Читать книгу Alles auf den Kopf stellen - neue Wurzeln schlagen - Anton Rotzetter - Страница 8

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1. Der verkehrt gepflanzte Wirsing oder Von der notwendigkeit, anders zu denken

„Wer den eigenen Willen durchsetzen will, den wollte Franziskus nicht zum Orden zulassen. Eines Tages kamen zwei junge Männer zu Franziskus und baten, in den Orden aufgenommen zu werden. Der selige Franziskus aber wollte prüfen, ob sie gehorsam seien und bereit, dem eigenen Willen abzuschwören. Er ging mit ihnen in den Garten und sagte: Kommt, lasst uns Wirsing pflanzen und schaut mir zu, wie ich ihn pflanze, und tut es dann ebenso. Franziskus nun pflanzte den Wirsing auf die folgende Weise. Er setzte ihn mit den Wurzeln gegen den Himmel und mit den Blättern nach unten und bedeckte diese mit Erde. Der eine Mann machte es dann genau so wie Franziskus, der andere aber nicht. Dieser sagte zu Franziskus: So werden Wirsings nicht gepflanzt, lieber Vater, sondern umgekehrt – mit den Wurzeln nach unten! Franziskus entgegnete ihm: Mein Sohn, ich will aber, dass du es so machst wie ich. Das aber wollte der junge Mann nicht, weil er der Überzeugung war, dass das falsch sei. Und so sagte Franziskus zu ihm: Bruder, ich sehe, du bist ein großer Lehrer (Magister), geh deine Wege, denn du bist nicht geeignet für meinen Orden. Den anderen aber nahm er auf, während er diesen ablehnte.“2

Wie können wir begreifen, was Franz von Assisi eigentlich wollte? Aufwelche Weise können wir Zugang bekommen zu der völlig anderen Weltanschauung, die hinter seiner Lebensform steht? Wie kommt es zu einer totalen Umkehr, zu einem Denken, das nicht einfach auf der Linie des Bisherigen liegt, zur Abwendung von den geltenden Wertvorstellungen Assisis, die er als „Auszug aus der Welt“ (vgl. Test 3, FQ 59) definiert? Wie also kommt es zu einem völlig neuen Ansatz auch in der Schöpfungsspiritualität?

Vielleicht kann uns die Geschichte vom falsch gepflanzten Wirsing weiterhelfen, welche als Lokaltradition im Kloster Monte Casale erzählt wird. Der Ort, der den Kapuzinern anvertraut ist, liegt nicht sehr weit vom bekannten Heiligtum von La Verna entfernt, wo Franziskus von den Wundmalen Jesu geprägt wurde. Möglich, dass sogar ein Zusammenhang besteht zwischen der Lehrstunde von Monte Casale und dem Kreuz, das sich in den Leib des Franziskus eingezeichnet hat.

Eine bloß äußere Faszination, sagt diese Geschichte, kann nicht genügen, um zur franziskanischen Gemeinschaft zu gehören. Auch sind Name und Person des Franziskus nicht eigentlich ausschlaggebend. Das müssen die beiden jungen Männer erkennen, die eines Tages zu Franziskus kommen und seiner Bruderschaft beitreten wollen. Der eine begreift, der andere nicht.

Die Geschichte ist auch deswegen hilfreich, weil es um die Bestellung des Gartens geht, umfassender gesagt: um ein bestimmtes geistliches Verhalten im Umgang mit der Schöpfung.

• Man hat es immer so gemacht

Seit Jahrhunderten wissen wir, wie man Wirsing pflanzt. Die Wurzeln in die Erde, den Kopf nach oben! Aber obwohl oder gerade weil wir das wissen, ist die Lebensmittelbeschaffung heute in eine nicht mehr zumutbare Enge geraten, sozusagen auf die schiefe Bahn, an deren Ende der vernichtende Abgrund steht. Man hat es immer so gemacht!

