Читать книгу Des Richters Recht - Ein Fall für Harald Steiner - Ansgar Morwood - Страница 6
Оглавление2. Mühsams Geheimnisse
Erster Freitag nach der Ermordung des Richters
Die Ermordung eines Richters sorgt in den Reihen der Justiz und der Polizei automatisch immer für Aufruhr, Nervosität, Panik und blinden Aktionismus. Als Harald Steiner mit seiner gesamten Mannschaft an diesem Morgen in Patricia Unkels Büro vorstellig wurde, konnte man der Kriminalrätin vom Gesicht ablesen, dass man ihr bereits von höherer Stelle ziemlich zugesetzt haben musste.
Als alle um ihren großen Konferenztisch Platz genommen hatten, fragte sie einsilbig: „Mord, ist es wirklich Mord? Nicht vielleicht doch ein Ehestreit?“
Nüchtern erwiderte Harald: „Wäre ja denkbar, dass Mühsam seine Frau erschlagen und sich dann selber eins auf die Rübe gegeben hat, aber dagegen spricht einiges. Die Tatwaffe ist verschwunden, und zum von Lambrecht angegebenen Todeszeitpunkt der Frau hatte sich Ibrahim Mühsam noch im Gerichtsgebäude aufgehalten.“
Sie sah ihn säuerlich an. „Also ist es Mord.“
„Ja.“
„Bevor wir diesen Fall erörtern, meine Dame und meine Herren, möchte ich Ihnen folgendes mitteilen. Gestern Abend rief mich Theodor Fiebig vom Landesjustizministerium in Düsseldorf an. Er wollte den Fall dem LKA übergeben. Ich erklärte ihm, die ersten Ermittlungen seien vom K zwo eingeleitet worden und es gebe da vielleicht einen Zusammenhang mit einer Verhandlung in einem zweifachen Mordfall, dessen Vorsitz Herr Mühsam gestern geleitet hatte, und dass die Ermittlungen zu diesem Mordfall ebenfalls schon vom K2 durchgeführt worden waren. Herr Fiebig wollte daraufhin wissen, wer das K2 leite. Als ich sagte, Sie, Herr Steiner, seien der Kommissariatsleiter, wurde es seltsam still in der Leitung. Dann meinte Fiebig, das K zwo solle auch den Fall Mühsam weiter bearbeiten, aber ich solle ihn ständig auf dem Laufenden halten.“
„Was gefällt Ihnen daran nicht?“, fragte Steiner. Zwischen Steiner und der Unkel war der Wechsel zwischen Duzen und Siezen normal und ohne Bedeutung. Heute siezten sie sich.
„Was genau, weiß ich nicht. Aber wenn da einer vom Ministerium so schnell der Auffassung ist, es gehe auch ohne LKA…Die brüten doch garantiert etwas aus.“
Harald schnaufte herablassend. „Wann tun die denn schon mal etwas Logisches? Können wir nun mit unserer Arbeitssitzung beginnen?“
Irgendwie beruhigte Haralds Gleichgültigkeit die Kriminalrätin. Sie konnte ja nicht wissen, dass ihr Hauptkommissar schon mit Theodor Fiebig gesprochen hatte, bevor der sie angerufen hatte. In weiser Voraussicht hatte Steiner seine Kontakte spielen lassen, um genau das zu verhindern, was in diesem Fall automatisch geschehen wäre: die Einmischung des LKA.
„Ja, ich bitte sogar darum”, sagte die Unkel.
Steiner stand auf, ging zur Schreibwand, griff sich einen der Filzstifte und schrieb die Worte ‚Strafverfahren Hummel‘ auf die Tafel.
„Der letzte Prozess, dem Ibrahim Mühsam vorsaß, war dieses Verfahren. Der Urteilsspruch erfolgte etwa um 14.40 Uhr, dann zog sich der Richter zurück. Laut seiner Sekretärin muss er das Gerichtsgebäude um 15.30 Uhr bereits verlassen haben. Wann er genau bei sich zuhause eintraf, ist nicht bekannt. In der Straße leben nur biedere Leute. Die Meisten waren auf der Arbeit, und die wenigen, die das nicht waren, haben nichts gesehen oder gehört. Nach dem ersten Befund Lambrechts könnte Mühsams Tod zwischen 15.30 und 16 Uhr eingetreten sein, also eher um 16 Uhr und mit Sicherheit nur wenige Minuten, nachdem er sein Haus betreten hatte. So, wie wir ihn vorgefunden haben, deutet nichts darauf hin, dass er die Anwesenheit oder das Kommen seines Mörders bemerkt haben könnte. Seine Frau, das andere Mordopfer, wurde um etwa 14 Uhr erschlagen. Marianne Mühsams Leichnam lag im Obergeschoss auf dem Ehebett. Sie war von vorne, er von hinten erschlagen worden. Frau Mühsam war häuslich bekleidet. Es hat also nicht den Anschein, dass sie das Haus noch hatte verlassen wollen.“
Die Unkel hatte eine Zwischenfrage. „Wieso ist es von Bedeutung, ob sie wohl oder nicht das Haus noch zu verlassen gedacht hatte?“
„Darauf komme ich noch zu sprechen”, hielt Harald die erwünschte Information zurück. „Jedenfalls ist der Täter nicht gewaltsam in das Haus eingebrochen. Entweder war ihm Einlass gewährt worden, oder er hatte irgendwie die Gelegenheit, ungehindert reinzuspazieren. Was das Mordopfer Marianne Mühsam angeht, deutet nichts darauf hin, dass sie ihren Mörder freiwillig ins Schlafzimmer gebeten hat. Eher sieht es so aus, als sei sie gerade beim Bettenaufmachen oder dergleichen gewesen, als der plötzlich vor ihr stand. Lambrecht glaubt, sie sei mit demselben oder einem ähnlichen Tatwerkzeug niedergestreckt worden wie später ihr Mann. Jonas Mühsam teilte uns nach einer Begehung der Räumlichkeiten mit, es fehle anscheinend nichts. Genau wusste er es nicht, denn fast alle verfügbaren Ablagen sind mit Kerzenständern belegt. Wenn da einer fehlte…na ja. Lambrecht hielt es daraufhin bei Betrachtung noch vorhandener Exemplare für möglich, dass es sich bei einem ähnlichen Exemplar wie einige dieser Kerzenständer um die Tatwaffe handeln könnte.“
„Wer ist denn eigentlich dieser Jonas Mühsam?“, wollte Patricia wissen.
Harald erklärte ihr, wer Jonas war, was er dort zu suchen hatte und wieso er über einen Schlüssel zum Haus verfügte.
„Und sein Alibi?“, kam es spontan von ihr.
„Er hat eines angegeben. Das wird überprüft werden”, zeigte sich Harald verärgert, als hätte sie seine Kompetenz in Zweifel gezogen. „Das weitaus Seltsamere an der Geschichte ist, dass Frau Mühsams Auto nicht da war. Nach allem, was uns die wenigen Zeugen aus der Nachbarschaft berichteten, hatte der Twingo um 13.30 Uhr noch vor der Garage gestanden und um 15.00 nicht mehr. Hatte sie das Gefährt vielleicht in eine Werkstatt gefahren oder von einer Werkstatt abholen lassen? Nein, jedenfalls steht der Renault nicht in der Werkstatt, wo Frau Mühsam ihn normalerweise warten ließ.“
„Und was schließt du daraus, Harald?”, bat die Kriminalrätin um Auskunft.
Harald antwortete nicht sofort, sondern schrieb eine Reihe von Stichworten auf die Tafel. „vor 15.30 Gericht verlassen“, „zwischen 15.30 und 16.00 Uhr ermordet“ und mehr solcher Sachen. Dann noch „Twingo zuletzt um 13.30 vor Garage gesehen.“ Es kam übrigens selten vor, dass Steiner sich eines Stichwörterschemas bediente.
Endlich ging er auf Patricias Frage ein. „Wir haben es mit einem Mörder zu tun, der um etwa 14 Uhr unbemerkt in das Haus der Mühsams eingestiegen ist. Er traf Frau Mühsam in ihrem Schlafzimmer an und erschlug sie vermutlich mit einem Kerzenständer, den er sich irgendwo im Haus geschnappt hatte. Dann wartete er etwa zwei Stunden, bis Herr Mühsam nachhause kam, und erschlug ihn mit demselben Apparillo. Nichts weist auf einen Diebstahl hin, bis auf eben der verschwundene Twingo. Wäre es um den gegangen, hätte der Täter wohl kaum noch die Rückkehr Ibrahim Mühsams abgewartet. Es sieht doch wohl eher so aus, als hätte der Täter erst die Frau ermordet und dann den Wagen weggefahren, damit ihr Mann nicht auf den Gedanken kommen sollte, sie sei vielleicht im Hause. Warum sollte er oben im Schlafzimmer nachsehen gehen, wo sie war, wenn ihr Auto nicht da war? Er legte eine CD ein, setzte sich gemütlich zum Entspannen mit einem Erdbeermilchshake aufs Sofa, und der Täter konnte ihn ohne Gegenwehr von hinten erschlagen.“
„Ja, aber warum?“, insistierte die Kriminalrätin.
„Jedenfalls nicht, um ihn um seiner Wertsachen zu erleichtern”, sagte Steiner. „Warum bringt man einen Richter um?“
„Ja, ja, Harald, das Motiv kann sich wohl jeder denken. Hast du etwas Konkreteres?“
„Vielleicht”, erwiderte Harald. „Ralf, du hast doch die Kontoauszüge der Mühsams gesehen.“
Kommissar Ralf Frisch berichtete: „Ich habe mich nie damit befasst, was ein Richter so verdient, aber Ibrahim Mühsam verfügt so an eine Million Euro an Guthaben, und seine Frau hat nicht weniger als 400.000 Euro auf ihren Konten.“
„Also doch Jonas Mühsam?“, fragte Patricia.
