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Kapitel 1

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„Liebling, hast du die Badehose schon eingepackt?“, schrie Isolde Müller durchs ganze Haus. Die dicke Frau war gerade dabei, ihren riesigen Koffer zu schließen. Sie hantierte mit ihren fleischigen Fingern äußerst ungeschickt und brachte den Deckel nicht zu. Ihr Gesicht wurde ganz rot vor Anstrengung. Da sprang Isolde in die Höhe und ließ sich mit einem herzhaften Schrei auf den Koffer fallen. Das ganze Haus bebte, die Fensterscheiben klirrten, und die Hängelampe an der Decke schwankte heftig hin und her.

„Hilfe, ein Erdbeben!“, rief ihr Mann voller Angst, der einige Zimmer weiter ebenfalls damit beschäftigt war, seine Klamotten in einen Koffer zu zwängen. Al war klein, klapprig und ein richtiger Pantoffelheld. Mit schlotternden Knien kam er herbeigelaufen und starrte auf seine Frau, die triumphierend auf ihrem Koffer saß.

„So, mein Guter, ich habe gepackt!“, lächelte Isolde. „Kommst d u mit deinem Koffer auch so gut zurecht?“

„Natürlich, Schätzchen, natürlich!“, beeilte sich Al mit zittriger Stimme zu versichern. „Du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe es bald geschafft ...“

„Davon überzeuge ich mich am besten selbst!“, verkündete Isolde mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Und mit einem Ruck stellte die dicke Dame den Koffer auf den Boden. Dann stiefelte sie unter lautem Dröhnen durch den Gang und rauschte ins Zimmer, wo sie mit verschränkten Armen vor dem Koffer ihres Mannes stehen blieb. Ihr gewaltiger Körperumfang kam jetzt erst richtig zur Geltung. Fast sah es so aus, als würde die energische Dame mehrere prall gefüllte Schwimmreifen unter ihrem bunt gemusterten Kleid tragen. Die kurzen, dicken Beine steckten in riesigen Schuhen, mit denen eine Familie eine lustige Bootspartie unternehmen hätte können.

„Ach, Al, so packt man doch keine Koffer!“, nörgelte Isolde und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich habe dir doch schon so oft erklärt, wie man’s machen muss ...“

„Ich weiß, Liebling, ich weiß!“, hüstelte der Gerügte, der seiner Frau gefolgt war. Die dicken Gläser seiner altmodischen Hornbrille ließen seine dunklen Augen besonders groß wirken. Al trug stets schlichte, graue Anzüge, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Farbige Kleidung war ihm verhasst.

„Lass mich das machen!“, meinte Isolde. „Gib mir die Hemden aus deinem Kasten!“

Al befolgte mit schwerfälligen Bewegungen die Anweisungen seiner Frau.

„So macht man das!“, triumphierte Isolde, als ein Kleidungsstück nach dem anderen in dem zerknautschten Koffer verschwand. „An sich müsste man alle deine Klamotten auf den Müll werfen! Ich geniere mich direkt, mit dir auf Reisen zu gehen ...“

„Aber warum denn, Schätzchen?“, hauchte Al, während seine großen Augen ängstlich hin und her huschten.

„Weil sie allesamt uralt sind, dir überhaupt nicht passen und weil sie vermutlich schon dein Urgroßvater getragen hat.“

Isolde schlug den Kofferdeckel zu. „So, jetzt sind wir fertig! Unsere Kinder werden jetzt bald kommen.“

Und wie auf dieses Stichwort hin läutete es unten an der Tür. Laut und stürmisch.

Isolde watschelte über die steilen Treppen hinunter und machte auf.

Susi, ihre kleine mollige Tochter, flog direkt in ihre Arme, dass die langen Zöpfe nur so flogen.

„Mam, ich habe es geschafft! Ich habe alles Einser! Als Einzige der ganzen Klasse ...“

„Gratuliere, mein Kind!“, freute sich Isolde und drückte ihr Töchterchen so fest an ihre Brust, dass Susi keine Luft mehr bekam. Ganz bleich wurde das arme Mädchen im Gesicht und tauchte für einige Sekunden in tiefe Bewusstlosigkeit ein. Isolde merkte zum Glück noch rechtzeitig, dass es Susi nicht besonders gut ging, und lockerte unwillkürlich ihren harten Griff.

