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3. Das Wesen der Sozial­demokratie

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»Bevor wir wissen, wer wir sind, müssen wir wissen, wer wir nicht sind.« Diese Regel gilt für alle Individuen und Gemeinschaften, die nach ihrer Identität suchen – national oder religiös, geschlechtlich oder beruflich; aber eben auch politisch. Dies gilt daher auch für die Sozial­demokratie. SozialdemokratInnen, die auf der Suche nach ihrer politischen Identität sind, müssen sich zunächst fragen, wer sie nicht sind. Sie sind keine xenophoben RassistInnen (oder wollen das jedenfalls nicht sein), die an der Hautfarbe von Menschen erkennen, wer »fremd« ist oder wer zu »uns« gehört; sie sind keine bigotten Ewiggestrigen, die der Zeit nachtrauern, als Herren noch Herren und Knechte noch Knechte waren und Herren wie auch Knechte genau wussten, wo ihr gottgewollter Platz in der Gesellschaft war; sie sind keine »Machos« (oder wollen es nicht sein), die sich provoziert fühlen, wenn Frauen ­Orchester dirigieren, Polizeichefinnen werden oder Regierungen führen; sie sind keine TräumerInnen, auf der Suche nach Klarheit in den Sternen, weil die ersehnte Eindeutigkeit in der komplizierten politischen Realität sich nicht so einfach offenbart; sie sind auch keine PopulistInnen (oder behaupten es, nicht zu sein), die vorhandene Ängste schüren und mit diesen zur Wut hoch gepuschten Gefühlen Stimmenmaximierung betreiben.

Aber diese Abgrenzungen reichen nicht. Denn Angela Merkels CDU oder Emmanuel Macrons Partei »La République En Marche« könnten alle diese Identitätsmerkmale für sich beanspruchen; und ebenso die britischen Liberaldemokraten oder die österreichischen NEOS. Dass alle, die »sozialdemokratisch« sein wollen, sich von Unfug und Unsinn, von offener Intoleranz und gesellschaftlichem Hass in Vergangenheit und Gegenwart abgrenzen, das ist noch kein Alleinstellungsmerkmal der Sozialdemokratie. Dass die Sozialdemokratie das alles nicht sein will, und dass alle, die sich der Sozialdemokratie verbunden fühlen, nicht so sein wollen, das reicht nicht zur Bestimmung einer spezifisch sozialdemokratische Qualität – ganz abgesehen davon, dass bei einer genaueren Innenschau sehr wohl »Machos« in der Sozialdemokratie zu entdecken sind und auch Fremdenfeindlichkeit schon in sozialdemokratischen Parteien gesichtet wurde.

Aber auch wenn man solche innerparteilichen Phänomene als Einzelfälle abtut: Was bleibt denn als sozialdemokratisches Spezifikum, wenn aufgeklärte Weltoffenheit und Toleranz gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt zwar auch, aber nicht nur ein Merkmal der SPÖ sind? Eine nüchterne Vernünftigkeit, die überzeugt, weil alles andere nicht überzeugt? Wie kann man mit den Grautönen der Vernunft mobilisieren – angesichts der Buntheit der Alternativangebote? Diese reichen von gefühlsbetonten Ashrams und paradiesischen Perfektionsversprechungen, von der Sehnsucht nach dem Ende von Skepsis und Selbstzweifel zur Konstruktion »reinen« Volkstums oder auch bis zum Traum eines Sturms auf die Paläste der Banken.

Mein Freund Andrei Markovits war einmal – eingeladen als einer der bekanntesten Deutschland-Experten in der US-amerikanischen Po­litikwissenschaft – Beobachter bei den verschiedensten Veranstaltungen eines Bundestagswahlkampfes, irgendwann um das Jahr 2000. Er und seine KollegInnen versuchten, in einer Art seminaristischem Smalltalk, jede der deutschen Parteien idealtypisch als eine klar unterscheidbare Person zu zeichnen. Die CDU war, noch geprägt von Helmut Kohl, ein in jeder Hinsicht satter, sich von der Geschichte bestätigt fühlender Mann – selbstsicher, wenn auch nicht gerade von intellektueller Brillanz. Die CSU war, im Trachtenanzug, die bayrische Version dieses Typs. Die FDP war ein geschniegelter Aufsteiger, gestylt wie aus dem Modejournal. Der (oder die) Grüne trat im gestrickten Pullover, Blue Jeans und Sportschuhen auf. Die Linkspartei (die PDS) war eine verhärmt wirkende Frau, die nicht recht wusste, ob sie sich über das Ende der DDR und damit der SED-Diktatur freuen oder als »feindliche Übernahme« beklagen sollte. Aber wer oder was war die SPD? Die SPD schien den (nicht nur US-amerikanischen, aber jedenfalls nicht deutschen) BeobachterInnen ohne eigenständiges Profil. Die SPD war von braver Harmlosigkeit. Während die anderen Parteien emotional polarisierten, fiel zur SPD niemandem etwas ein – nichts spezifisch ­Positives, nichts spezifisch Negatives.

Der europäischen Sozialdemokratie ist eine solche Bravheit ins Gesicht geschrieben. Das Rot, das früher mit ihr identifiziert wurde und das aus guten Gründen ihr nicht mehr zugeschrieben wird (auch wenn gelegentlich rote Fahnen und rote Nelken oder auch rote Rosen Parteiveranstaltungen schmücken) – dieser mit Rot identifizierte Revolutionsaufruf ist mit dem Marxismus-Leninismus an der Kremlmauer begraben. Und das ist gut so. Für die Sozialdemokratie ist dieses Rot im politischen Alltag den verschiedenen Grautönen gewichen. Nun ist grau zwar die Farbe der Aufklärung und der Vernunft. Es ist die Absage an die Irrwege totalitärer Utopismen wie auch an das nihilistische Zudecken inhaltlicher Leere durch buntes PR-Gefasel, ob orange oder türkis oder sonst wie eingefärbt. Aber grau – das mobilisiert nicht. Grau, das ist Vernunft, und die ist leise, wie schon Sigmund Freud festgestellt hat; Freud, der, wenn er im Wien der Jahre vor seiner Vertreibung gewählt hat, sich wohl für die Sozialdemokratie entschieden hätte – für wen sonst, doch nicht etwa für die antisemitischen Christlichsozialen?

Die Sozialdemokratie – ab ins Museum?

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