Читать книгу Adelias Traum - Antje de la Porte - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеWas zog man zu einem Orientalischen Fest an? Zoe stand vor dem Kleiderschrank in ihrem alten Kinderzimmer und schob ratlos einen Bügel nach dem andern beiseite. In den Wochen, in denen sie wieder in ihrem Elternhaus Unterschlupf gefunden hatte, war es ihren Kleidern nicht gelungen, den Geruch der Kinderzeit aus dem Schrank zu vertreiben. Der frische, holzige Duft, an den sie sich, weit fort von zu Hause, auch als Erwachsene noch erinnert hatte und den sie stets mit Aufbruch oder neuem Anfang in Verbindung brachte, ließ sich nicht verdrängen. Er hatte das Recht hier zu sein. Und er blieb.
Zoe kaute auf ihrer Unterlippe, was sie immer tat, wenn sie nervös war – etwas, das ihr Bodo verbot, wenn er sie dabei ertappte. Sie biss der Unterlippe da, wo sich vom vielen Daraufherumbeißen ein kleiner Wulst gebildet hatte, ein Stückchen Haut ab. Sie schmeckte ihr Blut.
Hätte sie doch bloß nicht die safranfarbene durchsichtige Bluse mit der roten Perlenstickerei zerschnitten. Die wäre jetzt wohl passend gewesen. Aber wie hätte sie ahnen können, dass sie einmal über einen orientalischen Tanzabend schreiben würde?! Sie, Zoe Pfeifer, und der Auftrieb verkleideter Frauen, die meinten hinter der abendländisch aufgetakelten Tanzkultur des Orients endlich zu einer Weiblichkeit zu finden, die ihnen in ihrem angestammten Kulturkreis verwehrt blieb. So was konnte man doch nicht ahnen.
Drei Jahre hatte sie diese Bluse, die kein bisschen ihrem Stil entsprach, von Saison zu Saison mitgeschleppt. Nur weil Bodo sie ihr als Souvenir von seinem Interview mit Benazir Bhutto mitgebracht hatte. Bodo auf Erfolgskurs. Und für sein Eheweibchen war eine Safranbluse und die »Ratgeberspalte« in einer Billig-Frauenzeitschrift geblieben.
Was hatte sie während des Studiums für Zukunftsvisionen gehabt ... Eine verdammt gute Journalistin hatte sie werden wollen, ein, zwei Bücher schreiben, sich auf keinen Fall klein machen lassen, für Ideale kämpfen und für den Beruf leben. Doch dann war Bodo wie ein Sturm aufgekommen und hatte sie vom rechten Weg abgebracht. Sie verlor ihr Ziel aus den Augen. Und das hatte am Ende der safrangelben Bluse mit den roten Perlchen das Leben gekostet! Unter anderem.
Entschlossen zog Zoe eine schwarze enge Satinhose und ein dunkelrotes Satin-T-Shirt aus dem Schrank. Zusammen mit einem bunten indischem Schal vom Flohmarkt, den sie sich um die Hüften wickelte, musste das reichen. Im Flur griff sie sich die schwere Fototasche und einen Notizblock. Jetzt konnte es losgehen. Hoffentlich zeigte der Abend nicht tatsächlich nur den Auftrieb fülliger Dorfschönheiten, die in rosa Tüll und Glitzer wie Miss Piggy zu Weihnachten aussahen. Es war erstaunlich, dass so etwas wie ein orientalisches Tanzfest – Bauchtanz! – in Eichweiler stattfand. Als Teenager, in den Siebzigern, hatte Zoe etwas über Bauchtanz gelesen, der damals in Amerika bei den Frauen sehr ankam. Sie hatte ihrer Mutter davon erzählt und die hatte gesagt: »Das ist nichts anderes als Striptease. Komm mir bloß nicht auf merkwürdige Ideen!«
Heute gab es in Eichweiler ein Tanzstudio für orientalischen Tanz. Zoe war neugierig auf die Frauen, die den Orient nach Eichweiler gebracht hatten. Sie hatte schon Gerüchte über die Frauen gehört. Nichts passierte hier unkommentiert. Doch was immer sie auf dem orientalischen Fest erwarten würde – sie war Journalistin und wild entschlossen für den Eichweiler Boten einen guten Artikel darüber zu schreiben. Irgendwo musste sie schließlich beruflich wieder anfangen.
Als sie am Wohnzimmer vorbeiging, sah sie ihren Vater vor dem Fernseher sitzen. Seit Zoes Mutter vor einem halben Jahr an Krebs gestorben war, sah er viel fern. Er erzählte der Tochter, wie sehr er die gemeinsamen Gespräche, die kleinen Streitereien, die gemeinsamen Mahlzeiten mit seiner Frau vermisste. Abends schmierte er sich achtlos zwei Scheiben Brot mit dem, was im Kühlschrank noch nicht verschimmelt war, nahm alles auf einem Holzbrett mit ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er empfand es als ungerecht, dass er zurückgeblieben war. Sein Leben hatte er in der Gewissheit verbracht, dass er vor seiner Frau sterben würde. Er hatte deswegen für sie und Zoe vorgesorgt. Es gab zwei Lebensversicherungen, eine Sterbeversicherung für die Beerdigung und zwei kleine Festgeldkonten. Das Haus war fast schuldenfrei. Sie hätten es also ohne ihn gut gehabt – aber so? Es war ungerecht, dass sie ihn zurückgelassen hatte. Sie wusste doch, wie hilflos er war, wie unselbstständig. Ihr Leben lang hatte sie ihm gesagt, wie unselbstständig er war. Dass er sich nichts Passendes aus dem Kleiderschrank suchen konnte, dass er sein Notizbuch und seine Brille verlegen und nie mehr finden würde, wenn er sie nicht hätte ... Es war ungerecht, so ungerecht!
»Ich geh jetzt. « Zoe küsste ihren Vater auf die Stirn. Er schrumpft, dachte sie. Seit ich hier bin, wird er täglich ein kleines bisschen schrumpeliger und kleiner. Wie ein Apfel, der zwar noch seine ursprüngliche Farbe behält, der sich aber in sich selbst zusammenzieht. Ihr Vater wurde ein schrumpeliger Apfel.
»Ist gut. Komm nicht so spät. « Er ließ den Bildschirm nicht aus den Augen, sah sie nicht einmal an.
