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2. Warum wir von der ­Sozial­demokratie ­enttäuscht sein müssen

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Ralf Dahrendorfs Diagnose von 1983 hat viel für sich, als er vom »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters« schrieb. Die Sozialdemokratie hat in Europa – jedenfalls im demokratischen Europa – die gesellschaftliche Richtung vorgegeben. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass die pluralistische, die liberale Demokratie sich in jeder nur denkbaren Hinsicht der »Volksdemokratie« des eben nicht demokratischen Sozialismus überlegen zeigte. Die Menschen – alte und junge, ArbeiterInnen und Studierende, Frauen und Männer: Wenn sie die dafür erforderliche Freiheit hatten, zogen sie in den Jahrzehnten nach 1945 von Ost nach West – und nicht von West nach Ost. Der »Eiserne Vorhang« war nicht dazu da, »Agenten des Imperialismus« abzuwehren. Er sollte die Massenflucht in die westlichen Demokratien verhindern. Dieses eindeutige Urteil der Geschichte war auch ein Verdienst der Sozialdemokratie.

Aber deren Ära ging – so Dahrendorf – bereits dem Ende zu, als die UdSSR implodierte. Der Verlust an sozialdemokratischer Hegemonie war nicht das Produkt der Erfolglosigkeit sozialdemokratischer Parteien. Die Sozialdemokratie verlor an politischer Deutungshoheit, weil viele ihrer substantiellen Erfolge selbstverständlich geworden waren: eine fast flächendeckende soziale Sicherheit auch in Form einer umfassenden Gesundheits- und Altersvorsorge, ein zumindest bescheidener Wohlstand für fast alle und – ganz wesentlich – die Garantie der individuellen Freiheiten, die noch eine oder auch zwei, drei Generationen zuvor mühsam zu erkämpfen und zu verteidigen waren. Den meisten Menschen in den (westlichen) Demokratien Europas war es am Ende des sozialdemokratischen Zeitalters materiell besser gegangen als je zuvor, und sie hatten sich noch nie so frei und selbstbestimmt fühlen können.

Wegen dieser Erfolge der »westlichen«, der liberalen Demokratie schien die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren die Definitionsmacht über das politische Geschehen zu verlieren: Die Ära Kreisky war Geschichte, die Ära Mitterrand neigte sich ihrem Ende zu. In Europas Demokratien wehte nach wie vor ein demokratischer Zeitgeist; aber der wehte nun von rechts. Margaret Thatcher war die Chefingenieurin dieses neuen Zeitgeistes. Die Sozialdemokratie hatte ihre Schuldigkeit getan. Und weil sie dafür (mit)verantwortlich war, dass politische Demokratie und soziale Sicherheit selbstverständlich geworden waren, schien die Sozialdemokratie überflüssig zu werden.

Was tun? Bei der Suche nach einer Antwort genügt es, daran zu erinnern, was da alles noch ausständig ist – über die Erfolge der Regierungen Attlees und Palmes, Kreiskys und Mitterrands hinaus. Die Sozialdemokratie war ja noch vieles schuldig geblieben – vor allem die Erfüllung ­einer Forderung, die in dramatischer Sprache 1848 für die »Proletarier« von Marx und Engels formuliert worden war: Die Vereinigung der arbeitenden Menschen »aller Länder«, die nichts zu ver­lieren hätten als »ihre Ketten«. Dass Ende des 20. Jahrhunderts die »Proletarier« mehr zu verlieren hatten als »ihre Ketten«, das war erreicht. Aber das andere Ziel blieb in weiter Ferne – die Überwindung nationaler Verengung.

Die Sozialdemokratie hat im 20. Jahrhundert vieles durchgesetzt. Ihre Erfolge sind vom Standpunkt einer liberalen, pluralistischen, auf Parteiwettbewerb und rechtsstaatlichen Garantien aufbauenden Ordnung nicht in Zweifel zu ziehen. Aber vieles von dem, was die Sozialdemokratie versprochen und was ihre AnhängerInnen bewegt und motiviert hat, bleibt unerfüllt. Das Glas des Fortschritts, wie ihn die Sozialdemokratie einmal definiert hat – von Karl Marx bis Victor Adler, von Leon Blum bis Olof Palme – ist halb voll, aber es ist eben auch halb leer. Nicht, weil die SPÖ und die SPD, die Labour Party und der Parti socialiste keine »klassenlose Gesellschaft« hergestellt hätten. Diese Marxsche Utopie konnte und kann niemand verwirklichen. Der Sozialdemokratie ist freilich vorzuhalten, dass sie allzu lange sich selbst und der Welt die Illusion vermittelte, sie – die SPÖ etwa – könnte das Paradies auf Erden verwirklichen; eine Gesellschaft, in der alle Menschen – wie von Marx erträumt – alle ihre Bedürfnisse befriedigen könnten und zusätzlich alle Freiheiten hätten, nur das zu tun, was ihren Fähigkeiten entspricht.