Susi rang nach Luft und schlug die Augen wieder auf.

Isolde stellte das Mädchen auf den Boden zurück und tätschelte ihre Wangen. Liebevoll, wie sie meinte. Doch die Finger der energischen Dame ließen tiefrote Spuren zurück. Susi rieb sich über das Gesicht und schlüpfte ins Haus hinein.

„Und nun zu dir“, wandte sich Isolde an ihren Sohn, der schweigend und mit gesenktem Kopf auf der Schwelle stand. „Dein Zeugnis ist wohl nicht so besonders ausgefallen. Habe ich recht?“

„Ja, Mam!“, presste Frank undeutlich zwischen seinen Zähnen hervor und fuhr sich verlegen durch seine feuerroten Haare. Der hoch aufgeschossene Junge mit den unzähligen Sommersprossen trat nervös von einem Bein aufs andere. In der Hand hielt er sein Zeugnis.

„Her damit!“, befahl die Mutter und schnappte mit einem schnellen Griff nach dem Dokument.

Das feiste, rote Gesicht von Isolde verdüsterte sich beim Lesen der vielen schlechten Noten. Ihr dicker Körper begann vor Zorn zu beben. Frank fand, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war, um das Weite zu suchen. Er krabbelte zwischen den weit auseinander stehenden Beinen seiner Mutter hindurch und rannte ins Innere des Hauses. Mit einem Ruck entledigte er sich der schweren Schultasche, feuerte sie in die nächste Ecke und lief dann hinauf in sein Zimmer. Schnell schloss er sich ein.

„Na warte, Frank!“, zischte Isolde, die ihre Niederlage erst verdauen musste, und stapfte angriffslustig über die steile Treppe nach oben.

Ihr Mann kam ihr entgegen und wunderte sich über das ungestüme Verhalten seiner Göttergattin.

„Aus dem Weg!“, rief Isolde und machte eine herrische Handbewegung. Dabei fegte sie Al ganz unabsichtlich zur Seite.

Der kleine, magere Mann landete mit gegrätschten Beinen auf dem breiten Treppengeländer, und noch ehe er sich irgendwo festhalten konnte, begann seine kleine Reise nach unten. Al rutschte am Hosenboden ein Stockwerk hinunter, dass es nur so quietschte. Das magere Männchen stieß vor Schreck kleine, spitze Schreie aus. Und schon endete die rasante Fahrt mit einem dumpfen Laut. Al hatte das Ende des Geländers erreicht. Verwirrt schüttelte er seinen hageren Kopf und krabbelte mit leichenblassem Gesicht von seiner Rutschbahn. Sein Hinterteil tat ihm weh. Mit weinerlichem Gesicht hüpfte Al auf einem Bein herum und beklagte sein Schicksal.

Isolde hatte von dem kleinen Zwischenfall gar nichts mitbekommen. Schon stand die resolute Dame vor dem Kinderzimmer und klopfte energisch an die Tür.

„Wirst du wohl aufmachen, Frank! Ich habe mit dir zu reden!“

Drinnen blieb alles still.

„Na los! Wird’s bald!“, drängte die vor Kraft strotzende Frau und hieb erneut gegen das Holz, dass es im ganzen Haus nur so dröhnte. „Mach endlich auf, sonst kannst du was erleben ...“

Plötzlich begann Susi, die sich im selben Zimmer befand, zu schreien: „Hilfe! Hilfe! Frank wird sterben! Er rührt sich überhaupt nicht mehr ...“

Und dann wurde der Schlüssel umgedreht. Die Tür schwang auf. Susi stand völlig aufgelöst auf der Schwelle.

Die Mutter drängte ins Zimmer und sah ihren Sohn regungslos am Boden liegen. Sein Gesicht war blau angelaufen.

Isolde stürzte zu Frank, beugte sich über seinen Brustkorb und sah, dass sich dieser nicht mehr bewegte.