Zoe ließ sich Zeit. Hatte es gar nicht mehr eilig, zum Fest zu kommen. Gerade so, als hätte sie dort etwas zu befürchten. Sie stieg in ihren Käfer, den sie vor langer Zeit zum Abitur geschenkt bekommen hatte, den ihre Mutter später als »fahrbare Einkaufstasche« hütete und pflegte wie ein Haustier, eine Reliquie, die sie an die Tochter erinnerte. Das flauschige, verblasste, ehemals pinkfarbene Stoffmaskottchen aus Polyester, halb Troll, halb Monster, mit gläsernen Augen und Riesenpupillen, baumelte seit damals am Rückspiegel und glubschte sie auch heute Abend freundlich an.
Was hatte sich ihre Mutter nur dabei gedacht? Warum waren Mütter so sentimental und hingen mehr als die Kinder an deren Spielsachen? Die Puppen, Stofftiere und Autos hatten, wenn man es genau betrachtete, zwei Besitzer. Wenn die Kleinen, für die all das Spielzeug mal ins Haus getragen worden war, zu groß wurden, hüteten die Mütter die Sachen. Manche Puppen wurden wieder mit unanständig naiv gespreizten Beinchen auf die Jungmädchenzimmerliegen gesetzt, wenn die jungen Mädchen das Haus längst verlassen hatten um zu studieren. Als hielten die Puppen den Mädchen die Plätze frei. Und eines Tages, wenn die Töchter nach Hause kamen um die Mutter oder den Vater zu beerdigen, dann fanden sie die Puppen und Stofftiere vor. Doch die waren ihnen kein Trost, sondern machten den Abschied doppelt schwer.
Zoe fuhr in Gedanken versunken durch die Straßen. Es hatte sich in Eichweiler viel verändert. Die Fachwerkhäuser waren renoviert worden. Es gab eine autofreie Zone, Straßencafés, neue Läden, die nach der Grenzöffnung wie Pilze aus dem Boden sprossen, vier Reisebüros und vier neue Ampelkreuzungen, die den Verkehrsfluss behinderten. Die Straßenkreuzung vor dem schon vor langer Zeit stillgelegten Bahnhof war noch unübersichtlicher geworden, sodass ortsfremde Autofahrer ihrem Schutzengel dankten, wenn sie diese Hürde ohne Unfall gemeistert hatten. Die Banken und Behörden hatten neue, größere Gebäude hinzugebaut oder zusätzlich alte Gebäude annektiert. Es gab weniger Parkplätze, aber mehr Verkehrsschilder und Parkautomaten. Der Schlosspark mitten in der Stadt hatte viele alte Bäume hergegeben und war zu einem Grünstreifen geschrumpft und der Fußweg am Fluss unterhalb des Schlosses war gesperrt. Betreten verboten!, kreischte ein gelbes Schild mit knallroter Schrift an der Treppe zum Fluss.
Ein großes Plakat kündigte am Karstadtparkhaus das jährliche Heimatfest an. Am ersten Wochenende im September würden die Uhren anders gehen. Viele, die die Stadt verlassen hatten, würden für drei oder vier Tage zurückkehren. Um Freunde zu treffen, durch die bratwurstverräucherte Altstadt zu ziehen, sich in den Kneipen und an den Bierständen auf den Straßen voll laufen zu lassen und sich, wenn der Kopf nicht zu sehr brummte, sonntags den Festumzug anzuschauen. Manche Dinge änderten sich eben nie. Am Montag würden wie seit Urzeiten mittags die Büros und Geschäfte schließen und alle würden sich im Festzelt treffen. Chefs würden mit ihren Angestellten Brüderschaft trinken (und sich am nächsten Morgen nicht daran erinnern), Streit und Schlägereien würden die Ordnungshüter beschäftigen, Frauen und Männer würden fremdgehen oder wenigstens ein bisschen herumknutschen ... und am Dienstag würde alles vorbei sein, bis zum nächsten ersten Wochenende im September. Manches ändert sich nie, dachte Zoe, oder so langsam, dass ein Menschenleben nicht ausreicht um die Veränderung wahrzunehmen.
Sie kam bereits zum zweiten Mal am Parkhaus vorbei. In ein paar Wochen würde also mal wieder der provinzielle Ausnahmezustand ausgerufen werden. Sie musste sich bis dahin eine plausible Ausrede einfallen lassen um an diesem Wochenende im September nicht in Eichweiler zu sein. Sie wollte auf gar keinen Fall an frühere Heimatfeste erinnert werden. Wie hatte sie nur vergessen können, dass Rückkehr nach Eichweiler auch das »Hänschenfest« bedeutete, an das sie nie wieder im Leben hatte denken wollen! Nie wieder!
Sie parkte den Käfer zwischen einem roten Passat, dessen Heckscheibe »Baby on Tour« meldete, was ein bunter Kindersitz im Inneren bekräftigte, und einer alten Charleston-Ente, deren Besitzer auch für Tiere bremste, wie Zoe las, als sie sich hinter der Ente zum Eingang der Tanzoase, die früher einmal eine Näherei beherbergt hatte, hindurchschlängelte.
Für einen Augenblick fühlte Zoe sich in eine andere Welt versetzt. Sie betrat den Raum, in dem die Näherinnen an Maschinen gesessen hatten. Der Ort, an den sie mit ihrer besten Freundin Doris Nagl kam, weil eine der Näherinnen für Doris, Tochter der reichsten Familie von Eichweiler, ein Faschingskostüm nähte. Auf dem Weg zur Näherei, der jetzigen Tanzoase, hatte Zoe sich vorgestellt, dass die Maschinen noch da wären und nur mit Stoffen verhüllt worden waren. Was natürlich Unsinn war, wie deutlich zu sehen war. Aber alte Erinnerungen, besonders die aus der Kindheit, hatten das so an sich – sie wollten sich nicht verändern. Auch wenn Straßen verbreitert wurden, Häuser der Abrissbirne zum Opfer fielen und an ihrer Stelle ein Supermarkt entstand, selbst wenn man den Bau des Supermarktes beobachtet und sogar schon dort eingekauft hatte – in der Erinnerung und im Traum war die Straße noch einspurig und die alten Häuser standen unverändert an ihren Plätzen. So war das auch in Zoes Erinnerung mit der alten Näherei der Familie Nagl.
