet gegen Herrn Hummel Anklage erhoben worden?“

„Da bin ich wohl nicht die richtige Stelle, diese Frage zu beantworten.“

„Ich könnte Frau Wimmer direkt fragen. Aber ich will Ihre Meinung hören.“

Harald schnaubte missmutig. „Die erste Frage, die sich uns bei einem scheinbar kalkulierten Mord aufdrängt, ist die Motivfrage. Die Firma Hack-Manherr hatte keine Schulden, es lagen keine Streitigkeiten mit Kunden oder Lieferanten vor. Die Angestellten waren äußerst zufrieden mit ihren Chefs. Die Nachfragen über die familiären Verhältnisse der beiden Firmeninhaber ergaben nicht die geringsten Unstimmigkeiten. Das Einzige, was bei den Vernehmungen der Angestellten zu Tage trat, war die Entlassung des Herrn Hummel wenige Wochen vor den Geschehnissen. Daraufhin fokussierten sich unsere Ermittlungen auf seine Person. Selbstverständlich haben wir uns auch mit den Alibis der nächsten Verwandten und der Mitarbeiter der Opfer befasst. Die erwiesen sich aber als wasserdicht. Nur Herr Hummels Alibi hinkte. So haben wir es der Staatsanwaltschaft weitergeleitet.“

„Sind Sie selber also gar nicht von Herrn Hummels Täterschaft überzeugt?“

„Ich halte sie nicht für erwiesen.“

„Herr Vorsitzender…“, versuchte sich die Wimmer Gehör zu verschaffen.

„Nein!“, rief ihr Mühsam brüsk und bestimmt zu. „Sie sind jetzt nicht gefragt.“ Er sah Steiner wieder an, während die Antonia Wimmer rot vor Scham anlief. Es war ihr noch nie passiert, dass ein Richter sie so abgekanzelt hatte. In der Regel lassen es die Richter zu, dass sich Staatsanwälte nach Herzenslust austoben können. Ein Unding, das sich aus Kaisers und Führers Zeiten hinübergerettet hat, aber durchaus üblich ist. Diesmal war es eben nicht üblich.

„Herr Hauptkommissar, nehmen wir einmal an, der Angeklagte hat keinen der Morde begangen, wer könnte denn dann die Taten ausgeführt haben?“

„Wäre nur einer von zwei Firmeninhabern umgebracht worden, könnte man auf ein sehr persönliches Motiv tippen. Bei beiden muss man ja schon zwangsläufig von einem Zusammenhang ausgehen, der mit dem Betrieb zu tun hat. Ein irrer Triebmörder kommt wohl kaum in Betracht. Ich muss hervorheben, dass die Stelle, an der Herr Manherr erschossen wurde, nur wenigen Leuten als jene bekannt war, wo er anzuhalten pflegte, um sich zu erleichtern. Einer davon war Herr Hummel, ein anderer war Herr Hack. Ansonsten haben wir niemanden auftreiben können, der darüber Bescheid wusste, was aber nichts bedeuten muss.“

„Wie erfuhren Sie denn davon, dass Herr Manherr diese Stelle am Worringer Bruch zum Austreten zu benutzen pflegte, wenn er zu seinem Kunden nach Dormagen fuhr?“

Steiner war über den Scharfsinn des Richters erstaunt. „Ludo Hack, der Bruder von Walter Hack hat das ausgesagt. Er habe das einmal beiläufig von seinem Bruder gehört.“

„Mit anderen Worten, es könnten doch mehrere Leute von dieser Gepflogenheit gewusst haben”, stellte der Richter fest. Er entließ Steiner aus dem Zeugenstand und rief Gerhard Hummel auf.

„Herr Hummel, es wird Sie erstaunt haben, dass wir Sie nochmals als Zeugen vorgeladen haben. Uns sind einige Aspekte nicht ganz klar”, sprach der Richter beruhigend auf den Vater des Angeklagten ein. „Klar ist, da sind drei Waffen des Kalibers 9 mm und eine nicht genau bestimmbare Menge an entsprechender Munition aus Ihrem Waffenschrank verschwunden. Das wurde festgestellt, als die Kripo Köln bei Ihnen vorstellig wurde. Aber wie lange war es da her, dass diese Objekte Ihres Wissens noch vorhanden gewesen sein müssten?“

Gerhard Hummel wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her. „Das war sehr lange her. Ich bin zwar Sportschütze, aber ich habe sehr wenig Zeit, mich meinem Hobby noch zu widmen. Ich denke, das letzte Mal, dass ich die Waffen bewusst gesehen hatte, war damals vier oder fünf Monate her.“

