Читать книгу sprachlos - Antje Hauter - Страница 3
1.Tag
ОглавлениеZu spät, viel zu spät. Ich hasse es, unpünktlich zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld, sage ich mir. Alle Züge mit Verspätung, der Intercity von Ancona fiel ganz aus, zwei Stunden später mit dem Regionalzug in Bologna eingetroffen, Hektik, ein Anschlusszug vor acht Minuten abgefahren, der nächste erst wieder in mehr als einer Stunde und immer wieder Kontrollen durch die polizia und carabinieri, Flüchtlinge werden identifiziert und wie Verbrecher abgeführt, arme Schweine! Erschrecke vor dem Ausdruck „Schweine“, man sagt es immer so dahin ohne darüber nachzudenken. Aber es bleibt keine Zeit zum Bedauern, schäme mich deswegen, aber ich muss auch mein Ziel erreichen!
Die letzte Etappe zum Hotel am See entlang nehme ich mir ein Taxi, viel zu teuer, aber ich bin erschöpft und feilsche nur kurz, das zufriedene Gesicht des Taxifahrers zeigt mir, dass er sicherlich noch weiter mit dem Preis runtergegangen wäre.
„Der See liegt auf der linken Seite“, sagt der Taxifahrer zu mir, weil ich rechts zum Fenster heraussehe.
„Es ist so dämmerig, man sieht ja kaum etwas, den See hebe ich mir für die nächsten Tage auf“, ich versuche meiner Stimme die heitere Gelassenheit zu geben, die man hat, wenn man endlich am Urlaubsort angekommen ist. Wie sollte er auch wissen, dass ich nicht schon jetzt mit dem See konfrontiert werden möchte.
Alles kein gutes Omen, ich hätte die Reise in Bologna sofort abbrechen sollen!
Dann säße ich jetzt wahrscheinlich mit guten Freunden bei einem aperitivo vor cena dem Abendessen.
Es ist schon dunkel als ich im Hotel ankomme und der Weg zu dem Treffpunkt nicht gut beleuchtet, sagt der Hotelchef und fährt mich schnell hinauf in den Berg, kurz vor einer großen Einfahrt hält er, ich bedanke mich und steige die Steintreppe herunter, bin ich richtig, höre Stimmen, einzelne Worte kann ich nicht verstehen nach dem letzten Hörsturz, aber dem Klang und Rhythmus nach ist es die deutsche Sprache. Was sage ich, wenn ich vor all den Fremden stehe, einfach hallo oder salve, aber ist salve nicht überheblich? Aber es gibt mir die Distanz, die ich haben möchte.
Ich sage „salve“!
Das plötzliche Licht blendet mich, ich sehe kein Gesicht an dem langen Tisch, das mir bekannt vorkommen sollte. Fühle mich unsicher. Denke wieder, ich hätte nicht herkommen sollen. Doch dann spricht man mich an, die Verlorengegangene, verloren, ja so kann man es auch nennen, es sind nur Sekunden vergangen, aber Sekunden können ein Menschenleben auslöschen oder verändern. Und ich will etwas verändern.
Ja, bitte einen Prosecco sage ich, das klingt nach Zuhause, nach Freunden, gibt Sicherheit.
Ich setze mich auf den freien Stuhl, der mir angeboten wird, trinke hastig den ersten Schluck auf leeren Magen, sollte vorsichtiger sein, damit ich nicht gleich einen Schwips habe.
Ich kann sein Gesicht nicht sehen, wenn er redet, weil ich direkt neben ihm sitze. Ein verstohlener Blick unter den Tisch - er ist nicht barfuß wie auf den Fotos, aber es ist auch eine kühle Nacht. Ich gehe zu Hause auch immer barfuß, so sehen auch meine Zehen aus, fast jeder Zeh schon einmal gebrochen.
Jetzt auch noch das, ich soll mich als erste der Gruppe vorstellen, bin erschrocken, die Freunde haben mich doch vorgewarnt, dass es diesen Ablauf nehmen wird. Ich will nicht von mir erzählen, nicht jetzt und nicht hier. Ich bin gekommen, um zu lernen, lernen meine Sprache zu finden, hören wie Andere ihrer Sprache Ausdruck geben, will sehen mit welchen Körper Gebärden sie das gesprochene Wort unterstützen.
