Читать книгу Wenn die Seele weint - Antje Hauter - Страница 8
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ОглавлениеDrei Tage fährt sie nun schon mit ihrem voll bepackten Jeep, die Umgebung erkunden, hat auch bereits einige Bekanntschaften gemacht. Obwohl es ihr schwer fällt die Menschen hier zu verstehen, sie sprechen fast alle Dialekt. Nur die Mutter von Franco macht sich die Mühe einfach zu reden. So erfährt sie, dass sie die erste Deutsche ist, die in diesem Hotel wohnt und dass aus der Gegend viele Italiener als Gastarbeiter in Deutschland gewesen sind. Sie kann nur hoffen, dass man ihr als Deutsche schlechte Erfahrungen nicht anlastet.
Sie erinnert sich noch gut, es war um 1956, als in der direkten Nachbarschaft der elterlichen Wohnung ein großes altes Gebäude - ein ausrangiertes Krankenhaus - für die weiblichen Gastarbeiterinnen aus Italien, gegen den Widerstand der Anwohner hergerichtet wurde. Wir nannten es das „Frauenhaus“ und die Bewohnerinnen wurden abwertend als die „Fischweiber“ bezeichnet, weil sie in der Fischindustrie arbeiteten. Hier wohnten die Italienerinnen getrennt von ihren Männern, aus moralischen Gründen, so hieß es. Warum ein Zusammenleben von Eheleuten sich nicht ziemte, wurde uns Kindern nie erklärt. Man behandelte die Frauen fast wie Aussätzige und die weiblichen Anwohner beklagten das vermeintliche „liederliche“ Leben, das sie führten. Denn hin und wieder musste die Polizei einschreiten, weil eine der Frauen doch ihren Mann mit auf das Zimmer genommen hatte. Von den eigenen Landsmänninnen wurden sie sicherlich nicht denunziert. Aber nachdem ein junger Mann aus der Nachbarschaft sich mit „so einer“ eingelassen hatte, wurden die Italienerinnen mit Argusaugen beobachtet. Die Nachbarinnen fühlten sich als Moralisten, beklagten die mögliche Einflussnahme auf die Kinder, bangten aber um ihre Männer! In einem Land wie Deutschland, wo Anstand und Zucht herrschte, konnte man so ein lockeres Leben nicht zulassen. Wieso behauptete damals jeder, dass es in Italien mit der Moral nicht weit her war?
Für uns Kinder war es auf jeden Fall eine vergnügliche Abwechslung, wenn wieder einmal mit großem Polizeiaufgebot ein Mann aus dem Haus entfernt wurde. Und wie so oft bei Verboten wurde der Reiz, mehr über diese fremdländischen Personen zu erfahren, immer stärker. Wenn unsere Eltern uns spielend auf dem Hinterhof wähnten, lagen wir auf der Lauer, um die Italiener heimlich zu belauschen. Die dichte Ligusterhecke, die den Eingang umsäumte, war unser Versteck. Wenn am frühen Abend die Paare sich vor der Haustür verabschiedeten und Zärtlichkeiten und Küsse austauschten, wirkte es auf uns Mädchen - komischerweise war nur das weibliche Geschlecht im Versteck vertreten, die Jungen waren mehr für die Randale - genauso aufregend wie das erste heimliche Lesen eines der verbotenen 10-Pfennig-Schundromane. Die fremde Sprache machte jedes Wort zum Liebesgeflüster und bewirkte ausschweifende sexuelle Fantasien bei uns pubertierenden Mädchen. Derart erregt, malte Hanna sich nachts die schönsten Liebesszenen aus und verspürte dabei im Unterleib ein unerklärliches Ziehen. Dass im elterlichen Schlafzimmer sexuelle Bedürfnisse ebenfalls durchlebt wurden, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Ja, das Wort Bedürfnisse war schon richtig gewählt. Denn sexuelles Verlangen oder sogar Begierde konnte sie sich bei den Eltern nicht vorstellen. Das Schlafzimmer ihrer Eltern wäre für Hanna nie ein Ort für sexuelle Forschungen gewesen. Es war nüchtern und kalt, hatte nichts Geheimnisvolles. Die Mutter trug unter ihrem Baumwollnachthemd stets eine Unterhose, damit sie sich die Nieren nicht erkältete, Hanna allerdings auch, weil sie sich ohne genierte. Ihre nächtlichen Liebesfilme und sexuellen Ausschweifungen spielten deshalb nur in südlichen Gefilden wie Italien, sonnendurchflutet und warm, mit temperamentvollen glutäugigen Jungen und sie selbst hingebungsvoll mit einem Nichts bekleidet. Manchmal träumte sie so intensiv, dass sie die Lippen, die Arme und den Körper des Jungen spürte. Es war wie eine verbotene Frucht, die süchtig macht und oft ging sie früher ins Bett, nur um das Gefühl wieder und wieder hervorzurufen.