Ihre Augen mussten sich nicht nur an das gedämpfte Licht gewöhnen. Der Raum war voller Kissen, Teppiche, Tücher, Schleier und niedriger Tischchen, um die Frauen in bunter, orientalisch anmutender Kleidung lagerten, aßen, tranken, plauderten und lachten wie in einem Harem. Einige trugen kleine silberne oder goldene Glöckchen um Fesseln und Arme, die die Schritte der Trägerinnen mit raschelndem Klingeln begleiteten, das es verstand, auf leise Art die laute Musik zu durchdringen. Der würzige Duft von Kardamom, Zimt, Räucherwerk und schwerem Parfüm zog durch den Raum. Zoe stand noch unschlüssig in einer Ecke neben der Tür, als die arabische Musik plötzlich lauter wurde. Flöten und Trommeln waren zu hören und eine Frauengestalt, deren Anmut hinter den vielen roten und blauen Schleiern zu ahnen war, tanzte geschmeidig in die Mitte des Raumes. Die Frauen rundherum beobachteten sie wie gebannt und auch Zoe hei es schwer, sich vom Anblick dieser geheimnisvollen Erscheinung zu lösen.
Wo war die Fototasche?
Ein Schleier nach dem anderen schwebte zu Boden. Der eine drehte Pirouetten, der andere spreizte sich, entfächerte seine bunte Vielfalt, noch ein anderer wirbelte mehrmals um den Kopf der Tänzerin, bevor er endlich zu ihren Füßen Ruhe fand. Ein rascher Tempowechsel und die Frau tanzte mit zitternden Hüften zwischen die Reihen der Sitzenden, forderte sie auf mit ihr gemeinsam zu tanzen, wobei die blauroten Strass- und Paillettenschnüre am breiten Hüftgürtel der Tänzerin klirrend hin- und herschwangen. Als bestünde sie aus zwei Teilen, bewegte sie scheinbar mühelos nur den Bauch und die Beine, während ihr Oberkörper ruhig blieb. Nur Arme und Hände untermalten den Schwung der Hüften. Alle folgten dem Ruf, keine schloss sich aus. Bunte Gestalten tanzten im Kreis, wobei eine nach der anderen in die Mitte tanzte und die ihr eigene Kunst zeigte: schlangenartige Bewegungen der Arme und Hände, Kreisen und Zittern mit Bauch und Hüften oder dem Busen. Die Frauen schienen kein Ende finden zu wollen und langsame Klänge wechselten wieder mit schnellem Trommelschlag.
»Sind Sie die Reporterin vom Eichweiler Boten?« Die Stimme riss Zoe unversehens aus der Verzauberung. Überrascht blickte sie in zwei dunkle, kohlumrandete Augen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Tänzerin im blauroten Kostüm sich aus der Gruppe gelöst hatte.
»Ich bin Adelia. Hat sie der Zauber des Orients ergriffen?« Sie legte eine Hand auf Zoes Arm und schob sich mit ihr zu einem freien Tischchen. Zoe glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ihnen eine bunt gekleidete Frau, die einen Papagei auf der Schulter trug, heißen und süßen Pfefferminztee servierte. Wie eine Fata Morgana löste sie sich danach im Kreis der Tanzenden wieder auf. In welchem Traum war sie? Am liebsten hätte Zoe sich wie ein Kind vor Überraschung die Augen gerieben oder sich gekniffen.
»Ich würde Ihnen sehr gern mehr über den orientalischen Tanz erzählen. Ursprünglich gab es nämlich festgelegte rituelle und zeremonielle Bedeutungen, doch mit der Zeit ...« Zoe hatte Mühe sich auf Adelias Stimme zu konzentrieren. Die Musik war laut, die vielen Düfte, Klänge, Stimmen, das alles reizte ihre Sinne so sehr, dass sie sich nicht auf die Geschichte des Tanzes konzentrieren konnte und es auch gar nicht mehr wollte. Sie würde viel lieber noch einmal wiederkommen um in Ruhe darüber zu sprechen. Jetzt wollte sie sich nur von alldem verzaubern lassen ... kaum zu glauben ... Als hätte Adelia ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Wir können heute doch kein Gespräch führen. Meine Schülerinnen bieten noch zwei Vorführungen und ich muss ihnen ein bisschen Mut zusprechen. Sie sind natürlich alle sehr aufgeregt, weil es ihr erster gemeinsamer Auftritt vor Publikum ist. Was halten Sie davon, wenn Sie noch einmal wiederkommen? Haben Sie Zeit und Lust? Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen ein paar Grundschritte.« Zoe stimmte dem zu und ehe sie sich versah, hatte sie sich mit Adelia verabredet.
Entspannt lehnte sie sich zurück und genoss die Aufführungen. Beinahe hätte sie sogar vergessen Fotos zu schießen, so sehr war sie im Banne des Eichweiler Orients. Ganz besonders war sie von Adelia fasziniert, die die Tänze ihrer Schülerinnen ansagte und erklärte. Selbst wenn Adelia in orientalischer Kleidung hinter dem Mikrofon stand, sprach und nicht tanzte, folgte man ihr aufmerksam und konnte sie nicht aus den Augen lassen.
Zoe bewunderte wider Erwarten sehr, was von den Eichweiler Frauen in der Tanzoase geboten wurde.
Adelia saß auf der rot gepflasterten Terrasse und blickte über die großen Kübel mit Schmucklilien, die gemeinsam mit Rosen und Lavendel einen Hauch Provence in den Garten zauberten. Zufrieden streckte sie sich in ihrem Liegestuhl, verschränkte die Hände, wobei sie maunzende Geräusche von sich gab. Es war die richtige Entscheidung gewesen, nach Eichweiler zu ziehen. Obwohl es die Aufgabe ihres bisherigen Lebens bedeutet hatte. Sie hatte ihren Job als Tanzlehrerin in Hamburg aufgegeben um in die Mitte von Deutschland zu ziehen. Und das alles, weil in ihren Träumen eine alte Frau mit einem Hund spazieren ging, die nach ihr rief – und weil Martha der Meinung war, dass in Eichweiler Adelias Zukunft lag.
Adelia hörte Martha im Haus, wie sie mit Billy, dem goldfarbenen Labrador, sprach und ihm erklärte, dass rohe Möhren und Äpfel auch für Hunde gesund seien. Ihr Vegetariertum machte auch vor Billy nicht Halt.
Man hält sie immer noch für fünfzig, dachte Adelia, als sie Martha betrachtete, die mit Billy die Terrasse betrat. Der Hund hielt behutsam eine Banane im Maul, mit der er sich glücklich in den Schatten des alten Birnbaums zurückzog.
Martha fächerte sich mit einem Briefumschlag Luft zu, während Cliff, Marthas Papagei, der auf ihrer Schulter thronte, den Umschlag nicht aus den Augen ließ.