Vergessen waren Wut und Zorn über das schlechte Zeugnis ihres Sohnes. Angst und Verzweiflung waren jetzt stattdessen die Triebfedern ihres Handelns. „Schnell, hol mir das Telefon!“, befahl Isolde ihrer Tochter, während sie ihre wuchtigen Hände auf die Brust von Frank legte und mit der Wiederbelebung begann.

Susi stürmte aus dem Raum und eilte die Treppen hinunter, wo sich gerade ihr Vater an den Aufstieg machte. Susi stieß in der Eile, völlig unabsichtlich natürlich, gegen Al, sodass dieser zu Boden geworfen wurde. Das kleine, magere Männchen kollerte lautstark über die Treppen nach unten und blieb für eine Weile benommen liegen.

Unterdessen hatte Susi das schnurlose Telefon erreicht, riss es von der Basisstation und hastete mit dem Gerät wieder nach oben zu ihrer Mutter.

Al war gerade dabei, sich aufzurichten und seine geschundenen Knochen zu sortieren, als sein kleines Töchterchen wie ein Wirbelsturm vorbeibrauste. Geschwächt von den vorangegangenen Ereignissen stand Al mit wackeligen Knien auf dem bunten Teppich und schwankte wie ein Seemann nach einer durchzechten Nacht.

Und da stürmte Susi heran ...

„Nicht schon wieder!“, hauchte Al verzweifelt, doch schon spürte er, wie er neuerlich einen kleinen Stoß abbekam, der ihm sofort die Standfestigkeit raubte.

Al landete ziemlich unsanft auf seinem besten Körperteil und die Tränen schossen nur so aus seinen Augen.

„Was habe ich denn nur verbrochen!“, klagte der arme Mann verzweifelt und rückte seine altmodische Hornbrille zurecht, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war.

Ächzend stemmte er sich in die Höhe und schnappte ein paar Mal nach Luft.

Währenddessen setzte Isolde ihre Wiederbelebungsversuche fort, nachdem sie telefoniert hatte.

Dicke Schweißperlen kullerten der dicken Dame über das Gesicht und voller Hingabe widmete sie sich der Lebensrettung.

Susi stand gespannt daneben und konnte ein Grinsen nur mühsam unterdrücken. Ihr Bruder spielte wieder eine tolle Komödie. Die bläuliche Farbe auf seinem Gesicht stammte aus seinem kleinen Chemielabor ...

Plötzlich gellten in der Ferne Sirenen auf. Sie kamen rasch näher.

Wenig später hielten einige Fahrzeuge mit quietschenden Reifen. Autotüren schlugen zu, Befehle schallten durch den Garten.

Und dann wurde die Eingangstür mit wuchtigen Tritten aufgestoßen.

Eine Handvoll bewaffneter und maskierter Männer stürmte das Haus.

Eine Spezialeinheit der Polizei ...

Al starrte fassungslos in die Mündungen der drohend auf ihn gerichteten Maschinenpistolen. Instinktiv hoben sich seine Hände.

„Was - was ist denn jetzt los?“, stieß der kleine Mann hervor und blickte genervt auf die vielen Polizisten, die in Lauerstellung vor ihm standen. „Wo sind die Einbrecher?“, herrschte ihn der Anführer der Elitetruppe an und trat einen Schritt nach vorn.

„We - welche Einbrecher?“, stotterte Al, der sich nicht mehr zu helfen wusste. In seinem Kopf drehte sich alles in rasender Geschwindigkeit. Ihm war kotzübel. Die Aufregungen der letzten Minuten - und jetzt dieser gigantische Polizeieinsatz. Nein, das alles war zu viel für diesen armen, kleinen Mann, und deshalb flüchtete sich Al völlig übergangslos in eine kleine Ohnmacht, dass er dieser Welt entkommen konnte.

Mit verdrehten Augen sank er in einen weichen Polstersessel, der ihn liebevoll aufnahm.

Die Polizisten sahen sich überrascht an, zuckten ihre Schultern und stürmten dann nach oben.