Wann hat er das Gefühl für die Sprache entwickelt, die seine Werke charakterisiert? Wenn ich im Fluss bin, so nenne ich es, purzeln meine Gedanken so schnell, dass ich mit den Fingern auf der Tastatur kaum nachkomme. Zwei Tage später verwerfe ich alles, zu viel Gefühl, sinnloses Aneinanderreihen von nicht bewältigten Situationen.
Die gegenüberliegende Seeseite zeigt ihre nächtliche Lichterkette. Ich weiß nicht, was auf der anderen Seite liegt, hätte mich besser vorbereiten sollen. Rechts von mir die große Palme ist nicht ganz so hoch wie die vor meinem Schlafzimmerfenster. Das Grundstück sah auf den Fotos weitläufiger aus. Vielleicht ist es die Dunkelheit, die alles enger erscheinen lässt. Wäre ich doch nur bei Tageslicht angekommen.
Er sitzt lässig zurück gelehnt auf seinem Stuhl und beantwortet Fragen. Ich habe viele Fragen, aber ich stelle keine einzige. Noch ist nicht der Zeitpunkt gekommen, ich muss ihn erst kennen lernen.
Er gibt sich offen, woher nimmt er diese Offenheit auch in seinen Texten, diese Offenheit, die mir zu schaffen macht, die mich zum Schweigen zwingt.
Schade, dass ich so wenig von seinem Gesicht sehe, ich muss Menschen gegenüber sitzen, um wie bei einer Nuss behutsam die Schale zu lösen, damit der innere Kern unverletzt zu Tage tritt.
Ich kenne auch nur ein einziges Buch von ihm. Es war kein guter Zeitpunkt - ich war noch nicht zurück in der Gegenwart und Zukunft gab es nicht – als ich anfing, es zu lesen. „Ich lese gerade ein Softporno“, erklärte ich meiner Freundin. Warum schockte mich die Offenheit, mit der er sexuelle Gefühle ansprach. Es war das erste Buch, das ich nicht weiterlesen konnte. Warum? Eine Barriere, die ich nicht bereit war, zu beseitigen.
Nicht damals nach dem Tod meines Mannes. Erst zwei Jahre danach, als Du in mein Leben getreten bist, las ich es in 3 Nächten. Die Antwort, die ich für mich finden wollte, gab es nicht. Das war seine Geschichte! Drei Nächte wanderten meine Gedanken von seinem Buch zu Deinen Emails. Warum war ich so sprachlos?
Erschöpft von der langen Bahnfahrt liege ich im Hotelbett, schmales Einzelbett, direkt an die Wand gesetzt, mit dem ausgestreckten Arm erreiche ich fast die gegenüber liegende Wand. Ich will auch keine Wohlfühlsituation, nichts, was mich ablenkt. Das Handy liegt auf einer kleinen Ablage neben der Bibel über dem Bett. Ich liege auf dem Rücken und sehe auf die Stuckrosette in der Mitte der Zimmerdecke. Ich lasse den heutigen Abend noch einmal an mir vorbeiziehen. Der Schreck, dass ich mich als erste Person den anderen Teilnehmern vorstellen sollte, die ich ja gerade erst vor einer Minute noch nicht einmal richtig wahrgenommen hatte, ließ den Gedanken der Sinnlosigkeit meiner Reise wieder in mir aufkeimen. Ich versuche mich an einen der Namen zu erinnern, zwecklos, bin unruhig, kann nicht schlafen, stehe wieder auf, gehe an den kleinen Schreibtisch und blättere Gedanken verloren in dem Prospekt. Fotos von der Stadt, in der mein Hotel liegt, Olivenhaine, der Olivenbaum Sinnbild des Lebens, die Früchte hängen schwer und reichlich in diesem Jahr, die Ernte wird früher als im vergangenen Jahr beginnen, dann wird das Öl, goldgelb aus der Presse fließen und ein wenig bitzeln auf der Zunge - und Fotos von dem See und immer wieder der See.