„Es gibt noch eine Tochter”, sagte Steiner „Sie heißt Rahel. Auch sie käme in Frage.“
„Moment einmal”, intervenierte die Unkel erneut. „Rahel, Ibrahim, Jonas, Mühsam…Sind diese Leute etwa Juden?“
„Wie kommen Sie denn auf die Idee?“, spottete Steiner. „Haben Sie womöglich eine xenophobische Neigung?“
Die Kriminalrätin wusste sofort, auf was der Hauptkommissar anspielte. Es galt als Tabu, festzustellen, jemand könne wegen seiner nichtdeutschen Abstammung Täter oder Opfer sein. Das entsprach nicht dem Weltbild der Unkel, die eine verbissene Rotgrüne war und einem idealistischen Weltbild nachhing, alle Menschen seien gleich, und festzustellen, dass sie nicht alle gleich sind, sei eine ethische Sünde.
„Lass den Quatsch!“, tadelte sie ihn.
„Ich habe Jonas gefragt. Ja, die Mühsams sind Juden. Die Eltern und Großeltern des Richters müssen vor Hitlers Machtergreifung ziemlich was besessen haben. Und die Marianne Mühsam hieß mit Mädchennamen Schmitz, und diese Schmitzen waren Halbjuden und auch nicht gerade arm. Da ist anscheinend doch noch etwas kleben geblieben.“
Patricias Stirn runzelte sich „Mord wegen des Erbes?“
„Nicht auszuschließen. Vielleicht war ihm aber auch einer der bösen Jungs, die er hinter Gittern gebracht hat, ein Dorn im Auge, oder ein Opfer oder Hinterbliebener eines Opfers, der meint, er habe jemanden zu sehr geschont”, sagte Steiner. „Mühsam war nun einmal schnell und unkonventionell, wenn es um Strafprozesse ging. Der machte kein Trara. Er hörte sich alles an und richtete. Da wird er vielleicht dem einen oder anderen auf die Füße getreten sein. Aber das tun seine Kollegen, die mit Pomp und Kaugummiverhandlungen zu Gericht sitzen, ja auch laufend. Letztendlich ist nicht einmal auszuschließen, dass sein letztes Urteil Ursache für den Mord war.“
„Das ist aber ein breites Feld, das du da ins Visier nehmen willst”, glaubte die Unkel. „Wo willst du denn dabei ansetzen?“
„Bei den Alibis der Mühsambrut. Aber da gibt es noch etwas. Heinz, berichte du, was Jonas Mühsam dir erzählt hat.“
Heinz Schmidt war richtig stolz, in dieser Runde auch mal das Wort führen zu dürfen. „Jonas glaubt, sein Vater habe Leute erpresst. Er meint, es sei dabei um Altnazis gegangen, die irgendwas in Auschwitz oder so ausgeheckt haben. Was da genau gelaufen sein soll, weiß er nicht, nur dass er öfter gesehen hat, wie sein Vater sich über Akten gebeugt hatte, auf denen der berühmte Stempel mit dem Hakenkreuz unter den Krallen des breitflügligen Adlers abgebildet gewesen sein soll.“
„Und wie kommt der Bursche auf Erpressung?“, interessierte es die Unkel.
„Das hat er mir nicht zu sagen vermocht.“
„Etwas dünn, Herr Kommissar Schmidt, finden Sie nicht auch?“, äußerte sich die Unkel.
Nun schritt Harald wieder ein. „Alles, was wir haben, ist momentan noch dünn. Ich würde lieber wieder an die Arbeit gehen. Um zehn Uhr habe ich einen Termin mit Rahel Mühsam in Braunsfeld. Vielleicht weiß die ja mehr.“
Als sich Hauptkommissar Steiner gegen 10 Uhr im Haus der Mühsams einfand, war die Spurensicherung schon wieder voll aktiv. Steiner setzte sich an Ibrahim Mühsams Schreibtisch in dessen Büro. Er ließ seinen Blick über die Bücher schweifen, die in den Regalen links und rechts aufgestellt waren. Irgendwie bestätigten die Titel der Bände, was Jonas am Vortag gesagt hatte. Der alte Mühsam musste sich wahrhaftig sehr stark mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt haben.
Harald öffnete eine Schublade des Schreibtischs nach der anderen. Darin befand sich nichts, was darauf hinwies, Mühsam könnte Altnazis gejagt haben. Er fragte eine Kollegin von der Spurensicherung, ob es zufällig einen Safe im Hause gebe, den man noch nicht geöffnet hatte, und erfuhr, dass es einen solchen wohl nicht gebe, allerdings habe man in Marianne Mühsams Kommode eine Art Geheimfach oder doppelten Boden ausgemacht, hinter dem sich eine ganze Serie von Mäppchen mit Bankauszügen befunden hatte.
Harald ließ sich diese zeigen. Wenn man über Menschen hörte, die ein fettes Konto in der Schweiz haben, dachte man automatisch an große Bosse, die Steuern hinterzogen hatten, aber kaum an die Ehefrau eines Richters. Und was da alles auf Frau Mühsams Namen stand, war nicht nur in der Schweiz deponiert worden. Belgien, Luxemburg, Finnland, Großbritannien und Spanien waren ebenfalls vertreten. Harald addierte und kam auf ein seltsam hohes Resultat von über zwei Millionen Euro. Das Merkwürdigste an allen Einzahlungen auf diesen Konten war die immer wiederkehrenden Worte „Reparation“ und „Wiedergutmachung“.
Aber sich darüber Gedanken zu machen, konnte Steiner nicht, denn plötzlich stand eine junge, hübsche Frau im Zimmer.
„Sind Sie Hauptkommissar Steiner?“
Mein Gott, dachte Harald, hat Anne Frank doch überlebt? Tatsächlich ähnelte das Mädchen der jungen Märtyrerin, wenn man auch sagen muss, dass sie körperlich eine Portion weniger mädchenhaft und umso reifer aussah.
„Ja. Ja, mein Name ist Steiner, Kripo Köln. Und Sie sind…“
„Rahel Mühsam”, sagte sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.
Er erhob sich aus dem Drehsessel. „Herzliches Beileid.“
„Bitte, Herr Hauptkommissar, das mit den Beileids- und Mitleidsbekundungen dürfen Sie sich sparen.“
„Trauern Sie etwa nicht um Ihre Eltern?“
„Sicher, aber das würde ich gerne im Innern mit mir selber ausmachen. Wenn andere einem das aufdrängen, schmerzt es viel mehr.“
Er musterte sie. Ihr farbenfrohes Kleid passte zu ihren Worten, weniger zum kalten Wetter draußen. „Na gut. Wenn Sie mögen, setzen Sie sich bitte.“
Das tat Rahel, und zwar in einem der Sessel, die vor dem Schreibtisch standen, und auch Steiner setzte sich wieder.
„Sie bevorzugen es also, dass ich den Stier bei den Hörnern packe.“
„Aber ja doch, Herr Steiner.“
„Unser größtes Problem ist die Frage, wieso man Ihre Eltern umbrachte. Haben Sie da eine Ahnung?“
„Da habe ich viele Ahnungen. Mein Vater hat viele Leute hinter Gittern gebracht. Er war Jude, meine Mutter war Halbjüdin. Mein Vater hatte es sich zum Hobby gemacht, Nazischergen zu jagen. Meine Eltern waren nicht gerade unbetucht. Reicht das?“
„Pauschal waren wir auch schon so weit. Ich hätte jetzt lieber etwas Genaueres gehört.“
„Fangen wir doch bei meinem Bruder an. Wir hatten eine Tante, die nie geheiratet und nie Kinder gehabt hatte. Als sie vor sechs Jahren starb, war Jonas ihr einziger Erbe. Tante Isolde hatte immer schon einen Narren an ihm gefressen. Was machte Jonas, der damals erst 20 war? Er schmiss sein Jurastudium hin, zog nach Berlin-Kreuzberg, - ausgerechnet als Jude zog er nach ‚Kleinistanbul‘ -, kaufte sich einen schicken Flitzer und fuhr Tag ein Tag aus den Kudamm rauf und runter. Vor gut einem Jahr war das Geld alle, und es hatte sich ein Berg Schulden angehäuft. Da kam er bei seinen Eltern angekrochen. Papa und Mama gaben ihm aber kein Geld. Stattdessen besorgte unser Vater ihm eine Stelle als Bleistiftspitzer bei einer Anwaltskanzlei, und seither muss Jonas seine Schulden peu à peu von seinem kümmerlichen Gehalt abbezahlen. Für ihn sind mit dem Tod unserer Eltern alle Probleme vom Tisch, und er könnte erneut sein Lotterleben wieder aufnehmen.“
„Sie scheinen Ihren Bruder nicht echt zu mögen.“
„Das haben Sie dann aber falsch verstanden”, stellte Rahel klar. „Ich kann ihn gut ausstehen, aber ich halte nicht viel von seiner Art der Lebensplanung.“
„Ist Ihre Lebensplanung solider?“, erkundigte sich Harald.
„Solider?“ Sie dachte sichtlich nach. „Sie ist vielleicht nicht solider, aber geradliniger.“
„Und womit bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt? Oder studieren Sie noch?“
„Ich wollte ziemlich schnell auf eigenen Füßen stehen. Da habe ich eine Lehre als Kranken- und Altenpflegerin gemacht. Ich habe heutzutage ein geregeltes Einkommen als Pflegerin in einem Seniorenheim. Mir wurde aber auf Dauer bewusst, dass ich besser ein Studium der Sozialwissenschaften oder so belegt hätte. Dann würde ich jetzt mit meinen 24 Jahren viel mehr verdienen. Aber Papa sagte mir, ich brauche von ihm keine finanzielle Unterstützung zu erwarten. Er verharrte auf dem Standpunkt, dass Eltern dazu verpflichtet sind, ihren Kindern nur eine Ausbildung zu finanzieren. Danach müssen die Kinder selber zusehen, wie sie fertig werden.“
Steiner griff diesen Aspekt auf. „Mit anderen Worten, Sie haben genauso ein Interesse am Erbe Ihrer Eltern wie Ihr Bruder.“
Die Antwort war verblüffend ehrlich. „Selbstverständlich. Ich denke, dass jeder von uns beiden so an die 500.000 Euro erben wird. Jonas wird seinen Erbteil wohl schnell verprassen, und ich werde ihn nutzen, ein Studium zu finanzieren. Also ja, ich habe auch ein Motiv. Und nein, ich habe meine Eltern nicht umgebracht.“
„Wie steht es mit Ihrem Alibi für gestern zwischen 14 und 17 Uhr?“
„Ich war allein zuhause in meiner Wohnung. Ich habe diese Woche Nachtschicht. Werden Sie mich deswegen jetzt festnehmen?“ Die Frage klang scherzhaft.