„Die Schlüssel zum Raum und zum Schrank bewahrten Sie in einer verschlossenen Schublade Ihres Schreibtischs auf. Der Kellerraum und der Waffenschrank sind aber nachweislich nicht mit Drähten, Dietrichen oder sonstigem Gerät aufschlossen worden. Es bleiben also nur noch die Schlüssel aus Ihrer Schreibtischschublade, nicht?“

Hummel gebärdete sich zweifelnd, kam aber zum selben Ergebnis. „Die Schlüssel und die Ersatzschlüssel befinden sich immer in dieser Schublade. Der Schlüssel dieser Lade befindet sich an meinem Schlüsselbund für Haus, Firma und Auto, und den Bund trage ich nahezu laufend bei mir. Ich sehe aber schon, worauf Sie hinaus wollen. Sie wollen wissen, wer sich der Schlüssel aus der Schublade bemächtigt haben könnte.“

„Sie haben es erfasst”, hielt sich der Richter knapp und klar.

„Wenn ich daheim bin, halte ich mich oft in meinem Privatbüro auf. Dann schließe ich meistens auch alle Schubladen auf, aber verschließe sie nicht unbedingt wieder, wenn ich zum Beispiel zu Tisch gehe oder sonst was im oder ums Haus zu tun habe. Natürlich wäre es dann möglich, dass sich einer meiner Rangen…Aber nein, Herr Vorsitzender, Sie glauben doch nicht…?“

„Wer denn noch außer Ihren Kindern?“, fragte Mühsam streng.

„Wenn ich es mir recht überlege, so ungefähr jeder, der bei uns ein und aus geht. Aber das Wissen um die Schlüssel haben nur meine Frau, unsere Söhne, unsere Haushälterin und ich.“

Mühsam verzog seine rechte Wange zu einem eher skeptischen Lächeln. „Und die halten Sie alle für nicht imstande, sich an Ihren Waffen vergriffen zu haben?“

Hummel senior blieb auffallend ruhig. „Meine Frau hasst Waffen. Sie wüsste nichts mit so einer Spritze anzufangen. Was sollte sie auch damit anstellen? Verkaufen? Sie kennt niemanden, dem sie sie anbieten sollte, und wüsste auch nicht, was sie dafür fragen könnte. Zudem halte ich sie geldlich nicht an der kurzen Leine. Sie hat so etwas nicht nötig. Unsere Haushälterin, die Regina Hanke, arbeitet seit fast zwanzig Jahren für uns. Die würde nicht einmal ein Ein-Cent-Stück in ihre Tasche stecken, wenn sie es beim Putzen auf dem Fußboden findet. Da verhält es sich bei Jens und Mark vielleicht etwas anders. Die bekommen zwar ein angemessenes Taschengeld, aber bei Jungs in dem Alter weiß man ja nie. Trotzdem glaube ich nicht, dass sie die Waffen gestohlen haben. Gleich als mir klar war, dass die Polizei glaubte, Klaus könnte die Waffen entwendet haben, habe ich mir die beiden anderen zur Brust genommen. Ich habe ihnen klargemacht, dass es für ihren Bruder um Kopf und Kragen ging, und dass es dann wirklich nur ein Klacks wäre, wenn sie die Dinger geklaut und versetzt hätten. Wenn sie es zugeben würden, so versicherte ich ihnen, kämen sie bestimmt mit einem blauen Auge davon.“

„Ich nehme an, die Burschen haben abgestritten, sich in Ihrem Waffenschrank bedient zu haben.“

„Das haben sie, und ich glaubte und glaube ihnen.“

„Dazu neigt man als Vater meistens”, tat der Richter Hummels Worte ab. „Bliebe aber noch Ihr Sohn Klaus. Könnte er die Waffen doch an sich genommen haben?“

„Theoretisch könnte er das”, gab Gerhard Hummel zu. „Aber wozu sollte er das getan haben?“

„Sie stellen aber Fragen”, äußerte sich Mühsam amüsiert. „Beantworten Sie mir nur noch folgende Frage. Ist Klaus nach seiner Entlassung bei Hack-Manherr noch einmal bei Ihnen zuhause gewesen, und wenn ja, in welcher Verfassung befand er sich da?“

Hummel kratzte sich an seinem Hinterkopf. „Ich meine, er ist noch zwei- vielleicht dreimal bei uns gewesen. Er machte, seit er seinen Job verloren hatte, einen deprimierten Eindruck. Aber er ist immer nüchtern gewesen, wenn er zu uns kam. So viel Anstand hatte er sich bewahrt, seiner Mutter nie betrunken unter die Augen zu treten.“

Richter Ibrahim Mühsam schien genug gehört zu haben, denn er erteilte der Wimmer die Erlaubnis, Fragen zu stellen, dann Liebmann, und schließlich fragte er, ob noch Anträge gestellt werden.

Wer hätte bei dieser seltsamen Gerichtsführung unvorbereitet weitere Anträge stellen wollen?