Ob ich in ihrem Alter auch noch so gut aussehen werde?, fragte sich Adelia. Marthas beschwingter Gang, die schlanke Figur waren aber nur ein Teil ihrer charismatischen Persönlichkeit. Ihr dunkelrotes Haar, durch das sich spinnwebfeine weiße Fäden zogen, trug sie zu einem dicken Zopf geflochten, der das liebste Spielzeug ihres Papageis war. Sicherlich lag es aber auch an ihrer Vorliebe für bunte Stoffe, die ihre grünen Augen erst recht zum Leuchten brachten, dass man Martha für jünger hielt. Wenn Martha einen Raum betrat, zog sie unweigerlich alle Blicke auf sich. Daran hatte nicht jedes Mal Cliff Schuld. Man spürte es, wenn Martha in der Nähe war. Sie strahlte Wärme und Ruhe aus. Unwillkürlich fühlte man sich geborgen und beschützt. Obwohl man Marthas Wesen hauptsächlich als ausgeglichen beschreiben würde, konnte man nicht umhin sich von ihrem latent vorhandenem Temperament und ihrem Witz mitreißen zu lassen. Es gab an ihr viele Fassetten, die faszinierten. Eine Tanzschülerin hatte von der »Marthaenergie« gesprochen, die alle umhüllte, die in ihre Nähe kamen. Diese Energie war es wohl, die Adelia gleich beim ersten Blick auf Martha gespürt hatte.
Vor einem Jahr war Adelia zu einem Meditationswochenende nach Schleswig Holstein gefahren. Auf dem Bahnhof beobachtete sie, wie eine Frau in orangefarbenem Baumwollrock, pistaziengrüner Bluse und türkisblauer Jacke ihren knallroten Trekkingrucksack schulterte, sich eine Art Beutel vor den Bauch schnallte und zum Ausgang strebte. Obwohl der Rucksack beachtliches Gewicht zu haben schien, bewegte die Frau sich anmutig unter der Last. Als würde sie jeden Augenblick zu tanzen beginnen. Das dunkle Kupfer ihrer Haare glänzte im Abendlicht. Was Adelia jedoch ungläubig die Augen aufreißen ließ, war der blaugelbe Papagei, der auf der rechten Schulter der Frau saß und einen markerschütternden Schrei ausstieß, der die Leute in ihrer Nähe zusammenzucken ließ.
Diese Frau schien selbst ein exotischer Vogel zu sein, der direkt aus dem Regenwald ins nördliche Flachland geflogen war. Gleichzeitig war die Vogelfrau aber auch hier zu Hause.
Adelia beobachtete, wie das Lächeln der Frau auf dem Weg zum Ausgang des Bahnhofs Menschen und Hunde streifte und dabei scheinbar zum Strahlen brachte. Ein Respekt einflößender altdeutscher Schäferhund stürmte zu ihr um sich streicheln zu lassen und gleichzeitig ihren nackten Knöchel zu lecken, bevor er von seinem Herrn hart zurückgerissen wurde.
Adelia hätte sich gern mit dieser auffallenden Frau unterhalten, sie gefragt, woher sie kam. Sie sah so aus, als kannte sie viele Geschichten: Lebensgeschichten, Märchen und Mythen. Aber es war schon zu spät. Die schäbigen Klapptüren des Kleinstadtbahnhofs schlossen sich hinter dem roten Riesenrucksack, der Vogelfrau und ihrem Begleiter.
Sie verbuchte es später am Tag unter ihrer neuen Lebensmaxime »Mühelos«, dass die buddhistische Nonne, in deren Haus das Meditationswochenende stattfinden sollte, am Abend eine »alte Freundin« vorstellte, die als Gast in ihrem Hause weilte.
»Ich möchte euch Martha vorstellen. Sie hat mich heute überrascht. Ohne Ankündigung stand sie vor der Tür. Mit ihr wird dieses Wochenende für uns alle etwas ganz Besonderes werden, denn sie wird einige der Meditationen führen und abends ein wenig aus ihrem Leben erzählen. Wir haben beide ein Jahr gemeinsam in einem Kloster auf einer kleinen Insel vor Sri Lanka gelebt. Vielleicht erzählst du heute Abend davon?«
So hatte alles begonnen. Martha war eine sehr gute Geschichtenerzählerin. Und Martha überzeugte einen Affen davon, dass er in Wirklichkeit ein Löwe war ...
»Post für dich.« Martha kühlte sich ein letztes Mal mit dem Luftzug des Briefes das Dekolletee, bevor sie ihn Adelia gab.
»Von meiner Mutter«, stellte Adelia trocken fest. Sie legte den Brief auf den Gartentisch, schenkte für Martha und sich selbst frische, selbst gemachte Zitronenlimonade ein und verspürte nicht den geringsten Drang den Brief zu öffnen.
»Willst du ihn nicht lesen?« Obwohl es als Frage formuliert war, klang es mehr nach einer Feststellung.
»Das hat keine Eile. Ich weiß ja ohnehin, was sie schreibt. Sie macht sich Sorgen um mich. Geht es mir in Eichweiler auch wirklich gut oder sage ich das bloß um sie nicht aufzuregen? Kommen genug Schülerinnen in meinen Unterricht? Verdiene ich auch wirklich genug Geld mit dem Tanz? Was macht das neue Tanzbuch, das ich schreiben will? Verdiene ich wenigstens damit Geld? Hat die Vogelfrau, sie meint damit dich, keinen schlechten Einfluss auf mich? Habe ich endlich einen interessanten Mann kennen gelernt? Wäre es nicht doch eine Überlegung wert, wieder nach Hamburg zu ziehen?« Adelia holte tief Luft. »Dann kommen ein paar Bemerkungen über meinen Exmann, positive Bemerkungen selbstverständlich, und einige Sätze zu den wohlgeratenen Enkelkindern, die meinen Eltern von meinen Schwestern geschenkt wurden. Es steht doch jedes Mal der gleiche Kram in ihren Briefen. Sie meint es ja gut – aber sie nervt!«
Martha lachte. »Das ist nun mal so im Leben. Die ersten fünfzehn bis zwanzig Jahre nerven die Kinder, die restlichen fünfzig bis sechzig Jahre nerven die Eltern. Man sollte dem nicht zu viel beimessen.« Der ironische Unterton verschwand aus ihrer Stimme. »Nun mal ernsthaft. Mach den Brief auf und lies ihn. Als ich deine Mutter neulich am Telefon sprach, machte sie auf mich einen netten Eindruck.«
»Sie muss sich verstellt haben.« Adelia lachte. »Und was hast du überhaupt mit meiner Mutter zu besprechen? Was wollte sie?«
Martha zuckte nur mit den Schultern.