„Nein, dazu müssten wir mehr Verdachtsmomente haben”, sagte Harald und wurde von dem Gedanken gequält, sich mit Klaus Hummels Festnahme schon einmal vergaloppiert zu haben. „Und wieso glauben Sie, dass die jüdische Abstammung ein Grund sein könnte, Ihre Eltern ermordet zu haben?“
„Vielleicht läuft da draußen ein irrer Neonazi oder ein islamistischer Terrorist herum, der die Welt vom Volk Israel befreien will.“
„Wenn es so wäre, glaube ich, der hätte schon längst die Öffentlichkeit wissen lassen, warum er das getan hat.“
Rahel schlug eine andere Variante vor. „Kann ja sein, dass Papa schon mal einen solchen Hirni verurteilt hat.“
Dem widersprach Steiner. „So viel ich weiß, hat Ihr Vater es vermieden, den Vorsitz bei Prozessen zu führen, bei denen die Angeklagten Muselmanen oder Rechtsradikale waren.“
„Das kann er zu vermeiden versucht haben, aber es ist ihm nicht immer gelungen”, meinte die Mühsam. „Außerdem kann ja jeder andere, den er in den Knast geschickt hat, hinterher noch Rachegelüste empfunden haben.“
„Der Sache wird nachgegangen”, erklärte Steiner. „Was hat es eigentlich mit der Jagd nach Naziverbrechern genau auf sich?“
„Davon weiß ich eigentlich recht wenig. Meine Eltern haben sich bei der Chose nie gerne in die Karten sehen lassen. Es ist so, fast die gesamte Verwandtschaft meiner Eltern ist in KZ-Lagern umgekommen. Schon der Vater meines Vaters sammelte massenhaft Beweise, um solche SS-Leute, die die Justiz nach dem Krieg nicht belangen konnte oder wollte, doch noch vor Gericht zu zerren. Das ist ihm auch in einigen Fällen gelungen. Wenn ich es mir aber recht überlege, hat mein Vater selber noch nie einen Naziverbrecher angezeigt. Das heißt, vielleicht hat er doch, und ich weiß nur nichts davon. Papa und Mama waren überhaupt sehr introvertiert.“
Dem Hauptkommissar gingen einige Dinge durch den Kopf. Rahel schätzte das Erbe ihrer Eltern auf eine Million Euro, aber bisher waren schon Bankbelege mit einem Gesamtguthaben von mehr als dem Dreifachen dessen aufgetaucht.
„Wenn Sie es nicht wissen, haben Sie denn dann wenigstens eine Ahnung, wer es wohl wissen könnte? Und wo könnten Ihr Vater oder Ihre Mutter Beweismaterial gegen Altnazis aufbewahrt haben? Wir haben jedenfalls noch nichts Derartiges hier im Haus gefunden.“
„Wenn Sie es hier nicht finden, dann wohl deshalb, weil auch Jonas und ich es nicht finden sollen. Vielleicht sollten Sie mal in Vaters Büro am Gericht nachsehen.“
„Wer könnte mehr über das Hobby Ihres Vaters wissen?“
„Wenn Papa überhaupt mit jemandem darüber gesprochen hat, dann wohl am ehesten mit Rabbi Isidor Nagel. Der wohnt in der Dürener Straße.“
„Eine letzte Frage, Frau Mühsam. Besitzen Sie einen Schlüssel zu diesem Haus?“
„Nein, aber Jonas hat einen. Ich rief immer vorher an, wenn ich kommen wollte.“
Das war immerhin schon eine Diskrepanz zu Jonas Mühsams Aussage, seine Schwester habe auch einen Türschlüssel zum elterlichen Haus besessen.
Den Hinweis auf eventuell abgelegte Schriftstücke in Ibrahim Mühsams Richterzimmer hätte Steiner nicht benötigt. Er hatte sich schon längst über Staatsanwalt Dieter Werle die Genehmigung eingeholt, Mühsams Arbeitsräume untersuchen zu dürfen, und Heinz Schmidt und Ralf Frisch befanden sich bereits im Gerichtsgebäude, um unter anderem auch das zu tun.
Frisch informierte sich beim Archivar über sämtliche Prozesse, denen Mühsam vorgesessen hatte. Insbesondere interessierten ihn solche, in deren Verlauf oder nach deren Beendigung Drohungen gegen den Richter ausgestoßen worden waren oder sich seine Entscheidungen hinterher als Fehlurteile herausgestellt hatten. Zum Glück war Mühsam während seiner knapp zwanzigjährigen Tätigkeit als Strafrichter nur an diesem Gericht in Aktion getreten, aber die Menge an Verfahren unter seinem Vorsitz war nicht gering gewesen.
Schmidt hatte es da mit dem Durchstöbern des Richterbüros einfacher. Alles, was Mühsams Sekretärin einsehen durfte oder wozu sie aus beruflichen Gründen Zugang haben musste, war für den Kommissar ohne Interesse. Anders sah das mit einem Stahlschrank aus, dessen Türen abgeschlossen waren und wozu auch die Sekretärin keinen Schlüssel besaß. Nachdem für Schmidt feststand, dass auch sonst nirgendwo in diesem Büro passende Schlüssel für den Schrank zu finden waren, ging Heinz es sehr unkonventionell an und bediente sich einer Büroklammer, die er aufbog und zweckentfremdet zum Einsatz brachte. Der Schrank war über die Hälfte mit Akten gefüllt, die äußerlich allesamt in amtlichen Gerichtsmappen eingebunden waren, inhaltlich aber nichts mit direkten Gerichtssachen zu tun hatten. Zunächst nahm er die Dossiers nur oberflächlich in Augenschau. Aber das reichte schon, um zu wissen, dass es hier wirklich um etwas anderes ging als um Angelegenheiten, die vor dem Strafgerichtshof von Köln verhandelt worden waren. Dass ausgerechnet der Name Manherr in einer der Akten vorkam, wenn auch nicht Wilfried Manherr…
Auf nahezu dieselbe Unerklärlichkeit stieß Harald Steiner, als er den Rabbiner Isidor Nagel aufsuchte. Nagel war ein Mann von etwa 70 Jahren, hatte aber noch schwarze Haare, - vielleicht gefärbt? -, trug einen dunklen Anzug, einen schwarzen Hut und eine dick beränderte Hornbrille. Letztere warf bei Steiner die Frage auf, ob jüdische Prediger vielleicht ganz allgemein Aktien bei einer Optikerkette haben, denn er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Rabbi gesehen zu haben, der nicht mit einem solch hässlichen Nasenfahrrad ausgestattet gewesen wäre. Allerdings galt dasselbe für katholische Nonnen. Seltsam, seltsam.
Als sich der Hauptkommissar vorgestellt hatte, überraschte ihn der Geistliche mit der Frage: „Kommen Sie wegen den Morden an dem Ehepaar Mühsam zu mir?“
„In der Tat. Aber wie kommen Sie darauf? Die Presse kennt die wirklichen Namen der Opfer doch noch gar nicht.“
„Jonas, der Sohn hat mich heute Morgen angerufen und hat es mir erzählt. Polizei besucht mich ansonsten nur, wenn sich mal wieder jemand berufen fühlte, Hakenkreuzschmierereien an unseren Synagogen oder auf unseren Grabdenkmälern anzubringen.“
Harald ging kurz die Frage durch den Kopf, ob es wohl Juden eigen sei, in Gesprächen mit Deutschen in jedem zweiten Satz die Erinnerung an Hitlers Zeiten wiederzubeleben. Andererseits war er ja ausgerechnet wegen diesem Thema hierhergekommen. Er war schon froh, dass der Rabbi ihm einen Platz in einem Sessel angeboten hatte. Bei einem Japaner, so dachte er, hätte er womöglich nur vor einem Tisch mit abgesägten Beinen knien dürfen. Harald Steiner war nun einmal ziemlich skeptisch eingestellt, wenn es um Leute ging, die kulturell nicht ganz dem Standard eines mitteleuropäischen Bürgers entsprachen.
„Herr Nagel, man erzählte mir, Sie haben Ibrahim Mühsam näher gekannt.“
Nagels Lächeln wirkte gelangweilt. „Ihn und seine Frau näher gekannt haben zu wollen, wäre, was mich betrifft, geprahlt. Ibrahim und Marianne besuchten die Synagoge nur zum jüdischen Osterfest. Sie taten alles, um bloß nicht als Juden aufzufallen, was ich ihnen nicht verdenken kann, zumal er ein Richter war. Allerdings hat er mich auch des privat Öfteren aufgesucht, um mit mir über grundsätzliche Dinge zu reden.“
„Über das Verfolgen von Altnazis vielleicht?“, nahm Steiner an.