Also las der Richter aus dem Strafregister Klaus Hummels vor. Der Angeklagte war nicht vorbestraft. Dann forderte er die Vertreter der Anklage und der Verteidigung auf, ihre Plädoyers zu halten.

Antonia Wimmer hatte längst begriffen, dass Mühsam auch nach dieser Sitzung nicht dazu neigte, den Angeklagten für schuldig zu erachten. Sie setzte voll und ganz auf das Wahrscheinlichkeitsprinzip und versuchte dem Richter eine Verurteilung durch die Forderung eines geringeren Strafmaßes wegen Alkoholgenusses schmackhaft zu machen. Man könne Hummels Alkoholsucht und sein nicht sehr reifes Verhalten bei der Strafzumessung berücksichtigen, also Jugendstrafrecht anwenden, und die darin vorgesehene Höchststrafe für Mord auf acht Jahre reduzieren.

Das war ihr hilfloser Versuch, die Sache doch noch halbwegs in ihrem Sinne geregelt zu sehen.

Umso hochtrabender war die Rede des Strafverteidigers. Volker Liebmann nahm sich dabei echt viel Zeit und ließ kaum etwas aus, was er als zweifelhaft in der Argumentation seiner Kontrahentin ins Feld führen konnte. Er brillierte vor Rhetorik und forderte natürlich Freispruch für seinen Mandanten.

Zum Schluss erteilte Richter Mühsam dem Angeklagten das letzte Wort.

Klaus Hummel sagte auf fast schon stoische Weise: „Ich habe Wilfried und Walter nicht umgebracht. Sicher, ich war ihnen böse, als sie mich rausschmissen, aber ich hatte erkannt, dass es mein eigener Fehler gewesen war, der sie dazu gezwungen hatte. Man kann mich doch nicht wegen einiger magerer Hinweise zum Mörder abstempeln. Man kann doch nicht jemandem die Freiheit und den Ruf nehmen, weil man sich manche Dinge nicht erklären kann. Bitte, Herr Richter, sprechen Sie mich frei.“

Richter und Beisitzer zogen sich zurück. Vor der Tür zum Gerichtssaal und im Saal selbst diskutierten Zuschauer, Betroffene und Journalisten über das seltsame Vorgehen des Richters. Bei einem Mordprozess war es unüblich, schon nach dem vierten Verhandlungstag das Urteil zu fällen. Auch der Ablauf dieses vierten Verhandlungstages war unüblich gewesen, und noch unüblicher war es, dass das Urteil am letzten Verhandlungstag selber gefällt wurde.

Nach einer knappen Stunde erschienen Richter und Beisitzer wieder auf dem Podium, und Richter Ibrahim Mühsam verkündete:

„Der Angeklagte, Herr Klaus Hummel, ist der ihm zu Lasten gelegten Taten nicht überführt worden. Er wird somit freigesprochen und ist aus der Haft zu entlassen und für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen. Die Kosten des Verfahrens und diesbezüglichen Auslagen des Angeklagten entfallen auf die Staatskasse. Der Haftbefehl gegen ihn ist aufgehoben. Bitte setzen Sie sich.“

Alle setzten sich, nur der Richter blieb stehen.

„Ich stelle zunächst einmal fest, dass es nicht die Aufgabe eines Gerichtes ist, anhand von Probabilitäten Urteile zu fällen. Das gilt noch mehr in einem Fall, in dem ein Bürger eines oder gar mehrerer Morde angeklagt wird. Da können wir nicht hingehen und sagen, wir haben ja keinen anderen Verdächtigen finden können, haben aber einige Hinweise darauf, der Angeklagte könnte der Täter gewesen sein. Ich muss sagen, das hat Herr Hummel sehr deutlich selber in seinem Schlusswort darzulegen vermocht. Und ich halte es nicht für gerechtfertigt, einen Prozess unnötig in die Länge zu ziehen, wenn der Tenor ohnehin laufend derselbe ist. Es ist unverantwortbar einem Menschen, insbesondere einem jungen Menschen, ungerechtfertigt die Freiheit vorzuenthalten.“

Nun setzte sich Mühsam doch.