Der Abschied von dieser Illusion erfolgte spät, aber er war unvermeidlich. Nicht unvermeidlich aber war und ist, dass sich die Sozialdemokratie die Konsequenzen ihres Erfolges nicht bewusst machte. Der (zumindest bescheidene) Wohlstand und die (nicht unerhebliche) soziale Sicherheit, von sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im 20. Jahrhundert (vor allem nach 1945) erkämpft, sind Erfolge, die auf nationaler Ebene erreicht wurden. Der demokratische Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist ein österreichischer und ein schwedischer, ein deutscher, ein britischer und ein französischer, ein niederländischer und ein norwegischer. Aber er hat nichts mit dem zu tun, was an jedem 1. Mai unter roten Fahnen skandiert wird: »Hoch die internationale Solidarität!«

Internationale Solidarität findet statt, wenn sozialdemokratische Stadtverwaltungen Che Guevara-Büsten aufstellen. Internationale Solidarität findet nicht statt, wenn es um die Rechtsstellung von ZuwanderInnen aus der Türkei oder Marokko oder Nigeria geht. Internationale Solidarität, das war der Protest gegen den von den USA geführten Vietnam-Krieg. Von dieser Solidarität war aber nichts zu spüren, wenn es darum ging, eine sozialdemokratische Handschrift bei der Entwicklung einer europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik zu entwickeln. Der Grund für dieses Defizit? Die sozialdemokratischen Erfolge haben aus ProletarierInnen KleinbürgerInnen gemacht; und die haben nun einiges zu verlieren. Sie sorgen sich um Urlaubs- und Pensionsansprüche, um ihre Kranken- und Unfallversicherung, um einen gewissen Wohnkomfort: alles, was eigentlich im Sinne der marxistischen Begrifflichkeit nicht unbedingt »proletarisch« ist, sondern nach »Bourgeoisie« schmeckt; alles, was gefährdet erscheint, wenn der Zuzug der Menschen von außerhalb in den Wohlstandsregionen Europas das Lohnniveau zu drücken droht und das, was als »eigen« wahrgenommen wird – Sprache und Konsumgewohnheiten und Freizeitverhalten und die Vertrautheit des Milieus – nun durch »Fremdes« herausgefordert wird.

Dass die Sozialdemokratie »Hoch die internationale Solidarität« zwar gerufen, nicht aber verwirklicht hat, das hat eine lange Vorgeschichte. Im Vorfeld des europäischen Totentanzes von 1914, der die erste der Weltkatastrophen des 20. Jahrhunderts auslöste, versuchte die Zweite (die sozialistische) Internationale ihr bestehendes Netzwerk zu nützen, um den Kriegsausbruch zu verhindern. Der Versuch scheiterte. Bald schon schossen deutsche und französische Proletarier aufeinander, und Arbeiter und Bauern in österreichisch-ungarischer Uniform kämpften gegen serbische und russische. Schon davor war die 1889 als übernationale Partei gegründete österreichische Sozialdemokratie zerfallen – die tschechisch- und die deutschsprachigen Genossen ­fanden nicht mehr zu einer gemeinsamen Basis. Im deutschen Reichstag stimmte 1914 die SPD (mit Ausnahme von Karl Liebknecht und Otto Rühle) für die Kriegskredite (und damit für den Krieg), und in der Arbeiter-Zeitung, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, feierte Friedrich Austerlitz dies als »Tag der deutschen Nation«. Nation schlug, Nation schlägt internationale Solidarität. Internationale Rhetorik ist das eine, die Wirklichkeit des Nationalen das andere.