„Unter anderem auch darüber. Sie haben anscheinend schon herausgefunden, dass das sein Hobby war.“
„Ja, und genau darüber möchte ich mehr wissen. Es könnte immerhin sein, dass es ihm und seiner Frau das Leben gekostet hat.“
„Meinen Sie?“ Der Rabbi zündete sich zu Haralds Erstaunen eine Zigarette an, hatte er doch immer geglaubt, orientalische Geistliche seien in fast jeder Hinsicht Abstinenzler. „Ich halte das für eher abwegig. Bedenken Sie nur, wie alt solche Leute heutzutage sind, wenn sie noch leben. Ihre Kinder wären ja bereits Greise. Wie ich hörte, sind Marianne und Ibrahim mit einem Gegenstand erschlagen worden. Können Sie sich vorstellen, dass ein alter Mann von fast neunzig Jahren jemanden erschlägt?“
„Eigentlich nicht. Was wollte Mühsam mit seinen Recherchen erreichen?“
„Das haben Sie noch nicht herausgefunden?“ Steiner machte eine verneinende Geste. „Na ja, eigentlich sollte es mich auch nicht verwundern”, fuhr der Rabbi fort. „Ibrahim war ein Eigenbrötler. Also, die Sache war die, er hatte vor, nach seiner Pensionierung eine Stiftung zu gründen, die die Opfer oder Hinterbliebenen von Opfern von Unrechtsregimen finanziell unterstützen sollte. Das Geld dafür hatte er vor zusammenzubekommen, indem er eben politisch unkorrekte Leute zu Spenden zwingen wollte.“
„Verstehe ich Sie recht, er hat Altnazis erpresst? Ist ihm das denn auch gelungen?“
„Wie ich schon andeutete, Ibrahim war nicht sehr mitteilsam. Allerdings hatte er mal fallen gelassen, er und seine Frau hätten schon an die vier Millionen Euro für diesen Zweck gesammelt. Übrigens galt sein Interesse nicht nur Nazis. Er befasste sich auch mit Stasileuten.“
„Oha!“, rief Harald aus. „Wieso das denn?“
„Genaues weiß ich nicht darüber”, antwortete Nagel. „Ich weiß nur, dass die Eltern von ihm irgendwo aus dem heutigen deutschen Osten stammen, dort von den Nazis in den Dreißigern enteignet wurden und weder von der DDR und auch nicht später von unserem deutschen Staat entschädigt worden sind.“
„Aber etwas Konkretes wissen Sie nicht?“
„Das letzte Mal, als ich ihn sah, nannte er den Namen Manherr. Das ist allerdings schon Monate her. Und ob es damit im Zusammenhang steht, weiß ich nicht.“
„Manherr?“ Steiner musste unwillkürlich lachen. „Der Junge war doch erst 30 Jahre alt, als man ihn ermordete. Was soll der mit Nazis oder Stasifuzis zu tun gehabt haben?“
„Wir reden wahrscheinlich nicht über dieselbe Person”, entgegnete der Rabbi ungerührt. „Der Manherr, den Ibrahim auf dem Kieker hatte, soll Aufseher in Auschwitz gewesen sein. Übrigens soll er hier in Köln wohnen. Jochen ist sein Vorname, wenn ich nicht irre.“
„Jochen Manherr“, so weit war Heinz Schmidt auch schon, als er und Ralf auf der Rückfahrt ins Präsidium waren und er mit seinem Chef telefonierte, der das Haus des Rabbis gerade verlassen hatte, „scheint Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Wenn man Mühsams Akten Glauben schenken darf, lebt der Mann noch und wohnt in Köln-Deutz. Ich habe hier sogar seine angebliche Adresse.“
„Was habt ihr sonst rausgefunden?“, fragte der Hauptkommissar.
„Frag mich mal lieber, ob die Hinterachse unseres Autos bis zum Präsidium durchsteht. Dieser Mühsam hat offiziell und offiziös Akten im Umfang einer mittelgroßen Staatsbibliothek angelegt. Bis wir da durch sind, baden sich unsere bis dahin gewachsenen Bärte beim Essen längst in den Suppentellern.“
Ausnahmsweise musste Steiner wegen der Metapher schmunzeln. Immerhin waren weder Ralf noch Heinz Bartträger.
Er ließ sich die Adresse dieses Jochen Manherrs geben.
Als Harald vor der Tür der angegebenen Adresse stand, schaute er etwas irritiert auf das Klingelschild. Da stand nicht Jochen Manherr, sondern Holger Manherr. Aber es gibt ja immer wieder Leute, so dachte er, die ihren ersten Vornamen nicht mögen und sich daher lieber bei einem ihrer nächsten Vornamen ansprechen lassen.
Er läutete. Nach etwa fünfzehn Sekunden wurde die Tür des Reihenhauses geöffnet. Steiner war erstaunt. Wenn der Mann, der ihm nun gegenüberstand, bei der SS gewesen sein sollte, dann konnte der Zweite Weltkrieg doch noch nicht so lange zurückliegen, wie er gedacht hatte. Jedenfalls hätte dieser Mann optisch durchaus für 70 durchgehen können.
„Sind Sie Jochen Manherr?“, fragte Steiner.
„Ja, der bin ich. Und wer sind Sie?“
Harald zückte seinen Dienstausweis und sagte: „Steiner ist mein Name. Hauptkommissar der Kripo Köln.“
„Kripo?“ Manherr schien auffallend schnell zu begreifen, dass es vielleicht keine gute Idee wäre, Verhandlungen mit einem Kriminalbeamten auf der Türschwelle zu führen. „Dann kommen Sie bitte herein.“
Einige Augenblicke später saßen sich Steiner und Manherr in der Küche der Wohnung gegenüber. Für Harald war es befremdend, dass der Alte ihn nicht spontan schon an der Tür nach dem Grund seines Erscheinens gefragt hatte und auch jetzt keine Anstalten unternahm, das nachzuholen.
„Herr Manherr, kennen Sie einen Mann namens Ibrahim Mühsam, seines Zeichens Richter?“
„Mühsam?“ Dem Gesicht des Befragten nach zu urteilen, war diese Frage bei ihm so angekommen, als hätte man sich bei ihm nach Außerirdischen erkundigt. „Komischer Name. Gibt es wirklich Leute, die so heißen?“
„Also kennen Sie den Mann nicht? Vielleicht ist er Ihnen unter dem Namen Ibrahim Schmitz bekannt.“
„Ich kenne einige Leute mit dem Nachnamen Schmitz, aber keinen mit dem Vornamen Ibrahim. Wollen Sie mir nicht endlich sagen, weswegen Sie mich das fragen?“
„Aber sicher doch. Herr Ibrahim Mühsam und seine Frau sind gestern in ihrem Haus in Braunsfeld ermordet worden, und inzwischen wissen wir, dass sich Herr Mühsam mit Ihrer Vergangenheit befasst hat.“
„Warum sollte er sich mit meiner Vergangenheit befasst haben, wenn ich ihn nicht kenne und er mich vermutlich auch nicht kennt?“
„Kannte!“
„Ach ja, Sie sagten ja schon, dass er tot ist.“
Harald sah sich gezwungen, deutlicher zu werden. „Herr Mühsam hatte es sich zu seinem Hobby gemacht, Akten über Leute anzulegen, von denen er annahm, dass sie während des Dritten Reichs Verbrechen begangen haben.“
Manherr erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Anrichte. Er öffnete eine der Türen der Oberschränke, entnahm dem Schrank eine Flasche Martini Bianco und ein Glas, füllte das Glas, trank es in einem Zug leer und war von einer Sekunde zur nächsten wie verwandelt.
Mit herber Stimme schimpfte er: „Hört das mit dem Judenschwindel denn nie mehr auf! Ich habe meinen Arsch fürs Vaterland durch den Matsch der russischen Pampa gewälzt, und zum Dank hat man mich nach dem Krieg dafür büßen lassen, ein SS-Mann gewesen zu sein.“
Steiner wollte es genauer wissen. „Sind Sie etwa auch Aufseher in einem KZ gewesen?“
Hämisch und nahezu hysterisch lachte der Veteran auf. „Ja, das war es eben, was man mir immer wieder vorwarf, was aber nie jemand hatte beweisen können, weil ich eben nie in Auschwitz oder sonst wo in einer dieser fiesen Lager gewesen bin. Ich war bei der Waffen-SS. Als die Amis mich 1945 gefangen nahmen, befand ich mich in Österreich bei meiner Einheit. Diese hirnlosen Yankees machten nicht halbwegs so ein Aufhebens wegen meiner Zugehörigkeit zur SS, wie es später diese Möchtegerngerechtigkeitsfanatiker taten.“
„Also hat man bereits früher versucht, Sie wegen des Holocausts zu belangen?“
„1947 tauchten zum ersten Mal Leute auf, die glaubten, ich sei einer dieser Mörder von Auschwitz gewesen. Das waren natürlich Juden, die das behaupteten. Ich wurde vor Gericht getagt und freigesprochen, weil alle angeblichen Zeugen unterschiedliche Versionen erzählten. Da dachte ich, das Thema sei gegessen. 1950 besorgte mir ein Freund eine Stelle im Innenministerium in Bonn. 1965 kreuzten wieder einige Juden auf, die mich als SS-Aufseher in Auschwitz wiedererkannt haben wollten. Gleiches Spiel wie 47; ich wurde erneut freigesprochen. Dann wurde dieser sozialistische Vaterlandsverräter Bundeskanzler, und man begann nochmals meine Vergangenheit aufzurollen. Ich wurde vom öffentlichen Dienst suspendiert, weil ich beim Verein gewesen war, - nicht weil ich in Auschwitz gewesen sein soll -, und musste die nächsten Jahre von der Sozialhilfe leben. Sie müssen nämlich wissen, dass man SS-Soldaten nicht als reguläre Soldaten betrachtete. Wir wurden von unserem eigenen Staat, für den wir gekämpft hatten, wie Aussätzige behandelt. Später bekam ich dann doch eine bescheidene Rente.“
„Interessant”, murmelte Steiner, dessen Steckenpferd immer schon Geschichte gewesen war. Es hatte ihm auch sehr gefallen, wie Manherr den ersten Bundeskanzler der SPD betitelt hatte. Harald hatte bereits als Kind eine Aversion gegen Willy Brandt wegen dessen erniedrigender Knierutscherei 1970 in Warschau entwickelt. Nach Steiners Ansicht war das ungeachtet der damit verbundenen Absicht der Völkerverständigung und dem Hintergrund der deutschen Kriegsverbrechen ein absolut überflüssiger und verwerflicher Akt gewesen, der keinem Staatsmann würdig war. „Wenn Sie bei der Waffen-SS gewesen sind, können Sie mir doch bestimmt auch Ihre Division benennen.“
„Sie stellen Fragen, junger Mann!“, entrüstete sich der Alte. „Vor allem in den beiden letzten Kriegsjahren wurden die Einheiten immer wieder neu zusammengelegt und umbenannt. Aber vielleicht ist Ihnen die 6. SS-Panzerarmee ein Begriff.“
„Sepp Dietrich?“
„Genau, General Sepp Dietrich war unser Boss. Bei der Truppe bin ich gewesen. Erst waren wir in Russland, dann in Ungarn, dann waren wir die nördlichste Speerspitze in der Ardennenoffensive, und zum Schluss haben wir Wien verteidigt und haben uns westwärts nach Tirol zurückgezogen, als uns klar wurde, dass alles vorbei war und die Gefangenschaft bei den halbwegs zivilisierten Amerikanern immer noch besser für uns ausfallen würde, als von den brutalen Kommunisten nach Sibirien verschleppt zu werden.“
Das klang durchaus glaubwürdig, da sich die Chronik der Dietrich-Truppe tatsächlich so gestaltet hatte. Aber sich über den Zweiten Weltkrieg zu unterhalten, war nicht Steiners eigentliche Mission.