„Was haben wir gegen den Angeklagten in der Hand. Er war bei Hack-Manherr beschäftigt gewesen und ist wegen seiner Alkoholsucht entlassen worden, womit er ein Motiv gehabt haben könnte, sich an seinen beiden Arbeitgebern rächen zu wollen. Wir hörten, dass Herr Hummel sich zeitweilig bei übermäßigem Alkoholgenuss dazu steigern konnte, ziemlich unberechenbare Dinge zu tun. Wir erfuhren, dass aus dem Waffenschrank seines Vaters drei Waffen verschwunden waren, von der jede einzelne als die Tatwaffe in Frage kommt, mit der man die Opfer tötete. Wir wissen, dass der Täter ein Fahrzeug benötigte, um sein Unternehmen so auszuführen, wie er es ausgeführt hat. Herr Hummel besaß ein Fahrzeug. Wir vernahmen, dass die beiden Opfer scheinbar keine Feinde hatten, wenn man vom grollenden Herrn Hummel absieht. Die Zeugen, die am Abend des 16. Juli des vergangenen Jahres die Ermordung Walter Hacks beobachtet hatten, haben den Angeklagten in einer Gegenüberstellung als den wahrscheinlichen Täter erkannt, weil er der Statur des Mörders entsprach und sich so bewegte, wie dieser sich bewegt hatte. Sein Gesicht haben Sie nicht erkannt, weil sie es nicht gesehen hatten.“

Mühsam ließ seinen Blick durch den Saal schweifen.

„Worüber reden wir eigentlich? Herr Gerhard Hummel beteuerte, sein Sohn sei nie betrunken zu ihm und seiner Frau nachhause gekommen. Frau Doktor Nadler erklärte uns, der Angeklagte habe während seinen nüchternen Phasen über so etwas wie ein Gewissen verfügt, wenn ich ihre Worte mal so interpretieren darf. Andererseits hörten wir, dass Herr Klaus Hummel insbesondere dann ausrastete, wenn er sturzbesoffen war. Wie würde sich dann erklären lassen, dass er nüchtern zu seinem Vater geht und ihm drei Waffen entwendet? Irrt sich Frau Doktor Nadler? Irren sich die Menschen, die Herrn Hummel kennen? Vielleicht. Das ist nicht gänzlich auszuschließen. Aber wieso klaut er gleich drei Waffen, wenn er nur eine benötigt? Behalten wir im Hinterkopf, es ist nicht erwiesen, dass eine dieser Waffen die Tatwaffe war. Die Frau Staatsanwältin brachte diesbezüglich in ihrem Plädoyer das Wort Irreführung ins Spiel. Auch möglich.“

Der Richter nippte kurz an dem Glas Wasser, das vor ihm gestanden hatte.

„Die Tatausführungen, insbesondere der Mord an Herrn Manherr erforderte Insiderwissen. Der Täter muss Manherrs Vorliebe für den Worringer Bruch als Zwischenstopp gekannt haben. Hummel wusste davon, aber nicht nur er. Der Täter muss gewusst haben, dass ausgerechnet an diesem Tag Wilfried Manherr zu seinem Kunden nach Dormagen fahren würde. Auch das hätte Herr Hummel vermuten können, weil Herr Manherr immer um die gleiche Uhrzeit an einem der ersten beiden Tage nach Monatsmitte diesen Kunden zwecks Abrechnungen aufsuchte. Das Mordszenario vor dem Geschäft hätte durchaus von einem Betrunkenen ausgedacht worden sein können, aber bestimmt wurde es nicht von einem Volltrunkenen ausgeführt. Ich habe mir die Zeugenaussagen etliche Male durchgelesen. Die Bestimmtheit, wie der Mörder vorgegangen ist, die Art, wie er sich bewegt haben soll, widerspricht dem Verhalten eines Volltrunkenen.“

Mühsam lehnte sich gerade in seinem Richterstuhl zurück.

„Was ist mit dem Auto des Verdächtigen? Hat man es gesehen, oder hat man es nicht gesehen? Herrscht darüber Klarheit? Nicht im Geringsten! Spuren vom Opfer Manherr sind nicht darin gefunden worden. Dann haben wir noch die Aussage des Herrn Hauptkommissars zur Festnahme Herrn Hummels am Tag nach den Morden. Herr Hummel verkehrte in Katerstimmung, er wies einen immer noch hohen Alkoholanteil im Blut auf, hatte eine erste ärztliche Untersuchung ergeben. Reihen wir doch einfach eines an das andere. Hummel klaut im nüchternen Zustand drei Waffen seines Vaters. Er lauert Manherr auf, bringt ihn um und verfrachtet dessen Leiche so sorgfältig in seinem Wagen, dass darin hinterher keine Spuren der Leiche mehr zu finden sind. Aber zu diesem Zeitpunkt muss er schon ziemlich betrunken gewesen sein. Ein Widerspruch in sich. Dann fährt er in die Kölner Innenstadt, kommt daherspaziert, erschießt Walter Hack und flüchtet. Zwischen beiden Taten oder nach der letzten muss er noch eben den toten Manherr in Frechen abgelegt haben. Man braucht doch nicht über hellseherische Begabungen zu verfügen, um zu wissen, dass da einige Dinge nicht miteinander kompatibel sind. Entweder ging Herr Hummel generalstabsmäßig vor, dann muss er alles in nüchternem Zustand ausgeführt haben. Oder er agierte in Rage, aber dann ist es ausgeschlossen, dass er planmäßig handelte. Sicher, es gibt noch das Restrisiko, er könnte mit seiner Trunkenheit tüchtig geschauspielert haben. Wenn er so raffiniert gewesen wäre, hätte er doch den Faktor Nachbarn besser ausgereizt und sie nicht im Glauben gelassen, er sei nicht zuhause gewesen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber man kann Herrn Klaus Hummel nicht als der Taten überführt betrachten. Mit wäre, hätte und könnte kann man nicht zu einem Schuldspruch gelangen. Die Beisitzer und ich kamen zur Erkenntnis, dass der Angeklagte bestenfalls auf Indizien hätte verurteilt werden können, aber dass sogar diese Indizien bei Weitem nicht ausreichen.“