Wir wissen sehr viel. Nicht nur, wie man eine Pflanze in die Erde setzt, sondern auch, wie man das Erdreich mit fremden Nährstoffen anreichert und den Setzling mit angeblichen Schutzmitteln besprüht. Die Wirsingköpfe werden zwar größer und größer, aber gleichzeitig saugen sie all diese Giftstoffe auf und lagern sie in die Nahrungskette ein. Aus Lebensmitteln werden Todesmittel. Pflanzen und Tiere werden entzaubert, ihr Geheimnis schwindet. Alles wird zur Sache, mit der man willkürlich machen kann, was man will. Tiere sind nach René Descartes (1596–1650) nichts anderes als Maschinen, und ihr Schmerzensschrei ist bloß das Quietschen eines Rades. In der Folge werden sie der Willkür des Menschen ausgesetzt, total genutzt und millionenfach getötet. Ganze Gemüseernten und große Tierbestände werden vernichtet, wenn der Verdacht besteht, dass eine Epidemie von ihnen ausgehen könnte. Meistens stellt man dann im Nachhinein fest, dass der Verdacht unbegründet war und dass man in den Medien mutwillig Panik erzeugt hat. Dem so vernichteten Leben wird keine Träne nachgeweint. Das Trinkwasser wird vergiftet, das Klima dramatisch verändert, das für Mensch und Tier erträgliche Maß an Wärme wird bis zum Ende des Jahrhunderts bei weitem überschritten sein. Bei einer Zunahme der Erderwärmung um zwei Grad wird Amsterdam im Meer versinken, bei drei bis vier Grad New York und dazu viele Länder. Millionen von Menschen werden anderswo Heimat suchen müssen. Die Erde wird immer unbewohnbarer. Wir Europäer verbrauchen dreimal so viel bebaubare Erde, wie uns gerechterweise eigentlich zustehen würde. Die Schweiz braucht zur Sicherung des Kraftfutterbedarfs noch einmal so viel Ackerfläche in Lateinamerika, wie ihr zuhause zur Verfügung steht, nur damit genügend Fleisch auf den Tellern liegt. Kolonialismus ist das! In Peking muss man Mund- und Nasenbinden tragen, wenn man auf die Straße geht. Auf den Philippinen und anderswo kommt es immer häufiger zu immer stärkeren Taifunen, mit jeweils größerer Zerstörungswucht und immer höheren Leichenbergen. Vor der UNO hat Papst Franziskus den alarmierenden Satz gesprochen: „Die ökologische Krise könnte zusammen mit der Zerstörung eines großen Teils der biologischen Vielfalt die Existenz der Spezies Mensch selbst in Gefahr bringen.“3

Ja, unser Denken hat es weit gebracht, sehr weit, zu weit! Weil es immer auf der gleichen Linie weiterdenkt! (Vgl. dazu * 17–61).

• Paradigmenwechsel

Kehren wir zur Geschichte des verkehrt herum gepflanzten Wirsings zurück. Franziskus ist der Auffassung, dass das Durchsetzen des eigenen Willens und der eigenen Vorstellungen der falsche Weg ist. Die Frage, die sich bei allem stellen muss, lautet: Sind wir bereit zu lernen und uns für Neues zu öffnen? Ja sogar einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, wie auch der Papst fordert (vgl. * 53, 111 f., 163, 189, 203–208)? Oder ist der eigene, egoistische Wille das Maß aller Dinge? Könnte es vielleicht sein, dass gerade dieser fix und fest stehende Wille die schrecklichen Ergebnisse zeitigt, die wir heute zu beklagen haben? Dass die eigene Vorstellungskraft dermaßen enggeführt ist, dass sie das Leben in seiner Entfaltung hindert und letztlich sogar wider Willen in ein allmähliches Sterben mündet? Zwar ist der blinde Gehorsam, das Ausschalten des Denkens, die kritiklose Übernahme des Verhaltens anderer sicher auch nicht die Lösung. Aber verweist das Wort „Ge-Hor-sam“ (= hörende Verwiesenheit, an-ge-hören) nicht in viel tiefere Dimensionen hinein, vielleicht sogar in das alles umfassende Geheimnis des Lebens selbst? Bei solchen Fragen gerät die für jeden Verstand unsinnige, ja letztlich dumme Prüfung des Franziskus in den Sog einer viel größeren und umfassenderen Fragestellung.