„Lassen wir nochmals zum Doppelmord an das Ehepaar Mühsam zurückkommen. Vielleicht gibt es da ja doch eine Verbindung zwischen Ihnen und dem Richter. Gestern sprach Ibrahim Mühsam nämlich sein Urteil in den Mordfällen Walter Hack und Wilfried Manherr…“
„Ach, daher weht der Wind”, unterbrach ihn Jochen Manherr. „Wilfried war mein Enkel. Mir war allerdings nicht bekannt, dass der Richter, der in dem Fall zu entscheiden hatte, Mühsam geheißen haben soll. Glauben Sie etwa, ich habe den Juden umgebracht?“
„Das glaube ich eher nicht, Herr Manherr. Aber es ist doch seltsam, dass Ibrahim Mühsam einerseits dem Verfahren vorgesessen und andererseits eine Akte über Sie und Ihr Wirken in der Vergangenheit angelegt hat.“
„Passen Sie auf, Herr Hauptkommissar”, sprach der Alte mit strenger Stimme. „Ich mag mit Wilfried verwandt sein, aber ich unterhalte seit Jahrzehnten keine Kontakte mehr zu meinen Verwandten. Ich bin nicht einmal zu Wilfrieds Beerdigung eingeladen worden und auch nicht von mir aus dort erschienen. Was ich über den Prozess weiß, ist das, was in den Zeitungen abgedruckt stand, und nicht mehr. Wieso ein jüdischer Richter hinter mir herschnüffelt, weiß ich auch nicht, aber mit meinen 91 Jahren braucht mich das auch nicht mehr zu interessieren. Ich stehe sowieso schon näher an meinem eigenen Grab, als mir lieb ist. Beantwortet das Ihre Fragen?“
Harald gab sich mit dieser Darlegung zufrieden. Auch wenn Jochen Manherr für sein Alter noch sehr vital wirkte, wäre es absurd gewesen, ihn unter Mordverdacht zu stellen. Er gehörte nach Haralds Ansicht im möglichen Verdächtigenrepertoire unter „ferner liefen“. Zu alt und zu abgeklärt für die Tat und eigentlich ohne Motiv, wenn man ihm glauben durfte. Mit seinem Enkel verband ihn offenbar kaum etwas. Darüber hinaus wäre er nach der Urteilsverkündung auf sich gestellt nur aufgrund des Urteils gar nicht zur Tat befähigt gewesen. Marianne Mühsam wurde zirka um 14 Uhr erschlagen. Da war der Richterspruch noch nicht einmal ergangen, und niemand außer Ibrahim Mühsam hätte vor der letzten Sitzung wissen können, dass es an dem Tag überhaupt zu einem Urteil kommen würde, also hätte sich wohl auch niemand vorsorglich nach Braunsfeld begeben, um einen Mord zu begehen. Und der andere Aspekt, nämlich der der Erpressung zwecks Wiedergutmachungen zu Gunsten von Opfern der Nazidiktatur entfiel ebenso. Jochen Manherr lebte extrem bescheiden. Bei dem war nichts zu holen, egal was er früher einmal ausgefressen haben könnte.
Trotzdem hatte Steiner zwei Fragen nicht gestellt, nämlich ob Mühsam nicht doch versucht hatte, den Alten zu erpressen, und weshalb der Vorname Holger an der Klingel geschrieben stand.
Ralf Frisch, Heinz Schmidt und Monika Mink hatten sich ausgiebig mit den Strafverfahren, denen Mühsam als Richter vorgesessen hatte, im Schnelldurchgang befasst. Alsbald war klar, Mühsam hatte seine Prozesse fast immer im Eiltempo durchgepaukt, was dazu geführt hatte, dass er innerhalb von etwas weniger als zwanzig Jahren 397 Fälle über die Bühne hatte bringen können. 28 Verfahren behandelten vorsätzliche Morde, 82 Affektmorde, die meistens als Totschlag gewertet worden waren, 109 Vergewaltigungen, wovon 20 mit tödlichem Ausgang, der Rest unterteilte sich in Kindesentführungen, Morden an und Misshandlungen von Kindern, Fahrerfluchten, Brandstiftungen, Schlägereien, Menschenhandel und einigen anderen Abartigkeiten.
Wichtig erschienen nur die Fälle zu sein, bei denen ein Verurteilter oder ein ansonsten an einem Fall Interessierter Schmähungen gegen Richter Mühsam ausgesprochen hatte, und das war nicht einmal sehr selten der Fall gewesen. Aktenkundig waren 151 solcher Fälle. Die Kommissare mussten schon schwer sieben, um mögliche Verdächtige herauszufiltern, denn nicht jeder, der in seinem Unmut über ein Urteil unbedacht böse Worte von sich gegeben hatte, war auch als potenziell gefährlich zu betrachten.
Harald Steiners nächster Kandidat war Helmut Jansen, Inhaber der Kneipe Blaubart in der Innenstadt. Hier, so hatte Jonas Mühsam angegeben, habe er am Vortag von dreizehn Uhr bis halb vier im Nachmittag seine Zeit verbracht.
Als Steiner die Wirtschaft betrat, befanden sich nur zwei Gäste im Raum, die beide auf Hockern an der Theke saßen und beinahe geistesabwesend ihre halb mit Kölsch befüllten Gläser anstarrten. Dass der dritte Anwesende der Wirt war, ergab sich von alleine, da Helmut Jansen die einzige Person hinter der Theke war.
Dennoch Haralds Frage an ihn: „Sind Sie der Wirt?“
„Wer will das wissen?“
„Die Kripo Köln will das wissen.“
Die versoffenen Augen der beiden Gäste blickten zu Steiner rüber, aber nur ganz kurz.
„Sie Scherzkeks”, sagte Helmut Jansen und gab einen Lachlaut von sich. Derweil legte Steiner seinen Dienstausweis auf den Tresen, der den Wirt zum Umdenken bewog.
„Oh, entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich hatte wirklich gedacht, Sie wollten mich nur auf den Arm nehmen.“
„Nee, dazu sind sie mir wohl etwas zu schwer. Verkehrt bei Ihnen ein Stammgast namens Jonas Mühsam?“
„Ja, Jonas ist häufiger hier. Wieso fragen Sie?“
Steiner ging nicht auf Jansens Rückfrage ein. „War Jonas gestern auch hier?“
„Lassen Sie mich überlegen.“
„Jetzt machen Sie aber die Witze”, konterte Harald abrupt. „Es sieht hier ja nicht gerade so aus, als könnten Sie sich vor lauter Gästen nicht mehr retten.“
Der Wirt schmunzelte. „Ja, da haben Sie auch wieder Recht. Seit diese Bekloppten das Rauchverbot in Gaststätten durchgesetzt haben, amüsieren sich viele lieber in ihren eigenen vier Wänden. Kann man es denen verdenken?“
„Das war nicht meine Frage”, erwiderte Steiner barsch, obwohl er durchaus die Meinung des Wirts teilte, dass nur Idioten ein Rauchverbot in Kneipen und öffentlichen Gebäuden haben durchsetzen können. Er selber war Pfeifenraucher und scherte sich einen Dreck darum, dass er eigentlich in seinen eigenen Diensträumen nicht rauchen durfte. Die Argumente der „Antirauchermafia“, wie er sie nannte, hielt er für übelsten Populismus. Raucher erleiden Lungenkrebs und liegen somit selbst verschuldet den Krankenkassen auf der Tasche. Sein Gegenargument hieß, wenn Raucher früher sterben, dann entlasten sie die Rentenkassen. Darüber hinaus spielen sie über die Tabaksteuer der öffentlichen Hand wesentlich mehr Geld ein, als was sie als angeblich vom Rauchen Dahinsiechende der Allgemeinheit überhaupt in der Endphase ihres Lebens kosten können. Mal ganz davon abgesehen, dass er, Steiner, genug Nichtraucher kannte, die an Lungenkrebs zugrunde gegangen waren, und viele Kettenraucher, die ein biblisches Alter erreicht hatten, ohne jemals einen Arzt aufgesucht zu haben. Und auch dieses Geschwafel über Passivrauchen hielt er für dummes Geschwätz. Man brauche als Nichtraucher nur in einer Stadt wie Köln zu leben, um täglich genügend Abgase von Autos einzuatmen, die für Lungenkrebs verantwortlich sein können. Nach seiner Meinung waren Verfechter des Rauchverbotes frustrierte Fanatiker, die sich über ihre einfältigen Forderungen nur dafür zu rächen versuchten, selber nicht mehr zu rauchen oder nie in den Genuss gekommen waren, geraucht zu haben. Aber das war ja nun nicht das Thema, das er hier zu erörtern hatte.
Inzwischen kleinlaut geworden, sagte Jansen: „Ja, Jonas war gestern Nachmittag hier. Er kam zusammen mit diesem Gisbert Zöller. Die arbeiten, glaube ich, im selben Betrieb. Das war etwa um 13 Uhr. Gisbert war nur kurz hier und ist nach einer halben Stunde auch wieder gegangen. Jonas ist bis ungefähr 16 Uhr hiergeblieben. Ich habe ihn nicht gefragt, wieso er so lange hier verweilte, aber es wunderte mich schon. Diese Anwälte, die werden doch donnerstags viel zu tun haben.“
Als Nächstes steuerte Harald das Wohnhaus von Gerda Hack in Marienburg an.
Die Witwe von Walter Hack empfing ihn freundlich. Es mutete Steiner aber seltsam an, dass sie immer noch in schwarz gekleidet war. Ihr Gatte war doch bereits zehn Monate tot.
Frau Hack zeigte sich über die Ermordung Mühsams äußerst überrascht, begriff aber die daran verbundene Essenz des Besuchs von KHK Steiner.