»Nett! Was heißt schon nett? Baumwollschlüpfer und Frotteebettwäsche sind nett – und spießig. Nett ist immer auch ein bisschen spießig. Genauso sind meine Eltern.«
»Okay. Wenn du beschlossen hast heute Morgen unleidlich zu sein, werden wir dich verlassen. Ich werde mit Cliff auf den Markt gehen. Vielleicht hast du später ja bessere Laune. Wir müssen uns nämlich noch über die Korrekturen des Manuskriptes hermachen. Du solltest deiner Mutter mal sagen, dass wir das Tanzbuch gemeinsam schreiben. Oder willst du den Erfolg nicht mit mir teilen?«, spottete sie. Dann nahm sie einen letzten Schluck Zitronenlimonade, leckte sich genüsslich ihre fein geschwungenen Lippen und verschwand mit einem »à bientôt« im Haus.
Adelia blickte schmollend auf den Briefumschlag. Wie schaffte ihre Mutter es nur immer, ihr die Laune zu vermiesen? Sie griff nach dem Brief, wog ihn in der Hand. Er war dick. Kein Standardbrief, sondern einer, für den doppeltes Porto gezahlt werden musste, was die Mutter selbstverständlich beachtet hatte.
Die Eltern hatten nicht verstanden, dass sie ihr Leben in Hamburg aufgab um in eine hessische Kleinstadt zu ziehen. Der orientalische Tanz, der Tanzunterricht, den die Tochter den Frauen gab, das war den Eltern immer schon eher peinlich gewesen. Warum war sie nicht weiter im Büro tätig geblieben? So konnten sie gar nicht stolz auf ihre Jüngste sein, hatten es nie sein können. Trotzdem konnten sie sich nicht an Adelias Art ihr eigenes Leben zu leben gewöhnen und hatten da schon mehr Verständnis für Wolfgang aufgebracht, der sich von Adelia scheiden ließ, weil auch er sie nicht mehr verstand. Sie sagten das nie. Aber Adelia wusste genau, was in den Köpfen ihrer Eltern vorging.
Sie legte den Brief ungeöffnet zurück auf den Gartentisch. Es war Zeit, mal nach den Erdbeeren zu sehen. Die neue Sorte trug den ganzen Sommer über dicke Früchte, die in der warmen Sonne gepflückt und noch im Beet, zwischen den Reihen stehend gegessen, am besten schmeckten. Sie schlenderte zu den Erdbeeren, betrachtete dabei die Blumen und Sträucher im Garten und erinnerte sich an den Garten des buddhistischen Zentrums, in dem sie mit Martha zum ersten Mal gesprochen hatte.
Es war am zweiten Abend gewesen. Sie saß allein am Ufer der Schlei, die das große Grundstück des buddhistischen Zentrums, das auf einer Halbinsel lag, umschloss. Dieser Teil des Gartens, in dem sich lautstark Bienen und Hummeln, Dompfaffen, Amseln und andere Singvögel tummelten, hatte mit dem drei Meter hohen Stupa, der von Rosen, Lavendel und Sonnenhut umgeben war, einen intimen Charakter. Zum Flussufer hin schlossen alte Apfel- und Pflaumenbäume an. Der tiefe Gong grüßte vom Zentrum her, strich über Mädesüß, das seine Köpfe neigte. Alles in allem eine sehr ungewöhnliche Mischung, in der sich Spannung und Ruhe vereinigten. Mit geschlossenen Augen hielt Adelia ihr Gesicht der Sonne und dem Klang entgegen.
»Ist es Ihnen recht, wenn wir uns zu Ihnen setzen?«
Adelia öffnete die Augen und sah als ersten Cliff, der sich auf Marthas Schulter wiegte. »Ja. Natürlich.«
Martha setzte sich ins Gras. Beide Frauen schwiegen lange. Cliff knackte mit seinem Schnabel.
»Woher haben Sie ihn?« Adelia zeigte auf den Vogel.
»Ich habe ihn vor zwei Jahren geschenkt bekommen. Damals besuchte ich eine Freundin, die bald sterben würde. Cliff gehörte ihr. Aber bereits einen Tag nach meiner Ankunft saß er fast nur noch auf meiner Schulter. Ehrlich gesagt war ich ziemlich überrascht. Denn zu Vögeln fühlte ich mich nie besonders hingezogen. Sie sind schön und ich beobachte sie gerne, höre ihnen zu, aber ich hatte nie das Bedürfnis sie zu streicheln. Seit ich Cliff habe, ist das anders. Und meine Freundin hatte eine Sorge weniger. Ich habe ihr versprochen bis zu seinem Tod für ihn zu sorgen. Und er sorgt für mich.«
»Aha. Er scheint ein ausgesprochen kluger Vogel zu sein, wenn er Sie sich zur rechten Zeit erwählt hat.«
»Vielleicht.«
Nachdem sie wieder schweigend auf den Fluss geblickt hatten, fragte Martha: »Wo leben Sie?«
»In Hamburg. Ich habe ein kleines Studio für orientalischen Tanz. Ich gebe Unterricht und trete auf. Ich bin ganz zufrieden.«
»Sie sollten nicht in einer Großstadt leben. Ihr Platz ist in der Mitte. Dort ist auch ihr Zuhause«, war alles, was Martha sagte, bevor sie ins Haus zurückgerufen wurde. Adelia fragte sich noch am nächsten Tag kopfschüttelnd, was sie wohl damit gemeint hatte.
Vieles in Adelias Leben fügte sich einfach mühelos. Sie brauchte nur zu warten, Zeit zu haben, offen zu bleiben und die Dinge geschehen zu lassen. So begann im buddhistischen Zentrum im Norden mit ganz neuen Meditationserfahrungen erst durch, dann mit Martha ein neuer Lebensabschnitt.
Am Mittag kam Martha mit einem bunt gefüllten, überquellenden Einkaufskorb vom Markt zurück. »Drüben steht ein Möbelwagen«. Martha registrierte, dass der Brief noch ungeöffnet auf dem Tisch lag, während sie gleichzeitig mit dem Kopf zur anderen Seite des Gartens wies.
Die alte Villa, deren Türmchen freien Blick über die hohe Sandsteinmauer hatte, die Adelias Garten umschloss, stand schon lange leer. Als Adelia im vergangenen Herbst mit Martha in das fabrikähnliche Backsteinhaus zog, hatte der Makler ihnen erzählt, dass dies Gebäude zur gegenüberliegenden Villa gehörte. »Dort lebte viele Jahre die Familie Nagl, eine der reichsten Familien der Stadt, die unter anderem eine Näherei betrieb, nämlich in dem von ihnen gemieteten Domizil.«
Adelia war bei der ersten Besichtigung gleich von der kleinen »Fabrik« in Bann gezogen worden.