Der buddhistische Philosoph Yudo J. Seggelke deutet diese Geschichte als Kôan, als geistliche Lehrgeschichte, die wie ein unsinniges Rätsel daherkommt und als Paradox, als unauflösbarer Widerspruch, empfunden werden muss, aber gerade so zum Nachdenken und zu einem neuen Verhalten provoziert: „Ein fundamentaler Paradigmenwechsel muss die Lösung bringen … Für ein spirituelles Leben ist es notwendig, neue Wurzeln zu entwickeln, die über das materiell Erdgebundene hinausgehen. Oft ist es sogar erforderlich, dass die materiellen Wurzeln, die uns an Dinge wie Besitz und Eigentum fesseln, zuerst vertrocknen müssen, damit sich die Wurzeln der Spiritualität, des Himmels, die neues Leben bringen, überhaupt entwickeln können.“4

Wie gesagt: Der eine begreift, der andere nicht. Franziskus belegt allerdings den, der nicht begreift, nicht mit negativen Urteilen, im Gegenteil. Er nennt ihn Sohn und Bruder, grenzt sich also in keiner Weise von ihm ab. Auch er gehört letztlich zur Familie Gottes, auch wenn er konkret nicht zum gleichen Weg berufen ist. Er nennt ihn sogar „großer Magister“, gibt ihm also einen Titel, der in der damaligen Zeit höchste wissenschaftliche und weisheitliche Kompetenz zum Ausdruck bringt. Auch von ihm kann man auf der Linie des linearen Denkens gute Ergebnisse erwarten: Philosophen und Naturwissenschaftler können, wenn sie für neue Erkenntnisse offen sind, einen Beitrag für ein besseres Verstehen der Schöpfung leisten. Beziehungen sollen also nicht abgebrochen werden, ein Gespräch ist bleibend notwendig.

Der andere Bruder begreift, worum es im Orden des Franziskus geht. Anders und anderes denken muss jemand, der ihm folgt. Es geht um eine höhere und tiefere Dimension, die in Gott wurzelt, um eine Perspektive, welche in allen materiellen Fragen das Leben selbst und den Ursprung des Lebens zur Geltung bringen will. Die großen Probleme der Menschheit und der Schöpfung lassen sich nicht rein ökonomisch, naturwissenschaftlich oder technisch lösen. Man muss eine bloß innerweltliche Betrachtungsweise übersteigen, um auch ökonomisch und biologisch weiterzukommen. Franziskus hat in seinem Leben gezeigt, in welche Tiefen man vordringen kann, wenn man alternativ denkt und lebt. Man muss das Gewohnte aufgeben, um neue lebensstiftende Gewohnheiten zu schaffen.

• Verwurzelung in Gott

Der genannte und geforderte Paradigmenwechsel muss auf alles und jedes angewendet werden. An sich ist „Schöpfung“ ja ein religiöser Begriff. Er setzt ein göttliches Wesen voraus, welches das, was wir profan „Welt“ nennen, aus seinem Innersten heraus freisetzt und dies voraussetzungslos und letztlich aus Gründen, die uns verborgen bleiben. Alles Erschaffene wurzelt in der Tiefe des göttlichen Geheimnisses. Wenn wir wirklich begreifen wollen, was Spiritualität der Schöpfung meint, dann muss man alles auf den Kopf stellen und alles von Gott her und auf ihn hin denken.

So müssen wir uns fragen, ob die Begriffe, mit denen man „Schöpfung“ zu begreifen sucht, wirklich genügen. Ein solcher ist „Seele“. Ist er wirklich hilfreich? Stellt er wirklich alles auf den Kopf? Dringt er wirklich tief genug in das Geheimnis der Schöpfung ein?

„Seele“ versteht sich in der griechischen Tradition als Instanz, welche dem Leib gegenübersteht. Sie existiert vor ihm, also vor der Empfängnis, nach ihm, das heißt nach dem Tod, und belebt ihn während der ganzen Zeit seines Daseins. Sie ist also ewig, der Leib aber vergänglich.