Er wandte sich direkt an Steiner. „Herr Hauptkommissar, bei allem Respekt vor Ihren Leistungen, aber in diesem Fall haben Sie vermutlich etwas übersehen. Sie werden sich noch einmal in die Sache reinknien müssen.“

Dann sah er die Wimmer an. „Frau Staatsanwältin, in Zukunft sollten Sie erst Anklage erheben, wenn Ihre Beweisführung wasserdicht ist.“

Seine letzten Worte galten dem Angeklagten. „Herr Hummel, ich hoffe, Sie werden mit ihrer wieder gewonnen Freiheit behutsam und sinnvoll umgehen. Ich nehme an, dass Sie die fast zehnmonatige Haft vom Alkohol abgebracht hat. Versuchen Sie diese neu gewonnene Sichtweise für Ihr weiteres Leben zu nutzen.“

Er schaute abwechselnd Verteidiger und Staatsanwältin an, während er sagte: „Ihnen steht es frei, innerhalb der üblichen Frist gegen das Urteil Einspruch zu erheben. Hiermit ist die Sitzung geschlossen.“

Steiner verließ den Saal und schlängelte sich an den anderen Zuschauern und vor allem an den Journalisten vorbei. Er erreichte am Ende des Flurs eine jener Türen, die nur den Mitarbeitern des Gerichts den Zugang zu den sich dahinter befindlichen Räumen erlaubte. Sobald er diese Tür passiert hatte, konnte ihn hier kein Reporter mehr belästigen. Er hörte die Tür hinter sich zufallen, aber sogleich wurde sie wieder aufgestoßen.

„Herr Steiner! Herr Steiner! Warten Sie doch bitte.“

Er drehte sich um, wusste aber schon, wer ihn da von hinten anquatschte.

„Was ist denn, Frau Wimmer? Soll ich Sie vor der wilden Horde der Presse schützen? Oder soll ich Sie über Ihre Niederlage hinwegtrösten?“

„Witzbold!“, rief ihm die Wimmer zu. „Ich wollte nur mit Ihnen reden.“

„Worüber denn?“

„Über das Urteil.“

„Wollen Sie mir etwa in die Schuhe schieben, ich hätte es vermasselt?“

„Irgendwie schon, Steiner. Sie haben mir immerhin Hummel als einzigen Verdächtigen präsentiert.“

„Ich habe Ihnen einen Verdächtigen präsentiert, aber bestimmt keinen, den man unüberlegt unter Anklage stellen konnte. Sie hätten von Anfang an sehen müssen, auf welch dünnes Eis Sie sich begeben würden. Was verlangen Sie also noch von mir?“

„Das liegt ja wohl auf der Hand”, entrüstete sich die Staatsanwältin. „Überführen Sie Hummel!“

„Der war’s nicht. Begreifen Sie das immer noch nicht?“

„Ach, der Mühsam, der ist doch nicht mehr ganz auf der Höhe.“

„Glauben Sie?“, fragte Harald amüsiert. „Könnte es nicht eher so sein, dass Sie unbedingt eine Verurteilung brauchen? Mich soll es nicht bekümmern. Ich werde das Dossier erneut in Angriff nehmen. Eines kann ich Ihnen jetzt schon versichern, ich werde mich nicht nochmals von Ihnen dazu drängen lassen, halbe Sachen zu machen.“

Die Wimmer wollte noch etwas sagen, aber Steiner entledigte sich ihrer, indem er durch eine Seitentür entfleuchte.

Die Reporter hatten alle Hände voll zu tun, die Hinterbliebenen der Mordopfer und Vater und Sohn Hummel beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zu belagern. Volker Liebmann erbarmte sich schließlich der Meute, baute sich medienwirksam vor dem Portal des hohen Hauses auf und gab ein Statement ab.

„Die Familie Hummel ist überglücklich über den Ausgang des Prozesses. Die Anklage hatte schweres Geschütz aufgefahren…“ So und in der Art setzte sich Liebmann zehn Minuten lang in Szene. Als er endlich zum Luftholen durchatmen musste, gelang es einem Journalisten, Gerhard Hummel um seine Befindungen zum Prozess zu befragen.