Der Raum, in dem früher die Näherinnen an Maschinen gearbeitet hatten, eignete sich gut für Tanzworkshops, Meditationen und Ähnliches. Hier hatten einmal die Maschinen und Zuschneidetische für ungefähr zwanzig Näherinnen gestanden. In Gedanken wurde alles gleich bei der ersten Besichtigung von ihr mit dickem violettem Teppichboden ausgelegt, an den Wänden drapierte sie schwere Stoffe, in die Ecken türmte sie Kissen und an den Wänden entlang legte sie Brücken aus. Überall sollten bunte Tücher und kleine Lampen für Akzente sorgen. Es würde nicht allzu aufwendig sein, das orientalische Flair für die Meditationen zu reduzier ren. Der Raum war für ihre gemeinsamen Pläne einfach ideal. Ein angrenzendes, kleineres Zimmer bot den richtigen Rahmen für persönliche Gespräche. An den früheren Fabrikraum schloss eine gemütliche ebenerdige Wohnung mit drei Zimmern, Küche und Bad an. Oben gab es noch einmal zwei Zimmer und ein kleines Duschbad.
Adelia und Martha hätten es nicht besser treffen können. Sie mieteten ohne lange zu überlegen alles inklusive dem angrenzenden großen, verwilderten Garten für zehn Jahre zu einem Spottpreis.
Robert Eismann, der Makler, rieb sich vergnügt die Hände. Seit ewigen Zeiten verstaubte die Karteikarte dieses Objektes in seinem Büro. Niemand hatte die Näherei mieten wollen. Die Einheimischen schon gar nicht. Besonders die Alten mieden diesen Ort am Stadtrand, wo der Fluss in der Biegung ein bisschen schneller floss und sich an Herbstabenden der Nebel länger hielt als anderswo. Sie sagten, auf allem, was einmal der Familie Nagl gehört hatte und noch gehörte, läge ein Fluch. Robert Eismann hatte anfangs auf Zugereiste gehofft, denen er die Näherei andrehen wollte. Aber nach einer Weile glaubte er selbst nicht mehr, dass sich das alles vermieten ließ. Wer brauchte schon eine Näherei?
Die Villa Nagl stand noch länger leer. Aber beide, die Villa und die Näherei, wurden beheizt und alle notwendigen Reparaturen wurden von einem kleinen Bauunternehmen ausgeführt. Manchmal wurden Schlosser oder Klempner oder ein Fensterbauer beauftragt. So war der Zustand beider Gebäude tadellos. Trotzdem gab es niemanden, der mieten wollte. Die ältere der beiden Frauen, die, die einen Papagei auf der Schulter trug, war zwar eine merkwürdige Person, aber sie war die Erste, die sich ernsthaft für die Näherei interessiert hatte. Das war bereits ein Vierteljahr her, sodass Eismann schon nicht mehr mit ihr gerechnet hatte. Und nun bekundete sie erneut ihren Wunsch zu mieten. Zwar gemeinsam mit einer Freundin, aber das war ihm egal. Dass sie tatsächlich einen Vertrag mit ihm abschlossen ... er konnte sein Glück kaum fassen.
Carl Nagl, der früher selbst in der Villa gewohnt hatte, nun aber schon seit zwanzig Jahren im Ausland lebte (man erzählte sich über ihn die abenteuerlichsten Geschichten, obwohl keiner Genaues wusste), hatte einen Notar damit beauftragt, die Häuser zu betreuen. Es war also immer damit zu rechnen, dass Carl Nagl eines Tages wieder zurückkam. Warum sonst legte er Wert auf die Instandhaltung der Villa ohne deren Vermietung?
Die Villa hätte Robert Eismann mehrfach vermieten können. Sogar Kaufinteresseriten hatte es schon gegeben, die sie in drei Eigentumswohnungen aufteilen wollten und einen sehr guten Preis für das Haus boten. Aber umsonst. Carl Nagl wollte sein Elternhaus weder vermieten noch verkaufen.
Adelia und Martha schauten zur Villa hinüber, vor der ein großer blauer Möbelwagen stand. Sie waren auf die Leute gespannt, die dort einzogen. Ob es vielleicht Carl Nagl war? Seit der Makler von ihm erzählt hatte, war er Adelia nicht mehr aus dem Kopf gegangen, obwohl sie ihn nie gesehen hatte. Aber die Leute im Ort redeten. Die Frauen beugten sich beim Bettenauslüften weit hinaus, verbreiteten die neuesten Gerüchte und tratschten mit den Nachbarinnen über die Zugezogenen und auch über die, die nicht mehr im Ort lebten.
Manchmal hatte Adelia das Gefühl in einen Roman von Daphne du Maurier gerutscht zu sein –»Rebecca« oder »Dreh dich nicht um«.
Adelia und Martha boten vom ersten Tag an Gesprächsstoff. Sie waren so anders. Die ältere von beiden veranstaltete in der Volkshochschule einen Kurs im Mandalamalen. Musste man so was denn unbedingt können? Mandala malen? Dieser ganze asiatische Kram roch doch sehr nach Sekte. Man las so viel in den Klatschblättern und konnte nicht vorsichtig genug sein. Irgendwie war es doch seltsam, dass die Frau mit den bunten Baumwollkleidern zu jedem freundlich und immer zu einem Schwätzchen bereit war. Ob man selbst wollte oder nicht. Man wurde gefragt, wie es einem ging, und bekam danach einen guten Wunsch mit auf den Weg. So viel Freundlichkeit war verdächtig, oder etwa nicht?! Auf jeden Fall war es unnatürlich! Außerdem lief sie meistens mit dem Vogel herum, was ja nun wirklich mehr als überdreht war. Wo gab es denn so was ...? Hauptsächlich die alten Frauen waren misstrauisch. Bei den jüngeren überwiegte die Neugier. Sie fragten die Töchter, wie das denn war in der Volkshochschule und beim orientalischen Tanz. Und bald begleitete die eine oder andere Mutter die Tochter und entdeckte eine neue alte Welt. Wenn so viele Leute von sonst woher zu diesen Meditationen kamen, dann war ja vielleicht doch etwas an alldem dran? Man konnte es sich ja mal ansehen. Es gab kostenlose Informationsabende.