Ein solcher Seelenbegriffist heute umstritten und obsolet geworden. In Psychologie und Neurowissenschaft arbeitet man kaum mehr mit ihm, weil er untauglich geworden und ohnehin ein Konstrukt einer überholten Philosophie sei. Was wir Seele nennen, sei nicht außerhalb des Materiellen bzw. Leiblichen angesiedelt. Wo er noch gebraucht wird, ist er zudem oft nebulös, nichtssagend und darum bedeutungslos: „Geld ist für uns nicht alles, die Manufaktur hat ihre Seele bewahrt, was heutzutage an ein Wunder grenzt“, sagt der Chef eines Schweizer Uhrenunternehmens. Der Begriff hat, wenn man die hebräische Sprache als Grundlage nimmt, auch keine biblische Tradition. Wo wir mit „Seele“ übersetzen, spricht diese von „Kehle“, von einem leiblichen Organ also. Die Seele stirbt mit dem Leib – außer Gott ruft den leibhaftigen Menschen in seine Lebensfülle.

Damit wird auch der Begriff „Allbeseeltheit“ fragwürdig. Analog zur Menschenseele gäbe es eine Seele, die der Welt gegenübersteht und diese von außen her belebt und bewegt. In dieser Seele walte eine jenseitige Vernunft, die allem einen Sinn gibt. Ein solches Denken geht auf den Philosophen Platon (428–348 v. Chr.) zurück. Aristoteles (384–322 v. Chr.) lehnt diese Konzeption des Kosmos ab, auch fand sie im Judentum und im Christentum, außer in einigen mystischen Traktaten, keine große Anhängerschaft.

In neuerer Zeit wurde der Begriff von Fr. W. J. Schelling (1775–1812) zum Titel eines Buches. Er deutete ihn aber eher als Metapher denn als Wirklichkeit. J. W. Goethe (1749–1832) sprach sie in seinem Gedicht „Eins und Alles“ betend an: „Weltseele, komm, uns zu durchdringen“ und in einem anderen sagt er, dass „jedes Stäubchen lebt“. In der Romantik (Novalis: 1772–1801, Fr. Schlegel: 1772–1829) wird daraus ein Kernbegriff. Auch in der Theologie des 20. Jahrhunderts wird er aufgegriffen und in seiner Bedeutung für die ökologischen Fragestellungen herausgestellt. Zu den bekanntesten Theologen, die sich im deutschen Sprachraum diesbezüglich einen Namen gemacht haben, zählt H. R. Schlette (geb. 1931). In den letzten Jahrzehnten entstand die „Gaia-Theorie“, welche den Kosmos als lebendigen Organismus, als einheitliches Subjekt begreift und die L. Boff (geb. 1938) ins Zentrum seiner ökologischen Spiritualität stellt. Auch hier geht es um eine dem Ganzen innewohnende und zusammenbindende „Realität“, aber mehr noch um eine Personifizierung der Erde (griechisch: „Gaia“ = die Göttin Erde als Urmutter).

Zu den Theorien, welchen ökologische Bedeutung zukommt, gehören auch „die morphischen Felder“, welche der Biologe Rupert Sheldrake (geb. 1942) in die Wirklichkeit der Welt eingeschrieben sieht. Demnach würden Kraftfelder über einzelne Wesen hinausgehende Einheiten begründen und als lebendige Wesen zusammenbinden. Auch Ken Wilbers (geb. 1949) „Holismus“ hat weiten Applaus gefunden, eine Auffassung, wonach die Welt nicht genügend erklärt wird, wenn man sie bloß als Zusammensetzung ihrer Teile betrachtet. Die Welt sei vielmehr durch ein geheimnisvolles Ineinander von Ganzheiten (griechisch = „Holon“) zu begreifen.

Nun fragt sich natürlich, ob diese – zum Teil esoterischen – Theorien dem entsprechen, was von einer Schöpfungsspiritualität, die letztlich in Gott wurzelt, erwartet werden muss. Dass sie zu einer größeren Achtung der Schöpfung führen, kann nicht übersehen werden. Aber sie können den Dualismus von Materie und Geist nicht überwinden. Sie bleiben bei einer grundsätzlichen Zweiteilung der Schöpfung: hier das Vergängliche, Sterbliche, der Leib und dort das Geistige, Ewige, die Seele. Das Schicksal und das Geheimnis der Materie bleiben letztlich außen vor. Alles stirbt, zerfällt, ver-west, erlischt, versinkt schließlich im Nichts. Man hat immer noch zu wenig begriffen, dass die Wurzeln nach oben zu weisen haben.

• Projektionen?