„Seien wir froh, dass es überstanden ist. Mein Sohn und ich werden nun nachhause fahren, wo wir den glücklichen Ausgang dieser elendigen Sache im Familienkreis feiern werden.“

Die Hinterbliebenen der Mordopfer Hack und Manherr zeigten sich wenig vom Urteil überrascht, nicht einmal schockiert. Johann Manherr, Bruder von Wilfried Manherr, erklärte: „Nimmt man es genau, hatte der Richter keine andere Wahl. Da gab es nichts, was Herrn Hummel echt belastete. Ich denke, anstelle des Richters hätte ich nicht anders geurteilt.“

Ludo Hack, Bruder von Walter Hack, meinte: „Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, dass Klaus Hummel der Mörder war.“

Ibrahim Mühsam hatte sich gleich nach dem Prozess in sein Richterzimmer zurückgezogen. Er ordnete die Akten ein, die er für die Verhandlung benötigt hatte. Dann machte er sich frisch, ging ins Sekretariat, um sich über die nächsten Termine zu informieren. Anschließend begab er sich in die Tiefgarage. Er legte seinen Aktenkoffer und seinen Mantel auf den Rücksitz seines Jaguars, setzte sich hinters Steuer und fuhr los.

Antonia Wimmer hatte noch einiges in der Registratur zu erledigen, ehe sie sich auf den Weg heimwärts machte. Sie benutzte eine der Hinterausgänge, um den Reportern zu entgehen, aber einer dieser Zunft hatte schon damit gerechnet, dass einige der Prozessteilnehmer sich hier rausschleichen würden. So musste die Wimmer doch noch Stellung beziehen.

„Die Anklage ist nicht sehr glücklich mit der Prozessführung und dem Urteil.“

„Werden Sie Revision einlegen?“

„Das werden wir noch genau zu prüfen haben.“

„Erwägen Sie eventuell, die Prozessführung als Grund für eine Revision anzugeben?“

„Wie gesagt, das werden wir alles noch zu prüfen haben”, sagte sie und huschte geschwind zu ihrem Auto.

Harald Steiner suchte bei seiner Rückkehr im Präsidium zunächst das Büro seiner Chefin, der Kriminalrätin Patricia Unkel, auf. Die Unkel sah bereits an seiner Miene, dass etwas nicht stimmte. Er berichtete ihr von diesem letzten Verfahrenstag und dem überraschend schnellen Urteil.

„Das ist schon sehr ungewöhnlich”, meinte die Kriminalrätin.

„Eigentlich finde ich es gar nicht ungewöhnlich”, widersprach Harald. „Ich halte diese ellenlangen Prozesse für abnormal, die sich über Wochen hinziehen und unnötig viel Geld kosten, obwohl das Urteil schon bei der Anklageerhebung feststeht. Was mich wurmt, ist, dass man es mir anlastet, den falschen Verdächtigen präsentiert zu haben, obwohl es die doofe Wimmer war, die darauf gedrängt hat, Klaus Hummel anzuklagen.“

„Mag ja sein, aber du hattest ja keinen anderen benennen können.“

„Wie denn auch, wenn man mir sagt, ich solle nicht weiter ermitteln?“, motzte Steiner, und die Unkel wusste sofort, dass das auch ein Vorwurf an ihre Adresse war, da sie Antonia Wimmers Anliegen unterstützt hatte.

Sie überging die halb versteckte Kritik. „Dann muss der Fall eben neu aufgerollt werden. Soll ich eine andere Kommission damit beauftragen?“

„Nein, Patricia, das erlaube ich dir bestimmt nicht”, begehrte Steiner auf. „Das K zwo ist mit dem Fall vertraut. Andere müssten sich neu in den Fall einarbeiten. Ist nur blöd, den Faden wieder dort aufnehmen zu müssen, wo man ihn vor neun Monaten hat fallen gelassen. Das Gedächtnis der Menschen ist von kurzer Dauer, darum können Politiker auch immer so leichtfertig ihre Ansichten wechseln.“ Diese Redewendung war eine abgeänderte Variante aus Hitlers Mein Kampf, wusste die Unkel.