Die andere, jüngere Frau legte die Karten in Liebesdingen und kannte sich mit den Kräften der Edelsteine und Kräuter aus.
Das war doch nichts Unheimliches. Das hatten die weisen alten Frauen früher schon getan. Zeuchs Lisbeth zum Beispiel, und die war in Eichweiler angesehen gewesen, hatte noch bis kurz vor ihrem Tod Kräutermixturen angemischt und sich auf Liebeszauber verstanden, sagten die Mütter dann zu ihren Müttern. Manche hatte sogar eine Großmutter oder eine Urgroßmutter, die sich mit Kräutern und ihren heilsamen Wirkungen auskannte. So kam es, dass abends, meist gegen zehn, immer öfter junge Frauen und Mädchen durch den Garten hinten ums Haus herumhuschten und Adelia um Rat fragten.
Magische Zeichen und Symbole bevölkerten Adelias Träume bereits, bevor sie in diese Stadt gekommen war, und mehrten sich noch nach ihrem Umzug. Wenn Adelia Martha von ihren Träumen erzählte, in dem die gegenüberliegende Villa vorkam und ein Junge, mit einem Muttermal auf der Wange, der ihr noch nie begegnet war, dann lächelte die Freundin nur und sagte: »Warte ab. Sei nicht so ungeduldig. Das klärt sich, wenn die Zeit dafür da ist.« Aber das beruhigte Adelia keineswegs. Es machte sie fast wütend, dass ihre vorausschauenden Kräfte bei ihr selbst versagten. Vielleicht waren sie von ihr viel zu lange unterdrückt worden.
Was hatte es außerdem zu bedeuten, dass ihr dieser fremde Mann, Carl Nagl, den sie nicht kannte, von dem sie nur wenig wusste, ständig im Kopf herumspukte und ihre Fantasie anregte, als sei sie ein schnell entflammbarer Teenager. So etwas war ihr nie zuvor passiert. Carl Nagl. Carl Nagl. Sein Name klang manchmal wie das rhythmische Schlagen einer Trommel in ihrem Kopf und ließ sie nicht mehr los.
Während Adelia sich noch darüber den Kopf zerbrach und zu keinem Ergebnis kam, ging Carl drüben, in seinem Elternhaus, zum Barschrank seines Vaters. Im früheren »Herrenzimmer« stand noch das alte Möbelstück hinter dessen mit Intarsien geschmückten Türen Friedrich alten Cognac, Whisky und Sherry für Gäste bereithielt. Die fein geschliffenen Gläser, deren Klang dem Lachen der Elfen glich, wie Carls Mutter einmal gesagt hatte, standen aufgereiht im Schrank. Es war ihm, als hätten sie nur darauf gewartet, mit einem guten Tropfen gefüllt zu werden, um sogleich ins Leben zurückzukehren und ihr Lachen erklingen zu lassen. Früher war ihm nie aufgefallen, welch blumige Vergleiche seine Mutter fand. Als Junge hatte Carl zu seinem Vater aufgeblickt, der eine Respektperson war – die Mutter war ihm nie so wichtig gewesen.
Der Vater parlierte in der Kommunalpolitik. Fast täglich wurde er in der Lokalpresse zitiert. Darüber hinaus beschäftigte er im Landkreis ungefähr achthundert Leute in seinen Fabriken, was ihn schon alleine zu einer wichtigen Person im Zonenrandgebiet machte. Weil das Hinterland fehlte, man quasi in eine Ecke gedrängt worden war, wanderten Industrie und Jugend in die Großstädte ab. Eichweiler wurde immer mehr zu einem verschlafenen Städtchen im Gebrüder-Grimm-Land. Doch die Nagls blieben. Bis jenes Unglück geschah. Von diesem Tag an schien ein Unglücksstern über der Familie zu stehen, der schließlich zum Tod von Carls Eltern und seiner Schwester führte und ihn selbst ins Ausland verschlug.
Was hatte ihn nach so langer Zeit zurückkehren lassen? Er hatte viele Städte und Länder gesehen, hatte an rund zehn verschiedenen Plätzen der Welt gelebt und Eichweiler konnte für ihn, einen der bekanntesten und erfolgreichsten Reiseschriftsteller, keinen Reiz mehr haben. Sentimentalen Erinnerungswert vielleicht trotz allem -aber mehr nicht. Und doch waren die Stadt, vor allem aber das Haus seiner Kindheit, der meist träge daherkommende Fluss, die kleine Näherei von Gegenüber immer öfter in seinen Träumen erschienen. Es waren die Steine, die ihn mit der leisen Stimme einer Frau riefen, die Sandsteinmauern der Gärten, das Fachwerk der Häuser, die greisen Kastanien des Friedhofs. Sie riefen seinen Namen. Bis zu den Westindischen Inseln war der Ruf zu hören gewesen, war in den schattigen Hof seines Hauses gedrungen, hatte vom Plätschern des Brunnens Besitz ergriffen, der ihn mit einem Mal in der Sprache des Flusses ansprach, der sich um seine Kindheit geschlungen hatte. Vergessene Namen tauchten auf, Gesichter, die heute mehr als zwanzig Jahre älter waren. Aber auch ein Gesicht, das nie älter als siebzehn geworden war. Dieses Gesicht würde Carl nie in seinem Leben vergessen. Ein rundes, weiches Gesicht, in dem blaue Augen provozierten und ein schmaler Mund Antworten verweigerte. Der braune, ein wenig gewölbte Leberfleck auf der linken Wange betonte die Weichheit der Gesichtskonturen und gleichzeitig den Kontrast zu Mund und Augen. Ein zwiespältiges Gesicht, wie es einem Siebzehnjährigen, der in der spießigen Welt der Sechziger- und Siebziger Jahre in einer Kleinstadt im Zonenrandgebiet aufwuchs, nicht anstand. Das Gesicht von Thomas Waldmann gehörte zu Studentenunruhen und Demonstrationen. Vielleicht war es ja das, was unbewusst in ihm rang, was ihn anecken ließ und am Ende für ein paar Stunden auf eine schiefe Bahn lockte, von der es für ihn kein Zurück gab.