In meine Gedanken drängt sich ein anderer See, nur 3 Autostunden entfernt.
Der Winter war noch einmal zurückgekehrt. An den Uferrändern bewegte der leichte Wellengang eine hauchdünne Eisschicht. Das Grau des Himmels schien auf den See gefallen. Dunkel und abweisend lag er da. Abweisend wie meine eigene Haltung, die Hände zu leichten Fäusten geballt in den Manteltaschen, das Gesicht bis zur Nase hinter einem Kaschmirschal versteckt. Der leichte Wind blies mir die frisch gewaschenen Haare ins Gesicht, verursachte ein Kitzeln auf der Nase, ich musste niesen.
Das Bild, das sich in meine Erinnerung zwingt, ist sehr lebendig und gegenwärtig. Wie Du da stehst keinen Schritt entfernt von mir, zu nah, ich will diese Nähe heute nicht. Auch erscheinst Du mir größer, – die drei Zentimeter, die Du kleiner bist und lachend beiseitegeschoben hast in den ersten Emails – wir sind auf Augenhöhe. Der Wind bläht Deine grauen Haare, die im Nacken länger sind und türmt sie am Hinterkopf auf, es sieht verwegen aus. Ich lächele in meinen Schal. Wenn Du Dich sehen könntest. Du hasst die Unordnung. Die teure gefütterte Lederjacke macht Dich fülliger. Wie fragtest Du in einer Mail: Magst Du lieber dünne Spienzeln als Mann oder liebst Du les poignees d‘amour. Ich habe schon lieber etwas zum Anfassen antwortete ich und muss wieder lächeln. Doch dann sehe ich in Deine Augen, dieser Blick, von Anfang an kam er mir so spöttisch vor. Dieser Spott, der einem Menschen die Worte verschlägt und nicht mehr aussprechen lässt, der verunsichert. Heute hat er etwas von der Kälte um uns herum. Dein linkes Auge, das Auge wo der Fuß Deiner Zwillingsschwester lag vor der Geburt, nie wieder ganz geöffnet, ist heute noch schmaler und doch hältst Du mich mit Deinem Blick fest, ich kann nicht ausweichen. Auch Du musterst mich, ich fühle es. Ich schließe die Augen, ich weiß, Du siehst mich nackt unter dem Armani Mantel, die Brüste, die Du liebkostest nicht mehr Kerzen gerade, aber das macht Dich aus und gefällt mir, sagtest Du. Ich darf diese Gedanken nicht zu lassen, nicht in diesem Moment. Du, der auch in unserem Alter Sex für die wichtigste Sache im Zusammenleben hält. Ich konnte Dir diesen Sex, den Du wolltest, auf die Distanz nicht vermitteln, nicht in Worte fassen in den Mails, die ich Dir schickte. Ganz kurz habe ich das Bedürfnis diesen einen Schritt auf Dich zuzugehen. Aber ich habe Angst vor Deinem Zurückweichen. Deine Lippen die so weich sein können bei den Küssen, die Du mir schenktest, sind zusammen gepresst, ein schmaler Strich. Du siehst älter aus, als damals im Spätsommer. Das macht wahrscheinlich die fahle Hautfarbe. Auch ich bin nicht mehr braun gebrannt, wahrscheinlich denkst Du genauso. Deine Hände verstecken sich ebenso wie meine in den Jackentaschen. Ich bin froh darüber. Ich will die Erinnerung an Deine Hände nicht. Der Wind mischt sich mit feinem Nieselregen. Wie auf ein Kommando putzen wir beide unsere Brillen. Du trägst heute die schwarz umrandete Brille. Auch das passt zu dem Tag. Sag endlich ein Wort, ganz gleich was, nur rede, bitte. Aber ich weiß, Du wartest, dass ich endlich spreche. Aber dies ist nicht der Augenblick.
Nur drei Autostunden entfernt von mir, Du weißt es nicht, Du ahnst es nicht einmal.