Sie sagte: „Wenn du darauf bestehst, kannst du den Fall wieder aufrollen. An mir soll es nicht hapern.“

Ibrahim Mühsam erreichte sein Haus im Stadtteil Braunsfeld wenige Minuten vor 16 Uhr und parkte seinen Jaguar gleich gegenüber in der Straße. Das tat er immer, wenn er nachhause kam, weil seine Frau ihren Renault Twingo in der Regel vor der Garage abstellte. Diesmal stand der Twingo aber nicht dort. Das wunderte Mühsam nicht besonders. Meistens kam er etwas später nachhause als sonst, wenn ein Strafverfahren anstand. Marianne Mühsam verließ fast jeden Nachmittag das Haus, um shoppen zu gehen oder Bekannte zu besuchen. Sie hielt es einfach nicht mehr allein zuhause aus. Seit die Kinder ausgezogen waren, hatten sich ihre haushaltlichen Pflichten drastisch um die Hälfte reduziert.

Mühsam erwartete sie dennoch bald zurück. Er stieg aus, überquerte die Straße, schloss das Garagentor auf und zog es hoch. Er ging zurück zu seiner Limousine, setzte sich hinein und fuhr in die Garage. Er nahm Aktenkoffer und Mantel vom Rücksitz, ging hinaus, zog das Garagentor zu und stieg die Treppe zur Haustür empor.

Das Haus der Mühsams war wie alle Häuser in dieser Straße freistehend. Wer hier, zwar in Sichtweite des Gewerbegebiets, aber dennoch ruhig lebte, gehörte zum Mittelstand oder war in einer gehobenen Position beschäftigt. Nicht übermäßig reich, aber gewiss nicht arm. Arbeitslos war in dieser Straße niemand, höchstens Rentner.

Die Mühsams fielen hier nicht auf, und Ibrahim und Marianne Mühsam vermieden auch alles, irgendwie aufzufallen. In der Nachbarschaft wusste niemand, dass Ibrahim Richter war. Marianne und er hatten, wenn man sie danach fragte, was er denn beruflich betreibe, immer nur gesagt, er arbeite im gehobenen öffentlichen Dienst. Überhaupt mieden die Mühsams tiefer gehende Kontakte zu den Leuten aus der Umgebung. Ibrahim hatte sogar dafür gesorgt, dass man sie hier nicht einmal unter dem Namen Mühsam kannte.

Am Briefkasten stand der Name Schmitz, an der Klingel stand der Name Schmitz, und niemand hier in der Straße wusste es besser, als dass sie Schmitz hießen. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass er Strafrichter war. Übrigens war es auch noch nie einem Kamerateam oder Fotografen gelungen, Ibrahim Mühsam vor oder nach einer Sitzung am Gericht zu filmen oder zu fotografieren. Auch das hatte mit der absoluten Notwendigkeit privater Anonymität zu tun und war von weit oben abgesegnet worden.

Marianne hatte darauf bestanden, dass sich ihr Mann den Jaguar zugelegt hatte. Ihm wäre jedes billigere Auto, das ausgereicht hätte, zum Gericht und zurück zu fahren, lieber gewesen. Aber Marianne vertrat den Standpunkt, dass die wenigen eingeweihten Freunde, die sie hatten, sich dumme Gedanken machen würden, wenn das Auto ihres Mannes nicht einen gewissen Status widerspiegelte.

Ansonsten herrschte nach außen hin Bescheidenheit und Wortkargheit. In seiner Freizeit zeigte sich Ibrahim nur äußerst selten vor der Haustür. Eher schon konnte man ihn im Garten hinter dem Haus antreffen. Wenn dann mal einer der beiden nächsten Nachbarn über den Zaun hinweg ein Gespräch anleierte, lenkte es Ibrahim geschickt auf Nebensächlichkeiten, vorzugsweise auf die Gartenpflege.

Mühsam öffnete die Haustür und ging durch den Flur bis ins Wohnzimmer, das zum Garten ausgerichtet war. Er stellte seinen Koffer neben dem Salontisch ab, hing den Mantel über die Rückenlehne des Sofas, zog sein Jackett aus und legte es sorgsam über den Mantel. Dann ging er in die Küche, öffnete den Schrank für die Gläser, entnahm ihm ein Limonadenglas, öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche mit Erdbeermilchshake heraus und befüllte das Glas. Er stellte die Flasche in den Kühlschrank zurück, drückte die Schranktür zu und begab sich wieder ins Wohnzimmer, wo er das Glas auf dem Salontisch abstellte, um dann die wenigen Schritte bis zur HiFi-Anlage zu gehen und eine CD mit einem Klavierstück von Chopin einzulegen. Er wollte sich gerade in seinen Sessel setzen, als ihm auf dem Buffetschrank die Handtasche seiner Frau auffiel.