Die Sozialdemokratie hat – und in diesem Sinn ist sie der marxistischen Einseitigkeit treu geblieben – die Tiefe und Komplexität gesellschaftlicher Bruchlinien jenseits der Klassengegensätze massiv unterschätzt. Sie hat die nationale Frage wie auch die zur »Frauenfrage« verniedlichte Geschlechterfrage als sekundäre Herausforderungen abgetan, die sich von selbst erübrigen würden, sobald die »Klassenfrage« beantwortet, das heißt gelöst wäre. Die nationale Frage ist heute so explosiv wie sie 1914 war, und die Sozialdemokratie steht der Globalisierung und der damit verbundenen globalen Migration hilflos gegenüber. Die Sozial­demokratie wurde im späteren 20. Jahrhundert von einer neuen Welle der Frauenbewegung überrollt, die sich nicht einfach parteipolitisch einordnen und der »Klassenfrage« unterordnen lässt, die vielmehr auf männerbündische, auf frauenfeindliche Affekte auch innerhalb der Sozialdemokratie stößt. Die Unterordnung der nationalen Frage und der Geschlechterfrage unter die »Klassenfrage« war Ausdruck dogmatischer Kurzsichtigkeit, die sich zu einem strategischen Fehler auswuchs und der noch nie so deutlich war wie in den Jahren um die Jahrtausendwende.

Dass die ersten Frauen, die als Resultat demokratischer Prozesse an die Spitze parlamentarischer Demokratien in (West-)Europa vorrückten, zumeist nicht aus der Sozialdemokratie kamen; dass in Österreich die 2020 gebildete konservativ-grüne Regierung das verwirklichte, was SPÖ-Regierungen nie schafften – einen Frauenanteil auf Regierungsebene von 50 Prozent, das muss die Sozialdemokratie nachdenklich stimmen; das muss sie als Beleg dafür sehen, dass sie die Zeichen der Zeit nicht früh genug erkannt hat. Die europäische Integration als ein Prozess zur Eindämmung der Nationalismen wurde zwar von der Sozialdemokratie – auch – mitgetragen, aber sozialdemokratische Parteien stellten nur eine Minderheit unter denen, die bei der Einigung Europas vorangingen. Ein Versäumnis war es auch, dass die Sozialdemokratie das Spannungsfeld zwischen einer auf ökonomisches Wachstum ausgerichteten Industriegesellschaft – die sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften ja in weiten Teilen mit geformt hatten – und einer diesem Wachstum skeptisch gegenüberstehenden Zeitgeistigkeit nicht früh genug wahrgenommen hatte: Die Ökologiebewegung begann außerhalb der Sozialdemokratie, und sie konnte von dieser auch nur in einem sehr begrenztem Umfang integriert werden, in Österreich und auch anderswo.

Die SPÖ hatte manche Entwicklungen einfach verschlafen. Sie reagierte allzu oft zu spät auf den gesellschaftlichen Wandel. Sie war gebremst von der Fixierung auf eine als »Basis« mythologisierte strukturkonservative Parteiorganisation. In den Sektionen wurde gelegentlich noch immer schwärmerisch vom »Proletariat« gesprochen – und dabei wurde ignoriert, dass es ein solches eigentlich nicht mehr gab. An dieser Basis wird das Erbe von Johanna Dohnal regelmäßig gewürdigt – und gleichzeitig empören sich an eben dieser Basis zumeist ältere Männer über das Diktat der »politischen Korrektheit«, die ihnen (angeblich) das »Binnen-I« aufzwingen und das Autofahren vermiesen will.

Andere österreichische Parteien – die Grünen, die NEOS – wurden bereits von Frauen geführt. Und dann schaffte die SPÖ es 2018 endlich, sich ein weibliches Gesicht zu geben. Doch die im alten Denken steckengebliebenen Männer innerhalb der Parteiführung taten (und tun) alles, um Pamela Rendi-Wagner mit männerbündischer Herablassung zu vermitteln, sie dürfe auf Zeit an der Parteispitze bleiben – solange, bis sich die im Gestern verhafteten Männer auf ein (wohl wieder) männliches Gesicht einigen könnten, das der Partei Orientierung geben würde. Eine Frau an der Parteispitze gilt in den Augen einer männlichen Oligarchie nicht als Zeichen eines Aufbruchs, sondern als Provisorium; nicht als Appell an die eine Hälfte der Gesellschaft, die viele Gründe hat, sich benachteiligt zu fühlen, sondern als kleine ­Panne im Ablauf der Parteigeschichte. Kein Wunder, wenn diese männerbündisch geprägte Altpartei oft so wirkt, wie vor Jahrzehnten der Karikaturist der »Arbeiter Zeitung« die ÖVP gezeichnet hat – als »alte Tant’«. Gäbe es ein männliches Pendant zur ÖVP-Tant’ von anno dazumal, man müsste die ihre Parteivorsitzende nicht wirklich respektierenden SPÖ-Männer so ähnlich karikieren – als »alte Opas«.

Die Sozialdemokratie – ab ins Museum?

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