„Ich habe nie echt geglaubt, dass Klaus meinen Mann und Wilfried umgebracht hat. Er ist nicht der Typ dafür.“
„Mit anderen Worten, Sie waren mit dem Urteil einverstanden?“
„Ich kann doch nicht wollen, dass jemand unschuldig verurteilt wird, nur damit überhaupt jemand verurteilt wird. Sagen Sie mir lieber, was Sie in diesem Fall zu unternehmen gedenken.“
„Wir fangen wieder bei null an, Frau Hack. Klaus Hummel war der Einzige, der ein Motiv gehabt haben könnte, und wir sind nirgendwo auf Unregelmäßigkeiten gestoßen, was den Betrieb Ihres Mannes und seines Sozius angeht. Entschuldigen Sie bitte, dass ich es ausspreche, darüber überhaupt nachgedacht zu haben, aber wir hatten nicht einmal den Eindruck, dass die Hinterbliebenen einen Grund gehabt hätten, den Tod der beiden herbeizuführen. Die Firma schien zwar gut zu laufen, aber es dürfte Ihnen und Frau Manherr nichts daran gelegen haben, Ihre Ehemänner zu beerben, da Sie beide ja gar keine Ahnung von dem Geschäft haben.“
Gerda Hack zeigte sich nicht ob dieser Eröffnung beleidigt. „Da haben Sie Recht. Wir verdanken es nur dem Einsatz meines Schwagers Ludo und insbesondere des Bruders von Wilfried Manherr, dem Johann, dass wir den Laden so günstig haben abwickeln können. Ich hätte ja nie gedacht, dass man dafür 3 Millionen Euro kriegen könnte.“
Die Überraschung war nun ganz auf Steiners Seite. „Drei Millionen. Die Firma hat tatsächlich drei Millionen Erlös gebracht? Wie das denn? Wenn ich mich recht entsinne, verkauften Ihr Mann und Herr Manherr doch nur elektrische Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen, Föhns und Geschirrspüler, und so immens groß war das Warenlager ja nun auch nicht.“
„Wie gesagt, da fragen Sie doch am besten Johann Manherr. Der hat damals alles geregelt.“
Inzwischen hatten Steiners Assistenten die Anzahl von Leuten, die aufgrund von Mühsams Gerichtsurteilen Rachegelüste gegen den Richter gehegt hatten, welche über das Maß der verbalen Anfeindung hinausgegangen sein könnten, ziemlich gut zusammengestrichen. Übrig blieben demnach nur noch 18 ernstzunehmende Kandidaten, von denen sieben besonders aktuell zu sein schienen.
Bernd Müller (45), hatte angeblich seine Frau im Streit mit Benzin übergossen, angezündet und bei lebendigem Leibe abgefackelt. Mühsam hatte ihn deswegen zu lebenslänglich verdonnert. Nach zwei Jahren Haft gelang es Müller, in einem Revisionsverfahren, seine Unschuld nachhaltig zu beweisen. Die wieder gewonnene Freiheit nützte Bernd Müller wenig. Seine beiden Kinder wollten nichts mehr von ihm wissen, sein früherer Arbeitgeber verweigerte ihm die Wiedereinstellung, und in seiner Wohnung lebten bereits die Nachmieter. Kurzum, er war gesellschaftlich ruiniert und ließ das OLG schriftlich wissen, der Richter werde irgendwann dafür bezahlen müssen.
Viktor Calin (56), sogenannter „Deutschrusse“ mit deutschem Pass und Zuhälter in Köln, war des Mordes an einer Prostituierten angeklagt gewesen. Es konnte ihm nicht nachgewiesen werden, die Tat begangen zu haben, weshalb Ibrahim Mühsam ihn auch nicht deswegen hatte verurteilen können. Es war aber Mühsam eigen, Angeklagte, von denen er überzeugt war, dass sie die ihnen zur Last gelegten Straftaten begangen hatten, auf geringere Vergehen hin schwer zu verurteilen, wenn man ihnen die wichtigeren Anklagepunkte nicht nachweisen konnte. Calin hatte das Pech, dass die Polizei in seinem Haus auch noch 80 Gramm Heroin und 600 Euro Falschgeld gefunden hatte. Also verurteilte Mühsam ihn auf diese Tatbestände hin zu fünfeinhalb Jahren Haft. Bei der Urteilsverkündung war Calin komplett ausgerastet und hatte versucht, dem Richter an die Gurgel zu springen, was ihm in einem späteren Verfahren vor einem anderen Richter weitere acht Monate Haft einbrachte. Calin machte keinen Hehl daraus, was er mit Mühsam anstellen würde, wenn er seiner habhaft werde.
Czeslaw Pilsudski (52), polnischer Staatsbürger und Bauarbeiter, sollte eine Frau vergewaltigt haben, was Mühsam als erwiesen erachtete und Pilsudski drei Jahre Knast bescherte, was eigentlich sogar unter dem Mindeststrafmaß lag. Besonders glücklich war Pilsudski dennoch nicht mit dem Urteil.
Ahmed Hadad (34), muslimischer Libanese und Markthändler, hatte einem seiner Kunden im Streit ein Ohr halb abgerissen. Für diese Körperverletzung kassierte er ein Jahr Haft ohne Bewährung, weil er schon einmal in Berlin wegen eines ähnlichen Vergehens eine Bewährungsstrafe erhalten hatte. Auch Hadad hatte Mühsam die unmöglichsten Verwünschungen an den Kopf geworfen.“
Der Versicherungsvertreter Hanno Thiemann (53) hatte nur „vergessen“, einem seiner Kunden eine Schadensersatzsumme zu überweisen, die ihm seine Gesellschaft angewiesen hatte. Eigentlich ein Betrugsfall, wenn da nicht noch ein kleiner, aber entscheidender Zwischenfall gewesen wäre. Sein Kunde war nämlich gewahr geworden, dass Thiemann das Geld längst erhalten hatte, und stellte ihn zur Rede. Die Kopfnuss, die er dem Kunden deswegen verpasste, kostete Thiemann acht Monate Haft ohne Bewährung. Mühsam versagte ihm die Bewährung, weil Betrug im Spiel gewesen war, und Thiemann erklärte vollmundig nach seiner Haftentlassung, vermutlich weil er vor dem Scherbenhaufen seiner Berufslaufbahn stand, er werde noch mit Mühsam abrechnen.
Ein ganz anderer Fall war der der kleinen Veronika Kormann. Die damals Achtjährige war von einem Triebtäter auf ihrem Nachhauseweg von der Schule abgefangen, vergewaltigt und getötet worden. Als Tatverdächtiger wurde ein gewisser Hajo Konrads (33) ermittelt und vor Gericht gebracht. Ähnlich wie beim Prozess gegen Klaus Hummel sprach Mühsam den Angeklagten aus Mangel an Beweisen frei. Silke Kormann (37) und ihr Mann Ludwig (39), beide Inhaber eines Architekturbüros in Köln, ließen seither keine Gelegenheit aus, den Medien zu erklären, Ibrahim Mühsam sei als Richter eine absolute Fehlbesetzung. Das war zwar keine Morddrohung, aber die Hartnäckigkeit, mit der die Kormanns gegen Mühsam zu Felde zogen war schon sehr markant. Zudem war Hajo Konrads wenige Tage nach dem Urteil abgetaucht und seither nie mehr gesehen worden.
Der Rentner Otto Fühlig (84) wurde am Kölner Südbahnhof angeblich von einem Mann namens Hugo Hipp (27), - der hieß wirklich Hugo Hipp -, vor eine einfahrende S-Bahn auf die Gleise gestoßen. Auch im Fall Fühlig wurde der Angeklagte in dubio pro reo freigesprochen. Und ähnlich wie im Fall Kormann hatten sich die Hinterbliebenen im Nachhinein über Gebühr über Richter Mühsam aufgeregt. Ganz vorneweg Achim Fühlig (56), der Sohn des vom Zug Überrollten.
Steiner war inzwischen am Haus von Johann Manherr (34) angekommen, dem Bruder des Mordopfers Wilfried Manherr. Johann Manherr war selbständiger Steuerberater und arbeitete von zuhause aus. Dementsprechend hatte er so ungefähr das gesamte Erdgeschoss seines Hauses in Büroräume umgewandelt. Dennoch beschäftigte er keine Angestellten, aber er brauchte auch, was die Nutzung seines Hauses anging, keine Rücksicht auf eine Ehefrau oder auf Kinder zu nehmen. Er war nie verheiratet gewesen.
„Ah, Herr Hauptkommissar”, begrüßte Manherr Steiner. „Was kann ich für Sie tun?“
„Tja, Herr Manherr, nachdem nun das Verfahren gegen Klaus Hummel geplatzt ist, stehen wir wieder dort, wo wir im Juli vor einem Jahr gestanden haben.“
„Ähnliches habe ich schon befürchtet”, entgegnete Johann. „Halten Sie Klaus denn wirklich für unschuldig? Aber kommen Sie doch erst einmal herein.“
Manherr führte Steiner in ein Zimmer, das als Konferenzraum ausgestattet war, und er bot ihm am großen rechteckigen Konferenztisch Platz an.
„Ich habe Herrn Hummel nie für wirklich schuldig befunden, Herr Manherr. Er hatte nur das Pech, kein Alibi, aber wohl ein Motiv zu haben. Andere Verdächtige hatten sich ja nun leider nicht auftreiben lassen.“
„Ehrlich gesagt, habe ich Klaus auch nie für schuldig gehalten.“
„Nicht?“, staunte Harald.