Aber auch die sture Einstellung, welche gegen jede religiös begriffene Natur auftritt, ist nicht zielführend. So schreibt der bekannte Sektenspezialist Hugo Stamm: „Intensive Naturerlebnisse lösen Glücksgefühle aus. Sonnenuntergänge gehören zu den beliebtesten Fotosujets, wir jauchzen, wenn wir auf Berggipfel klettern … Wir projizieren unsere Sehnsüchte in die Idee von der reinen Natur. Mit der Natur selbst haben unsere Projektionen aber nichts zu tun. Wir verklären sie in naiver Weise. Der Naturmythos wird zum Religionsersatz. Oder zur Religion selbst, einer Art Pantheismus, der das Göttliche in der Natur verkörpert sieht. Dass diese Form von Naturreligion heute eine solche Faszination erfährt, hat auch mit der Esoterikwelle zu tun, die alles vermeintlich Gottbeseelte verklärt, ohne den religiösen Ideen auf den Grund zu gehen. Natürlich sind schöne Naturerlebnisse beglückende Ereignisse, die man allenfalls als spirituelle Gefühle interpretieren kann. Die Natur zum Religionsersatz hochzustilisieren, entspricht aber einer intellektuellen oder philosophischen Ignoranz. Denn es gibt nichts Grausameres und Härteres als die ‚Natur‘ … Der Wolf wird zur Tötungsmaschine und reißt in seinem Rausch viel mehr Schafe, als er essen kann … Die von Esoterikern als Mutter oder Göttin Gaia verehrte Erde erzeugt Naturkatastrophen wie Stürme, Überschwemmungen und Erdbeben. Es gibt die heile Welt nicht, weder in uns noch um uns herum und auch nicht in der unberührten Natur. Wir nehmen bei Landschaftserlebnissen vor allem den optischen Aspekt der Natur wahr. So reduzieren wir sie gern aufihren kitschigen Aspekt, um unsere religiösen Bedürfnisse zu befriedigen oder Glückshormone zu produzieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch wird es aber, wenn wir die Natur spirituell verklären, weil wir damit einen Realitätsverlust erleiden und einem Aberglauben erliegen.“5

Diese kritische Glosse ist ernst zu nehmen. Wir leben nicht im Paradies, in dem alles heil ist und in dem es weder Grausamkeit noch Gewalt noch Leiden und Tod gibt. Die christliche Theologie hat immer schon von einer „gefallenen Natur“ gesprochen, von einer Schöpfung, die als Ganzes aus dem ursprünglichen Zustand der Gnade herausgefallen ist. Selbst die wunderschönsten Sonnenuntergänge entstehen durch Spiegelungen in der verschmutzten Luft. Wuchernde Krebszellen lassen sich – fotografiert – wunderschön anschauen. Nein, wir leben nicht in der heilen Natur. Diese bleibt Sehnsucht, Traum, Hoffnung. Hugo Stamm aber irrt, wenn er die Katastrophen allein der Natur zuordnet und den menschlichen Anteil an ihnen ausblendet.

Sosehr Esoterikern oft ein Realitätsverlust vorzuwerfen ist, auch Hugo Stamm erleidet ihn, wenn er nicht erkennt, wie sehr der Mensch die Natur verändert und verfälscht. Ihm ist entgegenzuhalten, dass ein anderes Denken notwendig ist, das über Wissenschaft und Technik hinausgeht. Eine spirituelle Betrachtung der Natur oder, wie man als Glaubender sagt, der Schöpfung ist ein Postulat der Erkenntnis, dass eine bloß wissenschaftliche und technische „Handhabung“ der Natur in einer planetarischen Katastrophe mündet. Dabei ist demütig anzuerkennen, dass uns die Schöpfung als eine zerrissene erscheint. Was wir als übel oder böse erleben, kann letztlich auch der Gläubige nicht erklären.

• Gott, der mich und das All erfüllt

Der Titel des Goethegedichtes schließt übrigens an eine Welterklärungsformel an, die in der griechischen Antike formuliert wurde: „Hen kai pan – Eines und alles“. Der bekannte Ägyptologe Jan Assman (geb. 1938) hat daraus die Folgerung gezogen, dass der Polytheismus als Kosmotheismus zu verstehen sei. Das heißt: Alles ist göttlich; gleichzeitig ist das All eine in sich bestehende, göttlich durchwirkte Einheit. Die Vielfalt ist letztlich Ausdruck des einen Göttlichen. Sosehr aber diese Alleinheit sich als Allvielheit zu erkennen gibt, so wenig kann darin eine schlüssige Schöpfungsspiritualität erschlossen werden.

