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Fuller
ОглавлениеDavid Fuller erzählte seinen Wellensittichen von Propriozeptiver Neuromuskulärer Fazilitation. Es störte ihn nicht, dass sich die Vögel der Sepiaschale in der Mitte des Käfigs widmeten und seinem Vortrag über diese physiotherapeutische Behandlungsmethode keinerlei Beachtung zu schenken schienen. Er referierte über Exterozeptoren, Telerezeptoren und Propriozeptoren als gäbe es nichts Interessanteres auf dieser Welt.
Das Schrillen des schwarzen Weckers riss ihn aus seinen Ausführungen. Fuller schüttelte Arme und Beine aus und begann sein tägliches Karate-Training. Mentales Fokussieren nannte er diese Übung. Nach zehn Minuten hörte er auf und trocknete seinen nackten Oberkörper ab, ordnete seine schüttere Frisur und schlenderte ins Wohnzimmer.
Dort legte er sich auf eine alte Massagebank, befestigte vorschriftsmäßig die Elektroden für die Virtual-Stimulation an Stirn, linker Schläfe und Brustbein und loggte sich ein.
Fünf Minuten später räkelte sich eine nackte Frau auf der komfortablen Lederliege seiner virtuellen Praxis. Seine Hände wanderten von ihren Fußsohlen hinauf zu den Unterschenkeln. Langsam und gefühlvoll massierte er die wohlgeformten Waden. Die Frau hob ihren Kopf, schüttelte ihr langes schwarzes Haar und schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln, was seinen Unterleib zum Kribbeln brachte. Derart animiert ließ er seine Hände mit sanftem Druck über die Oberschenkel gleiten, umkurvte ihre Pobacken, um schließlich mit kreisenden Bewegungen im Lendenbereich zu verweilen.
Seine Patientin schien die Behandlung zu genießen. Fuller lächelte. Er war ein Virtuose, es gab keinen besseren: Der menschliche Körper war seine Klaviatur. Seine Kundinnen und Kunden schworen auf die sinnliche Magie seiner Fingerspiele. Er war sich sicher, dass er diesen Beruf sogar in der analogen Welt hätte ausüben können, wenn man dort noch Physiotherapeuten gebraucht hätte und nicht das meiste von Servanten erledigt worden wäre.
Sein Blick fiel durch die Fensterfront seines Studios auf die überwältigende Kulisse der sonnenbestrahlten Berner Alpen – eine Aussicht, an der er sich nicht sattsehen konnte. Jetzt wanderten seine Hände an der Außenseite ihres Rückens empor bis zu den seitlichen Ansätzen ihrer Brüste, die nicht besonders groß, aber perfekt geformt waren. Kundig stimulierte er mit den Fingerspitzen die besonders sensiblen Punkte unterhalb der Achseln.
Auch wenn ihn der morgendliche Übergang ins Arbeitsleben stresste, liebte er seinen Job. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus, was die Frau dazu veranlasste, sich nach ihm umzudrehen. Beruhigend lächelte er ihr zu. So gut hatte er sich früher nie gefühlt. Er liebte seinen Avatar, er war groß, muskulös, hatte lange, schwarz gelockte Haare, ein markantes Kinn und strahlend weiße Zähne. Die künstlich stimulierten Endorphine, die durch seine Adern flossen, verschafften ihm ein Wohlgefühl.
Gerade als er sich an die Nackenmuskulatur der Frau machen wollte, richtete diese sich auf. Ihre blauen Augen musterten ihn eindringlich. Er spürte, wie seine Schultermuskulatur verkrampfte. Es fühlte sich alles vollkommen real an, auch das Hämmern seines Herzens. Wo hatte die Frau plötzlich die Pistole her? Und warum zielte sie auf ihn? Und wie konnte es sein, dass sich die Kugel so langsam auf ihn zubewegte und er dennoch nicht in der Lage war, ihr auszuweichen?
Für einen kurzen Moment zuckte die Erinnerung an eine CNN-Meldung über einen Serienmörder im Netz durch sein Bewusstsein, bevor es um ihn herum schlagartig dunkel wurde.