Isolde unterbrach ihre Wiederbelebungsversuche und wirbelte herum, als die Männer den Raum betraten.

In diesem Moment schien es Frank auf einmal etwas besser zu gehen. Der Junge schlug die Augen auf und stemmte sich in die Höhe.

„Frau Müller?“, fragte der Einsatzleiter mit scharfer Stimme, und die dicke Dame nickte bestätigend. „Ja, das bin ich. Aber ich habe Sie nicht gerufen. Ich wollte die Rettung für meinen Sohn, dem es plötzlich so verdammt schlecht gegangen ist ...“

„Dann haben Sie die falsche Nummer erwischt!“, antwortete der Einsatzleiter mit deutlich erkennbarem Vorwurf in der Stimme.

„In der Eile haben Sie vermutlich die falschen Ziffern eingetippt. Es sind also keine Einbrecher in Ihrem Haus ...“

„Nicht, dass ich wüsste ...“

„Okay, also Entwarnung, Jungs!“, sagte der Einsatzleiter und zupfte seine Maske herunter, sodass man sein Gesicht sehen konnte. Seine Männer folgten seinem Beispiel.

„Ich glaube, dass es Ihrem Sohn wieder etwas besser geht. Oder soll ich jetzt vielleicht doch noch den Notarzt verständigen?“

„Nicht nötig, Genosse Kommissar!“, erklärte Frank mit schwachem Lächeln und machte eine beschwichtige Handbewegung. Nur die bläuliche Gesichtsfarbe schien nicht ganz zu seinem Allgemeinbefinden zu passen. Aber dies fiel im Moment keinem auf.

Die Polizisten zogen sich nach einigen Formalitäten wieder zurück, schwangen sich in ihre Autos und fuhren davon.

Frank wischte sich in einem unbeobachteten Augenblick die blaue Farbe aus dem Gesicht und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

„Danke, Mam!“, sagte er dann voller Inbrunst, wobei er sich stark zusammenreißen musste, um nicht laut zu lachen. „Du hast mir ganz bestimmt das Leben gerettet.“

„Nicht der Rede wert!“, winkte die dicke Dame ab und fuhr ihrem Sohn durch die feuerroten Haare. „Du hast mir einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Aber nun ist ja alles gut.“

Kein Wort mehr vom schlechten Zeugnis - nur das Überleben zählte.

„Wo ist denn Dad?“, erkundigte sich Isolde und trat auf den Flur hinaus.

„Hier, Mam!“, rief Susi von unten herauf. „Ich habe ihn gefunden. Dad schläft tief und fest. Wahrscheinlich hat er von der ganzen Aufregung gar nichts mitbekommen.“

„Na, warte!“, schnaubte Isolde, und ihr Gesicht nahm wieder einen energischen Ausdruck an. Mit schnellen Schritten eilte sich nach unten und blieb vor ihrem Ehemann stehen, der still und verklärt vor sich hindöste.

Doch aus diesem Traum wurde er ziemlich unsanft geweckt, als ihn Isolde gehörig durchschüttelte. Die Knochen des schmächtigen Mannes klapperten zum Herzerweichen. Verstört machte Al die Augen auf und zauberte ein verzerrtes Grinsen auf sein hageres Gesicht. „Hallo, Isolde, wie geht’s denn so?“

„Mir geht’s gut! Das siehst du doch! Und dir wird’s auch gleich besser gehen!“, versprach die liebe Ehefrau und schüttete wenig später eine Schüssel voll kalten Wassers ins Gesicht ihres Angetrauten, dass dieser erschrocken nach Luft schnappte und sich blitzschnell aufrichtete. „Siehst du, so eine kleine Kur wirkt wahre Wunder!“, freute sich Isolde und stellte die leere Schüssel auf die Seite. „Jetzt bist du bestimmt nicht mehr so müde, Al! Oder? Zum Schlafen haben wir jetzt auch gar keine Zeit. Wir müssen uns beeilen, Al! Schließlich wollten wir zu Mittag wegfahren. Die Koffer sind gepackt. Worauf warten wir dann noch?“

Eine verrückte Familie

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