„Ich habe ihn ja persönlich gekannt”, legte Manherr dar. „Er war kompetent, was sein Fachgebiet anging, und ansonsten ein sehr ruhiger Typ. Ich und überhaupt jeder in der Firma wusste, dass er zur Flasche griff. Das hat seine Arbeit nie echt beeinträchtigt. Es war nur so, wie es ja auch vor Gericht zur Sprache gebracht worden ist, dass er immer dann, wenn er in Vollrausch verfiel, tagelang nicht mehr zur Arbeit erschien. Letztendlich kostete ihm genau das seinen Job. Aber ich denke, dass jemand, der sich doch zumindest noch so im Griff hat, sich der Öffentlichkeit zu entziehen, wenn er weiß, dass es äußerst unvorteilhaft für ihn sein könnte, sich ihr in seiner unberechenbarsten Konstellation zu präsentieren, nicht auf die Idee kommt, einen Doppelmord zu begehen.“
„Das hört sich aber widersprüchlich an”, meinte Harald. „Haben Sie bereits von den Morden an Richter Mühsam und seiner Frau gehört?“
„Da war etwas über einen Mord an einem Ehepaar in der Lokalzeit im WDR. Waren das etwa die Mühsams? Wenn das ein Scherz sein soll…“
„Das ist kein Scherz. Leider nicht.“
„Sie denken doch nicht etwa, dass ich oder sonst wer der Familien Manherr oder Hack etwas damit zu tun hat.“
„Wir dürfen in der augenblicklichen Phase unserer Ermittlungen nichts ausschließen, aber das ist jetzt gewiss nicht der Grund meines Besuches bei Ihnen. Haben Sie einen Großvater namens Jochen Manherr?“
„Jetzt bin ich aber baff. Gestern noch ging es vor Gericht um den Mord an meinem Bruder, jetzt kommen Sie her und erzählen mir, der Richter sei ermordet worden, und dann fragen Sie mich nach meinem Großvater.“
„Was ich frage oder sage, darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Also, heißt Ihr Großvater Jochen Manherr oder nicht?“
„Ja sicher, mein Großvater hieß Jochen, allerdings ist er schon zehn Jahre tot. Er ist auf dem Melatenfriedhof beigesetzt worden. Aber warum wollen Sie das überhaupt wissen?“
Irgendwie hatte Harald den Verdacht, dass es vielleicht ratsamer für ihn sei, diesem Johann Manherr nicht mitzuteilen, Jochen Manherr gerade erst vor drei Stunden gesprochen zu haben. „War Ihr Großvater im Krieg bei der SS?“
„Ja, bei der Waffen-SS. Jetzt will ich aber wirklich von Ihnen wissen, auf was Sie hinaus wollen.“
Das zu beantworten, konnte sich Steiner durchaus erlauben. „Richter Ibrahim Mühsam hatte sich privat für Ihren Großvater interessiert. Die Mühsams sind Juden, verstehen Sie?“
„Juden? Ach ja, die alte Leier. Na und?“
„Wie standen Sie zu Ihrem Opa und seiner Vergangenheit?“
„Unsere Eltern distanzierten sich von ihm, als er Anfang der Siebziger wegen der SS-Sache aus dem öffentlichen Dienst flog. Mein Bruder und ich sind nie in die Gelegenheit oder Verlegenheit geraten, ihn überhaupt kennenzulernen”, erklärte Johann.
„Gut, das reicht mir schon als Antwort. Übrigens kann ich Sie auch beruhigen, was einen eventuellen Verdacht gegen Sie oder Ihre Angehörigen im Mordfall Mühsam angeht. Nach dem gestrigen Urteilsspruch können Sie wohl kaum so schnell genügend Insiderwissen erworben haben, die Taten so begangen haben zu können, wie sie begangen worden sind. Derweil habe ich eine andere Frage. Der Elektroladen Hack-Manherr ist kurze Zeit nach dem Versterben der beiden Inhaber veräußert worden. Wie hoch war der Erlös, und wer hat das Geschäft übernommen?“
Manherr zeigte sich wenig von dieser Frage beeindruckt. „Das dürfte kaum ein Geheimnis sein, Herr Hauptkommissar. Meine Schwägerin Sandra, also die Frau von Wilfried, und Gerda Hack, die Frau von Walter Hack, hatten Ludo Hack und mich mandatiert, den Betrieb zum für sie besten Preis zu veräußern. Ulrich Kemka aus Ossendorf, selber Elektromeister, hat den Betrieb fast diskussionslos für 3 Millionen erworben.“
Steiner hatte der Gerda Hack diese Summe schon beinahe nicht glauben wollen, aber einem vereidigten Steuerberater… „Sie wollen mir gegenüber doch nicht allen Ernstes behaupten, da sei jemand dahergekommen und hat Ihnen spontan eine solche Summe angeboten. Ich will ja nicht behaupten, der Laden sei nichts wert gewesen, aber drei Millionen…?“
„So ist es aber gewesen, und es war überraschend schnell gegangen.“
Der KHK zog ein äußerst skeptisches Gesicht. „Was war denn so interessant an der Firma Hack-Manherr für diesen Herrn Kemka?“
Johann Manherr spitzte seine Lippen, wie es jemand zu tun pflegt, der eine süßlich klingende Lüge von sich zu geben beabsichtigt. „Die Firma Hack-Manherr war auf dem Gebiet von elektrischen Haushaltswaren in Köln und Umgebung führend. Kemka ist mehr auf die Installation von elektrischen Anlagen spezialisiert. Da traf es sich, dass Herr Kemka einerseits ein zweites Standbein in der Kölner Innenstadt suchte und andererseits die Palette seines Waren- und Dienstleistungsangebots um genau die Sparte der elektrischen Haushaltsartikel erweitern wollte.“
Raffinierte Erklärung, dachte Harald, aber wahrscheinlich ließ sie sich auch noch beweisen. Also versuchte er einen nächsten Wurf. „Wer waren denn, wenn ich die Firma Kemka mal nicht weiter berücksichtige, im Endeffekt die Nutznießer des Verkaufs des Unternehmens Hack-Manherr?“
„Gerda sollte bis auf 250.000 Euro alles Erben, was ihrem Mann gehört hatte, also 1.250.000 Euro. Die Viertelmillion, besser gesagt, ein Sechstel seines Anteils an der Firma, sollte an Ludo Hack gehen. So hatte es Walter stipuliert. Mein Bruder Wilfried hatte mich für ein Drittel seines Anteils als Erbe eingesetzt und seine Frau für Zweidrittel.“
„Woher diese Großzügigkeiten zu Gunsten von Ludo Hack und Ihnen?“
„Was mich betrifft, darf ich mir zu Gute schreiben, seinerzeit Wilfried das nötige Geld vorgestreckt zu haben, damit er seinen Betrieb überhaupt erst gründen konnte. Darüber hinaus habe ich ihn und Walter in den letzten Jahren steuerrechtlich beraten. Walters Anweisung, Ludo in seinem Testament zu bedenken, kann ich Ihnen leider nicht erklären.“
„Ihnen ist klar, dass wir die Mordfälle an Ihrem Bruder und Herrn Hack wieder erneut in Angriff nehmen müssen?“
„Das ist ja wohl das Mindeste, was die Angehörigen von der Polizei erwarten.“
Die Spurensicherung hatte inzwischen im Hause Mühsam ein weiteres Versteck von Dokumenten gefunden. Steiner erfuhr davon, als er sich nach seinem Besuch bei Manherr gerade in seinen Mercedes gesetzt hatte.
„Zwölf Auslandskonten mit insgesamt etwa 5 Millionen Euro an Einlagen auf seinem Namen? Haben Sie sich da auch wirklich nicht geirrt?“
„Keinesfalls”, antwortete Arthur Richter, der stellvertretende Chef der Spusi. „Der Gesamtbetrag dürfte eher um einiges höher liegen, da ich die Beträge in englischen Pfund und amerikanischen Dollars nur vorsichtig auf ungefähr umgerechnet habe, weil ich die momentanen Wechselkurse nicht kenne.“
„Das hieße ja, das Vermögen des Ehepaars Mühsam beläuft sich insgesamt auf 8, 9 oder gar 10 Millionen Euro und mehr.“
„Offenbar.“
„Und woher das ganze Geld kommt, ist das ersichtlich?“, wollte Harald wissen.
„Es sind alles namenlose Eingänge”, erläuterte Richter. „Die Vermerke sind aber sehr identisch mit denen, die wir auf den Auszügen der Frau fanden. Mal Wiedergutmachung, mal Reparationen und ähnliche Begriffe.“
„Ich habe inzwischen irgendwo aufgeschnappt, Mühsam habe eine Stiftung für die Hinterbliebenen von Unrechtssystemen gründen wollen. Haben Sie darüber auch etwas auftun können?“, fragte der KHK.
„Nun ja, bei Bankauszügen mit fünfstelligen Zahlen schauen wir sofort genauer hin, aber nicht bei Korrespondenzen”, erklärte Arthur Richter. „Trotzdem kann ich bestätigen, dass es da einen Schriftverkehr zwischen Herrn Mühsam und diversen Ministerien und Ämtern in Düsseldorf, Berlin und Köln gegeben hat, die alle irgendwie mit der Gründung einer Stiftung dieser Art zu tun haben.“
„Wunderbar. Lassen Sie mir bitte diese Dokumente umgehend zukommen.“
Eine offenbar herbe Enttäuschung erlebte Monika, als sie beim LKA Berlin nachfragte, ob man Ahmad Hadad zu einer Vernehmung in ein Kommissariat der Berliner Kripo einbestellen könne.
Ahmad Hadad suche man selber schon seit einer Woche wegen eines anderen Vergehens. Angeblich sei er in sein Heimatland zurückgeflogen, aber da gebe es schwerwiegende Zweifel, weil Hadad einen eineiigen Zwillingsbruder haben soll. Das Markante daran war, dass nur Ahmad offiziell vor vier Jahren nach Deutschland eingewandert war, niemals aber ein Bruder von ihm.
„Welchen Vergehens bezichtigen Sie ihn denn?“, erkundigte sich Monika Mink, die sich nur deswegen mit ihrem Mädchennamen noch zu melden pflegte, weil es eigentlich allen Regelungen des Polizeidienstes widersprach, zwei Leute der gleichen Familie in derselben Einheit oder Kommission zu beschäftigen. Sie war immerhin Harald Steiners Ehefrau.
„Ahmad Hadad und mehrere seiner Vettern sollen hier in Berlin einem sogenannten Hassprediger ziemlich zuträglich gewesen sein”, sagte Kommissar Egon Brunner. „Präziser darf ich jetzt auch Ihnen gegenüber nicht werden. Sie kennen ja das Gerede der Politiker, Juristen und Journalisten über die friedlichen Muslime. Wenn man dazu als Polizist die eigenen Erfahrungen zum Besten gibt, kann einem das schon mal schnell den Job kosten.“
Monika verstand sofort. Harald hätte anstelle von Brunner kein solch großes Blatt vor den Mund genommen und einfach gesagt, „Sie wissen ja, dass Muselmanen sich bei uns ungestraft die größten Dreistigkeiten erlauben können, weil wir zwei Weltkriege verloren und sechs Millionen Juden ermordet haben.“
Ein weiterer Verdächtiger, der als potenzieller Mörder der Mühsams in die engere Wahl fiel, konnte auch nicht auf Anhieb aufgetrieben werden. Es betraf Czeslaw Pilsudski, der wie vom Erdboden verschluckt worden war.