Seit wann geht Marianne ohne ihre geliebte Handtasche aus dem Haus, ging es ihm durch den Kopf. Ibrahim hatte noch nie in seinem Leben in Mariannes Handtasche geschaut, genau wie Marianne noch nie in seinen Aktenkoffer geschaut hatte. Das hatten sie immer so gehalten, und warum sollte er jetzt von dieser ungeschriebenen Regel abweichen? Vielleicht hätten bei ihm die Alarmglocken geklingelt, wenn er es doch ausnahmsweise getan hätte, denn in dieser Tasche befanden sich Ausweis, Geldbörse und Führerschein seiner Frau. Er dachte aber, sie sei nur eben zu einem Discounter gefahren und habe wohl nur das Nötigste mitgenommen. Er ließ sich aufs Sofa gleiten, nahm einen Schluck vom Shake, legte seinen Kopf zurück gegen die Rückenlehne, schloss seine Augen und konzentrierte sich auf Chopins Werk.

Anderthalb Stunden später lief die CD immer noch. Ibrahim Mühsam hatte den Wiederholungsmodus eingegeben oder vergessen, ihn auszuschalten. Er selber saß immer noch mit verschlossenen Augen in seinem Sessel. Nur allein war er jetzt nicht mehr, und das lag daran, dass er inzwischen tot war.

Gerichtsmediziner Lambrecht erklärte: „Ein heftiger Schlag auf seinen Hinterkopf. Den konnte er nicht überleben.“

„Womit?“, fragte Steiner.

„Metallischer, kantiger Gegenstand”, antwortete Lambrecht. „Der Täter scheint das Ding nicht hiergelassen zu haben.“

Mit einem Blick zu Boomberg stellte Harald die Frage: „Wie ist der Täter hier reingekommen?“

„Schwer zu sagen. Offenbar nicht gewaltsam. Zur Auswahl kann ich Ihnen nur sinnigerweise anbieten, er ist vom Opfer selber reingelassen worden, er besaß einen Haustürschlüssel, oder er ist einfach durch die offene Terrassentür vom Garten her hereinspaziert.“

„Und wie lange ist Mühsam schon tot?“, hakte Steiner nach.

Lambrecht blies seine Wangen auf, ließ die Atemluft entweichen und sagte: „Vielleicht gerade mal zwei Stunden.“

Harald wusste, es war jetzt zwecklos, Lambrecht, Boomberg und die anderen Leute der Spusi weiter mit Fragen zu belagern. Hier störte er nur. Also ging er durch den Flur zur Haustür nach draußen und hinunter zu dem Platz vor der Garage, wo sein Assistent Schmidt mit Jonas Mühsam zusammenstand. Jonas Mühsam war der Sohn des Richters und hatte seinen toten Vater gefunden.

„Herr Mühsam“, sprach Harald mit betont zurückhaltender Stimme. „Sie haben also den Leichnam Ihres Vaters entdeckt. Schildern Sie uns das doch bitte einmal detailliert.“

Jonas Mühsam schien über den ersten Schock hinweg zu sein und konnte sehr präzise Angaben machen.

„Meine Mutter hatte mich für 17 Uhr zum Abendessen eingeladen. Ich war auch ziemlich pünktlich hier. Vielleicht einige Minuten vorher oder einige Minuten nachher. Ich klingelte, aber niemand machte auf. Also habe ich die Tür mit meinem Schlüssel aufgemacht…“

Hier unterbrach ihn Steiner. „Sie wohnen nicht mehr hier, verfügen aber wohl noch über einen Haustürschlüssel?“

„Ja, meine Schwester und ich besitzen immer noch die Schlüssel zum Haus. Meine Mutter wollte das so, als wir ausgezogen sind.“

„Gut, berichten Sie bitte weiter”, sagte Harald.‘‘

„Kaum war die Tür auf, vernahm ich Musik aus dem Wohnzimmer. Ich ging ins Wohnzimmer und dann sah ich schon sofort meinen Vater auf dem Sofa mit der heftigen Kopfwunde. Ich wusste nicht, was geschehen war, aber mich packte die Panik. Ich stürzte sofort wieder zur Haustür hinaus, rannte auf die andere Straßenseite, rief sofort die Polizei an und habe mich nicht mehr von der Stelle bewegt, bis die erste Streife eintraf. Ich hatte es ganz versäumt nachzusehen, ob er wirklich tot war… War er denn schon tot? Habe ich etwas falsch gemacht?“

Beruhigend entgegnete der Hauptkommissar: „Da war Ihr Vater bereits über eine Stunde tot. Aber wo ist Ihre Mutter? Die erwartete Sie doch um 17 Uhr.“

Jonas zog ein verdattertes Gesicht. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Die hätte doch zuhause sein müssen. Sie erwartete mich ja. Ihr Wagen steht auch nicht vor der Garage…“

Genau in diesem Moment erschien einer der Streifenbeamten, die das Haus weiter in Augenschau genommen hatten, und bat Steiner, mit ins Haus zu kommen.

Nach wenigen Minuten war Harald wieder draußen und bat nun seinerseits Jonas Mühsam, ihm ins Haus zu folgen.

Des Richters Recht - Ein Fall für Harald Steiner

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