Carl Nagl ging, ein Glas Wein in der Hand, in den Garten hinaus. Die Näherei war im letzten Jahr an zwei Frauen vermietet worden. Sein Anwalt hatte es ihm geschrieben. Carl blickte zu den schwach erleuchteten Fenstern hinüber. Wahrscheinlich brannten dort drüben Kerzen, denn das Licht flackerte im weichen Goldton. In den nächsten Tagen würde er den beiden Frauen einen Besuch abstatten. Nach allem, was der Anwalt über sie erzählt hatte, war er auf sie gespannt. Aber zuvor hatte er noch einiges zu regeln. Teilweise mussten die Zimmer im Haus neu möbliert werden. Nazira, die Schwester seiner Frau, würde mit seinem Sohn kommen. Die beiden sollten sich im Haus wohl fühlen. Die Umstellung würde ohnehin gewaltig sein. Es gab wohl kaum einen größeren Kontrast als den zwischen der Karibik und Eichweiler.
Carl rieb sich die Augen. Er war müde. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen und seine Träume hatten ihn wieder und wieder aufschrecken lassen, sodass er morgens total zerschlagen erwachte. Er wusste immer noch nicht genau, was ihn hatte hierher zurückkehren lassen. Waren es nur die Träume und Stimmen der Vergangenheit gewesen?
Wenn er sich nicht wieder einleben konnte, gab es noch seine bewährten Zufluchtsorte. Da war das Haus in Hammamet, in das er zurückkehren konnte. Und es gab das Haus auf Barbados, in dem er die letzten drei Jahre gewohnt hatte. Es war schon eigenartig: Es gab in Eichweiler ein Haus und Gräber, zu denen er nun zurückgekehrt war. Und in Hammamet gab es ebenfalls ein Haus und das Grab seiner Frau. Wenn es wie bei seiner Heimatstadt wieder zwanzig Jahre dauerte, bis er nach Hammamet zurückkehren würde, dann wäre er sechzig. Als Alterssitz wäre Hammamet sicher geeigneter als Eichweiler. Wärme tat alten Knochen gut.
Unwillkürlich musste er an Paul Bowles denken, den er vor ein paar Jahren in Tanger besucht hatte. Der »Titan von Tanger«, wie er liebevoll genannt wurde, ging auch bei vierzig Grad noch in seinem Trenchcoat spazieren, weil er ständig fror. Carl Nagl schmunzelte bei der Vorstellung, dass er selbst eines Tages im hohen Alter in Hammamet einen ähnlichen Anblick bieten würde. Vielleicht wäre das karibische Klima doch gesünder? Die Nächte dort waren nie so kalt.
Gerade als er ins Haus zurückgehen wollte, hörte er am Ende der Straße das Motorengeräusch eines VW-Käfers. Er blieb abrupt stehen, horchte angestrengt in die Nacht hinaus. Nein. Da war nichts zu hören, außer dem Zirpen der Grillen und dem Glucksen des Flusses. Wer fuhr auch heute noch einen Käfer? Die Erinnerung hatte ihm offensichtlich einen Streich gespielt. Ein Zeichen für seine Müdigkeit.
Stunden später, die Fenster in der Naglvilla waren dunkel und auch in der gegenüberliegenden Näherei rührte sich nichts mehr, nur Billys Pfoten zuckten im Schlaf bei der Verfolgung eines Kaninchens, fuhr ein gelber VW-Käfer lautlos die Brückenstraße entlang. Er hielt kurz vor der Villa und der Junge am Steuer blickte zum Fenster hoch, hinter dem Carl Nagl auf einem improvisierten Matratzenlager schlief. So geräuschlos wie der Wagen gekommen war, verschwand er kurz darauf. Ein Wimpernschlag und er war fort.
Im selben Augenblick schlugen Adelia und Martha die Augen auf und blickten ins Grau ihrer Zimmer, als fänden sie dort den Grund für ihr Erwachen an die Decke geschrieben.
Gegen Morgen schlich ein Junge in Begleitung seines Hundes in den Garten der Naglvilla um das Haus neugierig von allen Seiten zu betrachten. Der Name des Jungen war Philip, der des schwarzen Schnauzermischlings Cyrus. Sie hatten sich bereits am Tag zuvor in der Straße herumgetrieben und das Ausladen der Möbel beobachtet. Diese Gegend zog sie ohnehin magnetisch an, seit Adelia die Tanzoase eröffnet hatte. Mit der Rückkehr des geheimnisumwitterten Carl Nagl, den Philip, der sich Phil nannte, weil er das cooler fand, nur aus den Erzählungen der Leute kannte, hatte die Straße für die beiden einen zusätzlichen Anziehungspunkt erhalten.
Phil war gerade achtzehn, hatte die meiste Zeit die Schule geschwänzt und schließlich ganz verlassen. Er lernte da doch nicht, was er im Leben brauchte. Rechnen und Schreiben hatte man ihm bereits in der Grundschule beigebracht. Sein Englisch war gut genug um die Songtexte zu verstehen und den Computer zu bedienen. Sein Deutsch war okay. Geschichte? Mann! Jeder hatte seine eigene. Aber die interessierte die Lehrer nicht. Den Rest der Dinge konnte man getrost abhaken.
Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die Ämter mied er. Womöglich fingen die Fuzzis wieder mit dem Gequatsche von Ausbildung und so an. Es hatte schon lang genug gedauert, das seiner Mutter auszureden. Man musste sich gar nicht so krumm machen, wie manche Klugscheißer behaupteten, um an Geld zu kommen. Und man musste auch nicht zwangsläufig krumme Dinger machen. Wenn man clever genug war, und das war er zweifellos, kam man ganz gut über die Runden. Durch Gartenarbeit für alte Omis, Prospekteverteilen für Firmen und Restaurants. Solche Jobs gab es immer. Manchmal half er auch in der Küche eines italienischen Restaurants aus. Kochen interessierte ihn. Er sah einem guten und geschickten Koch gern über die Schulter.
Vielleicht würde er eines Tages Koch sein und ein eigenes Restaurant haben. Es spukten viele Pläne in seinem Kopf herum. Bald, wenn er das Geld für ein Auto beisammen hatte, würde er mit Cyrus aus diesem Kaff verschwinden. Und er würde sich nicht ein einziges Mal umsehen. So viel war klar.
Phil stand im bleichen Licht der zögernden Morgensonne im Garten der Naglvilla und blickte zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. Das Fenster im Turm war geöffnet. Die hellen Vorhänge bewegten sich kaum. Wahrscheinlich schlief Carl Nagl dort oben. »Wir müssten fliegen können, was Cyrus? Jetzt da oben auftauchen wie ’ne Fledermaus in ’nem Gruseloldie und dem Typen ’n Schreck einjagen. Voll geil.« Aber an Fliegen war selbstverständlich nicht zu denken. Es klappte ja noch nicht einmal das mit dem Unsichtbarwerden. Vieles sah eben viel einfacher aus, als es war.