Franz von Assisi hat, meine ich, auf kühne Weise diese Welterklärungsformel trinitarisch umgedeutet: „Deus meus et omnia – Gott, der mich und das ganze Weltall erfüllt.“ „Gott – ich – das All“, diese drei „Instanzen“ lassen den Dualismus hinter sich und beschreiben die Wirklichkeit als lebendiges dreipoliges Netz (vgl. * 238–240). Da ist der alles übersteigende Gott, der sich in das Einzelne und in das All begibt, ohne sich darin aufzulösen, ein stets hin und her fließendes Geheimnis, ein andauerndes Kommunikationsgeschehen, das jedem und jeder Einzelnen und dem Ganzen innewohnt und dennoch nicht darin aufgeht. In diesem Gebet ist eigentlich alles enthalten, was in diesem Buch entfaltet werden soll. Es will alles auf den Kopf stellen. Es soll zeigen, wie Franziskus die Schöpfung im Geheimnis Gottes verwurzelt sieht.

• Die andere Wirklichkeit

Bereits die ersten Seiten der Bibel stellen alles auf den Kopf. Denn sie sind in der Fremde geschrieben, in der grausamen Wirklichkeit der Entfremdung vom heimischen Boden und in den Erfahrungen von Gewalt, Ausbeutung und Not. Da spricht ein Prophet von den anderen Möglichkeiten des Menschen, er beschreibt die Vision einer Welt, die ganz von Gott durchdrungen ist und darum weder Gewalt noch Tod kennt, sondern nur Freiheit, Würde, Frieden und Gerechtigkeit. Diese Vision stellt die zu wählende Alternative zur real erfahrenen Welt dar. Sie ist gleichzeitig Tiefenerfahrung und ethischer Auftrag. Diese Anfangsgeschichten sind in Tat und Wahrheit Gedichte, poetische Fiktionen, aus denen Hoffnung für die Welt entstehen soll. Sie wollen der Wüste und der Leere rein innerweltlicher Erfahrungen und Deutungen die Schönheit der religiös begriffenen Alternative entgegenhalten. Dem Glaubenden wird so sogar eine unersetzbare Verantwortung im Ganzen der Schöpfung übertragen: Er ist „Ebenbild Gottes“. Damit soll aber auch gesagt werden, dass Schöpfung keinen ein für alle Mal gegebenen Zustand des Seins, sondern einen stets aktuellen und andauernden Prozess des Werdens meint. Und der Mensch, Mann und Frau, soll sich als Mitschöpfer/-in verstehen lernen. Eine solche Auffassung steht mit der naturwissenschaftlichen Theorie der Evolution im Einklang. Der Mensch ist freilich nicht nur Ergebnis der Evolution, sondern auch deren Gestalter, mehr noch als jeder andere Organismus.

Ähnlich ist auch der Sonnengesang des Franz von Assisi nicht ein getreues Abbild der Wirklichkeit, sondern der poetische Gegenentwurf dazu: die in und durch Gott versöhnte Welt, für die es zu werben gilt. Da lässt sich eine rein pragmatische und ökologische Sichtweise nicht von der Gottverbundenheit und Christusnachfolge trennen. Beides findet zusammen und beschreibt recht eigentlich eine faszinierende Vision unserer Schöpfung.

Eins und Alles

Im Grenzenlosen sich zu finden,

Wird gern der einzelne verschwinden,

Da löst sich aller Überdruss;

Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,

Statt lästgem Fordern, strengem Sollen,

Sich aufzugeben ist Genuss.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!

Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,

Wird unsrer Kräfte Hochberuf.

Teilnehmend führen gute Geister,

Gelinde leitend höchste Meister

Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,

Damit sich’s nicht zum Starren waffne,

Wirkt ewiges, lebendiges Tun.

Und was nicht war, nun will es werden

Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;

In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar steht’s Momente still.

Das Ewige regt sich fort in allen:

Denn alles muss in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.

Johann Wolfgang von Goethe

Alles auf den Kopf stellen - neue Wurzeln schlagen

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