Die anderen Kandidaten konnte man noch für den Abend dieses Tages vorladen.
Steiner machte einen Abstecher nach Dellbrück und wusste nicht echt, weshalb er die Familie Hummel aufsuchen wollte. Es war doch eher unwahrscheinlich, dass aus ihrem Kreis jemand Ibrahim und Marianne Mühsam ermordet hatte. Klaus Hummels Freispruch konnte ihnen nur recht gewesen sein.
Es war Hummel senior, der ihm gutgelaunt die Haustür der Villa öffnete.
„Ah, Herr Hauptkommissar Steiner. Was beehrt uns Ihr Besuch?“
Harald fiel keine bessere Antwort ein als: „Ich wollte noch ein wenig mit Ihnen reden. Jetzt, wo Ihr Sohn freigesprochen worden ist, stehen wir wieder dort, wo wir schon einmal vor zehn Monaten gestanden haben.“
„Das kann ich verstehen. Kommen Sie doch herein”, gab sich Gerhard Hummel jovial und führte Steiner in den nobel eingerichteten Salon, wo sich die beiden Männer in Fauteuils niederließen. „Wollen Sie etwas trinken?“
„Nein danke”, lehnte Harald ab. „Das mit den gestohlenen Waffen aus Ihrem Keller will mir nicht so echt aus dem Kopf gehen.“
„Dazu kann ich Ihnen nun wirklich nichts anderes sagen, als was ich vor Gericht aussagte.“
„Vielleicht doch”, hielt Steiner es für möglich. „Sie, der Richter und auch wir haben nur sechs Personen in Betracht gezogen, die rein theoretisch den Diebstahl begangen haben könnten. Aber was hatten Sie noch genau über den üblichen Verbleib der Schlüssel zu dem Kellerraum und dem Waffenschrank ausgesagt?“
„Dass ich die in einer Schublade in meinem Arbeitstisch aufzubewahren pflegte”, erinnerte sich Hummel.
„Sie hatten noch etwas anderes dazu gesagt. Die Schublade sei nur dann aufgeschlossen gewesen, wenn Sie sich selber hier im Hause befanden.“
„In der Tat, das habe ich so sinngemäß gesagt”, bestätigte der Gastgeber.
„Bleiben wir also bei der theoretischen Abwägung, dann hätte ja auch jeder, der hier zu Gast gewesen ist, während auch Sie zuhause waren, an die beiden Schlüssel rankommen können.“
„Eine weit hergeholte Theorie”, meinte Hummel. „Meine Kinder, meine Frau und ich empfangen oft Besucher. Mal sind es Freunde meiner Söhne, mal von meiner Frau und mir. Aber Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass die dann unbeaufsichtigt hier durchs Haus tigern können? Mal ganz davon abgesehen, dass solche Leute erst auch noch über das Wissen verfügen müssten, wo sich die Schlüssel und die Waffen befinden.“
„Nun gut, auch darauf kann man sich mit ein wenig Fantasie hypothetische Antworten geben”, stellte Harald diese Argumentation in Frage. „Ihnen und Klaus sollte aber klar sein, dass es besser für Sie und die Ihrigen wäre, wenn diese Frage sich eindeutig klären ließe, weil ansonsten immer ein Restverdacht vorhanden bleibt, der nicht unbedingt exklusiv Ihren Sohn Klaus betreffen muss.“
„Herr Steiner, auch wenn Klaus, Jens und Mark meine Söhne sind und ich eher die Neigung habe, mich gut väterlich zu ihrem Schutz vor sie zu stellen, bin ich doch nicht so naiv und leichtfertig, mich vor sie zu stellen, wenn einer von ihnen diese drei Waffen entwendet haben sollte. Der Makel bleibt, wie Sie richtig andeuteten, immer an uns allen haften. Da ist es mir lieber, einer der Jungs gibt zu, die Waffen gestohlen und versetzt zu haben.“
„Oder sie für zwei Morde benutzt zu haben”, ergänzte Steiner hinterlistig.
„Wenn Klaus mir das zu verstehen gäbe…Na, da muss ich zugeben, ich weiß nicht, wie ich dann handeln würde”, gab Gerhard Hummel offenherzig zu. „Haben Sie noch weitere Fragen?“
„Ja. Wo hielten Sie, Ihre Frau und Ihre Söhne sich gestern nach der Urteilsverkündung bis etwa 17 Uhr auf?“
Hummel lächelte ein wenig skeptisch. „Was soll die Frage denn?“
Harald klärte ihn darüber auf, dass in diesem Zeitabschnitt der Richter und seine Frau ermordet worden waren.
„Ermordet?“, Hummel war sichtlich entsetzt und rang nach Fassung. „Sie glauben doch nicht…?“ Er fasste sich dann doch wieder „Ist auch egal. Klaus und ich sind sofort vom Gericht aus hierhergefahren. Meine Frau und unsere Haushälterin hatten schon ein kleines Fest für Klaus’ Freispruch vorbereitet. Ich hatte meine Frau direkt nach der Urteilsverkündung angerufen. Als wir hier ankamen, waren Mark und Jens bereits aus der Schule zurück. Vom Gericht bis hier haben uns etwa ein Dutzend Journalisten verfolgt, und einige von denen haben dann noch hier bis acht Uhr abends vor der Tür ausgeharrt.“
Steiner beruhigte den Hausherrn wieder. „Es war nur eine Routinefrage, die von der Logik her eigentlich keinen Sinn ergibt. Ich musste sie stellen. Wenn man mich richtig informiert hat, ist Klaus jetzt wieder bei Ihnen eingezogen.“
„Ja, wir sind von seinem Vermieter ja schon zwei Wochen nach seiner Inhaftierung gebeten worden, seine Wohnung zu räumen.“
„Aha! Ist er zufällig im Hause?“
„Ja, er ist auf seinem Zimmer. Ich werde ihn rufen, wenn Sie das wünschen.“
Wenig später betrat Klaus Hummel ohne seinen Vater das Wohnzimmer. Auch Klaus, dem Harald von dem Doppelmord an das Ehepaar Mühsam berichtete, überkam eine glaubwürdig echte Irritation. Der Hauptkommissar wollte ihn nicht auch noch mit der Frage nach seinem Alibi zusätzlich verunsichern. Ihn als Täter im Fall der Mühsammorde zu verdächtigen, war absolut absurd. Also tat er ihm kund, was er auch seinem Vater nahegebracht hatte, nämlich dass der ältere Doppelmord an Hack und Manherr nun auch wieder auf die Tagesordnung seines Kommissariats gesetzt worden war und er, Klaus, sich noch nicht ganz als aus der Schusslinie genommen zu betrachten hatte.
Klaus jammerte: „Nimmt das denn gar kein Ende mehr? Halten Sie, Herr Kommissar, mich denn immer noch für verdächtig?“
„Eher nicht. Ich habe Sie nicht einmal bei Ihrer Verhaftung für echt schuldig befunden”, erklärte Harald. „Trotzdem könnten Sie mir vielleicht bei der Wiederaufnahme des Falls Hack-Manherr behilflich sein.“
„Ich? Ich glaube, ich habe im Verlauf der Verhöre und der Gerichtsverhandlung alles gesagt, was ich wusste.“
„Mag sein, Herr Hummel. Ich bin aber heute gewahr geworden, dass beim Verkauf des Elektrogeschäfts Hack-Manherr ziemlich viel Geld geflossen ist. Nach meinen bescheidenen Kenntnissen über eine solche Materie war der Betrieb das nicht wert.“
„Hm…“, Klaus dachte krampfhaft nach. „Da war kurz vor meiner Entlassung mal die Rede von einem Megaauftrag gewesen. Vielleicht hat’s damit zu tun.“
„Ein Megaauftrag? Worum ging es dabei?“
„Hatte etwas mit der protestantischen Kirche zu tun. Darüber wussten wir gewöhnlichen Angestellten bestimmt nicht Bescheid. Die Chefs und auch Johann Manherr kümmerten sich darum und auch ein Architektenbüro. Kormann, so hießen die, glaube ich.“
Harald konnte jetzt noch nicht den Link zu den Kormanns legen, die seinen Kollegen im Fall Mühsam bereits aktenkundig waren. Aber die Erwähnung von Johann Manherr gab ihm einen Ansatz, eine weitere Frage zu stellen.
„Welche Funktion hatte Johann Manherr denn eigentlich in der Firma inne? Wie er mir erzählte, waren er und Ludo Hack maßgeblich an der Abwicklung des Unternehmens beteiligt.“
„Johann arbeitete im Büro, hatte anscheinend ziemlichen Einfluss auf Walter und Wilfried. Aber Ludo? Sind Sie sicher? Der Kerl ist doch unterbelichtet. So viel ich weiß, kriegt er nicht einmal seine eigenen Sachen auf die Reihe gesetzt.“
„Sagen Sie mal, Herr Hummel, wieso kommen Sie erst jetzt mit diesem Megaauftrag?“, staunte Steiner. „Damals, als wir Sie in die Mangel nahmen, müsste Ihnen doch klar gewesen sein, dass Sie Ihre eigene Situation verbessert hätten, wenn Sie uns eine andere Spur hätten aufzeigen können.“
Klaus verwehrte sich. „Sie wissen doch selber, dass es mir in der Zeit schlecht ging. Außerdem weiß ich ja nichts echt Richtiges darüber, und über den Verkauf des Ladens weiß ich gar nichts. Da war ich doch schon weg vom Fenster, weil ich in U-Haft saß.“
„Sagt Ihnen die Firma Kemka in Ossendorf etwas?“
Hummel machte große Augen. „Ja, der Name sagt mir etwas. Als Hack-Manherr mich entlassen hatte, habe ich mich sofort um einen neuen Job bemüht. Unter anderem habe ich mich persönlich auch bei Kemka vorgestellt und mit dem Chef persönlich gesprochen. Ziemlich vorwitziger Kerl, muss ich sagen. Und jetzt, wo wir es gerade über den Megaauftrag von den Evangelischen hatten, kommt’s mir auch wieder. Der hat mir ein Loch in den Bauch gefragt, was den Auftrag anging. So als hätte ich irgendetwas darüber wissen müssen.“